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Alexandra König ermittelt in ihrem ersten Fall Nachdem die 32-jährige Alexandra König von ihrem langjährigen Freund verlassen wurde, braucht sie dringend einen Tapetenwechsel. Statt der geplanten Last-Minute-Reise bucht sie deshalb einen Wanderurlaub im Odenwald. In Beerfelden erwarten sie allerdings mehr Idylle und Ruhe, als sie ertragen kann. Alex ist schon im Begriff, ihre Koffer erneut zu packen, da entdeckt sie während eines Spaziergangs einen leblosen Mann auf einer Kuhweide. Der Mann wurde offenbar von Kühen totgetrampelt. Als der zuständige Ermittler der Polizeidirektion anrückt, traut Alex ihren Augen kaum. Denn der Motorrad fahrende Tom Brugger ist unverschämt attraktiv. Schnell wird klar, dass in diesem Fall ein Mord nicht ausgeschlossen ist. Sofort ist Alex' Neugier geweckt. Während sie auf eigene Faust nachforscht, ist ihr der Täter dicht auf den Fersen …
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Die AutorinSusanne Roßbach, Jahrgang 1966, ist Diplom-Betriebswirtin und Diplom-Psychologin und arbeitet als Senior Business Analystin in einer Großbank. Als ehemaliges Mitglied von Mensa in Deutschland sucht sie ständig neue Herausforderungen. Vornehmlich in jungen Jahren bereiste sie halb Europa, Nordafrika, war mehrmals in den USA und in Japan. Heute lebt sie mit Partner und Tochter im Süden Frankfurts und widmet sich in ihrer Freizeit ihrem Pferd.
Das Buch
Nachdem die 32-jährige Alexandra König von ihrem langjährigen Freund verlassen wurde, braucht sie dringend einen Tapetenwechsel. Statt der geplanten Last-Minute-Reise bucht sie deshalb einen Wanderurlaub im Odenwald. In Beerfelden erwarten sie allerdings mehr Idylle und Ruhe, als sie ertragen kann. Alex ist schon im Begriff, ihre Koffer erneut zu packen, da entdeckt sie während eines Spaziergangs einen leblosen Mann auf einer Kuhweide. Der Mann wurde offenbar von Kühen totgetrampelt. Als der zuständige Ermittler der Polizeidirektion anrückt, traut Alex ihren Augen kaum. Denn der Motorrad fahrende Tom Brugger ist unverschämt attraktiv. Schnell wird klar, dass in diesem Fall ein Mord nicht ausgeschlossen ist. Sofort ist Alex' Neugier geweckt. Während sie auf eigene Faust nachforscht, ist ihr der Täter dicht auf den Fersen …
Susanne Roßbach
Der Tote vom Odenwald
Alexandra Königs erster Fall
Midnight by Ullsteinmidnight.ullstein.de
Originalausgabe bei Midnight Midnight ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Oktober 2017 (1) © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2017 Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: © FinePic® Autorenfoto: © privat ISBN 978-3-95819-127-3 Hinweis zu Urheberrechten Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben. In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.
Ich kicherte. Das Hotel hieß »Zum röhrenden Hirsch«. Was für ein bescheuerter Name! Das war ja noch besser als ein Restaurant namens »Zur Goldenen Gans« oder eine Berghütte mit Namen »Jägerklause«. In einem solchen Hotel verkehrten sicher nur Rentner, und ich hätte meinen Hintern darauf verwettet, dass die abendliche Speisekarte Jägerschnitzel mit Pommes einschloss.
Aber ich hatte mir nun einmal Ruhe und Erholung verordnet, frische Luft und Natur, einsame Wanderungen, um wirklich auszuspannen. Außerdem konnte man zwei Tage vor der geplanten Abreise keine großen Ansprüche an die übriggebliebenen Reiseangebote stellen.
Ich klickte die Fotogalerie durch. Das Hotel war sehr schön gelegen, und es gab viele direkt angrenzende Wanderwege. Die Zimmer wirkten zwar nichtssagend, aber darin würde ich mich sowieso nicht lange aufhalten. Schließlich gab es in der näheren Umgebung von Beerfelden mehrere hübsche Städtchen und Ausflugsziele, und die Odenwälder Natur sah atemberaubend aus.
Laut Google Maps dauerte die Fahrt von Hamburg nach Beerfelden sechseinhalb Stunden. Da ich nicht gleich Freitag starten würde wie die meisten, die in den Schulferien Urlaub nehmen, erwartete ich keine größeren Staus. Samstag noch gemütlich frühstücken und dann am späten Vormittag losfahren, so stellte ich mir den Beginn meiner Reise vor.
Ein weiterer Klick führte mich auf die Preisseite. Ich wollte die vollen zwei Wochen meines Urlaubs wegfahren, um zu verhindern, dass ich meinen Bekannten in einer hochnotpeinlichen Befragung erklären musste, warum ich nicht wie sonst mit meinem Lehrer-Freund die kompletten Ferien verreiste. Wer sieben Jahre lang in den Oster- und Herbstferien last minute in den Süden geflogen war, hatte in den Augen mancher Personen offensichtlich das Anrecht verloren, mit dieser Gewohnheit zu brechen. Ich klickte mich noch einmal durch die Fotos.
Okay. Ein Angebot war im Grunde so gut wie das andere. Im »Röhrenden Hirsch« gab es sicher keine allein reisenden Männer passenden Alters, die ich würde abwimmeln müssen, und die Gefahr, dort einem bekannten Gesicht zu begegnen, schätzte ich als äußerst gering ein. Ich schnaufte einmal tief durch.
Ein Klick weiter, und die Buchung und mein Schicksal waren besiegelt.
Ich lenkte mein Auto auf den Hotelparkplatz. Die Sonne stand bereits tief am Himmel. Irgendwie war ich heute Morgen nicht so richtig in die Strümpfe gekommen. Wahrscheinlich lag es daran, dass ich meinem überstürzten Singleurlaub mit gemischten Gefühlen entgegensah.
Den Namen des Hotels hatte ich tatsächlich nicht geträumt, er prangte in großen goldenen Lettern über dem Hoteleingang: »Zum röhrenden Hirsch«. Mein Grinsen blieb mir allerdings im Halse stecken, als zwei drahtige Rentner an meinem Auto vorbei Richtung Hoteleingang liefen. Sie hatten wahrhaftig Trachtenhüte mit Gamsbärten auf und hielten jeder einen Wanderstock übersät mit Stocknägeln in der Hand. Bestimmt würde ich mich im Restaurant des Hotels wie ein Alien fühlen und mitleidige Blicke ernten. Vermutlich würde mir jeder ansehen, dass ich eine sitzengelassene Frau auf der Flucht vor ihrer Vergangenheit war.
Ich hob meinen Koffer aus dem Kofferraum und schloss das Auto ab. Nach der langen Fahrt war ich müde und hungrig, und der Gedanke an ein warmes Abendessen und ein kuscheliges Bett hielt mich aufrecht. Ich ratterte mit meinem Koffer Richtung Rezeption.
»Guten Abend.« Eine blonde Frau von Mitte bis Ende fünfzig mit großen, kräftigen Zähnen stand hinter der Theke und lächelte mich freundlich an.
»Guten Abend. Ich bin Alexandra König. Ich habe hier für die nächsten zwei Wochen ein Zimmer gebucht.«
Die Frau schaute auf den Bildschirm ihres Computers und tippte kurz darauf herum. »Ja, Frau König, schön, dass Sie unser Gast sind! Ich bin Cornelia Waldheim, die Hotelmanagerin. Meine Rezeptionistin ist kurzfristig krank geworden, deshalb werden Sie mich die nächsten Tage öfter an der Rezeption sehen. Bitte tragen Sie sich hier auf dem Formular ein.« Sie schob mir ein Blatt Papier herüber und legte einen Kugelschreiber dazu.
Alexandra König. 23.06.1985. Controllerin. Palmerstraße …
Ich bemühte mich, deutlich zu schreiben, obwohl ich keine Lust auf Papierkram hatte. Nach Erledigung der Formalitäten gab mir Frau Waldheim die Karte für meine Zimmertür.
»Zimmer siebenundzwanzig, das wird Ihnen gefallen. Es geht nach hinten raus, mit Blick auf die Berge.« Sie zog einen Aktenordner unter der Theke hervor und heftete mein Formular ab. »Das Abendessen können Sie noch bis zwanzig Uhr einnehmen. Einen schönen Aufenthalt wünsche ich Ihnen!« Sie klang so, als ob sie es ehrlich meinte.
»Danke.«
Es fiel mir trotzdem schwer, mich auf meinen Urlaub zu freuen. War das die richtige Entscheidung gewesen?
Ich zog den Koffer zum Aufzug und fuhr in den zweiten Stock. Hotels schienen immer unpersönlich, aber wenn man alleine reiste, fühlte man die Fremdheit umso mehr.
Mein Zimmer war sauber und ordentlich und die Aussicht wirklich sehr schön. Aber der Hunger trieb mich schon bald ins Restaurant.
Dort musste ich feststellen, dass ich anscheinend die Stoßzeit erwischt hatte. An etwa einem Dutzend Tische saßen bereits haufenweise Gäste. Wie ich es mir schon gedacht hatte, waren die meisten im Rentenalter. Sie musterten mich mit neugierigen Blicken.
Es machte mir nichts aus, mich in der Öffentlichkeit zu bewegen. Ich war im Laufe meines bisherigen Lebens zu der Überzeugung gekommen, dass ich mich nicht verstecken musste. Ich hatte einen verantwortungsvollen Job, in dem ich selbstbewussten Männern hin und wieder unangenehme Wahrheiten nahebringen musste. Dadurch hatte ich gelernt, selbstsicher und professionell aufzutreten.
Trotzdem wollte ich nicht wie eine gebeutelte Single-Frau aussehen, die aus der Not heraus in einem beschaulichen Wanderurlaub gelandet war.
Ich nickte also unbestimmt in mehrere Richtungen und suchte dabei mit den Augen rasch die Sitzgelegenheiten ab. Wenn sich schon kein komplett freier Tisch mehr finden ließ, so wollte ich wenigstens den Tisch mit möglichst wenigen anderen Gästen teilen.
Mein Blick blieb an einer winkenden Hand hängen. Am Ende des Arms hing die Frau mit dem Trachtenhut, die bei meiner Ankunft mit ihrem Mann das Hotel betreten hatte. Immerhin hatten sie ihre Hüte zum Essen abgesetzt.
»Kommen Sie«, rief sie mir breit lächelnd zu, »hier ist noch ein Plätzchen frei!« Sie rutschte aufgeregt auf ihrem Sitz herum und zeigte auf die beiden freien Stühle.
Ich lächelte höflich und setzte mich neben sie. »Vielen Dank.«
»Wir freuen uns immer, wenn wir neue Leute kennenlernen können. Das ist mein Mann Herbert, ich heiße Hedi.« Herbert nickte mir kurz zu, Hedi schaute mich erwartungsvoll an.
»Alex«, antwortete ich brav.
Hedi und Herbert mochten um die siebzig sein. Sie hatte kurze brünette Haare mit großen Locken, er graue, aber noch volle Haare und einen kleinen Schnauzer.
Eine Bedienung fragte mich nach meinen Getränkewünschen. Nachdem sie gegangen war, ergriff Hedi sogleich wieder das Wort. »Schauen Sie sich am Buffet um, Alex, sie kochen hier ausgesprochen gut. Diese Schweinemedaillons sind köstlich, und als Vorspeise hatte ich eine Rindersuppe, die ist auch sehr zu empfehlen.«
Ich nickte und stand auf. In meinem Magen verspürte ich schon ein flaues Gefühl. Ich schaute mich kurz um und ließ mich von Hedis Empfehlung leiten. Während ich mir eine Schale mit Rindersuppe füllte, sah ich ein Paar Hedis Tisch ansteuern, aber sie zeigte mit dem Finger auf mich und machte eine abwehrende Geste, so dass sich das Paar einen anderen Tisch suchte.
Als ich mich wieder zu Hedi setzte, beugte sie sich leicht zu mir und flüsterte: »Die haben mir gestern schon alle Doktortitel ihrer Kinder und alle Auszeichnungen ihrer Bekannten unter die Nase gerieben, das brauche ich kein zweites Mal.« Sie kicherte und wandte sich wieder ihren Schweinemedaillons zu.
»Und er macht immer so auf jung und dynamisch …« Herbert legte sein Besteck ab. »Aber er kann keine drei Sätze am Stück sprechen, ohne in Schnappatmung zu verfallen.« Herbert zog den Kopf ein, presste die Ellbogen an die Taille, formte seine Hände zu Krallen und hechelte übertrieben. Jetzt war ich es, die kicherte.
»Wo kommen Sie her?« Herbert hatte sein Besteck wieder aufgenommen und zeigte einen gesunden Appetit.
»Aus Hamburg. Und Sie?«
»Aus Bruchsal«, antwortete Hedi. »Früher waren wir mehr in den Alpen unterwegs, aber mit zunehmendem Alter dürfen die Berge auch etwas niedriger sein.« Sie verdrehte die Augen. »Immerhin sind wir heute bis zum Katzenbuckel gewandert«, sagte sie triumphierend.
»Aber zurück sind wir mit dem Bus gefahren«, ergänzte Herbert und zwinkerte mir zu.
»Wie schmeckt Ihnen die Suppe?«, fragte Hedi.
»Sehr gut, Sie hatten recht.«
»Wunderbar. Die wird Ihnen Kraft geben, wenn Sie morgen Ihre erste Tour machen. Sie sind doch sicher auch zum Wandern hier?«
Es entspann sich eine Unterhaltung über Ausflugsziele und Wanderwege, und ich musste zugeben, dass ich froh über die Gesellschaft war. Ich hatte mich in der Rolle des einsamen Wolfs gesehen, der alleine durch die abgeschiedene Natur streift und den Kontakt zu anderen Menschen meidet, um zu sich selbst zu finden. Aber insgeheim wusste ich doch, dass ich mich schrecklich verlassen gefühlt hätte, wenn ich hier schweigend mit Fremden an einem Tisch gesessen hätte und ignoriert worden wäre.
Das Verlassenheitsgefühl holte mich erst wieder ein, als ich zurück in mein Zimmer ging und von nichts als Leere empfangen wurde. Ich öffnete die Balkontür, aber auch hier draußen gab es nur Dunkelheit und Stille. Sollte ich morgen einfach wieder packen und nach Hause fahren? Zu Hause würde ich auch allein sein, aber allein in meiner vertrauten Wohnung, nicht irgendwo in der Fremde, wo ich vor Einsamkeit selbst für ein Gespräch mit Hedi und Herbert eine gewisse Dankbarkeit empfand.
Am nächsten Morgen weckte mich das Türenschlagen der benachbarten Gäste. Immer wieder erklang leises Getrappel im Flur. Ich drehte mich von einer Seite auf die andere, dann fiel mir siedend heiß ein, dass das Restaurant nicht endlos Frühstück anbot. Ich sah auf die Uhr: zehn nach sieben. Es war doch noch nicht so spät, wie ich gedacht hatte. Offensichtlich war ich zu der Zeit aufgewacht, zu der ich normalerweise aufstehen musste, um rechtzeitig auf der Arbeit zu erscheinen.
Einschlafen konnte ich sowieso nicht mehr, also sprang ich aus dem Bett, machte mich rasch fertig und ging nach unten. Als ich an der Rezeption vorbeilief, sah ich gerade noch die Hotelmanagerin mit Nordic-Walking-Stöcken das Haus verlassen.
Im Gegensatz zu gestern Abend war es heute fast leer im Restaurant. Ich nickte den wenigen Gästen zu und bediente mich gleich am Buffet. So hatte ich mir meinen ruhigen Wanderurlaub vorgestellt. Niemand beachtete mich, und ich hing meinen Gedanken nach.
Vielleicht sollte ich erst mal einen Spaziergang machen und mich ein wenig umsehen, dann konnte ich immer noch entscheiden, ob ich blieb oder heimfuhr. Wenn die Natur hier so schön war wie auf den Fotos im Internet, konnte ich die Gegend erkunden und von Tag zu Tag aufs Neue beschließen, wie lange ich es hier aushalten würde. Schließlich hatte ich im Voraus bezahlt. Da wäre es blöd, den Urlaub nicht auszunutzen.
Also fand ich mich bald darauf am Beginn eines kleinen Rundwegs wieder, den mir Hedi gestern empfohlen hatte. Er begann am Hotel und war in zwei Stunden zu laufen. Ich folgte den Schildern. Es war frisch, aber ab und zu ließ sich die Sonne blicken. Bald schon zog ich meine Jacke aus und knotete sie mir um die Hüfte. Ich war schon zwanzig Minuten leicht bergauf gelaufen und kam langsam ins Schwitzen. Dann tat sich der Wald auf und gab den Blick auf eine malerische Hangwiese frei. Sie war eingezäunt, aber es standen keine Tiere darauf. Das Gras sah saftig grün aus. Die Sonne lugte hervor und ließ kleine Tautröpfchen funkeln.
Die Wiese ging in einen Wald über, und im Vorbeilaufen betrachtete ich zu beiden Seiten riesige Farne, fremdartige Pilze und märchenhafte Steine, die von sattgrünen Moosen überzogen waren. Auf einmal entdeckte ich links von mir einen kleineren Waldweg, an dessen Ende eine Lichtung zu liegen schien. Kurz davor befand sich eine idyllisch wirkende Holzhütte.
Was soll’s, dachte ich. Ich war ja nicht beruflich unterwegs und musste keine Termine einhalten. Und bisher schien ich auf Hedis Rundweg gut voranzukommen. Also erlaubte ich mir einen kleinen Abstecher und bog in den Weg ein.
Als ich der Hütte näher kam, konnte ich erkennen, dass der Weg in der Tat auf eine Wiese führte. Der Zugang zur Wiese war allerdings durch ein stabiles Tor versperrt, das Teil der Umzäunung war, also hielt ich nach Tieren Ausschau. Tatsächlich erkannte ich nun einige Kühe durch die Bäume, die zufrieden mampfend im Gras standen.
Die Holzhütte war bald erreicht. Es handelte sich um eine Art Luxus-Gartenhütte, in der man bestimmt auch übernachten konnte. Ein kleiner Schornstein verriet die Beheizbarkeit, und hinter den Fenstern waren die Gardinen zugezogen. Ein schöner Rückzugsort. Wäre auch was für mich.
Ich lief bis zum Tor und kletterte auf die unterste Holzsprosse, um mir die Kühe anzusehen. Weit hinten, am anderen Ende der Wiese, lag ein Hof. Dahinter war eine Straße zu erkennen. Aber sie war weit genug entfernt, um der Idylle keinen Abbruch zu tun. So hatte ich es mir hier vorgestellt. Ich atmete die frische Landluft, betrachtete die Kühe – und einen Mann, der etwa dreißig Meter entfernt im Gras lag. Welcher Idiot legte sich denn hier ins nasse Gras?
Er lag auf dem Rücken und war sehr still. Etwas zu still für meinen Geschmack. Ich drehte mich um, aber natürlich war niemand zu sehen, den ich hätte um Rat fragen können. War er ohnmächtig geworden? Oder war er ein Landstreicher, der sich betrunken auf die Wiese gelegt hatte? Jedenfalls konnte ich nicht einfach weitergehen und den Mann seinem Schicksal überlassen. Mist.
Der Zaun bestand aus zwei parallelen Reihen grüner, nicht sehr straff gespannter Kunststoffbänder, zwischen denen ich leicht hindurchschlüpfen konnte. Ich schaute misstrauisch nach links und rechts. Mein bisheriger Kontakt zu Kühen beschränkte sich auf Milch und Joghurt. Aber die Tiere kauten weiter gemächlich vor sich hin und würdigten mich keines Blickes.
Am besten lief ich wohl dort, wo schon eine schmale Schneise ins Gras geschlagen war, damit meine Schuhe nicht nass wurden. Woher kam überhaupt diese Spur aus platt getretenem Gras? Sie begann am Zaun und führte … ja, sie führte zu dem liegenden Mann. Ich biss mir auf die Oberlippe. War er durch die Wiese gekrochen? Oder … geschliffen worden? Ich lief immer langsamer, aber so sehr sich meine Nackenhaare auch sträubten, ich stand schließlich vor ihm.
Der Mann lag neben drei hässlichen Haufen Kuhmist. Das Gras um ihn herum war zertrampelt. Er war etwa Mitte fünfzig, von großer Statur und hatte grau melierte Haare. Ich weiß nicht warum, aber irgendwie dachte ich mir gleich, dass er tot war. Er sah blass und extrem leblos aus. Seine Augen waren geschlossen. Ich starrte eine volle Minute auf seinen Brustkorb und seinen Bauch, aber ich konnte keine Bewegung erkennen.
Jetzt erst fiel mir auf, dass auf seinem Hemd deutliche Hufspuren zu erkennen waren. Meine Hände wurden schlagartig schweißnass, und ich drehte mich vorsichtig um. Nur keine hektischen Bewegungen machen. Ich lief langsam zum Tor zurück und ließ die Kühe nicht aus den Augen. Als ich wieder auf der anderen Seite der Umzäunung stand, zog ich erleichtert mein Handy aus der Jackentasche und wählte den Notruf.
Obwohl die Dame am anderen Ende der Leitung dem Dialekt nach eine Einheimische war, dauerte es gefühlt mehrere Minuten, bis ich ihr meinen Standort klargemacht hatte. Ich schilderte ihr, dass hier allem Anschein nach ein Mann von Kühen totgetrampelt worden war und schnell ein Krankenwagen kommen solle. Dann musste ich mich erst mal setzen. Nasser Hintern hin oder her. Mein Kreislauf war nicht der beste.
Der Krankenwagen kam ohne Martinshorn. Ich sprang auf und zeigte den Sanitätern, wo der Tote lag, ohne die Wiese noch einmal zu betreten. Meine Warnung vor den Rindviechern quittierten die Sanitäter mit unverschämtem Gelächter. Gerne hätte ich die Arme hochgerissen und laut »Buh« geschrien, als sie über die Wiese liefen, um eine Stampede auszulösen und den Sanitätern so das Lachen auszutreiben. Aber da mir wieder schwindlig wurde, zog ich es vor, mich zu setzen. Aus dieser Position heraus beobachtete ich, wie die Sanitäter den Mann untersuchten. Sie machten noch nicht einmal Wiederbelebungsversuche. Dann kamen sie zurück und riefen von ihrem Wagen aus die Polizei an.
Am liebsten wäre ich schnurstracks ins Hotel zurückgegangen, aber einer der Sanitäter meinte, die Polizei hätte eventuell noch Fragen an mich, und ich solle besser warten. Dann schaute er mir noch einmal kritisch ins Gesicht, bot mir an, mich in den Krankenwagen zu setzen, und drückte mir ein Päckchen Traubenzucker in die Hand, das ich dankbar annahm.
Bald darauf kam ein Polizeiwagen, und die Abläufe wiederholten sich. Die Polizisten schauten sich den Toten an, dann kamen sie zurück und forderten von ihrem Wagen aus die Spurensicherung und Verstärkung an, und ich wurde befragt, warum ich hier entlanggegangen war und wie ich den Toten gefunden hatte. Danach wurden meine Personalien festgehalten, doch als ich gehen wollte, hieß es, ich solle auf den Ermittler, einen Herrn Brugger, warten, der hätte sicher auch noch Fragen an mich.
Nun gut, ich hatte den Traubenzucker im Magen und fühlte mich wieder stabil. Also setzte ich mich erneut in den Krankenwagen und betrachtete das weitere Geschehen. Es kamen zusätzliche Autos mit einem Spurensicherer und einem Fotografen. Ich wusste nicht so recht, was sie noch für Spuren sichern wollten, nachdem die Rettungssanitäter, die Polizisten und ich bereits überall herumgetrampelt waren, aber alle taten geschäftig und liefen hin und her. Ab und zu hob der Spurensicherer etwas mit einer Pinzette auf und steckte es in einen Klarsichtbeutel.
Wieder erklang ein Motorengeräusch. Aber diesmal war es kein Auto. Im Rückspiegel des Krankenwagens sah ich ein Motorrad näher kommen. Schwarz mit viel Chrom. Der Fahrer schien recht groß und trug eine schwarze Lederkombi und einen schwarzen Helm mit verspiegeltem Visier. Dass Männer immer auf cool machen mussten! Er fuhr am Krankenwagen vorbei und hielt quer davor an. War das vielleicht ein Journalist, der bereits Wind von der Sache bekommen hatte?
Er stieg vom Motorrad ab. Die Art, wie er aussah und sich bewegte, ließ auf dreimal die Woche Fitnessstudio schließen. Oder viermal. Er setzte den Motorradhelm ab. Ach, du Scheiße! Der Typ sah extrem gut aus. Dunkelbraune Haare, ausgeprägte Wangenknochen, stahlharte Augen, die mich in diesem Moment ansahen. Ups! Hatte ich ihn angestarrt? Ich schaute rasch auf den Fotografen, der den Boden unter dem Zaun ablichtete. Einer der Polizisten ging auf den Journalisten zu und redete mit ihm.
Mein Magen knurrte. Ein zweites Frühstück käme jetzt gut. Wann würde endlich dieser Ermittler auftauchen, damit ich gehen konnte? Der Polizist redete immer noch mit dem Reporter und zeigte plötzlich mit dem Finger auf mich. Plötzlich dämmerte es mir. Na klar! Der Typ war kein Journalist, sondern der Ermittler, auf den ich die ganze Zeit gewartet hatte. Zugegebenermaßen hatte ich wohl eher einen Columbo im Trenchcoat erwartet als einen Typ in Lederkluft, der kaum älter war als ich selbst.
Der Ermittler musterte mich ungeniert, während der Polizist redete. Mir dauerte das alles zu lang. Ich stieg aus und lief ein paar Schritte auf die beiden zu, um auf mich aufmerksam zu machen.
»Die Steffi fährt also zur Frau vom Friedhelm Kauer, um ihr die Nachricht zu überbringen«, sagte der Polizist. »Der Tod ist etwa zwischen Mitternacht und drei Uhr morgens eingetreten. Und dort neben der Hütte hat einer seinen Wagen gewendet, vermutlich heute früh, weil sich auf dem niedergefahrenen Gras kein neuer Tau gebildet hat, während das Gras drumherum immer noch feucht ist. Die Reifenspuren haben wir bereits gesichert.«
Der Ermittler nickte und drehte sich um. Er holte einen Klarsichtbeutel, wie sie auch der Spurensicherer benutzte, aus der Jackentasche. Irgendein Gegenstand befand sich bereits in dem Beutel, und er reichte ihn dem Spurensicherer, der ihn in seinen Koffer legte.
Was war das denn? Hatte der Ermittler ein Beweisstück mitgebracht? War ich Zeugin einer widerrechtlichen Manipulation geworden? Meine Gedanken überschlugen sich.
Nichtsdestotrotz wurde mir immer deutlicher bewusst, dass ich Hunger hatte. Mein Magen knurrte verdächtig.
Der Ermittler schaute sich mittlerweile vor der Hütte um. Das konnte er sicher auch später noch machen. Ich ging zu ihm hin und stellte mich vor ihn. Er suchte konzentriert den Boden ab.
»Entschuldigung …« Meine Stimme klang etwas ungeduldig. Er schaute mich an. Was für ungewöhnliche, graue Augen! Ich fing an zu schwitzen. »Mir fällt gleich der Magen raus.« Oje, ein dämlicherer Satz hätte mir wohl nicht einfallen können. »Ihr Kollege sagte, Sie wollten mich noch … mir noch ein paar Fragen stellen. Können Sie das nicht zuerst machen und dann weiter hier …« Ich machte eine unbestimmte Handbewegung. »… rumsuchen?«
Er schaute mir in die Augen. Mein Kreislauf war anscheinend doch noch nicht so richtig wieder auf der Höhe.
»Nein.«
Der Typ machte mich nervös. Er hatte gesunde, kräftige Zähne. Sah er jeden derart durchdringend an oder nur mich? Und was hieß hier »Nein«?
Er kniff die Augen zusammen. »Können Sie morgen in die Polizeidirektion Erbach kommen? So um zehn?«
»Ja«, sagte ich automatisch.
Er nickte mir zu, drehte sich um und suchte weiter den Boden vor der Hütte ab. Damit war ich wohl entlassen. Endlich konnte ich gehen. Ich lief mit strammen Schritten den Weg entlang, den ich gekommen war, und fand immer mehr zu mir selbst zurück. Was für ein unhöflicher Typ! Erst hatte ich ewig warten müssen, und dann sollte ich doch in die Polizeidirektion kommen! Da fiel mir ein, dass ich noch am Morgen über eine vorzeitige Abreise nachgedacht hatte. Na ja, einen Tag konnte ich noch dranhängen. Bis zum Leichenfund war der Spaziergang schließlich recht schön gewesen.
Aber was für ein komischer Typ! Hatte einen seriösen Job und lief rum wie Mister Supercool. Und dann dieses mitgebrachte Beweisstück, das er dem Spurensicherer in die Hand gedrückt hatte.
Ich hatte das Ende des Seitenwegs erreicht und bog wieder auf den Hauptweg ein, auf dem gerade ein Förster im Auto vorbeifuhr. Er schaute neugierig in den Seitenweg.
Ich drehte mich noch einmal um. Dieser Brugger stand noch immer vor der Hütte, bückte sich eben gerade, hob etwas auf und steckte es in seine Jackentasche. Hatte er soeben ein Beweisstück unterschlagen? Warum hatte er es nicht in einen dieser Klarsichtbeutel gesteckt? Ich lief noch schneller. Der Sauerstoff brachte mein Gehirn wieder in Fahrt. Die ganze Sache stank doch zum Himmel!
Aber warte nur, dachte ich grimmig. Ich werde in meinem Job nicht umsonst immer für meinen Spürsinn gelobt!
Hedi riss die Augen immer weiter auf.
»Na ja«, sagte ich, »und dann haben die Sanitäter meinen Verdacht bestätigt: Der arme Mann war mausetot.«
Hedi legte ihr Besteck ab. »Das ist ja entsetzlich! Du Arme! Ich wusste gar nicht, dass Kühe so bösartig sein können!«
»Doch, doch«, widersprach Herbert, »ich habe schon mal gelesen, dass ein Landwirt bei einer Stampede totgetrampelt wurde. So eine Kuh bringt – ich schätze mal – etwa achthundert Kilo auf die Waage. Wenn die auf deinen Bauch tritt …« Er nahm seinen Suppenlöffel und drückte ihn fest mitten in den Schokopudding, welchen er sich gleich mit der Vorspeise vom Buffet geholt hatte. Der Pudding wich dem Druck des Löffels nach außen aus und quoll rundherum über den Rand seiner Schüssel.
»Herbert! Lass die Sauerei! Und auf deine drastischen Visualisierungen können wir auch verzichten!« Hedi legte ihre Hand beschwichtigend auf meinen Unterarm. »Entschuldige, meine Liebe! Du hast ja einiges mitgemacht heute. Bitte lass dir von Herbert nicht den Appetit verderben.«
»Ach, nein, es geht schon wieder«, winkte ich ab. »Mir ist nur direkt nach dem Leichenfund der Kreislauf abgesackt. Aber dann war so viel los, erst kamen die Sanitäter, schließlich die Polizei und die Spurensicherer … Morgen muss ich auch noch mal auf die Polizeidirektion nach Erbach. Dann habe ich allerdings meine Pflicht und Schuldigkeit getan.«
»Das hoffe ich für dich.« Hedi kaute eine Weile. »Ach, wenn du sowieso in Erbach bist, musst du dir unbedingt die Stadt ansehen. Sehr geschichtsträchtig! Das Schloss ist natürlich ein Touristenmagnet, aber auch sonst gibt es enorm viele hübsche Fachwerkhäuser, und immer wieder stößt man auf die Mümling, die mitten durch die Stadt fließt.«
»Ah, ja.« Ich nickte.
»Du musst auf jeden Fall ins Elfenbeinmuseum gehen, das hat auch Herbert sehr gut gefallen. Und direkt an Erbach angrenzend ist Michelstadt, das nimmst du am besten gleich mit, wenn die Zeit reicht. Das historische Rathaus von Michelstadt hast du bestimmt schon einmal auf einem Foto gesehen oder als Briefmarkenmotiv, es gilt als spätgotisches Juwel! Oder du besuchst die Basilika, dort herrscht eine außerordentliche Atmosphäre, nahezu heilig!« Hedi geriet richtig in Fahrt. Sie hätte auch eine gute Reiseführerin abgegeben.
»Mal sehen. Ich habe keine Vorstellung davon, wie lange der Termin bei der Polizei dauert. Aber danke für die Tipps, ich werde bestimmt noch einmal durch die Stadt schlendern.«
»Das solltest du unbedingt.«
Herbert sah missmutig knapp an mir vorbei. Ich drehte mich um. Das Pärchen, das sich gestern zu Hedi und Herbert hatte setzen wollen und von ihnen mit Verweis auf mich abgewiesen worden war, kam auf uns zu.
Der Mann war leicht untersetzt und schob eine extreme Rasierwasserwolke vor sich her. Ich schätzte ihn auf Anfang sechzig. Seine Haare trug er recht lang und seltsam über den Oberkopf gekämmt, vermutlich um die lichten Stellen zu kaschieren. Er trug einen feinen Anzug, den ich sowohl für den Ort als auch für die Zeit eher unpassend fand. Schon bevor er uns erreichte, streckte er die Arme ausladend weit aus, um uns danach reihum in etwas übertriebener Manier die Hände zu schütteln.
»Schön, dass ich Sie hier treffe. Sie sind also unser Neuzugang? Ich bin Arno Schneider, das ist meine Frau Ilse.« Er zog seiner Frau den freien Stuhl zurück, und sie setzte sich ungefragt.
Ich nickte beiden zu. »Ich bin Alexandra König.«
Ilse Schneider musterte mich kühl. Sie war eine außerordentlich gepflegte Erscheinung. Sie musste die letzte Stunde beim Friseur, bei der Kosmetikerin und der Maniküre verbracht haben. Alles an ihr sah perfekt aus, auch wenn das Gesicht etwas regungslos wirkte. Sie trug eine Menge Schmuck und verströmte einen aufdringlichen Parfümgeruch, der mir regelrecht den Appetit verdarb. Herbert indes hatte sein Besteck wieder aufgenommen und aß ungerührt weiter.
»Es freut mich, dass wir uns auch mal kennenlernen.« Arno Schneider hatte sich hinter seine Frau gestellt und legte seine Hände auf ihre Schultern. »Wo kommen Sie her, Frau König?« Er schien seltsam atemlos.
»Aus Hamburg.«
»Ah, wie schön! Aber auch nicht billig! Wir kommen aus Düsseldorf, aus dem Stadtteil Oberkassel, das ist der teuerste in Düsseldorf. Aber was will man machen, wer schön wohnen möchte, muss eben tief in die Taschen greifen, nicht wahr?« Er lachte und lief dabei leicht rot an. »Und was machen Sie beruflich, wenn ich fragen darf?«
»Ich arbeite im Controlling.«
»Ah, sehr schön.«
»Mein Mann ist Abteilungsleiter bei der Strechnow AG«, schaltete sich jetzt Ilse Schneider ein. »Er arbeitet so viel, dass ich ihn fast nie zu sehen bekomme. Aber die Karriere hat nun einmal ihren Preis.« Sie drehte einen ihrer Goldringe hin und her und verzog ihr Gesicht zu einem gruseligen Lächeln.
Herr Schneider hatte offensichtlich meinen fragenden Blick bemerkt. »Wir machen elektronische Schaltungen.«
»Aha.«
»Was werden Sie noch Schönes unternehmen?«
»Ich bin zum Wandern hergekommen. Ich wollte die Natur genießen und mich ein bisschen sportlich betätigen.«
»Nun, ist ja sonst auch nicht allzu viel los hier bei den Hinterwäldlern. Ein gutes Restaurant sucht man vor Ort vergebens. Einer unserer Freunde – er ist Schönheitschirurg – hat uns gleich prophezeit, dass wir für ein gutes Essen wahrscheinlich bis Heidelberg fahren müssen.« Er holte pfeifend Luft. »Aber was soll’s, meine Frau lässt sich mit Wellness verwöhnen, und ich schaue mir die Sehenswürdigkeiten an. So hat jeder seinen Spaß. Nicht wahr, Schatzi?« Er klopfte seiner Frau mit beiden Händen mehrmals auf die Schultern. »Ich wünsche Ihnen allseits noch einen schönen Abend.«
»Danke, gleichfalls«, sagte Hedi, und Herbert und ich nickten. Die Schneiders setzten sich an einen freien Tisch. Ich spürte ein allgemeines Aufatmen.
Hedi und ich griffen wieder zu unseren Bestecken.
»Kann mal einer die Fenster aufreißen und kräftig durchlüften?«, brummte Herbert.
»Jetzt wissen wir immerhin, wer für ihre Gesichtsmaske zuständig ist«, flüsterte Hedi und drückte sich Daumen und Zeigefinger der rechten Hand in die Wangen. »Diesem Schönheitschirurgen hätte ich die Freundschaft gekündigt.«
»Habt ihr gesehen, wie rot er allein vom Lachen angelaufen ist? Dem muss nur einer drei Witze hintereinander erzählen, dann ereilt ihn schon der Erstickungstod.« Herbert fuhr sich mit dem Messer vor dem Hals von links nach rechts. »Nächstes Mal mache ich das.«
»Ich steuere gerne ein paar Witze dazu bei«, bot ich Herbert an und wedelte mir rasch mit der Serviette etwas frische Luft zu.
Als ich nach dem Abendessen an der Rezeption vorbeilief, winkte mich Frau Waldheim zu sich.
»Frau König, darf ich Sie noch einen Moment aufhalten …« Sie verschwand kurz aus meinem Blickfeld, weil sie sich weit hinunterbeugte und aus den Tiefen der Theke etwas hervorholte.
»Ich habe irgendwie das Bedürfnis, mich bei Ihnen zu entschuldigen …«
Ich schaute erst sie fragend an und dann auf die hübsche Schachtel, die sie mir zuschob. Sechs kleine, aber höchst exquisite Pralinenkunstwerke lächelten mir durch die Folie entgegen.
»Oh, das …«
»Es tut mir so leid, dass Sie gleich an Ihrem ersten Urlaubstag über einen Toten stolpern mussten.« Sie legte ihren Kopf schräg und hob die Schultern kurz an. »Ich habe es heute Nachmittag erfahren. Ich hoffe, Sie lassen sich Ihren Urlaub dadurch nicht vermiesen. Ich wünsche mir wirklich, dass Sie sich trotzdem hier wohlfühlen und gut erholen und diese schlimme Sache bald wieder vergessen können.«
»Das ist wirklich sehr nett von Ihnen. Es war tatsächlich ein ziemlicher Schreck, aber mittlerweile habe ich mich wieder gefasst.« Dass der Leichenfund etwas Spannung in meinen drögen Rentnerurlaub gebracht hatte, sollte ich der Besitzerin eines vornehmlich von Rentnern frequentierten Hotels sicher nicht unter die Nase reiben. Ihre Geste fand ich jedoch unglaublich nett.
Frau Waldheim schaute mich immer noch mitleidig an. »Der alte Kauer war sicher kein schöner Anblick …«
»Der alte Kauer?«
»Ja, der Besitzer vom Kauerhof. Weil er noch zwei Söhne hat, hat es sich hier so eingebürgert, dass der Vater so genannt wird. Nun, besonders beliebt war er auch nicht, da hat man ihm keinen freundlicheren Spitznamen verpassen wollen. Denn wirklich alt war er gar nicht, ungefähr in meinem Alter, aber den Spitznamen hatte er weg, seit er seinen ersten Sohn bekommen hat, den Gerhard.«
Ich hörte gespannt zu, wollte aber gleichzeitig nicht neugierig wirken. »Ach, ja?« Ich schaute noch einmal auf die Pralinen.
»Tja, wie soll ich sagen …«, Frau Waldheim wackelte mit dem Kopf hin und her, »… der Mann war kein Kostverächter. Aber diesen frühen Tod hat er natürlich trotzdem nicht verdient, immerhin lässt er eine Frau und zwei, wenn auch schon mehr oder weniger erwachsene, Söhne zurück … Niemand sollte so enden. Er soll ja von seinen eigenen Kühen zertrampelt worden sein, heißt es.« Nun war sie es, die angestrengt auf die Pralinen schaute und dabei die Augenbrauen hochzog.
»Es machte den Anschein. Auf seinem Hemd waren Hufabdrücke zu sehen.«
»Ja, sicher.« Sie nickte etwas übertrieben.
»Nun, also … Vielen Dank für die Pralinen. Ich werde gleich auf meinem Zimmer eine probieren.«
»Sehr gerne.« Ihr Lächeln wirkte nun wieder entspannt und offen. Eine sympathische Person.
Während ich auf den Aufzug wartete, fragte ich mich, ob Frau Waldheim Zweifel an der Todesursache hegte. Oder bildete ich mir das nur ein, weil ich selber nicht mehr an die Schuld der Kühe glaubte? Seit mein Gehirn wieder richtig funktionierte und ich den ganzen Nachmittag in Ruhe über die Sache hatte nachdenken können, hatte ich so meine Zweifel.
Bei logischer Betrachtung konnten die Kühe sozusagen ein Alibi vorweisen. Dies war ein Fakt, den ich morgen mit dem Ermittler besprechen musste. Allerdings: Wenn es kein Unfall gewesen war, dann handelte es sich zwingend um Mord. Und in diesem Fall rückte das verdächtige Verhalten des Ermittlers wieder in den Vordergrund. Seine Beweismanipulation stellte ihn dann in ein völlig anderes Licht.
Ich streckte mich, dehnte meine Schultern und hob das Kinn an. So oder so würde ich den Ermittler morgen in die Zange nehmen.
»Hallo? Ich bin Alexandra König. Ich habe einen Termin mit Herrn Brugger.« Ich hasste es, in Sprechanlagen zu sprechen. Wenn ich den Menschen am anderen Ende der Leitung nicht sehen konnte, er aber möglicherweise mich, kam ich mir immer irgendwie komisch vor.
Das große Metalltor öffnete sich langsam. Ich durchquerte den Parkplatz und betrat das Gebäude. Gleich rechts hinter Glas saß ein Pförtner, der mich mit einem Kopfnicken begrüßte.
»Guten Tag. Ich habe Herrn Brugger gerade angerufen. Er kommt sofort.«
»Danke.«
Ich versuchte, die Nervosität abzuschütteln, die mich seit Näherrücken des Termins befallen hatte. Würde der Ermittler mich wegen meiner Überlegungen auslachen? Begab ich mich unwissentlich in Gefahr, weil er selber Dreck am Stecken hatte? Dann würde er vermutlich versuchen, mich zu verunsichern und einzuschüchtern, damit ich mich aus der Sache heraushielt und ihm nicht auf die Schliche käme. Aber mit Typen, die einen einschüchtern wollten, hatte ich in meinem Job immer wieder zu tun, damit würde ich fertig werden. Man setzte einfach eine unergründliche Miene auf und beharrte auf seinen Argumenten. Solche Situationen hatte ich schon so oft durchgestanden, dass ich nicht einmal mehr verräterische Schweißausbrüche bekam.
Allerdings gab es hier und jetzt noch einen anderen Grund, Schweißausbrüche zu bekommen. Vermutlich lag es daran, dass ich jahrelang mit Markus zusammen gewesen war und mich um die männliche Hälfte der Gesellschaft überhaupt nicht geschert hatte. Ich hatte andere Männer nicht einmal richtig angesehen. Dieser Brugger war seit langer Zeit der erste Mann, der körperliche Reaktionen bei mir auslöste, und das verunsicherte mich noch mehr als die Tatsache, dass ich möglicherweise einem Mordfall auf der Spur war. Einem Mordfall, in den der Ermittler eventuell irgendwie selber verstrickt war.
Ich spannte meinen Körper an. Genau deswegen sollte ich mich auf das Wesentliche konzentrieren. Mich nicht von den durchdringenden grauen Augen in dem markanten Gesicht und den knapp zwei Metern athletischer Muskelmasse ablenken lassen, die gerade auf mich zukamen.
Wir reichten uns die Hände, und er nickte ernst. »Tom Brugger. Frau König, vielen Dank, dass Sie herkommen konnten. Lassen Sie uns ein paar Schritte laufen.«
Aha, also keine Zeugenbefragung im Polizeigebäude. Offensichtlich hatte das Fernsehen meine Vorstellung von Polizeiarbeit völlig falsch geprägt.
Er zeigte mit dem gestreckten Arm in die Richtung, in die er gehen wollte, und ich folgte. Wir verließen die Polizeidirektion über den Parkplatz, über den ich gekommen war, schritten durch das Tor und überquerten die Straße. Dann liefen wir eine kurze Weile schweigend nebeneinander her. Ich wollte keinen Small Talk beginnen, damit er es mir nicht als Schwäche auslegte. Erst mal sollte er sich aus der Deckung wagen.
Auf der anderen Seite der Straße erreichten wir einen hübsch gepflasterten Fußgängerweg. Links unter uns floss die Mümling. Die Steine im Bachbett waren von hellgrünen Moosen überwachsen, die sich der Fließrichtung des Wassers wie zarte Schleier ergaben. Die Pflasterung unseres Weges war immer wieder halbkreisförmig unterbrochen, und der Weg war an diesen Stellen mit Erde gefüllt und mit Bäumen bepflanzt worden. Noch weiter links, hinter der Mümling, standen sorgfältig restaurierte alte Häuser, teilweise mit Fachwerk. Vor einem dieser Gebäude drehte sich ein Mühlrad aus dunklem Holz. Der Weg wirkte durch diese Kulisse verträumt und märchenhaft und gab meiner Begegnung mit dem Ermittler den Anstrich einer romantischen Verabredung, auf den ich gerne verzichtet hätte, um mich der Anziehungskraft des Mannes neben mir besser entziehen zu können.
Er unterbrach die Stille und meine Gedanken. »Seit wann sind Sie in Beerfelden?«
»Seit vorgestern. Ich habe zwei Wochen im ›Röhrenden Hirsch‹ gebucht.«
»Wie gefällt es Ihnen?«
»Das Hotel ist okay. Ist halt mehr was für ältere Leute. Aber ich wollte schließlich einen gemütlichen Wanderurlaub machen und meine Ruhe haben.«
»Und keine Leiche finden.«
Diesen leisen Anflug von Ironie hätte ich ihm gar nicht zugetraut. Ich blickte ihn kurz an, aber sein Gesicht verriet gar nichts.
Nach etwa hundert Metern bogen wir nach rechts in einen Park ein. Er bestand aus einem hübsch angelegten Garten, dessen Wege auf einen mittig platzierten Springbrunnen zuliefen. Auf der Seite, auf der wir den Park betreten hatten, waren an der Mauer entlang kleine Zierbäume gepflanzt worden, durch die der Zwischenraum bis zur Mauer einen romantischen Gang bildete.
Herr Brugger zeigte auf das große, in Weiß und Altrosa gehaltene Gebäude, das den Park auf der schräg gegenüberliegenden Seite begrenzte. Das Erdgeschoss verfügte über ausgesprochen große Sprossenfenster, während aus dem Dachgeschoss kleine Gaubenfenster lugten.
»Die Orangerie am Lustgarten. Alles barock. Hat ein nettes Café.«
Gott sei Dank. Ich hatte schon gefürchtet, der Typ würde mich kilometerweit durch Erbach scheuchen.
Die Tische im Café waren recht klein und standen dicht beieinander, so dass wir eine Weile benötigten, um uns zurechtzusetzen, ohne dass unsere Füße aneinanderstießen. Nachdem wir bestellt hatten, lehnte er sich zurück und schaute mich regungslos an.
»Frau König, bitte erzählen Sie mir noch einmal in allen Einzelheiten, wie Sie die Leiche gefunden haben. Ich weiß, dass Sie das bereits meinen Kollegen erzählt haben, aber es ist mir wichtig, es von Ihnen selbst geschildert zu bekommen.« Er spulte die Sätze dermaßen professionell ab, dass er genauso gut hätte sagen können: Sie haben das Recht zu schweigen; alles, was Sie sagen, kann gegen Sie verwendet werden.
Aber ich wollte ihm die gewünschten Informationen nicht verweigern, in der Hoffnung, dass er mir im Anschluss auch meine Fragen beantworten würde. Auch eine Erkenntnis aus meinem Job, genauer gesagt, aus einem Kommunikationsseminar: Vertrauen schaffen, indem man in Vorleistung tritt.
»Also, ich wollte diesen Rundweg entlanglaufen, den mir eine andere Touristin empfohlen hatte. Dabei fiel mir die hübsche, idyllische Holzhütte am Ende des Nebenwegs ins Auge. Deshalb bin ich spontan abgebogen. Als ich mir dann die Kühe auf der Wiese anschaute, entdeckte ich den alten Kauer …«
»Woher wissen Sie, wer der Tote ist?« Er kniff die Augen zusammen. Schon wieder dieser durchdringende Blick.
»Das hat mir gestern Abend die Hotelmanagerin des ›Röhrenden Hirschs‹ erzählt.«
Da er mich nur schweigend ansah, fuhr ich mit meiner Schilderung fort. »Na ja, und dann kam so ein Typ auf einem Motorrad angefahren.«
Ich meinte, ein minimales Zucken seines Mundes zu erkennen, bevor er den Kopf senkte und seinen Espresso umrührte.
»Was machen Sie beruflich?« Er blickte wieder auf.
»Ich arbeite als Controllerin in einem Softwareunternehmen. Was tut das zur Sache?«
»Zahlen, Daten, Fakten. Ihr Beruf lässt für mich den Schluss zu, dass Sie nicht zu Übertreibungen neigen und logisch denken können.«
»So ist es.« Ich setzte mich aufrecht. »Und wie sind Sie zu Ihrem Job gekommen?«
Für einen kurzen Moment blitzte Überraschung in seinen Augen auf. Sicher war er es nicht gewohnt, selber befragt zu werden. Aber meiner Meinung nach war es an der Zeit, in die Offensive zu gehen.
»Was tut das zur Sache?« Er konnte ein leichtes Lächeln nicht verbergen.
»Nun, ich möchte mich davon überzeugen, dass Sie ein vernünftiger Mensch sind. Niemand, der Beweismittel unterschlagen oder manipulieren würde.« Ich konnte keine Regung in seinem Gesicht erkennen. »Jemand, dem man weitere Informationen anvertrauen kann.«
Er beugte sich vor und stützte seine Ellbogen auf die Oberschenkel. Er versuchte offenbar nicht mehr, sein Lächeln zu unterdrücken. »Ich habe direkt nach dem Abi eine Ausbildung bei der Polizei angefangen. Danach habe ich einige Jahre in Darmstadt gearbeitet, wo ich recht schnell aufgestiegen bin. Vor vier Jahren bin ich wieder zurückgekommen und arbeite jetzt im K 10, Fachkommissariat für Tötungsdelikte.«
Ich stützte den Ellbogen auf den Tisch und mein Kinn auf die Hand. »Wenn Sie zurückgekommen sind, heißt das, Sie sind hier in der Gegend aufgewachsen?«
Er zog die Augenbrauen kurz hoch. »Richtig. Ich komme aus Beerfelden.« Wieder dieser bohrende Blick.
»Sind Sie mit dem alten Kauer verwandt oder verschwägert?«
»Nein.« Seine Augen verengten sich ein wenig, aber er lächelte amüsiert.
»Hätten Sie finanzielle oder berufliche Vorteile davon, einen Mord wie einen Unfall aussehen zu lassen?«, fragte ich.
Seine Augen wurden noch schmaler, und sein Lächeln verschwand. »Wieso denken Sie, dass es sich um einen Mord handelt?«
Ich lehnte mich zurück. »Kühe trampeln nicht einfach so über einen Menschen. In normalem Gemütszustand würden sie es immer vermeiden, über einen Menschen zu laufen.«
»Woher wissen Sie das?«
»Eine pferdebegeisterte Freundin hat mich letztes Jahr in eine Vorführung von diesem Monty irgendwas – ich vergesse immer den Namen –, also so einem Pferdeflüsterer geschleppt. Er hat in der Vorstellung erwähnt, dass Pferde genau wie Kühe davor zurückscheuen, über Menschen zu laufen. Deshalb habe ich das gestern Nachmittag gegoogelt. Kühe, die Menschen angreifen wollen, stoßen mit den Hörnern zu. Sie trampeln nur in einer Stampede über Menschen hinweg, wenn sie so sehr in Panik geraten sind, dass sie über alles hinwegfegen, was ihnen in den Weg kommt.« Ich stützte mich mit beiden Ellbogen auf die Tischplatte und beugte mich vor. »Die Wiese um den alten Kauer herum sah aber nicht nach Massenpanik aus. Im Gegenteil, die Kühe wirkten völlig entspannt, als ich ihnen begegnete. Es gab nur diese eine Schleifspur vom Tor bis zu der Stelle, wo der alte Kauer lag, und nur dort, direkt um die Leiche herum, war das Gras platt getreten. Das sah aus, als hätte jemand eine Kuh ständig um die Leiche herumbugsiert, um sie zu nötigen, bitte endlich einmal über den Toten zu laufen.«
Ich lehnte mich zurück und bemühte mich, nicht allzu triumphierend auszusehen. Tom Brugger sah ungerührt aus, aber ich meinte, ein winziges Schmunzeln zu erkennen.
»Das geht in der Tat nur, wenn man die Kuh rückwärts über den Leichnam führt. Sehenden Auges kann man keine Kuh zwingen, über einen Menschen zu laufen. Haben Sie schon mal eine Kuh rückwärts über ein Hindernis geführt?« Er wartete meine Antwort nicht ab. »Da brauchen Sie schon eine Weile, bis das funktioniert. Deshalb hat sich der Täter auch mit einem einmaligen Hinüberführen zufriedengegeben. Zwei Hufspuren, nicht mehr. Aber die schmutzigen Hinterbeine der Kuh sind mehrmals an den Rumpf der Leiche gestoßen. Das Hemd war voller Kuhmist und Kuhhaaren an diesen Stellen.«
Er hatte es gewusst. Ich war enttäuscht.
Er lehnte sich zurück und sah mich belustigt an.
Ich versuchte, mich nicht provozieren zu lassen. »Woran ist er dann gestorben?«
Brugger wurde wieder ernst. »Das wissen wir noch nicht«, sagte er langsam.
Ich zog die Augenbrauen hoch.
Er setzte wieder sein Pokerface auf, aber vielleicht überlegte er auch nur, ob er es mir sagen sollte.
Ich wartete.
Schließlich holte er Luft. »Er hatte eine Wunde am Hinterkopf wie von einem Schlag mit einem stumpfen Gegenstand, aber wir sind uns nicht sicher, ob das die Todesursache war. Die Leiche wurde zur Obduktion in die Rechtsmedizin nach Frankfurt gebracht. Aber … wir haben noch keinen Bericht.« Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare.
Bei ihm musste man offensichtlich auf die allerkleinsten Regungen achten, um seine Emotionen zu erkennen, und ich hatte den Eindruck, dass ihm zum ersten Mal etwas unangenehm war. Diese momentane Schwäche wollte ich sofort ausnutzen.
»Wenn jemand versucht, einen Todesfall wie einen Unfall aussehen zu lassen, dann kann man doch wohl im Umkehrschluss davon ausgehen, dass es ich um einen Mord handelt. Der alte Kauer soll ja recht unbeliebt gewesen sein. Mit wem hat er es sich denn besonders verscherzt?«
Ich erkannte sofort, dass meine Taktik, über ihn an weitere Informationen zu gelangen, fehlschlug. Ein minimales Lächeln umspielte seinen Mund, und er griff nach seinem Espresso.
»Das herauszufinden können Sie getrost mir überlassen.«
Er trank seinen Espresso aus und winkte der Bedienung. Offensichtlich hielt er das Gespräch für beendet. Nun gut, man musste akzeptieren, wenn man einen Satz verloren hatte. Aber das Match war aus meiner Sicht noch lange nicht vorbei. Jedenfalls fühlte ich mich nicht wie eine Verliererin, denn ich hatte einiges erfahren. Ich würde darüber nachdenken, wenn er mich nicht mehr durch seine Anwesenheit ablenkte.
Wir verabschiedeten uns draußen vor dem Café.
»Werden Sie sich noch die Stadt ansehen?«
»Ja, das hatte ich vor.«
Diese stahlgrauen Augen hypnotisierten mich.
Er löste seinen Blick von mir und zeigte schräg hinter mich. »Das Schloss ist wirklich sehenswert. Dort ist eine umfangreiche Sammlung von Ritterrüstungen ausgestellt. Obwohl … Ich weiß nicht, ob Sie das als Frau interessiert.« Er sah mich wieder an, und mir wurde bewusst, dass ich schwitzte.
Ich schaute mich rasch um. Ich hatte mir schon gedacht, dass es sich bei dem imposanten Gebäude, das er beschrieb, um das Erbacher Schloss handeln musste. Als ich mich ihm wieder zuwandte, sah ich gerade noch seine Augen von meinen Brüsten zu meinem Gesicht schnellen. Ich strich mir eine Haarsträhne zurück.
»Äh, doch, werde ich mir ansehen.«
Er reichte mir die Hand. »Auf Wiedersehen, und danke für Ihre Zeit.«
Ich schlug ein. »Das war selbstverständlich.«
Ich drehte mich um und schritt Richtung Schloss davon. Ob er mir hinterherschaute? Ich widerstand der Versuchung, mich umzudrehen. Stattdessen wandte ich meinen Kopf abwechselnd leicht nach links und leicht nach rechts, als ob ich die Blumen des Parks betrachten würde. Immer wenn ich den Kopf nach links drehte, hätte ich aus dem Augenwinkel sehen müssen, wie er schräg hinter mir durch den Park ging, aber ich konnte ihn nicht entdecken. Ich widerstand der Versuchung, mich richtig umzudrehen. Wenn er das gesehen hätte, wäre es mir wirklich peinlich gewesen.
Aber gleich hatte ich das eiserne Tor erreicht, das mich aus dem Park herausführte. Mein Widerstand bröckelte. Als ich auf Höhe des Tors angekommen war, drehte ich mich im Schutz eines Steinpfostens nach ihm um. Tom Brugger lief in Richtung des Ausgangs, durch den wir den Park betreten hatten. Er hatte sich allerdings von dem Punkt vor dem Café, wo wir uns verabschiedet hatten, erst wenige Meter fortbewegt, während ich bereits den halben Park durchschritten hatte. Was konnte er in der Zwischenzeit anderes gemacht haben, als mir hinterherzuschauen?
In der Sekunde, da ich meine Schlüsse zog, ging ein Lächeln über sein Gesicht.
Er war also nicht der Einzige, der ertappt worden war.