Rückkehr auf die Insel - Anke Cibach - E-Book
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Rückkehr auf die Insel E-Book

Anke Cibach

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Beschreibung

Wenn die Schönheit des Nordens ein Herz erobert: Der schicksalhafte Romantik-Sammelband »Rückkehr auf die Insel« von Anke Cibach als eBook bei dotbooks. Zwei Frauen, die dem Ruf der rauen Nordsee zurück in ihre Heimat folgen … Als die junge Designerin Nele ihr Elternhaus auf einer Nordseeinsel erbt, kehrt sie nur widerwillig dorthin zurück. Doch Stück für Stück schleicht sich die leise Schönheit der Insel erneut in ihr Herz – und als sie bei einem Spaziergang im Watt eine geheimnisvolle Flaschenpost entdeckt, muss sie sich ein für alle Mal entscheiden, wo ihre wahre Heimat liegt … Birte hingegen führt der Tod ihrer Großmutter zurück in ihr einstiges Zuhause. In deren Nachlass entdeckt sie ein altes Tagebuch: Während sie durch blühende Apfelhaine streift, taucht sie ein in die Welt ihrer Großmutter, und kommt einem bislang wohl gehüteten Familiengeheimnis auf die Spur ... Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Nordsee-Sammelband »Rückkehr auf die Insel« von Anke Cibach verspricht bewegende Lesestunden mit den zwei Urlaubsroman-Highlights: »Das Haus auf der Insel« und »Das Haus hinter dem Deich«. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Über dieses Buch:

Zwei Frauen, die dem Ruf der rauen Nordsee zurück in ihre Heimat folgen… Als die junge Designerin Nele ihr Elternhaus auf einer Nordseeinsel erbt, kehrt sie nur widerwillig dorthin zurück. Doch Stück für Stück schleicht sich die leise Schönheit der Insel erneut in ihr Herz – und als sie bei einem Spaziergang im Watt eine geheimnisvolle Flaschenpost entdeckt, muss sie sich ein für alle Mal entscheiden, wo ihre wahre Heimat liegt… Birte hingegen führt der Tod ihrer Großmutter zurück in ihr einstiges Zuhause. In deren Nachlass entdeckt sie ein altes Tagebuch: Während sie durch blühende Apfelhaine streift, taucht sie ein in die Welt ihrer Großmutter, und kommt einem bislang wohl gehüteten Familiengeheimnis auf die Spur...

Über die Autorin:

Anke Cibach (1949–2012) studierte Psychologie und Anthropologie in Hamburg. Als Dipl.-Psychologin interessierte sie sich nicht nur für die Schokoladenseiten der Menschen, sondern auch für die geheimen, psychopathischen Anteile eines jeden. Sie liebte schwarzen Humor, Vogelspinnen und das Meer. Ihr Motto: Bücher sind Schokolade für die Seele!

Als eBook veröffentlichte Anke Cibach bei dotbooks ihre Romane »Der Tote vom Leuchtturm«, »Die Toten vom Hafen« und »Mörderische Kaffeefahrt«.

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Sammelband-Originalausgabe August 2022

Copyright © der Sammelband-Originalausgabe 2022 dotbooks GmbH, München

Eine Übersicht über die Copyrights der einzelnen Romane finden Sie am Ende dieses eBooks.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (fb)

ISBN 978-3-98690-102-8

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Anke Cibach

Rückkehr auf die Insel

Zwei Romane in einem eBook

dotbooks.

Das Haus auf der Insel

Kann sie dem rauen Charme ihrer Heimat widerstehen? Als die junge Designerin Nele ihr Elternhaus auf einer Nordseeinsel erbt, kehrt sie nur widerwillig dorthin zurück – schließlich liebt sie ihr Leben in der Großstadt. Doch Stück für Stück schleicht sich die leise Schönheit der Insel in ihr Herz, ebenso wie ihr Jugendfreund Enno, den sie nie vergessen hat. Dann aber entdeckt sie bei einem Spaziergang im Watt eine geheimnisvolle Flaschenpost: Die Nachricht scheint allein für Nele bestimmt zu sein und der rätselhafte Unbekannte mehr über ihre Vergangenheit zu wissen als sie selbst. Hütet ihre Familie schon lange ein dunkles Geheimnis? Nun ist es an Nele, zu entscheiden, wo ihre wahre Heimat liegt …

Für Lilli, meine Halligschwester,

die von einer Nebelwand

verschluckt wurde

»Noch einmal schauert leise

Und schweiget dann der Wind,

Vernehmlich werden die Stimmen,

Die über der Tiefe sind.«

Theodor Storm,

4. Strophe von »Meeresstrand«

Prolog

Das Kind in der roten Kapuzenjacke und den dazu passenden knallroten Gummistiefeln hüpfte über einen schmalen Priel, bückte sich hin und wieder nach Muscheln und entdeckte schließlich im Watt einen Krebs, der sich halb in den Sand eingegraben hatte. Sie packte ihn geschickt hinter den Scheren und hielt ihn triumphierend in die Höhe. »Enno, komm her und schau ihn dir an«, befahl sie. »Du sollst ihn für mich tragen.«

»Nele, wir müssen zurück. Der Wind kommt von See, das Wasser wird schneller auflaufen als sonst.« Der schlaksige, hoch aufgeschossene Junge, etwa zwölf Jahre und damit doppelt so alt wie das Mädchen, schaute besorgt zum Himmel, an dem Wolkenfetzen im Abendrot wie feurige Rösser zogen. Die Hallig hinter ihnen glich einer Luftspiegelung, verschwommen und schemenhaft.

»Gleich«, sagte Nele. »Hörst du sie, die Möwe? Sie ruft uns.« Schnell drückte sie dem Freund ihre Beute in die Hand und lief in die glitzernde Weite des Watts. Flink war sie, die Kleine. Noch vor ihrem Freund erreichte sie die Sandbank, der sich bereits von der Seeseite züngelnde kleine Wellen näherten. Der Wind hatte aufgefrischt und fuhr ihr unter die Jacke. Nele breitete die Arme aus und drehte sich verzückt im Kreis. »Ich bin eine Sturmwolke«, schrie sie. »Oder nein, lieber eine Möwe. Die Königin der Möwen. Schau, Enno, ich kann fliegen.«

Bei diesen Worten lief sie auf ihn zu und warf sich ihm mit der ganzen Kraft ihres kleinen Körpers entgegen. Enno fing sie auf und packte sie dann ärgerlich am Arm. »Lass den Unsinn. Wir müssen uns beeilen.«

Was würden Neles Eltern sagen, wenn ihrer einzigen Tochter etwas zustieße? Und was sein eigener Vater, der ihn immer wieder gewarnt hatte, Verantwortung für dieses wilde Mädchen zu übernehmen?

Schon verwandelten sich auf dem Rückweg die seichten Priele in tiefe Gräben. »Ich nehm dich huckepack«, sagte er und ließ sich seine Sorge nicht anmerken.

»Hü, mein Seepferd«, rief sie gegen das Brausen des Windes und umklammerte seinen Hals.

Kniehoch watete er durch das Wasser, während Nele ihm begeistert die Hacken in die Seiten stieß. »Hörst du die Glocken, Enno? Die Kirchenglocken von Rungholt, sagt Wilhelmine. Ob wohl jemand sterben muss?«

Diese spökenkiekerische Alte, dass sie es nicht lassen konnte, der Kleinen die alten Gruselgeschichten zu erzählen. Nun ja, sie hatte Nele auf die Welt geholt, genauso wie damals ihn und die meisten der anderen fünfzehn Halligbewohner. Das verschaffte ihr auf Greunfall eine Sonderstellung.

Und Wilhelmine Johann war es auch, die mit ihrer altmodischen Laterne jetzt am Wattsaum stand und ihm das nasse Mädchen abnahm. »Na, hat man euch keinen Respekt vor den Gezeiten beigebracht?«, schimpfte sie, aber Enno hörte die Erleichterung in ihrer Stimme mitschwingen. »Von dir hätte ich mehr Vernunft erwartet, Enno Broders. Gnade dir, wenn dein Vater davon erfährt.«

Aber sein Vater war noch auf Fischfang, und seine Mutter … die hatte die See geholt, als er noch ganz klein gewesen war. Das Meer war gierig, verschlang alles, was sich ihm leichtfertig darbot.

»Komm mit zu uns, sollst erst mal trocknen«, befahl die Alte, mittlerweile etwas freundlicher.

»Ich hab die Glocken gehört«, erzählte Nele und zitterte nun doch vor Kälte. Der erste Herbststurm zog über die Hallig, und da das Abenteuer im Watt vorbei war, verwandelte sich die Königin der Möwen wieder in ein frierendes kleines Mädchen, das sich nach dem Kaminfeuer in der Stube sehnte.

»Nele, was ist passiert?« Die dichten weißen Haare von Undine Lorentz bildeten einen merkwürdigen Kontrast zu dem fast faltenfreien Gesicht, das nicht unfreundlich, aber leicht abwesend wirkte.

Es ging etwas Archaisches von ihr aus, etwas, das man öfter bei Menschen fand, die sich viel in der Natur aufhielten und eine selbst gewählte Einsamkeit vorzogen. Sie verfügten über eine Art natürlicher Würde, gepaart mit Stolz und manchmal auch Eigensinn.

»Wilhelmine wird sich um dich kümmern, nicht wahr?« Neles Mutter war im Begriff, das Haus zu verlassen. »Es stürmt«, murmelte sie. »Ich muss noch einmal nach draußen. Dein Vater treibt die Schafe auf die Warft. Wir sehen uns später.« Flüchtig fiel ihr Blick auf Enno. »Danke. Ich weiß, dass sie bei dir gut aufgehoben ist.«

»Da geht sie wieder«, schimpfte Wilhelmine, während sie Nele aus den nassen Sachen schälte und vor dem Feuer abrubbelte. »Steht am Wasser und erblickt etwas, das nur sie alleine sehen kann.«

Enno ließ sich überreden, in Hose und Pullover von Harm Lorentz, Neles Vater, zu schlüpfen.

»Du siehst komisch aus«, sagte Nele kichernd und wies mit dem Finger auf ihn. Ihre langen blonden Flechten kräuselten sich durch die Feuchtigkeit, und ihr Gesicht glühte.

»Jetzt auch noch frech werden, mein Fräulein, das lass man bleiben«, schalt Wilhelmine. »Ich wette, du hast das alles wieder ausgeheckt.«

»Es war Nelly«, behauptete Nele. »Sie hat gesagt, wir sollen ins Watt gehen und nach Bernstein suchen.«

»Schon wieder diese Nelly.« Wilhelmine schüttelte den Kopf.

Neles unsichtbare Spielgefährtin, die sie sinnigerweise auch noch Nelly getauft hatte, gab so manches Mal Anlass zu Ärger. Stets war es Nelly, die tollkühne Abenteuer suchte, den Eltern nicht gehorchte oder Schabernack auf der Hallig trieb und Enno, diesen gutmütigen Jungen, mit in Dinge hineinzog, für die er als der Ältere dann bestraft wurde. Aber auf Greunfall waren die beiden die einzigen Kinder und einander wie die Großen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.

»Ich will malen«, erklärte Nele nun und setzte sich an den schweren Eichentisch. »Enno, gib mir meinen Krebs.«

»Den hab ich nicht mehr«, entgegnete er ruhig, was bei Nele zu einem Zornesausbruch führte, der erst durch das Erscheinen ihres Vaters beendet wurde.

»Was muss ich da von euch hören?« Harm Lorentz sprach strenger als sonst, denn die Vorstellung, dass Nele, seinem Sonnenschein, etwas zustoßen könnte, war nicht zu ertragen.

Aber schon flog sie ihm in die Arme und rieb ihre Wange an seiner. »Ich hab dir etwas mitgebracht«, sagte er, schon milder gestimmt. Dann ging er noch einmal nach draußen und brachte einen Karton herein. »Eine junge verletzte Möwe. Willst du sie pflegen?«

Mit einem mitleidigen Aufschrei beugte sich Nele über den Vogel, der sich zitternd in eine Ecke drängte und den einen Flügel auffällig hängen ließ. Sachte pustete sie das Tier an. »Ich mach dich wieder gesund«, flüsterte sie. »Versprochen. Und wenn du wieder fliegen kannst, komm ich mit. Dann zeigst du mir den Rest der Welt.«

Wilhelmine wandte sich leise an Neles Vater. »Undine ist wieder unterwegs. Sie war schon den ganzen Tag so unruhig. Vielleicht wäre es besser …«

Wortlos knöpfte er seine Wetterjacke wieder zu.

»Enno, kannst auch gehen, hab keine Zeit mehr für dich«, sagte Nele, ohne sich umzudrehen. »Ich muss mich um meine Möwe kümmern.«

»Soll ich bei den Schafen helfen?«, bot Enno an, der noch immer linkisch herumstand.

»Du bleibst hier und trinkst erst mal einen heißen Tee«, bestimmte Wilhelmine energisch. »Nele muss sich noch bei dir bedanken. Wer weiß, was ohne dich sonst draußen passiert wäre. Wo sie doch die Totenglocken gehört hat.«

Der Mann und der Junge warfen sich einen Blick zu. Aberglaube. Weibergeraune. Aber beide schwiegen, denn es gab Themen, bei denen man besser nicht mitredete.

Der Sturmgott fegte über die Hallig, trieb die Gischt des Meeres bis auf die Warften und heulte zornig, als er kein Opfer fand. Das Vieh war längst in den Ställen, und die tief nach unten gezogenen Reetdächer der Häuser trotzten jeder Gewalt.

Doch halt, da stand eine einsame Gestalt am Sommerdeich, stemmte sich gegen den Wind und reckte die Arme in einem lautlosen Schrei gen Himmel.

»Undine, komm mit nach Hause.« Harm Lorentz führte seine Frau beschützend wie ein Kind. Tränen liefen ihr über das regenfeuchte Gesicht, aber sie sagte kein einziges Wort.

»Meine Mutter spricht nicht mehr«, berichtete Nele am nächsten Tag, als Enno und sie vor der Schulstunde auf einem Weidengatter saßen. »Vater sagt, sie ist krank, aber Wilhelmine sagt, wir brauchen keinen Doktor. Es ist nur der Wind.«

Enno fühlte sich unbehaglich. Jeder auf Greunfall wusste, dass Undine Lorentz Zeiten hatte, in denen in ihrem Kopf etwas in Unordnung war, aber man sprach nicht darüber. Wozu auch, nach einigen Wochen war sie wieder wie früher.

»Möchtest du noch mehr hören? Meine Möwe ist tot.«

»Das tut mir leid«, sagte Enno hilflos.

»Muss es nicht. Ich kann sie wieder lebendig machen.« Eifrig zog Nele ihren Zeichenblock aus dem Ranzen. Da war sie, die Möwe. Nicht mehr mit gebrochener Schwinge, nein, sondern in freiem Flug am Himmel, unter ihr das Meer und am Horizont eine Stadt mit Türmen und hohen Häusern.

»Husum?«, fragte er zweifelnd.

Sie schaute ihn verächtlich an. »Hamburg. Da kommst du nie hin. Aber ich, wenn ich erst groß bin.«

»Wenn du willst, besuche ich dich dort«, versprach er ernst, aber sie schüttelte energisch den Kopf.

»Du bleibst hier. Ich nehme nur Nelly mit.«

Kapitel 1

Der Leuchtturm blinkte beharrlich, und die Schiffssirene heulte in immer kürzeren Abständen.

»Komm schon, gib Ruhe!« Nele Lorentz warf ein Buch nach dem Wecker, der in weiser Absicht so weit von ihr entfernt auf einem Tischchen platziert war, dass sie zum Abstellen normalerweise aus dem Bett musste.

Heute, an einem Montagmorgen, traf sie ihn sogar zu ihrer Überraschung. Weniger überrascht war sie allerdings über die Tatsache, dass der kitschige Wecker gleich noch die Blumenvase mit vom Tisch riss, die ihren Inhalt über einen Stapel Zeichnungen ergoss, den sie gestern eigentlich noch hatte wegräumen wollen.

»Typisch für mich.« Nele sprang aus dem Bett und öffnete erst einmal die Balkontür. Aufräumen wollte sie später. Mit der frischen Luft strömte auch der Straßenlärm herein, aber wenn man sich weit genug über die Balkonbrüstung im vierten Stock lehnte, konnte man gerade noch einen kleinen Zipfel der Hamburger Binnenalster erhaschen. Wasser, sie brauchte diesen Anblick mitten in der Stadt.

Seit zwei Jahren lebte sie jetzt in Hamburg, hatte nach dem Schulabschluss, den sie in einem Internat auf dem Festland gemacht hatte, zunächst eine Fachschule für Kommunikationsdesign, Schwerpunkt Gebrauchsgrafik, besucht und dann nach einigen Jahren in Husum endlich ihre Traumstelle bei der Werbeagentur Löffler & Co. in Hamburg ergattert.

Traumstelle, na ja … ihre Begeisterung hatte sich inzwischen gelegt, aber immerhin reichte der Verdienst, um sich ihre »Wohnhöhle« in einem guten Stadtviertel leisten zu können. So nannte Nele schon mal die Wohnung, weil es noch zwanzig ähnlich geschnittene – eineinhalb Zimmer, Miniküche, fensterloses Bad und Balkon mit Geranienpflicht – im Haus gab.

Ein Blick auf die Uhr ließ sie endgültig wach werden. In einer knappen Stunde würde die Sitzung anfangen. Heute war der Tag, an dem Nele ihren Entwurf für die neue Verpackung von »Schumanns Schuhcreme« vorstellen sollte. Wo hatte sie bloß die Entwürfe hingelegt? Aber jetzt erst mal unter die Dusche, der Rest würde sich danach schon finden.

»Moin, Romeo, moin, Julia«, begrüßte sie nach dem Duschen ihre Haustiere, zwei Seesterne in einem Salzwasseraquarium, die ihr zu Studienzwecken dienten.

Sie hoffte, mit ihrem Team den Auftrag für Kinderbettwäsche an Land ziehen zu können, und gab es etwas Schöneres, als abends mit lächelnden Seesternen einzuschlafen und am nächsten Morgen gut gelaunt in ihrer Gesellschaft wieder aufzuwachen?

Nele stürzte ein Glas kalte Milch hinunter, raffte ihre Unterlagen zusammen und überlegte dabei fieberhaft, wo sie gestern Moby Dick geparkt hatte. Moby, ihr hellblauer, liebevoll bemalter Käfer, den ihr die Eltern damals zur Volljährigkeit geschenkt hatten. Lange hatte das Auto in einer Garage auf dem Festland auf seinen Einsatz warten müssen, denn auf der Hallig waren nur Pferdefuhrwerke und landwirtschaftliche Maschinen für den Gemeinschaftsgebrauch erlaubt.

Zu ihrer Erleichterung entdeckte Nele den Wagen zwei Seitenstraßen weiter. Mist, sie fuhr bereits seit vorgestern auf Reserve, was Moby Dick ihr irgendwie übel zu nehmen schien, denn beim Starten gab er nur einen röchelnden Laut von sich.

»Durchhalten«, bat sie und klopfte dabei aufmunternd auf die Ablage. Mit der Folge, dass die Blumenvase mit dem Strauß getrockneten Halligflieder abfiel. Erst beim dritten Versuch bequemte sich Moby, spuckend und bockend in Gang zu kommen.

Löffler & Co. lag in der neuen Hafencity und verfügte über einen eigenen Firmenparkplatz, dessen Schranke man mittels einer Chipkarte öffnen konnte. Vorausgesetzt, man hatte diese Karte auch bei sich …

»Flo, dich schickt der Himmel!« Florian, Freund und Kollege aus einer anderen Abteilung, bog gerade mit seinem Rennrad um die Ecke, als Nele ihm in den Weg trat und hastig den Schlüssel für ihren Wagen in die Hand drückte. »Sei ein Schatz, bring Moby irgendwo unter.« Sie hielt ihm flüchtig die Wange zu einem der nur angedeuteten Freundschaftsküsse hin, die gerade modern waren. »Falls er bockt, braucht er Benzin. Super ist nicht nötig. Kannst du das Geld bitte auslegen? Ich hab es brandeilig, bin schon auf dem letzten Drücker.«

War das schon jemals anders, dachte Florian ergeben, als er Nele mit fliegenden blonden Haaren, die mehr schlecht als recht von einer Micky-Maus-Haarspange zusammengehalten wurden, zum Fahrstuhl eilen sah. Unterwegs bückte sie sich nach einigen Blättern, die aus ihrer Mappe herausgerutscht waren. Das Hupen eines Wagens riss ihn aus seinen Gedanken.

»Können Sie Ihre Hippiekarre endlich mal aus dem Weg räumen?«

»Ich bin davon ausgegangen, dass es sich bei Leder um ein Naturprodukt handelt.« Nele schaute Beifall heischend in die Runde und erntete ein neutrales Kopfnicken des Kunden.

»Bitte fahren Sie doch fort, Frau Lorentz.« Herr Löffler, Juniorchef in mittleren Jahren, blickte bereits ungeduldig auf die Uhr.

»Ich schlage vor, wir bauen in unserer Kampagne auf die Assoziationen des Endverbrauchers. Schuhcreme, Lederschuh, Naturbelassenheit. Bereits die Verpackung sollte das ausstrahlen.« Sie legte ihre erste Faltschachtel auf den Tisch und betätigte den Beamer, der verschiedene Strukturzeichnungen an die Wand warf. »Modell Flaumfedern für beigefarbene und weiße Schuhe.« Als keiner reagierte, ging sie zum nächsten Bild über. »Struktur von Haifischhaut mit Perleffekt für schwarze Schuhe.«

»Ich finde das recht originell.« Jenny aus Neles Team bot Schützenhilfe an, denn noch hatte sich der Kunde nicht geäußert.

»Dürfen wir jetzt bitte das Modell für braune Schuhcreme in Augenschein nehmen?« Herr Löffler klang sarkastisch, aber Nele blieb optimistisch, denn für braune Schuhe hatte sie gleich zwei Ideen.

Nur – wo waren die Schachteln? Konnte es sein, dass sie noch zu Hause unter dem Leuchtturmwecker lagen? Egal, dann mussten eben die Strukturzeichnungen reichen.

»Kann es sein, dass das Bild auf dem Kopf steht?« Die erste Reaktion des Kunden, sicher ein gutes Zeichen, denn der Satz sprach für Interesse und Aufmerksamkeit.

»Getrockneter Seetang«, erklärte Nele stolz. »Und hier ist mein persönliches Lieblingsmodell.« Sie strahlte den Kunden an und schenkte auch Herrn Löffler ein Lächeln. »Vielleicht möchten Sie gerne einmal selber assoziieren?«

»Raten. Frau Lorentz möchte, dass wir raten«, übersetzte der Juniorchef. Überflüssigerweise, fand Nele.

»Körniger Sand«, rief Jenny.

»Holzmaserungen. Naturbelassene Kiefer. Merinoschaf.« In einer Werbeagentur herrschte kein Mangel an Fantasie, aber entscheidend war die Interpretation des Kunden.

»Also mich erinnert der Entwurf an etwas wie …« Er zögerte und wandte sich dann direkt an Herrn Löffler. Die Spannung im Raum stieg. »Ausscheidungen. Nicht besonders appetitlich für eine Schuhcreme von exzellenter Qualität, wie wir sie auf den Markt bringen wollen. Wäre es möglich, noch andere Entwürfe zu bekommen?«

»Aber … es ist die Struktur eines Seeigels«, verteidigte Nele ihr Modell. »Rein und sauber aus der Tiefe des Meeres, getrocknet von Sonne und Wind. Natur pur.«

Umsonst, der Kunde hatte sich bereits erhoben und wurde von Herrn Löffler hinauskomplimentiert. »Selbstverständlich bekommen Sie andere Entwürfe. Ich hatte in diesem Fall keine Ahnung. Ja, natürlich, wir haben auf Verpackungen spezialisierte Mitarbeiter. Mit mehr Erfahrung, wie Sie wünschen.«

»Ich zeichne Seetiere, seit ich einen Stift halten kann«, empörte sich Nele, als das Team alleine zurückblieb.

»Du hast die Präsentation versaut«, sagte Gerhard genüsslich. Gerhard, den man hinter seinem Rücken auch den Geier nannte, weil er sich auf jeden lukrativen Auftrag stürzte und dabei versuchte, die Kollegen auszubooten, indem er geschickt seine Arbeit in den Vordergrund stellte.

Horst, der zweite Mann im Team, steckte sich gelangweilt eine Zigarette an. »Was dagegen, wenn ich hier rauche?«

»Ja«, kam es von Jenny. »Geh gefälligst ins Raucherzimmer. Soll ich dir mal deine Lunge von innen aufzeichnen?«

Nele musste lachen, aber dann fiel ihr wieder die verpatzte Vorstellung ein. »Leute, es tut mir leid. Ich hab’s vermurkst, aber vielleicht gibt Löffelchen uns trotzdem eine Chance für die Kinderbettwäsche.«

»Komm ihm besser in den nächsten Tagen nicht unter die Augen«, riet Horst und schlug den Weg zum Raucherzimmer ein. »Eine mitrauchen, Gerhard?«

»Nein, danke. Ich werde lieber versuchen, beim Chef gutes Wetter zu machen. Quasi eine Entschuldigung finden.«

»Ein Schleimbeutel und ein Lahmarsch, und dabei halten sie sich für die Krone der Schöpfung«, monierte Jenny und sprach damit Neles Gedanken laut aus. »Was nun, es ist Mittagspause. Gehen wir ins Piranha auf einen Prosecco?«

Nele war nicht abgeneigt, zumal sie im gläsernen Fahrstuhl auf Florian trafen, der ihr mürrisch den Autoschlüssel zurückgab.

»Er ist drei Meter hinter der Schranke stehen geblieben. Ich musste mir einen Benzinkanister leihen und jemanden bitten …«

»Fein, Moby läuft also wieder. Das ist gut«, tat Nele die Sache ab. Flo war immer so umständlich. Für sie selbst galt fertig und aus, wenn ein Problem praktisch gelöst war.

Das Piranha verfügte über eine Terrasse zur Hafenseite und war gut besucht, aber Manuelo, der Wirt, hatte ihnen in weiser Voraussicht einen Tisch in der vordersten Reihe mit Blick auf den Yachthafen freigehalten, denn die Leute von Löffler & Co. waren treue Gäste.

»Wie war die Präsentation?«, wollte Flo wissen.

»Alles Kunstbanausen«, berichtete Nele. »Sollen die doch ein simples Kackbraun für ihre Verpackung nehmen, dann spare ich mir meine Seetiere eben für die Kinderbettwäsche auf.«

»Noch haben wir den Auftrag nicht«, meinte Jenny skeptisch.

»Das wird schon. Ich hab das im Gefühl.«

»Deine berühmten Vorahnungen. Die seherischen Fähigkeiten einer Insulanerin«, spottete Flo.

»Wie oft soll ich euch das noch sagen, eine Hallig ist keine Insel«, entgegnete Nele mit gespieltem Seufzen, denn sie hatte es den Freunden schon so häufig erklärt.

»Wir werden das ja demnächst persönlich in Augenschein nehmen können«, meinte Jenny. »Bleibt es dabei, in vierzehn Tagen ein langes Wochenende?«

»Wie abgesprochen«, bestätigte Nele und nahm sich vor, noch am selben Abend endlich ihre Eltern anzurufen und den Besuch anzukündigen. »Falls keine Sturmflut angesagt ist, denn dann fährt das Boot nicht rüber.«

»Was machen deine Eltern jetzt, Mitte September, wenn die Tagesgäste allmählich ausbleiben?«

»Nichts Besonderes.«

Tja, was machten sie eigentlich? Nele pflegte darüber nicht groß nachzudenken. Auf der Warft gab es immer zu tun, und ihr Vater schrieb abends vermutlich weiter an seinem »Jahrhundertwerk« über die Geschichte der Halligen. Wie er es schon getan hatte, als sie noch ein Kind war, während Undine stundenlang aufs Wasser schaute und in ihrer eigenen Welt lebte. Wie gut, dass Wilhelmine noch so rüstig war und die Arbeit brauchte wie ihr täglich Brot.

»Ihr bekommt dort nichts Aufregendes geboten«, warnte Nele die Freunde. »Gute Luft, Halligkäse und abends einen zünftigen Teepunsch. Ein altes Haus, um das der Wind pfeift. Der Kamin rußt so, dass einem die Augen tränen.«

»Kein Mann im heiratsfähigen Alter?« Jenny hatte erst kürzlich ihrem Freund den Laufpass gegeben, weil er sich, in ihren Worten, als unkreativer Langweiler erwiesen hatte.

»Wo denkst du hin! Höchstens einen Witwer. Und Enno, aber der ist ein Einzelgänger.«

Enno, der für sie wie ein großer Bruder gewesen war, den sie rumkommandieren konnte, auch heute noch bei ihren selten gewordenen Besuchen zu Hause. Ich sollte auf seine Briefe antworten, dachte Nele schuldbewusst. Denn es war Enno, der ihr getreulich einmal im Monat über alles auf Greunfall Bericht erstattete, auf sorgfältig mit Tinte beschriebenen Blättern, denen er schon mal eine gepresste Pflanze beilegte. Aber im Zeitalter von Handy und Internet Briefe schreiben? Dazu konnte sich Nele nicht aufraffen, also blieb es von ihrer Seite aus bei bunten Postkartengrüßen, die sie mit kleinen Zeichnungen verzierte.

»Der Wikinger ist wieder da.« Jenny wies auf ein Holzschiff, das vorne am Bug einen prächtigen Drachenkopf als Galionsfigur trug.

»Und seinen Harem hat er auch dabei«, sagte Flo missbilligend. In der Tat war der Skipper an Bord gleich von mehreren Schönheiten umgeben, köpfte gerade eine Flasche Sekt und spritzte den Inhalt auf die fröhlich kreischenden Mädels. Überraschend grüßte er dann zu ihrem Tisch herüber.

»Na, Flo, ist er eher was für uns oder für dich?«, neckte Nele den Freund, der kein Geheimnis aus seiner Bisexualität machte.

»Das ist doch ein Angeber«, sagte Flo, der in seinem üblichen schwarzen Outfit im Schatten saß, obwohl die Sonne jetzt, gegen Ende des Sommers, noch angenehme Wärme verbreitete.

»Aber ein Frauentyp«, meinte Jenny sachkundig, und Nele musste ihr recht geben. Der sogenannte Wikinger war zwar nicht blond, sondern hatte schulterlange braune Locken, wirkte aber sportlich und durchtrainiert, wie er da in seinem fast bis zum Bauchnabel offenen Hemd und den am Knie abgeschnittenen Jeans an der Reling lehnte.

»Das sind so Typen, die im Alter schnell Fett ansetzen«, giftete der magere Flo.

Die beiden Frauen sahen sich an und prusteten los. Florians vergebliche Bemühungen, mithilfe eines Fitnessstudios protzige Muskeln aufzubauen, waren in der Agentur hinter seinem Rücken oft Gesprächsthema.

»Was macht dein neuer Lebensabschnittsgefährte, oder ist es diesmal eine Gefährtin?«, erkundigte sich Nele heiter.

»Die Beziehung muss erst noch wachsen«, wehrte Flo brummig ab.

Keiner von ihnen bekam jemals Flos Partner zu Gesicht, was ihn mit einer geheimnisvollen Aura umgab, auf die er großen Wert legte.

Aus einer spontanen Eingebung heraus nahm sich Nele eine Papierserviette und entwarf mit wenigen Strichen das Bild eines übertrieben breitschultrigen Mannes an Deck eines Schiffes, dessen Oberkörper wie aufgepumpt aussah und der einen Hahnenkopf mit schwellendem Kamm trug. Ihm zu Füßen lagen Hühner in Bikinis, die anbetend zu ihrem Meister aufschauten. »Gockel maritim« schrieb sie darunter und gab Manuelo die Zeichnung.

»Das kannst du dem Mann geben. Aber warte bitte, bis wir gegangen sind.«

Manuelo grinste. »Ich weiß nicht, ob er Humor hat.«

»Der doch nicht«, behauptete Flo sofort.

»Was soll’s, der Typ ist sicher bald wieder weg. Wollte er nicht einmal um die Welt segeln?« Nele erinnerte sich vage an einen Zeitungsbericht, in dem der Wikinger in einer Heldenpose abgebildet war.

»Vorsicht, er kommt«, zischte Jenny und fuhr sich eitel durch die kurzen schwarzen Haare.

Der Mann holte sich an der Theke Zigaretten und plauderte mit Manuelo, der ihm schließlich Neles Zeichnung überreichte und mit einer kurzen Kopfbewegung zu ihrem Tisch wies.

»Der haut uns doch glatt in die Pfanne«, schimpfte Nele und hatte dabei ein mulmiges und gleichzeitig prickelndes Gefühl.

Nachdem der Wikinger die Zeichnung eine Weile betrachtet hatte, schlenderte er betont langsam zu ihnen herüber. »Wem habe ich diesen Kunstgenuss zu verdanken?« Unbekümmert setzte er sich auf den letzten freien Platz.

Aus der Nähe sah er reichlich zerknittert aus, vielleicht Ende dreißig, fand Nele. Aquamarinblaue Augen, ungewöhnlich für einen braunhaarigen Menschen. Ein Mann, der sich auf provozierendes Flirten verstand und sehr wohl um seine Attraktivität wusste.

»Es war ein Gemeinschaftswerk«, sagte Nele rasch und warf ihren Freunden einen warnenden Blick zu.

»Aber die Unterschrift stammt von ihr.« Jenny, die Verräterin, tippte Nele an.

»Das habe ich mir bereits gedacht, so wie speziell diese Dame hier immer zu mir herübergeschaut hat.«

»Von wegen. Hab ich nicht.« Was für ein eingebildeter Kerl! Nele konnte es nicht verhindern, dass ihr eine leichte Röte ins Gesicht schoss.

»Lust auf einen kleinen Törn?«, fragte der Wikinger lässig und schaute dabei von Nele zu Jenny und wieder zurück.

»Fehlt Ihnen etwa noch zusätzliches weibliches Personal?«, platzte Flo unfreundlich heraus.

»Die Damen haben gerade abgemustert. Ich könnte eine neue Crew gebrauchen.«

»Wir gehören zur arbeitenden Bevölkerung«, sagte Jenny bedauernd. »Unsere Pause ist gleich zu Ende.«

»Und Sie?« Er schaute Nele direkt in die Augen. War es Spott oder Interesse? Sie wich dem Blick nicht aus.

»Ich möchte nicht so gerne Teil eines Hühnerhofs sein«, erklärte sie, lächelte aber dabei.

»Schade. Vor allem für Sie.« Er erhob sich, klopfte kurz auf den Tisch und machte sich mit wiegendem Gang auf den Weg zurück zu seinem Boot.

»Schau dir diesen herrlichen Knackarsch an«, seufzte Jenny. »Meinst du, er lädt uns mal wieder zu einem Törn ein?«

»Die Chance ist verpasst«, antwortete Nele lachend. »Schau, er hat schon Ersatz für uns gefunden.«

Einige Schulmädchen bewunderten das Schiff, und es dauerte nicht lange, bis der Wikinger sie an Bord holte.

»Frei sein und dann die Welt umsegeln«, träumte Jenny. »Bis an den Horizont heran.«

»Davon habe ich früher auch geträumt. Ich wollte immer mit den Möwen mitfliegen«, erzählte Nele. »Aber hinter dem Horizont kommt stets ein neuer Horizont. Stell ich mir jedenfalls so vor.«

»So, ihr Philosophen, ich mach mich auf den Weg. Kommt ihr?« Flo winkte Manuelo zu.

»Wie heißt denn unser Gockel?«, erkundigte sich Nele.

»Leif Larsson«, antwortete Manuelo. »Von dem erzählt man sich tolle Geschichten …«

»Kann ich mir gut vorstellen. Danke, kein Bedarf«, wehrte Nele lachend ab.

Kapitel 2

»Frau Lorentz, das hier wurde unten beim Pförtner für Sie abgegeben. Ich nehme jedenfalls an, dass die Post für Sie bestimmt ist.« Herr Löffler saß hinter seinem Schreibtisch und hatte die Daumen in eine Weste mit Blumenmuster eingehakt. Betont lässig, aber auf Nele wirkte der Chef wie seine eigene Karikatur. Vor ihm lag ein Umschlag im DIN-A4-Format, auf dem statt einer Adresse eine Zeichnung war. »Bitte, sehen Sie selber.«

Nele nahm den Umschlag in die Hand und konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Nicht schlecht. Auch nicht richtig gut, aber es war deutlich zu erkennen, was der Künstler abbilden wollte – eine Szene, wie sie sich vor zwei Wochen auf der Terrasse des Piranha abgespielt hatte. Florian und Jenny, einigermaßen wirklichkeitsnah getroffen, und neben ihnen eine Frau in geringeltem Pullover mit aufgestecktem weißblondem Haar, aus dem sich viele kleine Strähnen lösten. Selbst die Micky-Maus-Haarspange fehlte nicht. Ein Pfeil führte zu dieser Person, eingerahmt von dicken Frage- und Ausrufezeichen.

»Ja, das könnte ich sein«, sagte sie zu Herrn Löffler mit unbeteiligter Stimme.

»Wollen Sie den Brief nicht öffnen?«

»Später. Ich stecke mitten in der Arbeit. Haben Sie schon eine Entscheidung getroffen, wer die Muster für die Stoffkollektion …?«

»Nein, habe ich nicht.« Herr Löffler runzelte die Stirn. »Schuhcreme. Braune Ringelwürmer. Unsere Kunden mögen das nicht.«

»Keine Wattwürmer, Seeigel«, verteidigte sich Nele. »Und für Kinder würde ich selbstverständlich ganz anders vorgehen.«

Eine Erwiderung kam erst, als sie schon fast an der Tür war. »Sprechen Sie das mit Ihrem Team ab. Ich wünsche zunächst einen Entwurf. Arbeiten Sie bitte in diesem Fall etwas konventioneller. Vielleicht mit Schäfchen oder Kätzchen.«

Oder Seesternen, dachte Nele aufgeregt, und diesmal wollte sie ihre Chance auf jeden Fall richtig nutzen, komme, was wolle.

Bevor sie den anderen die frohe Botschaft verkündete, riss sie noch schnell den Umschlag auf. Er enthielt eine weitere Zeichnung. Ein Schiff, das ihr verdächtig bekannt vorkam, obwohl es anstelle des Drachenkopfes eine andere Galionsfigur trug. Eine Frau – sie selbst – mit Ziegenkopf. »Modell Seezicke« hatte der Künstler sein Werk genannt.

»Du bist dran mit dem Eimer. So nimm ihn schon.« Jenny drängte Florian, der vergeblich bemüht war, in Moby Dick seine langen Beine auszustrecken, das Seesternpärchen Romeo und Julia auf, das in die Freiheit entlassen werden sollte.

»Wir sind schon da«, verkündete Nele und würgte beim Einparken den Wagen ab.

»Darf man hier denn parken?«, wollte der korrekte Florian wissen. »Da steht was von Überflutungsgefahr.«

»Ist doch noch der Deich davor«, meinte Nele unbekümmert. »Außerdem soll sich das Wetter halten. Es ist fast windstill.«

»Also ich finde es eher stürmisch.« Jenny fror in ihrem dünnen Seidenanorak.

»Beeilung, Herr Pedersen will ablegen.« Nele schnappte sich ihre Reisetasche und winkte dem Versorgungsschiff zu, das zweimal pro Woche die kleine Hallig ansteuerte.

»Es schaukelt«, klagte Jenny, und Florian wickelte sich in seinen edlen schwarzen Cashmereschal, den er extra für dieses Wochenende angeschafft hatte.

»Schnapsidee, das Wochenende wie Robinson zu verbringen«, murrte er und betrachtete argwöhnisch eine Möwe, die sich auf der Reling häuslich niederließ. »Komm mir bloß nicht zu nahe, du alter Geier.«

»Nette Brise, was? Ich merk immer erst unterwegs, wie frei man hier durchatmen kann. Ist doch anders als in der Stadt.« Nele hatte ihre Seesterne wieder dem Meer übereignet und schaute sinnend über das Wasser, in dem sich schon der Abendschein spiegelte.

»›Graues Geflügel huschetneben dem Wasser her,wie Träume liegen die Inselnim Nebel auf dem Meer.‹

Theodor Storm, wir haben es bei jeder Schulfeier aufgesagt. Ich kann es bis heute. Wie das Vaterunser auf Friesisch. Wilhelmine hat es mich früh gelehrt.«

Jenny und Flo schauten sich entgeistert an. Das war eine andere Nele als die flippige Chaos-Queen, die sie kannten.

Vor ihnen tauchte jetzt eine lang gestreckte Sandbank auf.

»Da liegt was drauf. Steine oder so.« Jenny lieh sich das Fernglas aus. »Es sind Seehunde«, rief sie dann aufgeregt. »Echte Seehunde.«

»Was dachtest du denn, ausgestopfte?«, erwiderte Nele lachend. »Schaut mal nach oben, ein Vogelzug.«

»Wildgänse?«, riet Florian, denn etwas anderes fiel ihm nicht ein.

»Von wegen, es sind Seeschwalben, die im Herbst in den Süden ziehen. Aber die Möwen bleiben.«

»Sind die alle so groß wie diese hier?« Florian behielt den trippelnden Vogel neben sich skeptisch im Auge.

»Ganz unterschiedlich. Die neben dir ist eine Mantelmöwe, aber es gibt auch Lachmöwen, Sturmmöwen und … Wartet bis morgen, dann erkläre ich euch den Unterschied. Wir legen jetzt gleich an.«

»Ich sehe ein Licht, das sich bewegt«, sagte Jenny, die es in der einsetzenden Dunkelheit zu erkennen glaubte.

»Das ist Wilhelmine mit ihrer altmodischen Laterne, die uns begrüßen möchte.« Wo blieben ihre Eltern? Undine war in letzter Zeit heiter und gelöst gewesen, wie ihr Vater ihr am Telefon berichtet hatte. Kein Grund zur Sorge, obwohl allmählich die Jahreszeit nahte, in der es häufig bei den Stimmungen ihrer Mutter zu einem Umschwung kam. Dann trat Undines Nervenschwäche stärker zu Tage, aber man schirmte sie in dieser Zeit liebevoll ab. Ob es auf dem Festland mit intensiverer ärztlicher Betreuung besser gehen würde, konnte keiner sagen, denn Undine verweigerte jede Form der Behandlung.

»Herzlich willkommen.« Wilhelmine sah aus wie immer – gehüllt in einen schwarzen Kapuzenmantel, der bis zu den Knöcheln reichte, um Kopf und Schultern ein graues Wolltuch, an den Füßen gefütterte Gummistiefel. Die vielen Fältchen im Gesicht sprachen für ein bewegtes Leben und hatten sich um einige vermehrt, aber die Augen blickten immer noch hell und wachsam. Nele wurde von ihr fest in den Arm genommen. »Bist ja nur noch Haut und Knochen, mein Mädchen.«

»Im Gegenteil, ich muss dringend eine Diät machen.«

»Was für ‘n neumodischer Kram.«

»Frischer Wind hier. Nette kleine Insel«, sagte Jenny tapfer auf dem Weg zur Warft hoch. »Aber ich hab das Gefühl, der Boden schwankt noch unter mir von der Überfahrt.«

»Halligen sind wie Schiffe, die immer vor Anker liegen«, erklärte Wilhelmine. »Deine Eltern warten im Pesel auf uns«, wandte sie sich an Nele.

»Das Wohnzimmer, die gute Stube von früher«, übersetzte Nele für die anderen. »Wir haben noch Deckenbalken mit Malereien aus dem 17. Jahrhundert und eine Menge altes Zeug.«

Die Eltern standen zum Empfang bereit. Undine hatte zwar tiefe Schatten unter den Augen, freute sich aber aufrichtig über das Wiedersehen.

»Lasst uns einen Tee trinken«, schlug sie nach dem Essen – es hatte einen Fischeintopf und selbstgebackenes dunkles Brot gegeben – vor.

»Rum mutt, Zucker kann, Water brukt nich«, meinte Harm Lorentz freundlich. »Übersetzt für die Küste heißt das: Rum muss sein, Zucker kann, und Wasser ist eher überflüssig.«

»Sie schreiben an einem Buch?«, erkundigte sich Florian höflich, als man später vor dem wärmenden Kamin saß und auf das Knistern der Scheite hörte.

»Ich wünschte, ich hätte dafür mehr Zeit«, seufzte Harm. »Der Küstenschutz, Sommergäste und die Versorgung des Pensionsviehs, da bleiben mir nur die Winterabende.«

Nele setzte sich auf die Armlehne des Sessels ihres Vaters und legte ihm den Arm um die Schulter. »Eines Tages wirst du das Buch beendet haben. Und ich mache dafür die Illustrationen, so wie früher.«

»Damals hast du mir in meine Wasserstandstabellen einen Heringsschwarm und tanzende Quallen gezeichnet, weißt du noch?«

»Das war bestimmt Nelly«, sagte Nele lachend.

»Die freche Nelly, natürlich!«

»Hast du eine Schwester?«, fragte Jenny neugierig.

»Leider nicht. Ich hatte nur den ollen Enno zum Spielen. Deshalb erfand ich mir eine Gefährtin, die ich Nelly nannte. Nelly war für jeden Streich verantwortlich, und sie gab mir immer recht. Nachts erzählten wir uns im Bett Geschichten oder heckten neue Dummheiten aus.«

»Seid mir nicht böse, aber ich möchte mich zurückziehen.« Undine erhob sich und schlug die Arme um sich, als ob sie frösteln würde.

Nele begleitete ihre Mutter ins Schlafzimmer. »Wie geht es dir wirklich?«, fragte sie weich.

»Gut«, antwortete Undine. »Allen Ernstes.« Aber dabei ging ihr Blick verloren in Richtung des einen Spalt geöffneten Fensters, vor dem die Gardine wehte. Die kühle Nachtluft hatte sich bereits ihren Weg in den Raum gebahnt. Der klagende Ruf eines Seevogels hallte aus dem Watt.

»Ich mach das Fenster für dich zu.«

»Nein. Sie … sie sind so alleine da draußen.« Undine griff nach Pullover und Jacke. »Ich brauche noch ein bisschen Bewegung. Morgen haben wir Zeit für alles.«

Nele wusste, dass es zwecklos war, ihre Mutter aufhalten zu wollen. Worin auch immer ihre Unruhe bestand, das konnte sie nicht sagen. Und auch nicht, wen oder was sie »draußen« vermutete. Wenn man Undine zu sehr mit Fragen zusetzte, verstummte sie und zog sich in ihre innere Welt zurück. Was war wohl diesmal der Auslöser gewesen? Ihr Besuch?

Zurück in der Stube, verständigte sich Nele kurz mit ihrem Vater, und als sie das Klappen der Tür vernahmen, machte auch Harm sich auf den Weg nach draußen. »Die Tiere«, meinte er entschuldigend.

Jenny gähnte unverhohlen, wollte aber noch nicht zu Bett. »Was ist mit den alten Spukgeschichten, die du mal erwähnt hast? Ich würde gerne eine hören.«

»Spukgeschichten«, grollte Wilhelmine. »Hier auf der Hallig geht es anders zu als in der Stadt. Wir wissen noch, woran wir glauben.«

»Ist ja gut«, sagte Nele beruhigend. »Die einen glauben an das, was sie sehen, und die anderen …«

»Hast du nicht selber die Totenglocken von Rungholt läuten gehört?«

»Ich war ein Kind mit viel Fantasie«, meinte Nele leichthin. »Es kam wohl eher von deinen Geschichten. Nicht, dass ich sie nicht geliebt hätte«, fügte sie schnell hinzu, als Wilhelmine zu einem Protest ansetzte. »Weißt du noch, als Enno und ich eines Nachts Gonger gespielt haben?«

»Was dem armen Jungen eine tüchtige Tracht Prügel eingebracht hat, und du bist mal wieder so davongekommen«, sagte Wilhelmine mit gespielter Strenge.

»Wer oder was sind Gonger?«, wollte Florian wissen, der sich in eine Decke eingewickelt und seine Füße gefährlich nah am Feuer platziert hatte.

»Erzähl du es ihnen«, schmeichelte Nele.

Wilhelmine ließ sich nicht lange bitten. Sie lehnte sich auf ihrem geschnitzten Armstuhl zurück, schloss die Augen und wartete einen Moment, bis die Spannung im Raum spürbar gestiegen war. »Wenn nachts der Sturm an den Fenstern rüttelt und der Regen von Westen dagegenpeitscht«, begann sie und legte gleich wieder eine kurze dramatische Pause ein, »dann kommen sie, die Wiedergänger. Sie klopfen an die Türen, gehen hindurch und stehen schon mal vor deinem Bett. Wasser läuft an ihnen hinab. Sie sagen kein einziges Wort, heben aber die Hand zum stummen Gruß.«

»Wer sind sie?«, flüsterte Jenny.

»Ruhelose tote Seelen«, raunte Wilhelmine. »Sie kündigen den Seemannstod eines Verwandten oder nahen Freundes an, den das Meer unlängst verschlungen hat. Wenn sie gegangen sind, bleibt nichts als eine Wasserlache zurück.«

In diesem Moment klopfte es laut an der Haustür. Sie schrien alle gleichzeitig auf, Nele und ihre Freunde, nur Wilhelmine nicht.

»Wer uns etwas zu sagen hat, soll hereinkommen«, rief sie mit fester Stimme.

»Es brannte noch Licht, da wollte ich mal kurz vorbeischauen.«

»Enno!« Nele war wütend und erleichtert zugleich. »Uns so zu erschrecken. Wir haben dich für einen Wiedergänger gehalten.«

»Eine Wasserlache hinterlässt er ja«, platzte Jenny heraus. Enno streifte seine nassen Sachen ab und setzte sich zu ihnen ans Feuer. Er machte keine Anstalten, Nele zur Begrüßung in den Arm zu nehmen, schüttelte aber allen formell die Hand, selbst Wilhelmine.

»Harm ist unterwegs«, sagte diese erklärend.

»Ich weiß. Ich hab die beiden an der Kirchwarft gesehen. Sag Harm, ich habe einen Käufer für den Kutter gefunden.«

»Du willst den Betrieb deines Vaters verkaufen?« Nele war überrascht. »Ich dachte, du bleibst beim Fischfang, jetzt, wo dein Vater es gesundheitlich nicht mehr schafft.«

»Und dann ein Leben lang im Sommer die Touristen zum Krabbenfischen rausfahren? Vielleicht noch Shantys vom Band laufen lassen?«

»Warum nicht? Hier leben wir nun mal vom Tourismus.«

»Du nicht.« Das klang ein wenig scharf. »Du bist geflüchtet, kommst nur noch auf Besuch. Dabei ist hier genug Arbeit in der Saison. Wilhelmine wird auch nicht jünger.«

Nele musste schallend lachen. »O Enno, du hörst dich an wie fünfzig. Nein, wie sechzig. Sei doch nicht so grantig. Wie wär’s mit einem Teepunsch, damit du lockerer wirst?«

Er zögerte für einen Moment. »Ich denke, ich schau lieber mal nach deinem Vater.« Sie vermieden es, Undine zu erwähnen. So, wie es seit Jahren üblich war. Man musste nicht alles aussprechen. »Wie lange bleibst du?« Nun klang er freundlicher und sprach sie direkt an. Guter alter Enno, dachte Nele, hat immer eine lange Anlaufzeit.

»Ich bring dich ein Stück«, entschied sie. »Wie ist es mit euch, kommt ihr mit?«

»Du willst uns vom Kamin weglocken? Niemals!« Jenny sprach auch im Namen von Florian, der seinen jenseitigen Blick hatte und in der Glut stocherte.

»Die Kampagne für Erkältungssalbe«, führte er ein Selbstgespräch. »Heiß wie … Sorry, aber ich mach mir lieber ein paar Notizen.«

Der Wind hatte zugenommen, und Nele drängte sich Schutz suchend dichter an Enno. Ganz automatisch, wie sie es früher als Kinder getan hatten. Er wich ihr nicht aus, im Gegenteil, für einen kurzen Moment legte er schützend den Arm um sie. »Vorsicht, wir haben noch immer keine richtige Straßenbeleuchtung.«

»Wozu auch, wir kennen hier doch jeden Stein.« Nele stieß ihn mit dem Ellbogen in die Seite. »Weißt du noch, unser Auftritt als Gonger? Und als ich die Strandkrabben im Schulzimmer ausgesetzt habe?«

»Ich hätte dich davon abhalten sollen«, seufzte Enno.

»Gegen Nelly bist du nie angekommen.«

Sie schlugen den Weg zur Kirchwarft ein. Es gab dort zwar nur noch die Überreste einer Backsteinkirche aus dem 12. Jahrhundert, aber die Kapelle und der angrenzende Friedhof wurden bis heute genutzt. Alle vierzehn Tage kam der Pastor von der größeren Nachbarhallig, um einen Gottesdienst abzuhalten.

»Deine Mutter war das ganze Jahr über in Ordnung.« Sie sahen Neles Eltern gemeinsam zur Halligkante gehen. »Sie ist sogar mit deinem Vater auf dem Festland beim Spezialisten gewesen, aber der hat einen stationären Aufenthalt zur Beobachtung empfohlen.«

»Und sie wollte natürlich nicht bleiben. Das kann ich mir denken.« Nele leitete zu einem anderen Gesprächsthema über, das ihr ebenfalls wichtig war. »Enno, es ist sehr nett von dir, dass du mir Neuigkeiten von meiner Familie und von Greunfall berichtest. Ich hatte mir auch fest vorgenommen, auf deinen letzten Brief zu antworten, aber dann ist es doch wieder nur bei einem Kärtchen geblieben.«

»Mit der Fischgräte im Nachthemd. Hat mir gut gefallen. Du hast eine besondere Begabung für humorvolle Darstellungen.«

»Nur so eine Spielerei, nichts im Vergleich zu deinem Aufwand, mir regelmäßig zu schreiben. Weißt du, dass du der einzige mir bekannte Mensch bist, der es vorzieht, mit der Hand zu schreiben, statt E-Mails zu schicken?«

»Wenn du Mails vorziehst, musst du es sagen. Ich habe längst einen Computer.«

»Du? Was willst du denn damit?« Schon war ihr der Satz rausgerutscht.

»Ich bilde mich ständig weiter.«

Nele blieb überrascht stehen. »Wozu denn?«

»Vielleicht will ich ja doch noch von der Hallig.«

Sie hatten die Diekwarft erreicht, auf der Enno sein Zuhause hatte.

»Du doch nicht. Oder doch. Dann kannst du dir eine passende Frau suchen und wieder zurückkehren.« Nele gefiel die Vorstellung nicht, dass sich auf Greunfall etwas ändern sollte, und schon gar nicht bei dem Vertrauten ihrer Kindertage. Aber sie wollte sich nicht egoistisch zeigen. »Gute Idee, Enno. Schau ruhig mal, was hinter dem Horizont liegt.« Sie gab ihm einen herzhaften Kuss auf die Backe. »Wie findest du Jenny? Sie ist zur Zeit frei.«

»Eine Städterin.« Es hörte sich abfällig an.

»Das bin ich jetzt auch«, verteidigte Nele die Freundin.

»Du bist und bleibst Nele. Oder Nelly, je nachdem.«

»Welche hast du lieber?« Mal sehen, ob sie den alten Enno noch aus der Reserve locken konnte.

»Nach Komplimenten fischen bewirkt bei mir nur das Gegenteil. Sieh zu, dass du jetzt umkehrst, dann bleibst du halbwegs trocken.«

Die Stimme der Vernunft, dachte Nele mit einem Anflug von Ärger, befolgte aber seinen Rat.

Undine erschien nicht zum Frühstück, aber Wilhelmine hatte alles gut vorbereitet. »Sahne und Käse sind von hier«, erzählte sie stolz.

»Ich habe geratzt wie ein Bär«, sagte Florian und nahm sich von der selbstgemachten Hagebuttenmarmelade.

»Wie wollen wir es machen? Erst Arbeitssitzung oder erst Führung?«, fragte Jenny und strich dabei bewundernd über die im Tisch eingelassenen Delfter Kacheln. »Was hast du für ein schönes Elternhaus. Diese eindrucksvollen Alkoven mit den Vorhängen, und das alte Geschirr auf den Borden in der Küche, ich bin ganz begeistert.«

»Mir imponieren die Ölbilder mit den maritimen Motiven«, ergänzte Flo. »Wie in einem Museum.«

»Ja, das denken die Leute öfter«, sagte Nele zerstreut, denn sie lauschte auf Geräusche von oben. »Dabei ist es nur eine typische Friesenstube aus dem 18. Jahrhundert. Meine Urgroßeltern haben hier schon gelebt, daher auch das ganze alte Zeug.«

Wilhelmine grummelte vor sich hin. »Kein Respekt vor den Vorfahren. Wir haben noch alte Petroleumlampen in Gebrauch gehabt und mit Treibholz und getrocknetem Kuhdung geheizt.«

»Wie konnten Sie dabei als Hebamme tätig sein?«, erkundigte sich Jenny neugierig.

»Wenn die Kinder auf die Welt kamen, wurde als Erstes der Kessel über dem offenen Feuer aufgesetzt. Genauer gesagt zwei Kessel. Einen für meine Arbeit, den anderen für einen kräftigen Teepunsch.«

»Dann ist auch Nele hier auf der Hallig geboren?«

»Richtig. Im blauen Schlafzimmer im ersten Stock. Es heißt so, weil die Deckengemälde in Blautönen gehalten sind. Das Blau, das damals die holländischen Kauffahrer für die Maler mitgebracht haben.«

»War es nicht ein großes Risiko, ohne Arzt zu entbinden?«

»Wenn gegen Ende der Schwangerschaft etwas nicht in Ordnung war, mussten die Frauen rechtzeitig aufs Festland gehen, so wie heute.« Wilhelmine klapperte mit dem Geschirr. »Das ist besser so. Meine Kleine hier«, sie wies mit dem Kopf auf Nele, »die ist in einer stürmischen Nacht zur Welt gekommen. Wir rechneten mit Land unter, aber es ging noch einmal glimpflich ab. Wir wollten deine Mutter schon nach oben in den Schutzraum bringen.«

»Solch einen Raum haben hier alle«, erklärte Nele. »Er ruht auf Betonpfeilern, die ins Haus integriert sind und bis in den Warftboden reichen. Hält jeder Sturmflut stand.«

Wilhelmine warf ihr einen strafenden Blick zu. Sie war mit ihrer Erzählung noch nicht fertig gewesen. »In jener Nacht schien der Mond nur fahl durch die sturmzerzausten Wolken. Dein Vater war auf dem Festland, kein Boot konnte mehr übersetzen.«

»Aber dann haben wir doch gemeinsam alles gut hinbekommen, nicht wahr?«

Wilhelmine verharrte bei dem, was sie tat, und steckte eine lose Haarsträhne mit einer Metallklammer neu fest. »Du bist unter einer Glückshaube geboren«, sagte sie dann weich. »Das ist sehr selten. Solche Kinder folgen ein Leben lang ihrem Glücksstern. Außerdem haben sie besondere Fähigkeiten.«

»Ha, das sollte mal Löffelchen, mein Chef, hören«, sagte Nele lachend.

»Und mit das Erste, was du auf dieser Welt zu sehen bekommen hast, war eine Möwe. Der Sturm hatte ein Fenster aufgerissen, und da hat sie sich ins Zimmer verirrt, ist einmal durch den Raum geflattert und dann auf deiner Wiege gelandet. Noch ehe wir schreien konnten, war sie wieder zum Fenster raus.«

»Vielleicht zeichnest du deshalb so gerne Seevögel«, vermutete Florian. »Um das kindliche Trauma von damals zu bewältigen. Schon mal daran gedacht?«

»Sicher, vom alten Freud hat man sogar auf der Hallig gehört. Aber ich denke, mein Faible für diese Tiere hängt damit zusammen, dass ich ihnen als kleines Mädchen immer hinterhergelaufen bin. Natürlich habe ich nie eine erwischt, aber alleine die Vorstellung, sie könnten mich mit in ferne Länder nehmen, hat mich verzaubert.«

»Ein weiblicher Nils Holgersson«, stellte Jenny fest.

»Komm, zeig uns dein Reich. Die Sonne scheint, vielleicht können wir draußen Skizzen machen.«

Nele machte mit den Freunden einen Rundgang. »Das Wattenmeer beginnt direkt vor unserem Haus. Die Halligen sind eine Art Wellenbrecher fürs Festland, und deshalb werden hier Küstenschutz und Uferbefestigungsmaßnahmen großgeschrieben. Die meisten Männer arbeiten da …«

»Was ist das für ein ulkiger Vogel?«, unterbrach Jenny. »Er kommt mir bekannt vor.«

»Ein Sandregenpfeifer. Ich hab ihn mal für das Emblem eines Spielmannszugs gezeichnet, erinnerst du dich?«

»Ach ja, aber da trug er Trommel und Pfeife.«

»Eben. Und genau deshalb hat Löffelchen ihn abgelehnt.«

»Diesmal wird er nichts zu beanstanden haben. Sagtest du nicht, er wünscht Hündchen und Kätzchen?«

»Auch Schäfchen. Er scheint ein Faible für niedlichen Kitsch zu haben.«

»Weil er als Kind kein Haustier halten durfte«, mutmaßte Flo. »Sagt mal, wie findet ihr das. ›Heiß wie die Glut, tut den Gelenken gut. Kalt wie die See … tut nichts mehr weh.‹ Denkt ihr dabei zufällig an Erkältungssalbe?«

»Entbehrt jeder Logik. Ihr Texter müsst mal vom Reimen runterkommen. Gib uns lieber einen Tipp für die kindgerechten Stoffmuster«, antwortete Jenny.

»Ich war nie ein Kind. Behauptet sogar meine Mutter. Passt auf, ich mach euch jetzt einen Vorschlag. Ihr geht links herum, ich rechts. Dann kann sich die Muse besser entscheiden, wen sie küsst. Austausch der Arbeitsergebnisse wäre dann wann?«

»Flo, hör auf zu planen! Lass einfach die Seele baumeln«, schlug Nele vor.

»Baumeln, taumeln …« Er stapfte mit wehendem Schal davon.

»Es muss schön sein, hier aufzuwachsen«, meinte Jenny nachdenklich, als sie sich vor dem Haus einen Tisch in die Sonne gerückt hatten. »Hast du jemals daran gedacht, für immer zurückzukehren?«

»Aber was soll ich hier tun? Wir haben nur Tagesgäste, und das auch nur während der Saison. Wilhelmine wird mit allem alleine fertig. Sie hält mich immer noch für ein tollpatschiges Kind.«

»Und was macht deine Mutter den ganzen Tag?«

»Was soll sie schon tun? Das, was gerade ansteht.« Nele legte ihren Skizzenblock auf den Tisch. »Womit fangen wir an, Lämmer?«

»Ich finde, deine Mutter hat eine ganz besondere Ausstrahlung.« Jenny ließ das Thema nicht los. »Vielleicht liegt es an ihren Haaren.«

»Ich kenne sie nur so weiß. Angeblich ist sie gleich nach meiner Geburt über Nacht weiß geworden. Aber Wilhelmine geht schon mal die Fantasie durch, das hast du ja selber erlebt.«

»Wenn ich an die Wiedergänger denke – lach nicht, aber ich hab gestern Nacht einen Stuhl vor die Tür gestellt, für alle Fälle.«

»Das nützt dir nichts. Sie können durch Wände gehen«, meinte Nele gleichmütig und bemerkte erst dann Jennys erschrockenen Gesichtsausdruck. »Hast du jemanden, der zur See fährt? Nein? Dann kommen sie auch nicht bei dir vorbei.«

»Du glaubst anscheinend an diese Schauermärchen«, sagte Jenny wenig später, während sie ihr Blatt mit Lämmchen füllte, die ordentlich aufgereiht vor einem Zaun standen. Ein schwarzes setzte gerade zu einem Sprung an.

»Nicht wirklich, aber das ist nun mal unser Kulturgut. Mein Urgroßvater war noch auf Waljagd, und als sein Schiff unterging, soll seine Frau eine Erscheinung gehabt haben. Das steht sogar auf den Vorsatzblättern unserer Familienbibel. Die Pfütze vor ihrem Bett war aus Blut, denn ihr Mann war von Piraten massakriert worden, wie sich später herausstellte. Den rostigen Fleck kann man bis heute erkennen. Hast du ihn nicht bemerkt?«

»Du meinst, das war in meinem Zimmer?«

»Ja. Wilhelmine hat dir den schönsten Raum gegeben.«

»Ich würde heute Nacht lieber woanders schlafen.« Jennys Stimme zitterte.

»Kannst mit zu mir kommen. Dann erzählen wir uns Geschichten. So wie früher Nelly und ich.«

»Danke. Ich verzichte. Zeig mal deinen Entwurf.«

Nele breitete ihre Bogen aus. »Ich dachte an eine Unterwasserwelt. Die Kinderstube des Meeres – Seesterne, die Ringelreihen tanzen, ein Fisch bläst auf einer Kammmuschel, und verliebte Herzmuscheln wohnen in einem Häuschen aus Tang. Hier oben«, sie nahm ein neues Blatt, »kreisen gleichzeitig neugierige Möwen. Die Mantelmöwe trägt selbstredend einen Mantel, vielleicht im Fischgrätenmuster, und die Silbermöwe ist natürlich mit Silberschmuck behangen.«

»Natürlich. Gold wäre nicht passend.« Jenny zog das Blatt dichter zu sich heran. »Es gefällt mir sehr gut, ehrlich, aber wo sind die Hündchen und Kätzchen?«

»Ein Seehundbaby, das in einer Wiege aus Korallen lebt.« Ein paar Striche, schon war es zu erkennen.

»Aber das wird ganz sicher kein Kätzchen«, protestierte Jenny, die das Bild jetzt auf dem Kopf sah.

»Wart’s ab. So, fertig. Ein Katzenhai. Zufrieden?«

»Ich schon«, kam es gedehnt.

»Löffler. Du denkst, er besteht auf den Nullachtfünfzehn-Tieren?«

»Kann sein, kann nicht sein. Fragen wir einen Unparteiischen. Da kommt dein Halligbruder.«

Enno brachte für Wilhelmine einen Stapel Netze zum Flicken. »Sie kann ja nicht untätig sein«, meinte er entschuldigend.

»Alles klar bei euch?«

Die Frage galt Nele. »Nichts Neues.« Sie wusste, dass er verstand. Ihr Vater hatte heute zur Nachbarhallig gemusst, und Undine würde tagsüber in ihrem Zimmer bleiben und erst nachts das Haus verlassen, um ihre Lieblingsplätze aufzusuchen. Passieren konnte ihr nichts auf Greunfall, aber ihr ungewöhnliches Verhalten blieb eine belastende Sorge für alle, bis die Phase endgültig vorbei war.

»Dürfen wir Sie um Rat fragen, Enno?«, bat Jenny und legte die Bilder von Lämmchen und Wassertieren vor. »Nur mal angenommen, Sie hätten Kinder …«

»Ha, Enno und Kinder!« Nele grinste ihn an. »Weißt du noch, als der Lehrer uns aufklären wollte und ich besser Bescheid wusste als du?«

»Weil du eine Mutter hattest. Ich nicht. Aber bei den praktischen Erfahrungen auf dem Festland habe ich dich dann überholt.«

»Leider wolltest du mir nie davon erzählen«, schmollte Nele. »Noch nicht einmal in der Nacht auf der Vogelinsel. Denkst du noch daran?«

»Es gibt Erlebnisse, die vergisst man nicht«, sagte er abweisend und nahm sich dabei die Zeichnungen vor. »Mir gefällt der Katzenhai. Bekommt er noch eine Sprechblase?«

»Gute Idee. Er sagt: ›Hi, ich bin ein Hai.‹ Oder gibt so etwas wie ein Unterwasser-Miauen von sich. Weil er ja ein Katzenhai ist.«

»Vollkommen logisch«, stimmte Jenny zu.

»Wer ist hier logisch?« Flo hatte die Hallig bereits umrundet. »Ich habe mich von den Wolken inspirieren lassen. Kann es sein, dass sie hier anders aussehen als in der Stadt?«

»Wie frisch aufgeschüttelt«, meinte Nele. »Und bei Sturm sehen sie aus wie graue Wollfetzen mit Armen, die dich von der Erde aufklauben wollen.«

»Bitte keine neuen Gruselgeschichten. Ich graul mich auch bei Tage«, gestand Jenny.

»Rungholt, die versunkene Stadt auf dem Meeresgrund. Das musst du dir aber noch anhören. Am besten von Wilhelmine.«

»Glocken, ich höre tatsächlich Kirchenglocken. Drehe ich jetzt durch?« Jennys Sorge war nicht gespielt.

»Die klingen von Hooge rüber. Sie haben dort nicht nur eine Kirche, sondern auch einen eigenen Pastor.«

»Der Gipfel des Luxus«, meinte Flo zynisch.

»Wir wollen und brauchen hier keinen Luxus«, sagte Enno ruhig und bestimmt. »Auch keine Hektik oder überkandidelte Menschen.«

»Lass man gut sein, Enno«, beschwichtigte ihn Nele. »Sei nicht beleidigt, aber deine Anschauungen sind ein wenig antiquiert. Komm mich endlich mal besuchen, dann zeige ich dir die angenehmen Seiten des Großstadtlebens.«

Wie üblich antwortete er nicht auf ihre Einladung, und sie verspürte Ärger. Sollte er doch hier versauern.

Der Rest des verlängerten Wochenendes verging wie im Fluge. Undine schützte einen Migräneanfall vor, und Jenny und Florian fragten nicht weiter nach. Harm Lorentz erzählte von der Geschichte des Hauses und forderte den Besuch auf, beim nächsten Mal mehr Zeit mitzubringen.

Vor der Abfahrt am Montagmorgen ging Nele noch einmal ganz alleine an den Strand, wie sie es jedes Mal bei ihren Stippvisiten zu tun pflegte.

»Gedanken und Strandgut sammeln« nannte man das auf der Hallig, und seit Kindertagen hortete Nele allerlei »Gedanken« in Form von Steinen oder Schneckenhäusern.

Heute entdeckte sie nur ineinander verwobene Tangbüschel und mit weißen Seepocken übersätes Treibholz. Eine Möwe ließ sich gerade auf dem Bruchstück einer alten Planke nieder und pickte versuchsweise gegen eine grüne Flasche.

Vorsichtig ging Nele näher, aber das scheue Tier flog sofort auf, und die Flasche rollte in den Sand. Automatisch untersuchte Nele das Fundstück, denn einmal eine echte Flaschenpost zu finden, davon hatte sie schon immer geträumt.

Darauf habe ich nun siebenundzwanzig Jahre gewartet, dachte sie aufgeregt, als sie den Zettel mit der zerlaufenen Tintenschrift aus der Flasche zog. Der Bügelverschluss hatte nicht ganz dicht gehalten, und so konnte sie den Text auf dem nassen Papier nur mit Mühe entziffern: »›Hier sind die starken Wurzeln deiner Kraft.‹ (Schiller)« Das war alles. Unterschrieben mit NHG und einer E-Mail-Adresse, wenn das Zeichen ein @ und kein Herzchen sein sollte. Keine Piratenbotschaft aus fernen Ländern, wahrscheinlich nur das Produkt eines Deutschkurses auf Klassenfahrt.

Nele steckte den Zettel ein und entsorgte die Flasche am Anleger.

Kapitel 3

Dauerregen. Kaum Wolkenlücken. Keine frische Brise. Selbst die Enten und Schwäne auf der Alster schüttelten missmutig ihr Gefieder und interessierten sich nicht mehr für die Brotbrocken, die ihnen einige wetterfeste Spaziergänger lockend zuwarfen. Hamburger Herbst, die dunkle Jahreszeit hatte endgültig begonnen.

»Fast schon Winter«, sagte Jenny gähnend in der letzten Arbeitssitzung vor dem Wochenende. »Ich habe bereits meine dritte Erkältung seit September. Warum immer nur ich?«

Gerhard und Horst kamen hustend aus dem Raucherzimmer.

»Von wegen. Nur unser Naturkind bleibt mal wieder verschont«, stellte Horst säuerlich fest. »Ob es an ihrer Schafswollweste liegt, die uns bei Feuchtigkeit die gute Luft hier im Raum verpestet?«

»Nur kein Neid.« Nele blieb gelassen. »Ich bin nun mal abgehärtet, kein geborener Stadtmensch. Die Weste hat mir Wilhelmine gestrickt, die Wolle stammt von unseren eigenen Tieren.« Sie schnupperte an dem Kleidungsstück. »Riecht ein bisschen streng, das gebe ich zu, aber besser als die Jacke, in der ich im Sommer beim Krabbenpulwettbewerb mitgemacht habe.«

»Nicht schon wieder Wassertiere als Thema, bitte! Bleiben wir lieber bei den Schafen«, forderte Gerhard. »Ich bin dafür, wir präsentieren nächste Woche Jennys Schafmotiv und die spielenden Kätzchen von Horst und mir. Der Chef wird schon den richtigen Riecher haben.«

»Und was wird aus meiner Unterwasserwelt mit den tanzenden Seesternen als Umrandung?«, fragte Nele empört.

»Läuft außer Konkurrenz. Vielleicht erbarmt sich ein Fischhändler, der ein Motiv für Papierservietten sucht«, meinte Horst zynisch.

»Vorlegen werden wir alles.« Gute Jenny. Wenigstens sie mochte den Entwurf, auch wenn sie ihn Nele gegenüber als »gewagt« bezeichnet hatte, da er nicht dem aktuellen Trend entsprach.

Aber Nele wollte nicht mehr rein handwerklich nach Auftrag vorgehen, bloß weil der verknöcherte Chef auf Nummer sicher ging. Beherzt riss sie das Fenster auf. »Hier fehlt frische Luft und frischer Wind in jeder Beziehung.«

Die anderen protestierten. »Willst du uns umbringen? Fenster zu!«

»Ich lauf mal schnell rüber ins Piranha, um meinen Schirm zu holen. Kommt ihr ohne mich klar?«

»Bestens«, behauptete Gerhard und drehte die Heizung voll auf, die Nele gerade erst runtergedreht hatte. »Tank für uns Frischluft mit und lass deine Weste auslüften.«

Inzwischen schüttete es wie aus Kübeln. Nele zog sich ihre sportliche Jacke über den Kopf und legte einen Sprint bis zum Piranha ein. Schon der zweite Schirm, den sie diese Woche verbummelt hatte, aber vielleicht war es noch nicht zu spät.

Manuelo, der Wirt, eilte ihr mit einem schwarzen Stockschirm entgegen und schnalzte mit der Zunge. »Ich gehe zurück in den Süden. Wirklich, das sollte ich tun. Was ist das für ein Leben bei solch einem Wetter?«

»Mit Schirm gar nicht so schlecht«, beteuerte Nele. »Manuelo, ich habe meinen gestern bei euch vergessen. Er war handbemalt, falls du dich erinnerst.«

»Natürlich. Mit Möwen in Gummistiefeln und Hundemützen.«

»Pudelmützen«, berichtigte Nele lachend. »Hast du ihn für mich weggepackt?«

Manuelo tat sich schwer mit der Antwort. »Wenn ich das gewusst hätte … Es tut mir leid. Ich habe den Schirm verliehen.«

»Warum ausgerechnet meinen?«, fragte sie verärgert. »Bei euch stehen doch genügend andere rum.«

»Es war auf speziellen Wunsch eines besonderen Gastes. Er wollte nur diesen Schirm.«

»Na, und wie geht es jetzt weiter? Wann bringt er ihn zurück?«

»Bis gestern Abend.« Manuelo blickte betreten zu Boden, was ihn einer weiteren Antwort enthob.

Das konnte doch nicht wahr sein! »Dann gib mir wenigstens diesen blöden Trauerschirm als Ersatz.« Sie wartete nicht ab, sondern entriss Manuelo das konventionelle Stück, sodass gleich zwei Speichen brachen. »Hoppla. Aber das kommt davon. Ist deine Schuld.«

Manuelo nickte ergeben. Gäste hatten immer recht, und Nele wollte er auf keinen Fall verlieren, hatte sie ihm doch erst kürzlich auf die Tür der Damentoilette einen freundlichen Tintenfisch gemalt. Zum Preis eines Cappuccinos.

»Was war das denn für ein besonderer Gast? Wenigstens ein Kunstkenner?«

»Das nehme ich an.« Manuelo hatte es plötzlich sehr eilig, wieder in sein Lokal zu kommen.

Der Rest des Arbeitstages verging mit einer Generalprobe für ihre Präsentation. »Halt dich mit den Wassertieren am Anfang ein bisschen zurück«, riet Jenny. »Warte, bis Löffelchen seine Vierbeiner hat, und dann legst du los.«

»In aller Bescheidenheit«, forderte Gerhard. »Tritt als Bittsteller auf. Sag, es handelt sich um eine Zusatzkollektion, und du wolltest damit nur einen Versuch starten, wenn er seine schützende Hand über das Projekt halten würde. Ein Mann mit seinen Erfahrungen.«