Das Haus hinter dem Deich - Anke Cibach - E-Book
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Das Haus hinter dem Deich E-Book

Anke Cibach

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Beschreibung

Blühende Apfelbäume und ein altes Familiengeheimnis in „Das Haus hinter dem Deich“ von Anke Cibach – jetzt als eBook bei dotbooks. Als Blütenkönigin reist die junge Birte durch ganz Europa, um das Alte Land zu vertreten. Als ihre Großmutter stirbt, kehrt sie zurück in ihre Heimat – und stellt entsetzt fest, dass es in ihrer Familie nicht mehr so friedlich ist wie früher: Durch den Tod brechen alte Konflikte zwischen ihrem Bruder und ihrem Vater wieder auf. Um vor den Streitereien zu fliehen, vergräbt sich Birte in der Auflösung des Nachlasses – und entdeckt dort ein altes Tagebuch. Während sie durch blühende Apfelhaine streift, taucht sie ein in die Welt ihrer Großmutter, und kommt einem bislang wohl gehüteten Familiengeheimnis auf die Spur ... Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Das Haus hinter dem Deich“ von Anke Cibach ist ein Lesevergnügen für die LeserInnen der Bestseller von Dörte Hansen. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 397

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Über dieses Buch:

Als Blütenkönigin reist die junge Birte durch ganz Europa, um das Alte Land zu vertreten. Als ihre Großmutter stirbt, kehrt sie zurück in ihre Heimat – und stellt entsetzt fest, dass es in ihrer Familie nicht mehr so friedlich ist wie früher: Durch den Tod brechen alte Konflikte zwischen ihrem Bruder und ihrem wieder Vater auf. Um vor den Streitereien zu fliehen, vergräbt sich Birte in der Auflösung des Nachlasses – und entdeckt dort ein altes Tagebuch. Während sie durch blühende Apfelhaine streift, taucht sie ein in die Welt ihrer Großmutter, und kommt einem bislang wohl gehüteten Familiengeheimnis auf die Spur ...

Über die Autorin:

Anke Cibach (1949–2012) studierte Psychologie und Anthropologie in Hamburg. Als Dipl.-Psychologin interessierte sie sich nicht nur für die Schokoladenseiten der Menschen, sondern auch für die geheimen, psychopathischen Anteile eines jeden. Sie liebte schwarzen Humor, Vogelspinnen und das Meer. Ihr Motto: Bücher sind Schokolade für die Seele!

Als eBook veröffentlichte Anke Cibach bei dotbooks auch ihre Romane »Das Haus auf der Insel«, »Der Tote vom Leuchtturm«, »Die Toten vom Hafen« und »Mörderische Kaffeefahrt«.

Als Print-Ausgabe ist bei dotbooks »Das Haus auf der Insel« erschienen.

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eBook-Neuausgabe Juli 2015

Copyright © der Originalausgabe 2005 by Knaur Taschenbuch. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Copyright © der Neuausgabe 2015 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock / David M. Schrader / Lightfield Studios / Ulviyya Mammadova / Alex Saluk / Evgenyi und © pixabay / Ruthies89 / darkmoon1968

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (fb)

ISBN 978-3-95520-850-9

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Anke Cibach

Das Haus hinter dem Deich

Roman

dotbooks.

Für meine Freundinnen

»Klaun, klaun, gehn wir Äppel klaun …?«

»Aus dem Heute wird ein Gestern,

aus dem Heute wird ein Morgen.

Jede Stunde eilt sich, teilt sich

mit den Freuden und den Sorgen.«

Wilhelm v. Scholz

Kapitel 1

Der Himmel war zu dieser frühen Stunde noch verhangen, und aus den schnurgeraden Gräben zwischen den Obstwiesen stieg nebelartiger Dunst, der die in voller Blüte stehenden Apfelbäume wie ein weiches Gespinst umhüllte.

Trotzdem versprach es, ein schöner Tag zu werden, denn die erste Lerche ließ bereits jubilierend ihr Lied erklingen, das von der bevorstehenden warmen Jahreszeit kündete. Von Blüten, aus denen sich auf wunderbare Weise Früchte bilden sollten, vom Duft der Veilchen und Schlüsselblumen, der Pfingstrosen und Malven.

Schon bald würde die Katze Mizzi heimlich in der alten Scheune ihre Jungen werfen, beobachtet nur von den Rauchschwalben, für die man stets ein Fenster offen ließ, damit sie frei ein- und ausfliegen konnten, denn sie galten von jeher als Glücksbringer.

»Komm, mein Arko, bei Fuß.« Eigentlich war es verboten, den Hund ohne Absprache mit den Eltern aus dem Zwinger zu nehmen, aber heute ist ein ganz besonderer Tag, dachte Birte Suhrfleth. Ihr achter Geburtstag! Sie konnte es kaum erwarten, dass sich alle um den großen Tisch in der Wohnküche versammelten, um mit ihr gemeinsam den Geburtstagskuchen anzuschneiden.

Oma Erna hatte zu diesem Festtag gewiss ihre alte kupferne Napfkuchenform genommen. Gesine, Birtes Mutter, schimpfte manchmal, weil Oma nicht die modernen Backformen und Töpfe gebrauchte, die man ihr regelmäßig schenkte, aber für die hatte Oma nur ein verächtliches Lachen übrig.

»Die sind doch viel zu klein. Wer soll denn davon satt werden? Und was werden die Nachbarn denken, wenn man ihnen Stücke in der Größe von Hühnerfutter vorsetzt?«

Mutter schüttelte bei solchen Reden lächelnd den Kopf, aber Vater sah es nicht gern, wenn Oma Erna sich in der großen Küche am alten Holzofen zu schaffen machte, mit dem Schürhaken in der Glut stocherte und dabei Selbstgespräche führte.

»Kann die Alte nicht mal in ihrer Altenteiler-Wohnung bleiben?«, beschwerte er sich schon mal halblaut.

Birte hatte es deutlich gehört, bevor die Mutter ihm einen warnenden Blick zuwarf. »Heinrich, die Kinder.«

Da nahm ihr Vater wortlos seine Mütze vom Ständer und gab ihrem älteren Bruder Jan mit einer Kopfbewegung das Zeichen, mitzukommen. Auf die Obstwiesen, zu den Kirschen und Äpfeln, bei denen es immer etwas zu tun gab. Hannes, der Jüngste, klebte sofort an Vaters Fersen.

»Hannes auch Bäume gucken. Hannes schon ganz groß.«

Der Vater lachte, was er sonst nur selten tat, nahm Hannes hoch und schwenkte ihn durch die Luft, bis er begeistert juchzte.

»Was will mein Hannes werden, wenn er groß ist?«

»Obstbauer«, krähte der Kleine und bekam rote Backen vor Aufregung.

Alle liebten sie Hannes, den Dreijährigen, auch Birte, die ihn von Anfang an für ihre ganz persönliche Spielpuppe hielt, als er da plötzlich eines Tages in der Wiege lag, die, wie man sagte, ihr Ururopa aus Kirschholz geschnitzt hatte, das von seinem eigenen Hof stammte. Kunstvoll verziert mit Schwänen und Blütenranken, sollte sie für immer in der Familie Suhrfleth bleiben.

Wenn Jan einmal den Hof übernehme, dürften auch seine Kinder in dieser Wiege liegen, erklärte der Vater stolz. Birte machte das nichts aus, dann kämen ihre eigenen Babys eben mit in das breite Bett aus Mooreiche, das Oma Erna ihr für später versprochen hatte.

Birte liebte alles auf dem Hof – die Prunkpforte an der Auffahrt, die zu akkuraten Kugeln gestutzten Büsche aus Buchsbaum und den bizarren Wacholder, der in der Dämmerung so schaurig-schöne Schatten warf. Nicht zu vergessen das schmiedeeiserne Schiff unter vollen Segeln, das als Wetterfahne auf dem bunten Giebel des Hauses saß. Unter dem herabgezogenen Reetdach nisteten die Schwalben. Und wenn Birte am Blumen- und Gemüsegarten vorbeilief und endlich die weiße Zugbrücke erreichte, spürte sie manchmal ihr Herz vor Freude klopfen, denn von dort aus kam man zu den Obstwiesen.

Bäume, Reihe um Reihe Obstbäume, so weit das Auge reichte. Nicht zu hoch, damit man im Herbst besser pflücken konnte. Noch in Hausnähe die weiß blühenden Kirschen, in denen sich die frechen Sprehen, wie hier die Stare genannt wurden, so gerne niederließen, die aber auch die Äpfel nicht verschmähten. Elstar, Gloster, Rubinette, Boskoop oder Jonagold – von klein auf kannte Birte ihre Namen und wusste jetzt schon um die Besonderheiten jeder Sorte, wie es sich für die Tochter eines Obstbauern gehörte.

Am Ende der Wiesen gab es noch eine Extrareihe mit Cox Orange, weil sie, Birte, diesen Apfel ganz besonders schätzte. Der erste Baum in der Reihe war am Tag ihrer Geburt gepflanzt worden, und man stutzte ihn im Laufe der Jahre nur wenig. Der Vater zimmerte sogar eigenhändig eine kleine Bank, die nur ihr gehörte und auf der man im Schatten des Blätterdaches in Ruhe träumen konnte.

Gleich daneben gab es verwilderte Beerensträucher, von denen die Kinder nach Belieben naschen durften.

Auch die Menschen in ihrer Umgebung liebte Birte. Die Nachbarn, die Spielgefährten, die wechselnden Erntehelfer auf dem Hof, sogar den Herrn Pfarrer und den Lehrer.

Die Eltern natürlich, selbst wenn Vater manchmal recht streng war.

Oma Erna, die im Winter in ihrer dunklen, überheizten Stube Geschichten von früher erzählte. Im Flüsterton, nur für sie, die Jungen mussten draußen bleiben. Manchmal zeigte sie Birte ihre alte Tracht, die in einer Truhe aus Sandelholz aufbewahrt wurde. Nur der schwere Silberschmuck lag extra in einem Kästchen, das einst der Großvater von einer fernen Insel mitgebracht hatte.

»Ihm lag das Meer im Blut, Birte, es ließ ihm keine Ruhe. Immer wieder musste er auf den Deich steigen und den Schiffen nachschauen«, klagte die Großmutter. »Er ließ mich so manches Mal nur mit fremder Hilfe zurück, wenn ihn das Fernweh packte, und am Ende hat ihn dann auch das Meer geholt.«

Aber von allen Menschen und Lebewesen gab es einen, den Birte heimlich am meisten liebte. Mehr noch als die Eltern, den sonnigen kleinen Hannes oder Oma Erna. Sogar mehr als warmen Apfelkuchen mit Schlagsahne, Mizzis junge Kätzchen oder die fröhlich blökenden Osterlämmer, die auf dem Deich so drollige Sprünge machten. Das war ihr großer Bruder Jan. Neun Jahre älter als sie, fast schon ein Erwachsener, aber das merkte man überhaupt nicht, wenn er mit seiner »einzigen Lieblingsschwester, der lütten Appelsnut«, wie er sie gerne nannte, herumalberte. Oft sang er auch nur für sie selbst erfundene Lieder, in denen es darum ging, was ihm die Bäume angeblich zuflüsterten.

»Du musst genau hinhören, Birte, jeder Baum hat sein eigenes Lied. Der Wind gibt die Melodie vor, und die Blätter verbreiten sie. Manchmal greift ein Vogel das Lied auf und trägt es weit, weit weg in ferne Länder.«

»Bis nach Afrika?«, wollte Birte zweifelnd wissen. Jan zog sie an den braunen Locken und lachte.

»Ganz bestimmt. Da hört dann ein schwarzes kleines Mädchen den Zugvögeln zu und summt später das Lied von deinem Apfelbaum.«

Aber sosehr Birte sich auch bemühte und das Ohr direkt an den Stamm legte, nie konnte sie eine Melodie hören.

»Wenn du willst, übersetze ich dir die Sprache der Bäume«, bot Jan ihr ein anderes Mal an und schnitzte eine Flöte aus Weidenholz.

Birte musste sich ins Gras legen, die Augen schließen und nur zuhören. Und da erklang es, das Lied vom Apfelbaum. Erst leise, weil sich die Knospen nur ganz langsam öffneten, dann jubelnd laut, wenn sie sich voll entfalteten.

Plötzlich hörte Birte in dem Lied auch die unreifen Früchte, die mit einem leichten Plop auf die Erde fielen, zankende Vögel und den stolzen Klang vom Herbst, zu dem der Baum über und über mit Früchten behangen seine schweren Äste ausstreckte.

Da gab es auch Töne, die Spannung ausdrückten, wenn die Pflücker im September kamen, und gegen Ende des Liedes klang die Melodie wieder sanfter, als ob der Baum sich anschickte, seine Winterruhe anzutreten. Dann verstummte die Flöte mit einem lang gezogenen, zitternden Ton. Birte war ganz wunderlich zu Mute.

»Warum ist der Schluss so traurig, weint der Baum?«

»Nicht mehr als wir Menschen.« Jan hatte sie wieder auf die Füße gezogen. »Sag Vater nichts davon, er mag es nicht, wenn ich so rede. Aber was kann ich dafür, ich hör nun mal Dinge, da muss ich lauschen und versuchen, sie später zu Musik zu machen.«

Das verstand Birte. Wenn Jan sich heimlich an das verstimmte Klavier auf dem Speicher setzte, klang es ganz anders als sonst. Auch die Geige, die ihm Oma Erna gegen Vaters Willen geschenkt hatte, hörte sich in Jans Händen wie ein Lebewesen an. Aber Vater sah es nicht gerne, er hielt die Musik für Zeitvergeudung.

»Was du später für den Hof brauchst, lernst du draußen bei mir. Abends kannst du deine Nase in die Bücher stecken, das reicht.«

Manchmal, wenn Birte in ihrem Zimmer unter dem Dach noch wach lag, hörte sie, wie Jan und Vater sich laut stritten.

»Immer nur der Hof. Das ist dein Leben, aber nicht meins.«

»Willst du das verachten, was drei Generationen vor dir mit ihren Händen aufgebaut haben? Der Sturmflut entrissen?«

»Ach, Vater, das ist lange her. Schau dich an, alles Geld fließt in den Hof. Wann haben Mutter und du mal Urlaub gemacht? Es reicht doch hinten und vorne nicht. Die Preise sinken, und wenn wir nicht bald investieren …«

»Klookschieter, Törfkopp, bist noch nicht trocken hinter den Ohren.«

»Jümmer dat Gedröhn, Vater. Hast noch mehr Kinder für den Hof. Ich will Musiker werden.«

Als es laut polterte wie von einem umgeworfenen Stuhl, kroch Birte ganz tief unter die Bettdecke und hielt sich die Ohren zu. Trotzdem hörte sie noch die Stimme der Mutter. »Heinrich, lass ihn. Jan, versündige dich nicht.«

Am nächsten Morgen saßen alle stumm am Tisch, und nur Hannes krähte fröhlich und wollte, dass Birte ihm einen Hut aus Papier faltete.

»Arko, lass das.« Der graue Mischling sprang ausgelassen bellend an Birte hoch. Er genoss die ungewohnte Freiheit am frühen Morgen. »Sei still, du weckst doch alle auf.«

Schon kam eine kleine Gestalt um die Hofecke getappt, barfuß in einem roten Pyjama.

»Hannes mitkommen. Nicht mehr müde.« Der kleine Bruder musste sich unbemerkt aus seinem Zimmer rausgeschlichen haben, aber gerade jetzt wollte Birte ihn nicht hüten.

»Los, geh zu Mutter, lass dich anziehen. Ich hab erst später für dich Zeit.«

Aber so schnell gab Hannes nicht auf. »Blümchen für Birte holen.« Eigensinnig hielt er sich an Arkos Fell fest und lief neben der Schwester her.

»Na gut, dann bring ich dich zu Oma. Aber erst die Hausschuhe anziehen.«

Da kam zum Glück schon die Mutter aus dem Tor. Wie immer fertig angezogen, die Arme voller Blumen.

»Stiefmütterchen und Jungfer-im-Grünen für mein Töchting zum Geburtstag. Herzlichen Glückwunsch, Birte. Du bist schon auf, konntest es nicht mehr abwarten?«

Bei diesen Worten schmunzelte Gesine Suhrfleth, stand das von ihrer Tochter ersehnte Fahrrad doch schon längst in der abgeschlossenen Stube, nur spärlich mit einem Tuch verdeckt.

Gesine strich ihrer Tochter über die kurzen braunen Locken und zog sie an sich. Birte würde einmal hübsch werden. Keine echte Schönheit, nein, das musste auch nicht sein, aber diese strahlenden Augen und der frische Teint waren eine gute Mitgift des Schöpfers. Dazu ein sonniges Gemüt, meistens. Nicht so beständig wie bei Hannes, Birte gab sich schon mal eigensinnig, aber das hielt nie lange vor, dann brach ihr natürlicher Frohsinn wieder durch.

Nur Jan, Gesines Großer, hatte teilweise ihre eigene schwermütige Art geerbt, die man den Menschen aus dem Marschenland so häufig nachsagte.

Ausgerechnet Jan, der so anders war als seine Geschwister. Nicht nur äußerlich mit seinen störrischen schwarzen Haaren und der kräftigen, leicht gedrungenen Figur. Finster, stur zum Vater, der nur das Beste für ihn wollte, das musste der Junge doch einsehen, um des Friedens willen.

Aber wenn sie ihm dann heimlich lauschte, wie er mitten zwischen den Bäumen auf der Geige spielte, klang es so nach Schluchzen und Wehmut, dass auch ihr ganz anders wurde. Nur sie wusste um seine Verwundbarkeit, die Sehnsucht einer unruhigen Seele …

Gesine seufzte. Vielleicht war es für alle am besten, wenn Jan eine Zeit lang vom Hof käme.

»Nimm Hannemann mit rein, ich muss noch das Geflügel versorgen. Kümmere dich bitte um ihn, bis Oma rüberkommt. Danach feiern wir dann deinen Geburtstag«, sagte sie zu Birte, die unmutig die Stirn runzelte, aber nicht aufbegehrte. Auf einem großem Hof wie bei den Suhrfleths mussten die Kinder von klein auf mit zupacken, anders ging es nun mal nicht.

Jan wollte ihr sein Geschenk ganz alleine überreichen, ohne die anderen, hatte er ihr gestern zugeflüstert. Birte wusste, wo sie ihn zu dieser frühen Stunde finden konnte, und hoffte, dass er noch auf sie warten würde.

Aber nun hatte sie den Kleinen am Hals, und das an ihrem Geburtstag, das war nicht fair.

»Beeil dich, Hannes«, sagte sie und zog den Zappelnden hinter sich her.

»Schiffe gucken gehen«, forderte der, denn das war noch schöner, als über die Obstwiesen zu laufen.

»Da hast du ein Schiff. Schau nach oben.« Birte wies auf die Wetterfahne, die sich noch nicht für eine Windrichtung entscheiden konnte. Hannes streckte die Ärmchen hoch.

»Birte Schiff für Hannes holen.«

Auch das noch. Nun würde er sich erst recht nicht abschütteln lassen, sie musste ihn irgendwie ablenken.

»Pass auf, Hannemann, ich mach dir ein Schiff aus Papier, das nimmst du dann mit zu Oma und zeigst es ihr.«

Gesagt, getan. Schnell faltete sie ihm im Haus ein Schiff aus einer alten Zeitung und zog ihm dann Hausschuhe an.

Hannes war begeistert. »Schiff mutt swimmen.«

»Du kannst es bei Oma schwimmen lassen. Komm, ich bring dich rüber.«

»Hannes groß, geht alleine.« Birte zögerte. Die Eltern sahen es nicht gerne, wenn der Kleine ohne Aufsicht war, aber die paar Schritte. Er entwischte doch öfter, und der Ententeich war eingezäunt, falls Hannes plötzlich doch lieber zur Mutter wollte.

»Ich hol dich bald mit Jan bei Oma ab«, versprach sie, schaute ihm nach, wie er sich stolz mit seinem Schiffchen auf den Weg machte, und lief dann selber schnell zur Brücke.

»Meine kleine Schwester, die Schneekönigin.« Jan pflückte Birte ein paar Blüten aus den Haaren. »Pass mal auf, in zehn Jahren wirst du bestimmt einmal Blütenkönigin. Bist doch jetzt schon meine Apfelprinzessin.« Er zog ein schmales Päckchen aus der Jacke. »Für dich, lütte Deern. Damit du mich nicht vergisst.«

Birte riss gespannt die Verpackung auf und öffnete nach mehreren Versuchen das abgewetzte schwarze Samtetui.

»Es ist ein Medaillon.« Jan half ihr, das dünne Goldkettchen umzulegen. »Ich habe es in Steinkirchen im Antiquitätenladen gekauft. Schau, man kann es aufklappen.« Vorsichtig betätigte er den Mechanismus.

»Wer ist das?«, fragte Birte erstaunt, als sie unter dem gewölbten Glasdeckel das vergilbte Foto eines Kindes sah.

»Keine Ahnung, du kannst es rausnehmen und etwas anderes reintun. Zum Beispiel ein Foto von deinem Liebsten«, neckte er sie. »Oder eine Haarlocke von Arko.«

Birte betrachtete intensiv das Bild des fremden Kindes. Ein Junge in einem Anzug mit Spitzenkragen, kitschig wie der kleine Lord in dem Fernsehfilm. Hannes würde sich bestimmt weigern, so etwas zu tragen. Im Hintergrund konnte man eine alte Standuhr erkennen, sonst nur Schatten. Aber es gefiel ihr. Sie wollte das Foto noch eine Weile behalten, bis sie eine Idee hatte, was statt des fremden Jungen in ihr Medaillon sollte.

»Es ist ein wunderbares Geschenk. Ich werde es jeden Tag tragen. Für immer.« Sie flog Jan um den Hals und drückte ihn kräftig.

»Es soll dich an mich erinnern«, sagte der leise. Birte stutzte. Jan klang so anders als sonst. Nach der traurigen Musik, die er manchmal spielte.

»Wirst du schon bald zu der Obstbauschule gehen?«, fragte sie ängstlich, denn das würde bedeuten, dass Jan vom Hof weggehen müsste und nur in den Ferien nach Hause käme.

»Nein, Birte, ich habe andere Pläne. Ich will mehr über Musik lernen, eines Tages vielleicht selber Instrumente bauen.«

»Aber was wird Vater sagen? Und was wird aus unserem Hof?«

»Komm mal her, Schwesterchen«, er zog sie auf die Bank unter dem Cox Orange. »Das ist doch ein alter Zopf von gestern. Tradition, wenn ich das schon höre. Bloß weil ich als Erster geboren bin, muss ich nicht gegen meinen Willen den Hof übernehmen. Die Eltern können einen Verwalter einstellen, bis Hannes groß ist. Und aus dem Kleinen wird bestimmt mal ein prächtiger Obstbauer.«

Birte dachte nach. Es würde noch sehr lange dauern, bis Hannes groß war, aber sie selber verstand auch schon eine Menge vom Obst. Außerdem wollte sie nie, nie von hier weg. Höchstens mal auf eine Klassenreise oder zum Urlaub auf eine Nordseeinsel, wie Vater es ihnen und Mutter seit Jahren versprach.

»Wenn du ihn nicht willst, glaubst du, Vater gibt den Hof an mich, weil ich die Zweitälteste bin?«

Jan schaute in die flehenden Augen seiner Schwester. Wenn es nach ihm ginge, würde er kein Hindernis sehen, aber Mädchen heirateten nun mal, zogen Kinder groß und halfen nur stundenweise im Betrieb aus, jedenfalls die meisten. Sein Vater war noch vom alten Schlag, ein Schwiegersohn auf dem Hof würde es nicht leicht haben, solange er das Sagen hatte.

»Willst du dir nicht erst die Welt anschauen?«, lenkte er ab. Noch immer blickte sie ihn groß an, aber dann erhellte ein Lächeln ihr Gesicht, und sie wies einmal in die Runde.

»Was soll es denn sonst noch geben? Hier ist doch alles, was ich haben will. Es kann nirgendwo schöner sein. Und vom Deich aus sieht man die Schiffe. Sie fahren nur langsam raus, aber wenn sie heimkehren, dann können sie gar nicht schnell genug fahren.«

»Ach was, dann haben sie nur ihre Ladung schon gelöscht.«

Birte wusste es besser, aber große Brüder konnten eben nicht alles verstehen.

»Nein, sie haben es eilig, in den Hafen und nach Hause zu kommen.« Unvermittelt sprang sie auf. »Hörst du? Arko bellt. Jetzt sind bestimmt alle fertig. Los, wir laufen, es gibt Geburtstagskuchen zum Frühstück.«

»Mehr willst du nicht haben?«, neckte Jan sie.

Das Fahrrad, sie wünschte es sich so sehr. Ein knallrotes Mountainbike, wie sie es in Jork beim Händler gesehen hatte. Vater hatte über den Preis nur den Kopf geschüttelt, während Mutter und Oma zusammen tuschelten. Aber wo konnten sie es versteckt haben?

»Dein Geschenk ist das Schönste.« Sie lachte übermütig und griff im Lauf nach Jans Hand.

»Springen wir über den Graben? Dann geht es schneller.«

»Kannst es also doch nicht abwarten. Vorsicht, die Gräben sind randvoll.«

Die Gräben, sie waren tückisch. Man durfte dort nur spielen, wenn sie ausgetrocknet waren. Sonst konnte man leicht in das morastige Wasser abrutschen, denn die glitschigen Ränder gaben nach und fielen steil ab.

Was war nur mit Arko los? Er bellte so … anders. Tiefer, drängend, als ob er etwas mitzuteilen hätte. Waren Fremde auf den Hof gekommen? Besuch wurde erst am Nachmittag erwartet. Zu Butterkuchen, dem »Freud-und-Leid-Kuchen«, den es bei allen Leuten zu Kindstaufen, Beerdigungen und auch bei Nachbarschaftsbesuchen gab. Mit ihren Freundinnen wollte Birte erst später nachfeiern.

Nun hörte es auch Jan. Arko bellte wie rasend, und aus Richtung Hof klangen laute Stimmen. Dann ein einzelner langgezogener Schrei. Die Lerche war inzwischen verstummt, nur die Stare zogen ihre Kreise und krächzten laut und höhnisch.

»Da stimmt was nicht.« Jan ließ Birte los. »Bleib auf dem Pfad, geh nicht alleine über die Gräben. Ich lauf voraus.«

Erschrocken sah Birte, wie die Eltern aus der Gegenrichtung über die Brücke kamen. Der Vater rannte mit großen Schritten, stolperte fast, die Mutter hatte die Arme in die Luft gehoben, stürzte und blieb für einen Moment liegen. Vater kümmerte sich nicht um sie, sondern lief und lief und schrie dabei, wie Birte es noch nie von ihm gehört hatte. Auch Jan rief etwas, das sie aber nicht verstehen konnte. Er hatte die Eltern schon fast erreicht.

Birte kämpfte gegen ihre Seitenstiche an. Jan war über einen weiteren Graben gesprungen, und auch sie setzte zum Sprung an, stoppte aber im letzten Moment. Der Graben war einfach zu breit, und wenn sie abrutschte, würde sie bis zum Bauch im Wasser versinken. Also nahm sie keuchend den Obstpfad parallel zum letzten Graben, der sie noch von den anderen trennte. Nun sah sie auch Arko, der aufgeregt Jan umkreiste, dann dem Vater entgegenlief und schließlich zwischen beiden jaulend an der Böschung scharrte, sich aber nicht ins Wasser traute.

Birte spürte ihr Herz klopfen. Nicht so, wie es das vorhin noch aus lauter Freude getan hatte. Nein, es klopfte bis zum Hals hoch, der auf einmal so eng war, dass sie nicht mehr schlucken konnte.

Lisa, das Lehrmädchen, das ihrer Mutter im Haushalt half, las Birte manchmal aus Heftromanen vor, in denen es regelmäßig um Herzklopfen oder sogar gebrochene Herzen ging. Ob es das auch schon bei Kindern gab?

Vater war als Erster bei Arko angekommen. Er sprang in den Graben hinein, das Wasser spritzte hoch auf. Einen kurzen Moment war er für Birte nicht mehr zu sehen. Dann tauchte er wieder auf und hielt ein schlaffes rotes Bündel in den Armen.

»Hannes«, gellte der Schrei über die Obstwiesen, gefolgt von einem Wehlaut ihrer Mutter, der Birte an den verletzten Fuchs erinnerte, der einmal im Hühnerstall in eine Falle geraten war.

Sie selber ging jetzt langsamer, setzte automatisch Schritt vor Schritt und konnte beim Näherkommen erkennen, wie Jan sich über den kleinen Bruder beugte. Sie hatten ihn ins Gras gelegt, Jan drückte auf Hannes Brustkorb und versuchte ihm Atem durch Mund und Nase einzublasen. Vater stand wie versteinert daneben, Mutter war auf den Boden gesunken, hielt ihre Knie umschlungen und wiegte sich hin und her.

Keiner schien Birte zu bemerken, als sie näher kam und die leblose Gestalt ihres Bruders scheu mit Abstand betrachtete. Vielleicht schlief er nur? Wenn er eine Erkältung mit Fieber bekam, wollte sie ihm jeden Tag aus seinen Bilderbüchern vorlesen und sich nie wieder beschweren, wenn er ihr als Schatten hinterherlief, versprochen.

»Hannemann«, flüsterte sie und krallte sich unwillkürlich an Arkos Fell fest, der sie auffordernd anstupste, als wollte er zu einem harmloseren Spiel übergehen.

Oma Erna kam in Begleitung eines Mannes, den Birte gut kannte. Dr. Bart hatte ihre Windpocken behandelt und den Arm geschient, als sie im letzten Sommer beim Toben aus ihrem Baumhaus gefallen war.

Er kniete sich neben Hannes, legte seinen Finger an verschiedene Stellen von Hals und Handgelenk und strich dann dem Kleinen die blonden nassen Haarsträhnen aus dem Gesicht. Stumm schüttelte er den Kopf, richtete sich auf und packte den Vater an der Schulter.

»Heinrich, ich kann nichts mehr für ihn tun.«

Ihr Vater schien die Worte nicht gehört zu haben.

»Mach dem Jung das Bett fertig, Gesine. Er braucht nur heißen Tee und eine Wärmflasche.« Dann nahm er Hannes hoch und drückte ihn an sich. »Das wird schon, min Jung.« Unmutig schüttelte er Jan ab, der ihn am Arm festhalten wollte. »Kümmere dich um den Hof.«

Jans Hand glitt langsam hinunter. Für einen kurzen Moment stand er mit hängenden Armen und gesenktem Kopf da, doch dann strafften sich seine Schultern, und er schloss die Mutter in eine Umarmung.

»Der liebe Gott wollte unseren Hannes als Engel bei sich haben«, sagte Oma Erna mit zittriger Stimme.

»Nein, er straft mich für vergangene Sünden.« Mutter brach in ein wildes Schluchzen aus.

»Still, Gesine, das ist nicht wahr, er ist ein Gott der Liebe.«

»Liebe«, Gesine klang verächtlich, »was hat sie mir gebracht?«

Birte ging vorsichtig näher und drückte sich an Jan, der sie in die Umarmung mit einbezog.

»Bin ich schuld? Ich habe nicht richtig auf Hannes aufgepasst«, flüsterte sie ihm ins Ohr.

»Niemand hat Schuld«, erklärte Jan bestimmt. Oma bekräftigte das durch ein Nicken, und Mutter schien Birte erst jetzt richtig zu bemerken.

»Es ist Schicksal, wir durften ihn nicht behalten. Jetzt habe ich nur noch euch zwei.« Sie fasste beide an den Händen. »Birte, du wirst eines Tages gehen und hoffentlich eine eigene Familie gründen. Aber du, Jan, musst bleiben. Tu das Vater nicht an, dass du ihn und den Hof im Stich lässt. Jetzt, wo Hannes …«

Jan trat einen Schritt zurück. »Mutter«, begann er gequält, »ich will den Hof doch nicht. Was wird aus meiner Musik?«

»Kein Wort mehr, Jan, so darfst du nie mehr sprechen. Wir haben alle unsere Last zu tragen.«

Birte dachte insgeheim, dass die Mutter Recht hatte. Jan sollte besser auf dem Hof bleiben und nur ihr alleine das Lied vom Apfelbaum vorspielen. Nichts sollte sich ändern, sie würden für immer zusammen sein.

»Der Bestatter muss kommen.« Mutter sprach wieder wie vorher, es klang nur sehr müde. »Die Paten sollen Bescheid haben, auch die Nachbarn. Wir müssen rechtzeitig mit Backen anfangen.«

Ihr Geburtstagskuchen – Birte schien es eine Ewigkeit her, dass sie sich auf diesen Tag gefreut hatte. Kuchen, Geschenke, das war nicht mehr wichtig. Sie tastete nach dem Medaillon. War der fremde kleine Junge älter geworden als ihr Hannes? Hatte er auch so viel gelacht, bis …? Würde einer von ihnen überhaupt jemals wieder lachen können?

Auf dem Weg zur Brücke sah Birte das Papierschiff im Wasser treiben. Langsam bekam es Schlagseite, drehte sich noch einige Male um die eigene Achse und versank dann für immer in der modrigen Tiefe des Grabens.

Kapitel 2

Applaus. Lächeln. Ein paar Worte über das Alte Land sagen, den Unterschied zwischen Pflück- und Genussreife erklären, Fragen nach den einzelnen Obstsorten beantworten, die blank polierten Äpfel aus dem Henkelkorb nehmen und mit einem charmanten Lächeln an die Messebesucher verteilen. Lächeln war wichtig. Eine Blütenkönigin hatte in der Öffentlichkeit stets in guter Stimmung zu sein und musste außer Kompetenz eben auch über Frohsinn verfügen.

Birte Suhrfleth spürte schwer das Gewicht des Flunkkranzes auf ihrem Kopf. Diese prächtige Brautkrone gehörte zur Altländer Hochzeitstracht, in der sie gerade auf der Grünen Woche in Berlin ihre Heimat präsentierte. Der Kranz war über und über mit Silberplättchen und bunten Blüten aus Seidenmaterial besteckt. Aus der Mitte ragten zwei steife goldverbrämte Brokatflügel senkrecht in die Höhe.

»Deine Hasenohren«, hatte ihr eben erst Marion, die Kartoffelkönigin, respektlos zugeflüstert. Die hatte gut reden in ihrem luftigen Kleid aus braunem Sackleinen. Was musste so ein Kleidungsstück für eine Erleichterung sein bei der stickigen Luft in den Messehallen.

Birte selber hatte mehrere Lagen Unterröcke zu tragen, darüber den bodenlangen schwarzen Rock mit passendem Oberteil, an dem der fürs Alte Land typische filigrane Gold- und Silberschmuck befestigt war, und dazu eine fünfreihige Halskette, von dem weißen Schultertuch aus Batist kaum verdeckt.

Als Zeichen der unverheirateten Frau trug sie den schwarzen Rock mit einer schwarzen Schürze. Erst nach der Hochzeit tauschten in alten Zeiten die Frauen ihre schwarze Tracht gegen einen roten Rock mit weißer Schürze.

Ob Landwirtschaftsausstellung oder Gartenfest beim Bundeskanzler, in ihrem Amtsjahr als Blütenkönigin war Birte viel herumgekommen, aber es lief doch immer wieder aufs Gleiche hinaus – weite Anreise, hektisches Umziehen im Hotel, dann schwitzend den Scheinwerfern beim Pressetermin standhalten, um schließlich strahlend vor einer Menschenmenge zu repräsentieren. Aber wenn sie dann in die freudigen, bewundernden Gesichter der Gäste oder Besucher schaute, fiel es ihr nicht mehr schwer, ihre königlichen Pflichten zu erfüllen.

Ein knappes Jahr war es erst her …

Es galt als eine große Ehre, zur Blütenkönigin gewählt zu werden, zumal sie sich gegen so viele jüngere Mitbewerberinnen durchgesetzt hatte. Vielleicht handelte es sich sogar um den Höhepunkt ihres Lebens, wie ihre gerührte Mutter bei der Einkleidung am Krönungstag verlauten ließ. Oma Erna schaute sie an dem bewussten Tag immer wieder an, war es doch ihre eigene, kaum geänderte Tracht, die die Enkelin trug. Nur der Flunkkranz wurde von der Gemeinde gestellt.

Vater zeigte sich ernst wie immer, aber seitdem verwahrte er alle Zeitungsberichte über ihre öffentlichen Auftritte in der Schublade seines Schreibtisches, wie Birte zufällig entdeckt hatte.

»Mach deine Sache gut«, hatte er beim Abschied im üblichen Befehlston gesagt und ihr einen Packen Geldscheine mit auf den Weg gegeben. »Musst dich deiner Herkunft nicht schämen.«

Das tat sie gewiss nicht, im Gegenteil. Birte war stolz darauf, von einem Obsthof zu stammen, und liebte den elterlichen Hof wie eh und je. Nach ihrer Schulzeit hatte sie zunächst bei der Mutter die Hauswirtschaft erlernt und überall tüchtig mit angepackt, während ihr Bruder Jan sich irgendwo in der Welt den Wind um die Nase wehen ließ. Später dann die Zeit in dem modernen Lehrbetrieb am Bodensee, in dem sie ihre Ausbildung zur Gärtnerin, Fachrichtung Obstbau, absolviert hatte. Der verfügte zwar über alle technischen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte – aber was war das schon gegen die vertrauten Wiesen zu Hause! Der Wind, der eine frische Brise über den Deich schickte, die weißen Brücken und im September der erste Biss in einen Cox Orange, der von einem Baum stammte, der so alt war wie sie, fast sechsundzwanzig Jahre.

Warum konnte Jan nicht ähnlich empfinden, tat nur ohne Beteiligung des Herzens seine Pflicht und nutzte jede Gelegenheit, vom Hof zu kommen?

Am Tag ihrer Krönung hatte er sich gerade in Neuseeland aufgehalten. Offiziell, um dort die Anbaumethoden zu studieren, aber in seinen Briefen war nur die Rede von der faszinierenden Musik der Ureinwohner, dem Klang der nahen Brandung und dem Gesang exotischer Vögel.

»Lieblingsschwester, min lütte Appelsnut, ich bin in Gedanken oft bei dir, das weißt du. Meine kleine Schwester als Blütenkönigin, ich habe es dir schon damals prophezeit. Schau an deinem Ehrentag nach oben, vielleicht siehst du einen Zugvogel – hör genau hin, was er dir zuruft, es ist ein Gruß von mir. Genieß diese Zeit, und nimm nicht gleich den erstbesten Kerl, der dir zu deinen nun königlichen Füßen liegt …«

Von wegen, an so etwas dachte Birte nicht im Geringsten. Nichts gegen Verliebtsein, das war ein schöner Zustand, und sie hatte ihn schon einige Male erlebt. Und sie hatte auch bittere Tränen beim ersten Liebeskummer vergossen, als sie sich nach dem Kirschenball aus Neugierde mit einem Kerl eingelassen hatte, der es bei Gott nicht wert gewesen war.

Reif und erfahren fühlte Birte sich bei diesem Thema. Nein, das Bett aus Mooreiche würde sich erst mit Kindern füllen, wenn der Richtige plötzlich vor ihr stand.

Und auch ihr Bruder schien keine Ambitionen zu haben, die traditionelle, geschnitzte Wiege in Gebrauch zu nehmen. Sehr zu Vaters Ärger, der ihn bei jeder Gelegenheit mit seinem Wunsch nach einem männlichen Enkelkind nervte. Manchmal dachte Birte, dass ihr Vater den Tod vom kleinen Hannes nie verwunden hatte, aber konnte man so einfach einen geliebten Menschen Jahre später durch einen anderen ersetzen? Nein, sie selber glaubte nicht daran.

»Wie kommt es, dass die Äpfel im Januar immer noch wie frisch gepflückt aussehen?«, wollte ein interessierter Besucher wissen.

Birte schreckte aus ihren Gedanken auf. »Sie sehen nicht nur so aus, sie schmecken auch so. Man entzieht den Äpfeln in speziellen Lagerhallen den Sauerstoff und versetzt sie damit in einen künstlichen Tiefschlaf.«

»Deshalb nennt man sie auch Äpfel im Schlafrock«, tuschelte Marion direkt neben ihr. Na warte, der wollte Birte später Bescheid geben, sie mit ihren eigenen Kartoffeln beschmeißen oder sich mit Geli, der Heidekönigin, verbünden. Für Marion, Geli und sie war es immer ein besonderes Ereignis, wenn sie bei einer Veranstaltung gemeinsam auftreten konnten. Ihre Majestäten, die Königinnen des Nordens. Fehlte nur noch die Kohlkönigin, aber die stammte von der anderen Seite der Elbe und galt als hochnäsig.

»Feierabend«, verkündete Geli halblaut und rückte ihren schief sitzenden Kranz aus echtem Heidekraut gerade. »Ich kann keinen Heidehonig mehr sehen. Los, gib mir mal einen Apfel.«

»Welche Sorte?«, fragte Birte automatisch, aber Geli griff bereits nach einem leuchtend roten Elstar.

»Der sieht aus wie ein Schneewittchenapfel. Wenn ich mal eine böse Schwiegermutter bekomme, wende ich mich vertrauensvoll an dich.«

»Wollen wir nach dem Umziehen noch in die Disco gehen?«, schlug Marion vor, als sie später in einem Taxi zum Hotel fuhren. »Wer weiß, ob wir jemals wieder gemeinsam nach Berlin kommen. In meinem Kuhkaff zu Hause gibt es nur den jährlichen Feuerwehrball, da finde ich garantiert keinen Traumprinzen.«

Geli, obwohl frisch verlobt, war nicht abgeneigt.

»Macht euch bitte klar, wir stehen in der Blüte unserer Jahre. Nach unserer Amtszeit ist Schluss mit lustig. Heute in einem Jahr bin ich schon verheiratet, wahrscheinlich verfettet und fast Ende zwanzig. Mit anderen Worten, dann ist das Leben so gut wie vorbei.«

Marion stimmte zu, aber Birte lachte.

»Eure Sorgen möchte ich haben. Also, was mich betrifft, ich brauche fast eine Stunde, um mich aus den Klamotten zu schälen. Danach steht ein Schaumbad bei mir auf dem Programm, und später vielleicht eine Haxe, um nicht zu verhungern. Als Nachtisch am liebsten Apfelstrudel mit Sahne.«

»Und die Kalorien?«, stöhnten ihre Freundinnen.

»Die esse ich mit.« Birtes gesunder Appetit war immer wieder eine Quelle der Belustigung für die anderen. Sie gehörte nicht zu den jungen Frauen, die um jeden Preis gertenschlank sein wollten, hielt aber viel von Bewegung. »Schaut mich doch an, unter meinen vier Unterröcken könnte ich sogar Zwillinge verstecken. Außerdem braucht Schönheit Fläche.«

Sie biss hungrig in einen Apfel und verschenkte den Rest des Korbes großzügig an den Taxifahrer. An Äpfeln mangelte es ihr wirklich nicht.

»Wenn die Dämchen möchten, kann ick Sie jerne det Berliner Nachtleben zeigen«, bot der Taxifahrer an. »Für Ihre Majestäten heute janz umsonst.«

»Nein danke, ohne mich«, erklärte Birte freundlich, aber bestimmt, und Marion und Geli schlossen sich widerstrebend ihrer Entscheidung an.

»Wir treffen uns unten in der Hotelhalle«, organisierte Marion, bevor sie den Aufzug nahmen. »Am besten an der Bar. Habt ihr gesehen? Es wimmelt von attraktiven Männern im passenden Alter.«

»Wieso, ich habe nur ältere Herren gesehen«, meinte Birte erstaunt.

»Na, sag ich doch, im passenden Alter. Du schenkst ihm deine Jugend, er verwöhnt dich, und später bist du eine vermögende Witwe. Als Frau muss man heutzutage rechtzeitig an seine Zukunft denken.«

»Und wenn man bereits verlobt ist?«, warf Gell ein.

»Kein Problem. Deinen Verlobten behältst du als Liebhaber.«

Birte mochte in das Gelächter der Freundinnen nicht einstimmen. »Ihr seid unmöglich. Wenn ich den Mann meiner Träume treffe, spielen Äußerlichkeiten wie Geld oder Alter bestimmt keine Rolle.«

»Abwarten«, neckte Marion sie. »Verrate uns erst mal, wie dein Mister Right sein muss, dass Ihre Königliche Hoheit schwach wird?«

»Kein Stadtmensch mit Bürojob.« Da brauchte Birte nicht lange zu überlegen. »Er muss gerne draußen sein, so wie ich, Natur und Tiere lieben, Verantwortung übernehmen, wenn’s darauf ankommt.«

»Also ein adliger Landjunker aus dem vorigen Jahrhundert.«

»Ach was.« Geli wusste noch eine Steigerung. »Ein Bauer mit Plattfüßen und Misthaufen vor seiner Klitsche, der im Winter Socken vom eigenen Schaf strickt.«

»Ihr spinnt ja. Aber wenn wir es genau wissen wollen, brauchen wir nur das Apfelorakel zu befragen. Na, wie wär’s? Traut ihr euch, einen Blick in die Zukunft zu werfen?«

Und ob, nur nicht auf nüchternen Magen, da war man sich einig.

Wie immer benötigte Birte Hilfe beim Ablegen der Tracht. Zwei mitreisende Damen aus dem Tourismusverband standen ihr zur Seite und ordneten die zahlreichen Kleidungsstücke in der richtigen Reihenfolge, verstauten Flunkkranz und Schmuck in den dafür vorgesehenen Schachteln und besprachen kurz mit ihr das Programm für den nächsten Tag.

Als Birte endlich alleine war, ließ sie sich ein Bad ein und tippte die Nummer von zu Hause ein. Gesine, wie Birte seit Erwachsenentagen ihre Mutter nannte, klang bedrückt.

»Mit Oma Erna geht es nicht recht bergauf. Seit dem Oberschenkelhalsbruch liegt sie. Wir haben es mit einer Pflegerin versucht, aber das wird teuer.«

»Was ist mit der Pflegeversicherung? Das ist doch alles gesetzlich geregelt«, wandte Birte ein.

»Ja, dreimal täglich, und dann für zwanzig Minuten. Es ist jedes Mal eine andere Frau gekommen, das wollte Oma nicht. Dein Vater meint, die Pflege sollte in der Familie bleiben. Er sieht nicht gerne Fremde auf dem Hof.«

»Wie stellt er sich das vor?«, fragte Birte empört. »Du hast doch genug mit dem Hof zu tun.«

Gesine zögerte. »Vater meint, wenn dein Jahr zu Ende ist …«

»Was dann? Er weiß doch genau, dass ich an der Fachhochschule in Osnabrück studieren will, um meinen Diplomingenieur für Gartenbau zu machen. Ihr wart doch alle einverstanden, und wegen der Kosten, da suche ich mir einen Job …«

»Das mit dem Geld, das schaffen wir. Ich hab was auf der Bank, muss Vater aber nicht wissen. Es ist nur … ach Birte, mit dem Hof, das läuft nicht so, wie es soll.«

»Aber Jan ist doch zurück?«

»Ja.« Mehr sagte sie nicht.

Birte umklammerte den Hörer so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten.

»Was ist passiert, Gesine?«

»Der Verwalter, Vater hört nur noch auf ihn. Und Jan kann nicht mit dem Verwalter.«

»Dann soll er ihn entlassen, wenn er den Hof übernimmt.«

»Vater denkt nicht daran, aufs Altenteil zu gehen. Erst will er die Erbfolge geregelt wissen. Jan soll endlich heiraten.«

Birte kannte den Eigensinn ihres Bruders nur zu gut. Er war der geborene Einzelgänger, eins mit der Natur und seiner geliebten Musik, und niemals würde er sich zu einer Ehe zwingen lassen.

»Hat Vater etwa schon eine Braut für Jan parat?«, versuchte sie einen leichteren Ton anzuschlagen und lag mit ihrer Vermutung richtig.

»Die Rena vom Hof Allbörden. Die schleicht hier ständig rum. Es heißt, sie hat ordentlich was an den Hacken. Aber du kennst doch Jan, darauf gibt er nichts.«

Jan, der eigensinnige Träumer. Birte freute sich schon auf ein Wiedersehen. Aber bis Ostern würde sie es kaum einrichten können.

»Geht’s dir denn gut in der Stadt, mein Töchting?«

»Meine Wanne läuft gleich über«, kürzte Birte erschrocken das Gespräch ab, als sie ein verdächtiges Plätschern aus dem Bad hörte. »Tschüs auch, und grüß alle von mir. Sag Oma, sie muss schnell wieder auf die Beine kommen. Spätestens bis zur Kirschblüte.«

Rena von Allbörden. Birte zog mit den Zehen kleine Kreise durch den duftenden Schaum. Apfelaroma oder was die Produzenten sich darunter vorstellten. Wer jemals im Herbst seine Nase tief über eine gefüllte Apfelstiege gehalten hatte, wusste, dass sich dieser Duft nicht künstlich erzeugen ließ.

Rena, die Motte, so hatten die Kinder das ältere Mädchen hinter dessen Rücken respektlos genannt. Sie musste noch älter als Jan sein, zeterte, wenn man ihr harmlose Streiche spielte, und war sich zu fein, beim Pflücken zu helfen. Wegen ihrer bleichen Haut erinnerte sie Oma Erna an die Raupe einer Apfelbaumgespinstmotte. Als Birte dieses Wort zufällig von den Erwachsenen aufschnappte, hatte Rena ihren Spitznamen Motte als Abkürzung schnell weg.

Ihr Bruder Jan und Rena, die Motte, nein, wie komisch!

»Was, du willst meine Reste auch noch haben? Ich könnte noch nicht mal mehr papp sagen«, behauptete die Kartoffelkönigin, wie die anderen in Zivil.

»Etwas Süßes braucht der Mensch. Was die uns hier als Mousse anbieten, würde meine Oma von der Portionsgröße her als Hühnerfutter bezeichnen. Du solltest mal ihre Puddingform sehen, die reicht für eine halbe Schulklasse.«

»Also ich bin dafür, wir befragen endlich das Orakel. Brauchen wir Kaffeesatz oder eine schwarze Katze?«

Geli konnte es nicht mehr abwarten, zumal die in ihren Augen interessanten Männer sich bereits an die Bar zurückgezogen hatten. Birte gähnte. Die verräucherte Luft ermüdete. Am liebsten würde sie jetzt noch einen strammen Marsch zum Auslüften machen, aber versprochen war versprochen, und das Apfelorakel bereitete immer wieder Vergnügen.

»Wir brauchen ein scharfes Messer.«

Marion fasste sich theatralisch an den Hals. »Wen willst du opfern? Hat man nicht früher aus dem Blut geopferter Tiere die Zukunft gelesen?«

»Kann sein, aber mit solchem Voodookram habe ich nichts zu tun. Mein Material wächst auf Bäumen. Was haltet ihr von einer Pyjama-Party in einer halben Stunde auf meinem Zimmer?«

»Birte, willkommen im dritten Jahrtausend. Pyjama-Partys gab es zuletzt in den fünfziger Jahren. Heute nennt man das Dessous-Events.«

»Wirklich?, Ich glaube, ich bin eher ein nostalgischer Typ.«

Kurz darauf saßen drei Majestäten im Schneidersitz auf Birtes breitem Bett. Die rothaarige Marion in einem giftgrünen Morgenrock, zum Blenden schön. Geli, nach eigenen Angaben naturblond, blieb der Heidelandschaft treu, indem sie einen heidefarbenen Seidenpyjama trug. Nur Birte fiel mit ihrem grauen Flanellanzug aus dem Rahmen.

»Sieht doch keiner«, meinte sie gleichmütig. »Falls ich mal heirate, kann ich immer noch das spitzenumhäkelte Zeug aus meiner Aussteuertruhe tragen.«

Die anderen bogen sich vor Lachen. »Oh, du Landei. Dein Zukünftiger wird Augen machen. Tagsüber die Tracht deiner Oma, nachts kratziges Naturleinen.«

»Vielleicht reißt er mir gleich alles vom Leib«, sagte Birte und schenkte eine weitere Runde Apfelköm aus. »Prost. Kümmst över’n Hund, kümmst över’n Steert. Seid ihr bereit für einen Blick in die Zukunft?«

Die Mädchen hoben feierlich die mitgebrachten Zahnputzbecher.

»Auf die Liebe. Auf uns. Auf die Zukunft.«

»Ich möchte bitte anfangen«, bat Geli. »Wie kann ich wissen, ob mein Karl tatsächlich der richtige Mann für mich ist?«

Birte drückte ihnen je einen Apfel und ein geliehenes Messer aus der Hotelküche in die Hände.

»Aufgepasst, es geht los. Konzentriert euch auf das, was vor euch liegt. Die Stunde der Wahrheit rückt näher.«

Den letzten Satz sagte sie in einem geheimnisvollen Ton und legte ein buntes Seidentuch über die Stehlampe, sodass der Raum nun in ein gedämpftes Licht getaucht war. »Versucht die Schale spiralenförmig in einem Stück abzuschälen. Wichtig ist, es muss ein roter Apfel sein, denn Rot ist die Farbe der Liebe. Wusstet ihr, dass der Apfelbaum vom Ursprung her zur Gattung der Rosengewächse gehört? Und Rosen sind ebenfalls ein Symbol für? Na?«

»Die Liebe!« Marion verdrehte theatralisch die Augen, während Geli konzentriert an ihrer Spirale arbeitete.

»Fertig. Fast in einem Stück. Was passiert als Nächstes?«

»So ist es gut.« Birte prüfte die Schale. »Jetzt stell dich vor den Wandspiegel und nimm die Spirale in die rechte Hand. Bist du bereit?«

Geli schaute konzentriert in den Spiegel. »Taucht jetzt gleich mein Zukünftiger hinter mir auf? Wie gruselig. Was soll ich machen, wenn es ein Monster ist?«

»Du drehst einen Film. Die Fortsetzung von Die Schöne und das Biest«, schlug Marion vor.

Birte konnte sich kaum das Lachen verkneifen, täuschte aber gebührenden Ernst vor. »Sprich mir nach:

Spieglein, Spieglein an der Wand.Apfel, Apfel in der Hand.Ist dir mein Liebster wohl bekannt?«

Geli brauchte vor lauter Aufregung mehrere Anläufe, um den Vers fehlerfrei zu wiederholen.

»So, jetzt wirfst du mit der rechten Hand die Apfelspirale über deine linke Schulter.«

Geli führte die Anweisung mit Schwung aus und drehte sich dann um. »Wie schade, die Schale ist nicht ganz geblieben. Was nun? Zerbricht meine junge Liebe?«

»Hoffentlich nicht. Die Schale bitte liegen lassen. Es hat alles seine Richtigkeit. Schaut her, sie kringelt sich auf dem Boden zu geheimnisvollen Buchstaben und Zahlen. Aus Gelis Spirale sind zwei Stücke geworden. Was könnt ihr erkennen?«

Prüfend betrachteten sie die Schale von allen Seiten.

»Das ist eindeutig ein K.« Geli war sich ganz sicher. »K für Karl. Und das andere Stück könnte eine Drei sein. Ich werde Karl vorschlagen, an einem Dritten des Monats zu heiraten. Dann hält das Glück ein Leben lang.«

»Und jetzt ich!« Marions Spirale war besonders lang und ergab nach dem Wurf sogar drei Teile.

»Ein L, ein G und … hm, das könnte ein B sein. Moment mal, ich muss überlegen. L für Lothar von der Tankstelle, G für Günter, den attraktiven Nachbarn, von mir aus. Aber B – tja, Bernd, Bert oder Bruno, die kenne ich noch nicht. Darf ich den Zauber wiederholen?«

»Ausgeschlossen«, bestimmte Birte und hob die Schalen auf. »Diese Art von Apfelzauber wirkt nur beim ersten Mal. Aber du kannst es mit einem anderen versuchen. Er heißt Apfel-im-Schlafrock. Man wendet ihn an, wenn es mehrere Bewerber gibt und die Entscheidung für den besten schwer fällt.«

»Heiratskandidaten oder Liebhaber?«

»Früher ging es natürlich nur um Eheanwärter. Aber ich nehme mal an, das lässt sich auch auf moderne Zeiten übertragen. Um wie viele potentielle Liebhaber handelt es sich in deinem Fall?«

Marion tat so, als ob sie an den Fingern beider Hände abzählen müsste.

»Dank meiner angeborenen Bescheidenheit möchte ich mich zunächst auf drei Lover beschränken. Lothar, Günter und den leider noch unbekannten Bruno.«

»Wie es dir gefällt. Du nimmst also drei gleich große Äpfel und gibst ihnen die Namen deiner Kandidaten. Dann umhüllst du sie mit einem zarten Tuch, das du über Nacht am Körper getragen hast, und legst die Früchte auf eine kühle Fensterbank, am besten in Ostrichtung. Anschließend brauchst du ein wenig Geduld.«

»Wie ich mich kenne, wird das der schwierigste Teil.« Birte blickte in die Runde und registrierte befriedigt, dass man an ihren Lippen hing.

»Aber das Warten lohnt sich«, versprach sie. »Wenn einer der Äpfel frühzeitig schrumpelt, wird er gnadenlos aussortiert, und mit ihm der Bewerber. Am Ende bleibt nur der passende und hoffentlich knackige Liebhaber. Günter, Lothar oder Bruno.«

»Klingt nicht schlecht«, gab Marion zu. »Gibst du mir ein paar von deinen Äpfeln mit? Ich tausche sie dir auch gerne gegen Kartoffeln ein.«

»Woher weißt du das alles?«, fragte Geli.

»Ach, das sind so Spiele bei uns zu Hause. Wir machen sie zu Silvester oder an langen Winterabenden. Meine Oma Erna kennt noch ganz viele davon aus ihrer eigenen Kindheit. Sie hat mir versprochen, eines Tages alles für mich aufzuschreiben. Hoffentlich kommt sie noch dazu.«

»Geht es ihr nicht gut?«, fragte Geli mitfühlend.

»Du hast deine Schale noch nicht geworfen«, erinnerte Marion, die eher fürs Ablenken war, und schob Birte vor den Spiegel. »Wie soll der zukünftige Landjunker denn heißen?«

»Spieglein, Spieglein an der Wand.Apfel, Apfel in der Hand …«