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Ein neuer Fall im Odenwald Es ist Halloween im Odenwald und Alex und Hauptkommissar Tom besuchen das Fest auf der Burg Frankenstein. Dort treiben sich alle möglichen Gruselgestalten herum. Als Alex einen auf dem Bauch liegenden Mann mit einem Messer im Rücken entdeckt, hält Tom ihn zunächst für einen Halloween-Scherz. Doch Alex hat den besseren Instinkt: Es handelt sich tatsächlich um einen Toten. Der Fall wird von der Darmstädter Polizei übernommen, aber Alex, die Hauptzeugin, macht sich auf eigene Faust an die Ermittlungen. Dabei gerät sie prompt ins Visier des Täters ... Von Susanne Roßbach sind bei Midnight by Ullstein erschienen: Der Tote vom Odenwald (Alexandra König ermittelt 1) Schatten über dem Odenwald (Alexandra König ermittelt 2) Rache im Odenwald (Alexandra König ermittelt 3)
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Rache im Odenwald
Susanne Roßbach, geboren 1966, ist Diplom-Betriebswirtin und Diplom-Psychologin und arbeitet als Senior Business Analystin in einer Großbank. Eine ihrer großen Leidenschaften ist das Schreiben von Romanen. Sie bereiste halb Europa, Nordafrika, war mehrmals in den USA und in Japan. Heute lebt sie mit Partner und Tochter im Süden Frankfurts und widmet sich in ihrer Freizeit ihrem Pferd und ihren Büchern.
Ein neuer Fall im Odenwald
Es ist Halloween im Odenwald und Alex und Hauptkommissar Tom besuchen das Fest auf der Burg Frankenstein. Dort treiben sich alle möglichen Gruselgestalten herum. Als Alex einen auf dem Bauch liegenden Mann mit einem Messer im Rücken entdeckt, hält Tom ihn zunächst für einen Halloween-Scherz. Doch Alex hat den besseren Instinkt: Es handelt sich tatsächlich um einen Toten. Der Fall wird von der Darmstädter Polizei übernommen, aber Alex, die Hauptzeugin, macht sich auf eigene Faust an die Ermittlungen. Dabei gerät sie prompt ins Visier des Täters ...
Von Susanne Roßbach sind bei Midnight by Ullstein erschienen:Der Tote vom Odenwald (Alexandra König ermittelt 1)Schatten über dem Odenwald (Alexandra König ermittelt 2)
Susanne Roßbach
Alexandra Königs dritter Fall
Kriminalroman
Midnight by Ullsteinmidnight.ullstein.de
Originalausgabe bei MidnightMidnight ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinSeptember 2019 (1)
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019Umschlaggestaltung:zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © FinePic®Autorenfoto: © privatE-Book powered by pepyrus.com
ISBN 978-3-95819-273-7
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Die Autorin / Das Buch
Titelseite
Impressum
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
KAPITEL 18
DANKE
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Cover
Titelseite
Inhalt
KAPITEL 1
»Arrrgh!« Jemand packte mich von hinten am Hals und drückte zu. Eine Hitzewelle schoss durch meinen Körper und versetzte mich in Alarmbereitschaft. Ich spürte meine Lunge brennen und griff instinktiv in meinen Nacken, um den eisernen Griff zu lockern. Da der Angreifer nicht reagierte und mir weiter die Luft abschnürte, erfasste mich Panik.
Mit dem rechten Arm schlug ich wie wild nach hinten, wo ich seine Arme vermutete, und tatsächlich ließ er endlich los. Ich keuchte.
»Au-a!«, rief ich vorwurfsvoll. Ich drehte mich um und schaute Frankensteins Monster in die Augen, die ich durch die zwei kleinen kreisrunden Löcher sehen konnte. Hinter der Maske hörte ich ein Kichern. Ich rieb meinen Hals. »Das hat wehgetan!«
Tom hob lässig seine Hand und machte eine wedelnde Bewegung, als ob er eine Fliege vertreiben wollte. »Zisch ab!«
Frankensteins Monster umrundete uns und entfernte sich glucksend. Offensichtlich nahm er bereits das nächste, vor ihm laufende Pärchen ins Visier.
»So ein Blödmann!«, schimpfte ich. »Der hat mir richtig die Luft abgedrückt.« Ich räusperte mich demonstrativ.
»Zeig mal.« Tom trat auf mich zu und beugte sich zu mir herab. Er hielt sein Gesicht sehr nah an meinen Hals. Durch meine Maske hindurch konnte ich nicht richtig sehen, was er tat. Aber ich spürte seinen Atem … seine Lippen … dann etwas Spitzes.
»Au!« Ich drückte ihn weg. »Hast du mich etwa gebissen?«
Tom richtete sich auf und grinste, sodass seine Vampirzähne zum Vorschein kamen. »Du wolltest doch, dass ich als Vampir gehe. Ich dachte, das macht dich scharf.« Er lachte und sah trotz seiner fünfunddreißig Jahre irgendwie niedlich aus mit seinen spitzen Eckzähnen.
»Etwas mehr Rücksicht auf meinen gequälten Hals wäre nett gewesen«, erwiderte ich. »Du hast wohl vergessen, dass ich das Gebiss in ›extra large‹ kaufen musste. Das pikst ganz schön.«
Tom lachte immer noch. »Ich hätte dich auch lieber auf den Mund geküsst, als dich in den Hals zu beißen, aber deine Warzenschweinmaske hat das verhindert.«
Ich wandte mich ab und antwortete pikiert: »Das ist kein Warzenschwein, das ist ein Werwolf!«
Tom hielt sich den Bauch vor Lachen. »Der Verkäufer hat dich beschissen. Der liegt jetzt noch hinter dem Tresen und lacht sich tot.«
Ich stapfte davon. Hatte ich nicht gleich gesagt, dass dieses Halloweenfest auf Burg Frankenstein nichts für mich war? Tom hingegen war offensichtlich bester Laune. Hoffentlich würde er sich heute Abend auch mal so richtig erschrecken. Den Blick zu Boden gerichtet, lief ich missmutig weiter.
Plötzlich schrie eine Frau, und ich schaute auf. Frankensteins Monster hatte das nächste Opfer gefunden und von hinten an der Gurgel gepackt. Ich rieb mir noch einmal den Hals.
Der Pulk, der mit uns aus dem Bus gestiegen war, staute sich nun vor dem Haupttor. Tom nahm meine Hand. »Ist doch lustig. Guck mal da drüben, er hat das gleiche Teufelskostüm wie der vor uns. Ich bin gespannt, wie viele Leute bei den Sonderangeboten der Online-Shops zugeschlagen haben.«
Aus den vier Schlangen, in denen wir mit den anderen Besuchern anstanden, wurden zwei. Unsere Eintrittskarten und Taschen wurden kontrolliert, und danach passierten wir ein Drehkreuz. Dann betraten wir die Vorburg.
»Hoffentlich versucht nicht noch jemand, mich zu erschrecken.« Ich sah mich immer wieder um.
Tom schaute auf mich herab. »Warum drehst du den Spieß nicht um und erschreckst selber jemanden?« Er breitete seinen Umhang aus, beugte sich zu mir vor und gab einen Zischlaut von sich.
Ich kicherte. »Hör auf, das ist eher lächerlich als gruselig.« Ich legte meine Hand auf seine Brust und drückte ihn von mir weg.
Doch als ein blutverschmierter Zombie mit ausgestreckten Armen und seltsam steifen Schritten auf mich zukam, probierte ich Toms Ratschlag aus. Ich riss die Arme hoch und schrie: »Wuähhhhaha!«
Er ließ die Arme sinken und sah mich unschlüssig an. Erschrecken ging anders, aber immerhin hatte ich ihn verunsichert.
Tom grinste. »Für den Anfang nicht schlecht.« Er nahm wieder meine Hand.
Zum Glück hatte ich, statt eines kompletten Kostüms, nur die Maske auf und ansonsten meine normalen Winterklamotten angezogen. Es war bereits jetzt recht frisch, und mit fortschreitender Nacht würde es sicher noch kälter werden. Tom wärmte eine meiner Hände, die andere steckte ich in die Jackentasche. Wir schlenderten hinüber zum Torturm und wandten uns dann nach links.
»Bis letztes Jahr verlief der Rundweg hier rechts herum, aber seit es mal geregnet hatte und die steile Treppe auf der gegenüberliegenden Seite glitschig geworden war, wollte man die Leute lieber treppauf schicken anstatt treppab«, erklärte Tom. »Der Veranstalter war der Meinung, dass dadurch weniger Besucher auf die Fresse fliegen.«
Ich kicherte. »Er hat es aber bestimmt vornehmer ausgedrückt als du.«
Tom zuckte mit den Schultern.
Es gab so viel zu sehen, dass ich gar nicht wusste, wo ich zuerst hinschauen sollte. Überall waren Grabsteine aufgestellt. Herumliegende Leichen, die teilweise zum Leben erwachten, wenn ihnen ein Besucher zu nahe kam, boten einen schrecklichen Anblick. Tom und ich klapperten alle Schauplätze ab: Es gab eine Hexenverbrennung, eine Hinrichtung und aus sicherer Entfernung betrachteten wir das Geschehen um eine im Boden eingegrabene Kiste. Wer ihr zu nahe kam, wurde von gruseligen Gestalten gepackt und wahrhaftig mehrere Minuten darin eingeschlossen. Auf diesen Nervenkitzel konnte ich verzichten. Allerdings kam, während wir uns auf die Kiste konzentrierten, eine blutverschmierte Braut über den Boden auf uns zugekrochen und fasste Tom am Bein. Er lief ein paar Schritte, doch sie ließ nicht locker und wurde mitgeschleift, wobei sie furchtbar stöhnte. Als Tom sein Bein schüttelte, um die Dame endlich loszuwerden, kam er zwar plötzlich frei, stattdessen hielt die stöhnende Braut nun jedoch seinen Schuh in der Hand.
Wir stutzten erst, dann brachen wir alle drei in schallendes Gelächter aus. Tom bekam seinen Schuh zurück, und wir schlenderten weiter.
Die groteske Szene mit der stöhnenden Braut hatte meine schlechte Laune vertrieben, und so stellte ich mich mit Tom als Nächstes am Folterturm an. Hier fiel mir ein Mann mit einem flachen, grauen Hut ins Auge. Er trug eine voluminöse Armeetasche und eine große Kamera mit überdimensionalem Objektiv. »Nikon D850« stand auf dem Umhängegurt. Gerade wechselte er das Objektiv gegen ein anderes aus seiner Umhängetasche aus.
»Guck mal«, flüsterte ich Tom zu, »ein Journalist ist auch gekommen. Ich möchte aber nicht in die Zeitung.« Ich hatte völlig vergessen, dass ich unter der Maske sowieso nicht zu erkennen war.
»Das verstehe ich.« Tom drückte mich an sich. »Wäre mir auch peinlich, wenn mich meine Freunde mit einer Warzenschweinmaske in der Zeitung entdecken würden.« Meine auf Toms Brust liegende Wange vibrierte durch sein Lachen.
Ich stieß ihn mehrmals mit dem Gesicht an, aber die Latexnase des Werwolfs gab zu sehr nach, als dass Tom meinen Tadel wirklich zu spüren bekommen hätte. Außerdem durften wir jetzt den Folterturm betreten. Da Tom mich vorgewarnt hatte, dass hier üblicherweise ein Besucher aus der Menge herausgegriffen und auf die Streckbank geschnallt wurde, versteckte ich mich hinter seinem Rücken und trat erst wieder vor, als die zu Schabernack aufgelegten Schergen sich ein Opfer ausgesucht hatten. Der Journalist schoss unzählige Fotos, aber auch ich selbst drückte mehrmals auf den Auslöser, denn die gestellten Folterszenen waren nicht furchteinflößend und erinnerten eher an eine Comedy-Show.
Nach dieser Vorführung setzten wir den Rundweg fort und stapften schließlich die steile Treppe hinauf. Kaum oben angekommen, wurde eine neben mir stehende Besucherin von einer halbverwesten, mit Spinnweben überzogenen Gestalt angegriffen; sie sprang hysterisch kreischend zur Seite und stieß mich dadurch beinahe um – doch zum Glück wurde mein Fall abgebremst. Ich landete auf dem Journalisten, der offensichtlich gerade seine SD-Karte wechselte.
»Huch, entschuldigen Sie bitte …« Ich wollte zu einer Erklärung ansetzen, aber er lächelte bereits unbefangen.
»Immer langsam mit den jungen Schweinen.« Sein Lächeln ging in ein Grinsen über, und er schob sich seinen grauen Hut zurecht.
Ich lächelte verhalten zurück. Gleichzeitig nahm ich mir vor, das nächste Mal statt einer Werwolfmaske mit Interpretationsspielraum die furchterregendste Maske überzuziehen, die ich nur finden konnte, und noch zehn Liter Kunstblut darüber zu schütten.
»Wieso werden eigentlich fast nur Frauen von den Monstern angegangen?«, beklagte ich mich bei Tom.
»Weil ihr willfährige Opfer seid. Klein, ängstlich und hilflos.« Er verzog keine Miene.
»Quatsch«, widersprach ich. Aber wahrscheinlich hatte er recht. An diesem ungleichen Verhältnis musste unbedingt etwas geändert werden.
Die zweite Hälfte des Rundgangs absolvierte ich selbstbewusster als die erste. Mehrere Male kam ich den Schreckensgestalten zuvor und terrorisierte sie meinerseits durch hochgerissene Arme und wüstes Geschrei, was Tom mit einem Lächeln quittierte. Wir waren schon fast am Ende angekommen, als wir an einer seitlich an der Burgmauer liegenden Leiche vorbeikamen. Ihr Gesicht zeigte nach unten, die Gliedmaßen waren seltsam verdreht und im Rücken steckte ein sehr echt aussehendes Messer.
»Sie haben sich wirklich Mühe mit den Leichen gegeben, hier am Ende des Rundwegs lagen letztes Jahr keine mehr.« Tom warf einen flüchtigen Blick auf den Darsteller und lief weiter.
Ich folgte ihm zunächst, doch dann schaute ich mich noch einmal um und blieb stehen. »Warte mal.« Eine seltsame Ahnung hatte sich meiner bemächtigt. Aber vielleicht war ich auch nur eine hysterische Trulla, deren Nerven beim Rundgang zu sehr gelitten hatten. Es kam mir jedoch komisch vor, dass der Schauspieler sein Gesicht derart stark in die Erde drückte. Und seltsam regungslos war er auch. Also so richtig regungslos. Ich trat an ihn heran, darauf gefasst, dass er gleich aufspringen und »Buh« rufen würde.
Tom stellte sich hinter mich und legte seine Hände an meine Oberarme. »Siehst du schon Gespenster?«, frotzelte er.
»Nein … guck doch mal.« Ich hatte konzentriert auf den leblosen Oberkörper gestarrt. »Bei dem bewegt sich wirklich nichts.« Den schützenden Tom im Rücken wissend, streckte ich vorsichtig mein Bein aus. Vorbeilaufende Besucher sahen zu uns herüber, zeigten mit dem Finger auf mich und lachten. Ich reckte meine Zehen und berührte ganz sacht mit dem Fuß das Messer, das der Leiche im Rücken steckte. Ich tippte es an. Ich lehnte mich an Tom und drückte regelrecht dagegen. Noch fester.
Als ich mehr Kraft aufwandte, drehte der Körper sich durch meinen Druck leicht seitlich. »Äh!«, stöhnte ich und wich zurück. Übelkeit stieg in mir auf. Die leblose Art, in der die Leiche dem Druck nachgegeben hatte, hätte der beste Schauspieler der Welt nicht darstellen können.
Tom, der in meinem Rücken immer mehr Körperspannung aufgebaut hatte, drückte mich kurz mit seinen Händen, um mir zu bedeuten, stehenzubleiben. Dann schob er sich an mir vorbei, schlug mit beiden Händen seinen Umhang zurück und hockte sich mit Bedacht neben den leblosen Körper. Für einige Sekunden fühlte er den Puls, dann leuchtete er dem Mann mit seinem Handy in die Augen und drückte an ihm herum. Anschließend richtete er sich auf und sah mich ernst an. Er zog sein Handy aus der Hosentasche und wählte den Notruf.
Ich fühlte mich seltsam niedergeschlagen. Warum musste ich schon wieder einen Toten finden wie damals in meinem ersten Urlaub im Odenwald? Dieser hier war mit Sicherheit ermordet worden, denn ein im Rücken steckendes Messer konnte keinesfalls durch einen Unfall an seinen Platz geraten sein. Wer hatte diesen Menschen derart gehasst, dass er ihm eine Stichwaffe in den Rücken gerammt hatte? Nachdem ich den Toten mit dem Fuß am Messer bewegt hatte, hatte ich eine Ahnung davon, mit welcher Wucht der Stich ausgeführt worden sein und die Waffe den Körper durchdrungen haben musste. Ich griff nach Toms Hand.
Nachdem Tom die Polizei benachrichtigt hatte, fragte ich ihn, ob wir den Raum um die Leiche herum nicht irgendwie absperren müssten, aber Tom meinte, er hätte erstens kein Absperrband dabei und zweitens wollte er keine Gaffer anlocken, solange keine Verstärkung eingetroffen war. So stellten wir uns nur schützend vor den Toten und jeder Besucher, der uns zu nahe kam, wurde von Tom mit einem Vampirfauchen vertrieben. Ob es nun sein Gebaren war oder seine schiere Größe, niemand versuchte, sich den Toten, von dem nur wir wussten, dass es sich um eine reale Leiche handelte, genauer anzusehen.
Endlich trafen die ersten Polizisten ein. Sie begannen sofort, den Bereich um den Ermordeten herum zu sichern. Tom wirkte daraufhin sichtlich entspannter. Er hatte sich den Beamten als Kollege von der Polizeidirektion Odenwald vorgestellt und unsere Personalien angegeben – die Burg Frankenstein gehörte, wie mir Tom erklärte, zur Polizeidirektion Darmstadt-Dieburg. Die beiden Absperrungen verliefen jeweils quer über den Rundweg, sodass sich die Besucher dahinter stauten. Der Leichenfund hatte sich rasch herumgesprochen, und jeder wollte einen Blick auf die echte Leiche werfen.
Tom sorgte noch dafür, dass einer der Polizisten nach dem Journalisten suchte, da sein Darmstädter Kollege respektive seine Kollegin höchstwahrscheinlich dessen Fotos würde auswerten wollen. Dann traten wir zurück, lehnten uns gegen die Burgmauer und warteten auf jemanden, der die zu erwartende Zeugenbefragung bei uns vornehmen würde.
Der Veranstalter erschien und beriet sich mit einem Polizeibeamten über das weitere Vorgehen. Zweimal wurden wir von neu eintreffenden Polizisten angewiesen, hinter das Absperrband zu treten, und Tom erklärte jedes Mal geduldig unsere Daseinsberechtigung.
»Sag mal, könnte der Mörder nicht noch hier auf der Burg herumlaufen? Willst du die Polizisten nicht bitten, die Ausgänge zu sperren, so nach dem Motto: Keiner verlässt den Raum?« Ich dachte bereits wie eine Ermittlerin und wollte den Mörder unter gar keinen Umständen davonkommen lassen.
»Das dürfte zwecklos sein«, antwortete Tom. »Den Leichenflecken und der fehlenden Pupillenreaktion nach zu urteilen, ist der Mord ein bis zwei Stunden her und der Täter sicherlich bereits über alle Berge. Es gibt einen Schleichweg durch den Wald nach Nieder-Beerbach, den auch die PKWs auf dem Rückweg nehmen müssen. Wenn man diesen Weg kennt, kann man mit dem Auto bis nah an die Burg heranfahren, einen Mord begehen und ganz schnell wieder abhauen, ohne aufzufallen.« Tom schaute an mir vorbei, und ich folgte seiner Blickrichtung. Der Journalist war mittlerweile auch gefunden und wartete innerhalb der Absperrung.
Langsam wurde ich müde. Außerdem fing ich an zu frieren. Tom umarmte mich und schlang gleichzeitig seinen Vampirumhang um mich. So ließ sich das Warten viel besser aushalten.
Er streichelte meinen Rücken. »Es tut mir unheimlich leid, dass unser Abend auf diese Weise enden muss. Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich dich natürlich nicht zu der Halloween-Veranstaltung überredet.« Er legte seine Wange an meine.
»Das ist doch nicht deine Schuld! Das konnte ja nun wirklich niemand vorausahnen. Und bis wir über den Toten gestolpert sind, hat es mir ehrlich gut gefallen.« Ich drückte Tom ein wenig. »Nächstes Jahr kommen wir wieder her«, versicherte ich tapfer.
»Das können wir besprechen, wenn es so weit ist. Nächstes Mal zählt nur deine Meinung.« Tom fuhr mit seiner Nase durch meine Haare.
Schließlich kam an der ausgangsseitigen Absperrung Bewegung in die Menge. Einer der Polizisten versuchte, jemandem den Weg frei zu machen. Dieser Jemand bückte sich unter der Absperrung hindurch. Als er sich aufrichtete, schlug mein Herz etwas schneller. Ein schlanker, blonder Mann, der einem hochwertigen Modeprospekt entsprungen zu sein schien, lief auf den Toten zu. Trotz meiner gedämpften Stimmung entging mir nicht, dass es sich bei dem Fremden um einen echten Hingucker handelte. Er trug seinen halblangen, beigen Mantel lässig geöffnet, und ein feiner Wollschal hing ihm rechts und links am Hals herunter, als wäre er auf einem englischen Landsitz zum Tee eingeladen.
»Ich glaube, das ist er«, sagte Tom. Dann verstellte er seine Stimme und raunte: »Mühltal, kurz nach Mitternacht, aber die Frisur sitzt dank Drei Wetter Taft.«
Ich kicherte und zwickte ihn leicht in die Seite. »Lass ihn doch.« Wobei Tom natürlich recht hatte. Für die späte Stunde und den überraschenden Einsatz sah sein Kollege erstaunlich frisch und gepflegt aus. Und attraktiv.
Er sprach ein paar Worte mit einem der Polizisten und betrachtete die Leiche aus verschiedenen Winkeln, dann drehte er sich um und kam lächelnd auf uns zu. Er reichte erst mir, dann Tom die Hand. »Christian von Bahlsen, RKI Darmstadt-Dieburg.« Und zu Tom sagte er: »Herr Kollege.«
Tom nickte.
»Nun, Sie haben sich den Abend mit ihrer Freundin hier sicher auch etwas anders vorgestellt.«
Von Bahlsen hatte erstaunlich ebenmäßige Gesichtszüge. Wie alt mochte er sein, etwa Anfang vierzig? Ich versuchte, ihn nicht anzustarren.
»Wie ich hörte, haben Sie die Leiche gefunden?« Er warf den Mantel leicht nach hinten und schob die Hände in die Hosentaschen. Eine Pose, in der er sich ebenfalls sehen lassen konnte.
Tom zeigte mit dem Kopf auf mich. »Meine Freundin hatte den richtigen Instinkt. Ich wäre zugegebenermaßen einfach weitergelaufen.«
»Frau König …« Von Bahlsen blickte mich an. Er zog ein winziges bisschen die Augenbrauen hoch, wodurch mir bewusst wurde, dass ich immer noch die Werwolfmaske trug.
»Oh, entschuldigen Sie bitte.« Ich zog die Maske rasch ab und schüttelte meine Haare.
Von Bahlsen lächelte. »Dann sind Sie also meine Hauptzeugin.« Er sah mich immer noch lächelnd an. Verdammt gutaussehend, dieser Kerl.
Schließlich zeigte er in Richtung Treppe. »Also wie war das, Sie kamen mit ihrem Freund von dort?«
»Verlobtem«, korrigierte ihn Tom, aber Herr von Bahlsen schaute unverändert auf mich.
»Ja, ich äh …« Der Unterton in Toms Stimme irritierte mich. Mein Blick wanderte zwischen von Bahlsen und Tom hin und her.
Von Bahlsen streckte seinen Arm aus, griff zwischen Tom und mir hindurch und legte sanft seine Hand auf meinen Rücken, um mich von Tom weg zur Leiche zu dirigieren. »Woran haben Sie gemerkt, dass er nicht mehr lebte?« Sein Rasierwassergeruch hüllte uns beide ein.
»Ich weiß nicht, es war nur so ein Gefühl. Ich habe ihn dann mit dem Fuß angetippt.«
Wir hielten vor dem Toten. »Gut, können Sie mir zeigen, wie genau Sie das gemacht haben?«
Ich zögerte. Der Moment, in dem ich realisiert hatte, dass der am Boden liegende Mensch wirklich tot und offensichtlich ermordet worden war, war der schockierende Teil des ganzen Leichenfunds gewesen, und ich wollte ihn ungern noch einmal nachvollziehen. Außerdem wollte ich vor diesem höchst attraktiven Mann keine peinlichen Verrenkungen mit meinen Beinen vollführen, noch dazu hätte ich mich für eine wirklichkeitsgetreue Nachstellung der Situation an jemanden anlehnen müssen. Mich jetzt an von Bahlsen anzulehnen, wo ich mich sowieso schon so durcheinander fühlte, war keine gute Idee. Aber wie sollte ich meine Befindlichkeiten erklären, oder besser, etwas sagen, ohne sie zu offenbaren?
»Entschuldigen Sie bitte, möchten Sie vielleicht mit einem Seelsorger sprechen?« Von Bahlsen legte einfühlsam seine Hand auf meine Schulter. »Ich kann gerne jemanden aus unserem Kriseninterventionsteam anrufen.«
Ich schüttelte den Kopf.
Einer der Polizisten stand auf einmal mit dem Journalisten neben uns. »Herr von Bahlsen, hier ist der Fotograf, der die Veranstaltung für das Echo fotografiert hat.«
»Ah, sehr schön, vielen Dank.« Von Bahlsen entschuldigte sich bei mir und wandte sich an den Journalisten. Sie schüttelten sich die Hände. »Christian von Bahlsen.«
»Dirk Zengel.«
»Herr Zengel, ich habe gehört, dass Sie den ganzen Abend über fotografiert haben. Möglicherweise könnten wir auf Ihren Fotos irgendwelche Hinweise auf den Täter finden, deshalb muss ich Sie leider bitten, uns die SD-Karte aus Ihrer Kamera zu überlassen. Sie bekommen sie nach Abschluss unserer Ermittlungen natürlich wieder zurück.«
Dirk Zengel zog die Augenbrauen hoch. »Kann ich Ihnen nicht gleich morgen eine Kopie zukommen lassen? Ich benötige die Bilder für einen Auftrag des Darmstädter Echos.«
Von Bahlsen machte eine abwehrende Handbewegung. »Tut mir leid, aber wir müssen das Bildmaterial umgehend in Augenschein nehmen.«
Zengel schnaufte und holte die SD-Karte aus der Kamera. Als er sie von Bahlsen in die Hand drückte, sah er kurz an ihm vorbei und blickte mir bedeutsam in die Augen. Wahrscheinlich erinnerte er sich daran, dass ich ihn vorhin beim Wechseln der SD-Karte beobachtet hatte. Wenn ich ihn jetzt verpetzte, müsste er die ausgewechselte SD-Karte bestimmt auch noch abgeben. Dann könnte er seinen Auftrag bei der Zeitung nicht mehr erfüllen und bekäme vielleicht auch nicht mehr so schnell einen neuen. Ich wollte den Mann ganz gewiss nicht in Schwierigkeiten bringen.
Meine Überlegungen waren allerdings nicht rein uneigennütziger Natur, denn es gab noch ein weiteres Argument für meine Verschwiegenheit. Diese Fotos hätte ich mir zu gerne selbst angesehen. Schließlich hatte ich die Leiche gefunden und somit in gewisser Weise auch ein gesteigertes Interesse an der Aufklärung dieses Mordfalls.
Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr gefiel mir der Gedanke. Tom hatte nichts mit diesem Fall zu tun und könnte mich somit auch nicht ausbremsen. Und wenn ich dem Journalisten half, seine zweite SD-Karte zu behalten und damit auch seinen Auftrag, wäre er mir etwas schuldig. Ich lächelte vor mich hin.
Von Bahlsen blickte in seine Hand. »Ah, okay, vielen Dank.« Er nickte. »Ich weiß Ihre Kooperation sehr zu schätzen. Bitte geben Sie bei meinem Kollegen noch Ihre Personalien an.« Er zeigte auf einen der Polizisten, dann wandte er sich wieder an mich. »Frau König, bitte entschuldigen Sie die Unterbrechung. Ich denke, es ist ohnehin besser, wenn Sie erst einmal nach Hause gehen und sich ausruhen. Sie sind gewiss durcheinander und beunruhigt. Wir können uns auch morgen unterhalten.«
So durcheinander kam ich mir gar nicht vor, aber ich nickte brav. Ich war hundemüde und wollte ins Bett.
»Können Sie gegen halb zwölf Uhr nach Darmstadt ins Polizeipräsidium kommen?« Von Bahlsen lächelte und zog seine Börse aus der Gesäßtasche. »Ich würde Sie gerne zum Essen einladen, dann können wir uns in aller Ruhe unterhalten.«
»Oh, das ist sehr nett.« Ich nahm reflexartig die Visitenkarte, die er mir entgegenhielt. Selbst seine Hände sahen feinfühlig und gepflegt aus.
»Wenn ich schon Ihre Zeit stehle.« Er lächelte gewinnend und reichte mir die Hand. »Bis morgen. Schlafen Sie gut.«
»Danke, und bis morgen!«
Von Bahlsen hob die Hand und schaute kurz an mir vorbei, offensichtlich, um Tom zum Abschied zu grüßen, dann wandte er sich an einen der Polizisten.
Ich drehte mich nach Tom um. Er lehnte mit dem Rücken an der Burgmauer, hatte sein Pokerface aufgesetzt und die Arme vor der Brust verschränkt. Ich ging zu ihm hinüber.
»Wir können gehen«, sagte ich.
Tom nahm meine Hand und küsste mich zärtlich auf den Mund. »Wurde ja auch Zeit.«
Wir liefen zur Absperrung.
»Herr von Bahlsen will mich morgen in aller Ruhe befragen. Es macht dir doch nichts aus, wenn ich morgen Mittag nicht zum Essen zuhause bin?« Ich versuchte, so harmlos wie möglich zu klingen. Natürlich musste ich daran denken, wie ich vor eineinhalb Jahren Tom kennengelernt hatte.
Tom schaute konzentriert nach vorne auf der Suche nach einer geeigneten Stelle, um unter dem Absperrband durchzuschlüpfen. »Warum?«
»Herr von Bahlsen möchte mich zum Essen einladen.« Tom hatte mich damals bei unserem Kennenlernen zur Zeugenbefragung in das Café in der Orangerie in Erbach eingeladen.
Er hob das Absperrband für mich hoch und sah mich missmutig von der Seite an. »Wir wissen ja, wie das enden kann«, brummte er.
Ich hatte Tom zum Einkaufen geschickt und mich sofort an unser Notebook gesetzt, kaum dass er die Haustür hinter sich geschlossen hatte. Dirk Zengel war rasch gefunden. Es gab nicht viele mit seinem Namen im Netz. Er wohnte in Modautal, Herchenrode 10. Ich betrachtete die Adresse auf Google Maps. Offensichtlich war der Ortsteil derart winzig, dass die Häuser gleich ohne weitere Straßennamen durchnummeriert worden waren. In meiner Heimatstadt Hamburg hatte jede einzelne Straße mehr Häuser als dieser Ort! Nun, ich hatte ja gewusst, auf was ich mich eingelassen hatte, als ich zu Tom gezogen war.
Ich tippte Herrn Zengels Nummer ein und wartete kurz.
»Dirk Zengel.«
»Hallo, hier ist Alexandra König. Wir haben uns gestern auf dem Halloweenfest gesehen. Erst bin ich versehentlich gegen Sie gestoßen worden, und dann habe ich diese Leiche gefunden und Sie mussten ihre SD-Karte abgeben.«
»Ah, ich erinnere mich. Sie sind das Warzenschwein.«
Ich ergab mich in mein Schicksal. »Genau. Ich habe Sie nicht verpetzt, obwohl Sie nur eine SD-Karte bei der Polizei abgegeben haben. Und wir wissen ja beide, dass Sie schon eine Karte ausgewechselt hatten. Ich finde, das ist eine kleine Gegenleistung wert.«
Er überlegte ein paar Sekunden. »Wenn es denn so wäre, wie Sie sagen, an welche Gegenleistung hätten Sie gedacht?«
»Ich würde mir gerne Ihre Fotos ansehen. Schließlich habe ich die Leiche gefunden, und jetzt bin ich am Schicksal des armen toten Mannes interessiert. Möglicherweise sieht man etwas Verdächtiges auf den Bildern. Das ist meiner Ansicht nach eine geringe Gegenleistung für die Tatsache, dass ich Ihren Auftrag gerettet habe.« Ich wartete gespannt auf seine Antwort.
»Darüber sollten wir unter vier Augen sprechen. Können Sie heute Nachmittag bei mir vorbeikommen?«
Hurra, das klang sehr gut. Vielleicht konnte ich sogar die Uhrzeit bestimmen. »Ginge es möglicherweise schon so gegen 13 oder 14 Uhr?« Ich wollte gerne direkt im Anschluss an die Zeugenbefragung nach Modautal fahren, damit Tom nicht merkte, dass ich in diesem Mordfall ermittelte. Dann könnte ich einfach behaupten, das Treffen mit von Bahlsen hätte so lange gedauert. »Ich habe um die Mittagszeit in Darmstadt zu tun und würde dann direkt von dort zu Ihnen kommen.«
»Ja, das geht.«
»Super, bis dann!«
Ich wartete noch, bis Tom mit den Einkäufen zurückkam, half ihm beim Auspacken und fuhr dann nach Darmstadt. Das Polizeipräsidium lag am südlichen Stadtrand in der Klappacher Straße 145. Ich meldete mich am Empfang und musste nicht lange warten. Herr von Bahlsen sah auch bei Tageslicht blendend aus. Unter seinem geöffneten Mantel war ein eleganter, gutsitzender Anzug zu sehen. Er kam lächelnd auf mich zu und schob eine Rasierwasserwolke vor sich her, die mir die Sinne raubte. Ich wischte mir die rechte Hand unauffällig an meinem Hosenbein ab, bevor er mich erreichte. Zum Glück hatte ich wenigstens meinen guten Mantel an und sah nicht allzu abgehalftert neben ihm aus.
Von Bahlsen gab mir die Hand. »Vielen Dank, dass Sie kommen konnten. Ich freue mich, dass wir zusammen essen gehen, dann kann ich gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Essen muss der Mensch schließlich immer.« Er zeigte lächelnd mit dem Arm zum Ausgang und führte mich zu seinem Auto. Dort stieg er aber nicht sofort ein, sondern lief mit mir auf die Beifahrerseite und öffnete mir galant die Tür. Manieren hatte er also auch noch! Die Frauen mussten sich nach diesem Mann die Finger lecken. Aber womöglich hatte er irgendeine Macke, die ich nur noch nicht entdeckt hatte. Ich dachte unwillkürlich an Tom, der mir niemals die Türen aufhielt.
Wir fuhren in Darmstadts Innenstadt, und er führte mich in »Das Krü«. Ich hatte dieses Restaurant bisher nur von außen gesehen und freute mich schon darauf, es auszuprobieren. Von Bahlsen schob mir den Stuhl zurecht, bevor ich mich setzte. Wie aufmerksam! Als die Bedienung mit den Speisekarten an unseren Tisch trat und zuerst ihm die Karte überreichen wollte, zeigte er auf mich, damit ich sie als Erste erhielt. Er fragte nach meinen Vorlieben und sprach Empfehlungen aus, da er hier wohl schon öfter gegessen hatte. Aus der Samstagskarte sprang mir das Zandergericht auf Mittelmeergemüse ins Auge, von Bahlsen bestellte den Skrei auf Tomaten-Spinat-Gemüse. Zuhause kochten wir praktisch nie Fisch, da Tom sich als reiner Fleischliebhaber entpuppt hatte. Umso mehr freute ich mich nun auf mein Essen.
»Wenn ich arbeite, habe ich fast nie Zeit, in Ruhe zu essen. Deshalb ist es schön, heute das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden zu können.« Herr von Bahlsen beugte sich leicht zur Seite, um der Bedienung Platz zu machen, die die Getränke servierte. »Vielen Dank.«
Er hob sein Glas. »Wäre es Ihnen recht, wenn wir uns duzen?«
Ich nickte. »Ich heiße Alex.«
»Christian.« Wir stießen mit unseren Gläser an. »Das gibt mir das Gefühl, etwas Freizeit zu haben.« Er seufzte. »Du kennst das ja sicher von deinem Freund. Heute werde ich auch den ganzen Tag arbeiten müssen. Ein neuer Mordfall bedeutet häufig Überstunden.«
»Ja, Tom arbeitet auch oft länger. Hast du denn über den gestrigen Toten schon etwas herausgefunden?«, fragte ich wie nebenbei und drehte mein Glas hin und her.
Christian nickte. »Ja, er heißt Henrik Germann. Sagt dir der Name etwas?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Er lebte in Fischbachtal. Kennst du dich dort aus?«
Ich schüttelte erneut den Kopf. »Nein, ich bin erst vor einem Dreivierteljahr nach Beerfelden gezogen. Vorher habe ich in Hamburg gelebt.«
»Ah, okay.« Er überlegte.
Ich nippte an meinem Glas.
Er setzte wieder zum Sprechen an. »Wäre es in Ordnung für dich, wenn du mir jetzt berichten würdest, wie du gestern den Leichnam gefunden hast?«
Ich nickte und erzählte ausführlich, was ich getan hatte und wie wir gemerkt hatten, dass es sich um eine echte Leiche handelte. In der Zwischenzeit bekamen wir unsere Gerichte serviert.
»Es war sehr umsichtig von Tom, den Fotografen holen zu lassen«, sagte Christian.
»Habt ihr denn irgendetwas durch die Fotos herausgefunden?« Ich schaute angestrengt auf meinen Fisch, um nicht zu neugierig zu wirken.
»Nein, bis jetzt noch nicht.« Christian schob sich eine Gabel voll Gemüse in den Mund.
Vielleicht konnte ich ihn an der Ehre packen. »Kann man als Ermittler denn überhaupt so schnell nach einem Mord etwas herausfinden?« Ich bemühte mich um einen Hundeblick. Nicht zu übertrieben, aber deutlich genug, um ihn dazu anzuspornen, mich beeindrucken zu wollen.
Er legte sein Besteck ab und tupfte sich den Mund mit der Serviette ab. »Natürlich, meine Mitarbeiter arbeiten nicht minder hartnäckig an dem Fall als ich.« Er zögerte.
»Weißt du, ich kenne diese Arbeit ja von Tom. Er braucht auch oft eine Weile, bis er eine heiße Spur hat.« Ich sah ihm nur beiläufig in die Augen, um meine Neugier nicht zu sehr zu zeigen.
»Ja. Unsere Recherchen haben noch keine sensationellen Informationen zu Tage gefördert, trotzdem sollten diese Infos unter uns bleiben.« Christian sah mir tief in die Augen, wie um meine Bestätigung einzuholen, und ich nickte leicht, woraufhin er ebenfalls nickte. »Wir haben bereits seine Wohnung unter die Lupe genommen und seine Nachbarn befragt. Germanns Frau ist vor wenigen Monaten bei einem Autounfall gestorben. Und als wäre das nicht genug, ist Germann bald darauf selbst an Krebs erkrankt, und die Prognose sah nicht gut aus.«
»Oh, das ist tragisch. Bei manchen Menschen kommt es wirklich dicke.«
»Dabei hätte er es ganz leicht haben können. Er und sein Bruder haben von ihren Eltern ein Mietshaus in Darmstadt geerbt. Laut seinen Steuererklärungen hat er dadurch hohe Nebeneinkünfte gehabt. Aber ein Nachbar hat ihn als sehr bescheiden und genügsam beschrieben, obwohl er für meine Begriffe als gutsituiert bezeichnet werden konnte. Manche Leute haben aber auch ein Pech.« Christian nahm sein Besteck wieder auf.
»Wenn er so krank war, wird ihn wohl niemand aus seinem engeren Kreis ermordet haben«, überlegte ich laut.
»Wie kommst du darauf?« Christian trennte eine Portion Skrei mit dem Messer ab. »Ich hätte jetzt gedacht, dass es jemand aus dem direkten Umfeld war, der wusste, dass die Germanns jedes Jahr auf das Halloweenfest gegangen sind.« Er führte sich die Gabel zum Mund.
»Na ja, aber wenn man andererseits weiß, dass er sowieso bald stirbt, dann braucht man seinen Tod nur abwarten und muss nicht extra nachhelfen. Womöglich war es ein Fremder, der ihn ausrauben wollte.«
Christian kaute rasch zu Ende. »Nein, seine Brieftasche, sein Handy und der Ehering waren noch da.«
»Das ist seltsam.«
»Ja, das ist es. Vielleicht erfahren wir noch etwas, wenn wir sein komplettes Umfeld befragt haben. Wir stehen ja noch ganz am Anfang unserer Ermittlungen.«
Ich legte kurz mein Besteck ab, stützte die Ellbogen auf den Tisch und führte meine Hände zusammen. »Was mich allerdings in jedem Fall sehr wundert: Wie konnte der Täter ein Messer in die Burg schmuggeln? Schließlich sind wir doch alle am Eingang kontrolliert worden.« Ich beugte mich leicht vor.
Christian schluckte seinen letzten Bissen herunter. »Es sind zwei Möglichkeiten denkbar: Entweder war der Mörder unter den Angestellten oder Pressevertretern, die ja nicht nach Waffen durchsucht wurden. Oder der Täter war schon ein, zwei Tage vorher in der Burg und hat das Messer irgendwo versteckt und dann bei der Halloween-Veranstaltung wieder hervorgeholt. Für Letzteres würde die Tatsache sprechen, dass das Messer in allen Ritzen und Vertiefungen Spuren von feinem Sand und Staub aufwies. Unser Kriminalbiologe vergleicht diese Spuren mit der Erde, die in der Burg zu finden ist, dann haben wir Gewissheit.«
Ich hatte Christian gespannt gelauscht und erschrak nahezu, als plötzlich die Bedienung an uns herantrat und fragte, ob wir mit dem Essen zufrieden seien.
Christian sah mich fragend an, und ich nickte.
»Möchtest du noch etwas zu trinken, Alex?«
Der Fisch machte mich jetzt schon durstig, also bestellte Christian noch einmal Getränke.
»Ich frage mich, woher der Mörder wusste, dass er Germann auf der Burg treffen konnte.« Hoffentlich ließ sich Christian auf eine Fortsetzung der Informationsweitergabe ein.
»Laut dem Nachbarn ist er seit Jahren immer mit seiner Frau auf die Halloween-Veranstaltung gegangen – bis auf dieses Jahr –, also jeder, der ihn halbwegs kannte, hätte damit rechnen können.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Aber lass uns über etwas Schöneres sprechen.«
Hm. Was konnte interessanter sein, als in einem Mordfall zu ermitteln? Aber ich spürte, dass Christians Bereitschaft, über den Fall zu reden, versiegt war.
»Wie gefällt es dir im Odenwald? Muss doch ein ziemlicher Kulturschock für dich als Großstädterin sein.« Er schnitt ein Stück von seinem Skrei ab.
»Es ist ein großer Unterschied, aber als Kulturschock würde ich es nicht bezeichnen. Natürlich ist die Infrastruktur auf dem Land wesentlich schlechter. Du fährst weitere Strecken, du kannst froh sein, wenn du einen einzigen großen Elektronikladen in der Nähe hast, während du in Hamburg zig Elektronikgeschäfte um die Ecke findest. Aber der Odenwald hat auch Vorteile gegenüber meinem alten Leben. Die Natur ist unvergleichlich schön und man lebt mittendrin. Außerdem ist es ruhiger. Und ich empfinde es hier als sauberer. Ich denke, die Menschen achten noch mehr aufeinander, und zwar durchaus im positiven Sinne. In Hamburg kannst du in deiner Wohnung wochenlang verwesen und keiner merkt es.«
Christian blickte erstaunt auf, hielt dann aber offensichtlich ein bekräftigendes Nicken für die männlichste Reaktion.
Ich kaute mein letztes Stück Fisch und legte das Besteck auf vier Uhr. »Nicht zuletzt lebt Tom hier. Er ist der Grund, weshalb ich umgezogen bin. Es wäre für ihn ungleich schwieriger gewesen, einen Job in Hamburg zu finden.«
»Das ist sehr rücksichtsvoll von dir. Ich glaube, alle Kriminalbeamten nehmen ihren Beruf außerordentlich ernst. Aber der Odenwald hat natürlich, wie du schon sagtest, auch Vorteile gegenüber der Großstadt. Ich zum Beispiel fahre ab und zu raus nach Brombachtal, da hat ein Freund von mir ein paar Pferde stehen, und wir reiten zusammen aus. Das Ausreitgelände im Odenwald ist phantastisch. Möchtest du einen Nachtisch?«
Wir plauderten noch eine Weile miteinander. Da ich nicht wusste, ob ich Christian in naher Zukunft erneut als Informationsquelle würde brauchen können, bemühte ich mich um unverfängliche Themen und ein harmonisches Gespräch. Es fiel mir allerdings nicht besonders schwer, da er einen charmanten Gesprächspartner abgab. Er war vielseitig interessiert, sodass wir problemlos Gesprächsstoff fanden. Seine Manieren und sein Auftreten hätten ihn sofort zum Liebling jeder Schwiegermutter avancieren lassen. Man konnte es nicht anders sagen: Er war schlichtweg ein höchst attraktiver Mann.