Der Traum der grünen Papageien - Armin Kaster - E-Book

Der Traum der grünen Papageien E-Book

Kaster Armin

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Beschreibung

Plötzlich steht der Neue in der Klassentür und Hannes spürt: Das ist nicht irgendjemand. Doch so leicht ist es nicht, eine Freundschaft aufzubauen, wenn der eigene Vater allem Fremden abgeneigt ist und sich aktiv dagegenstemmt. Kaido ist in die alte Nagelfabrik gezogen und beeindruckt Hannes mit seinem handwerklichen Können und seiner fröhlichen Familie. Kaido hingegen lässt sich von den grünen Papageien über den Tod seiner Mutter hinwegtrösten – Papageien, die bereits in der Stadt an seiner Seite waren und nun im Baum neben seinem neuen Zuhause wohnen. Hannes zeigt ihm sein Mühlbachtal und meidet seine eigene komplizierte Familie. Seine Gefühle werden immer intensiver, ist er in Kaido verliebt? Und wie passt das in das ländliche Verständnis von Beziehung? Wer ist für Neues offen und wie soll das Neue aussehen? Endlich die langersehnte lose Fortsetzung von "Das geheimnisvolle Leben der Kröten", von Armin Kaster meisterhaft in Szene gesetzt.

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Seitenzahl: 215

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Armin Kaster

wurde 1969 in Wuppertal geboren. Als Junge las er Weltliteratur, die er nicht verstand, und wünschte sich dennoch, Schriftsteller zu werden. Nach exotischen Ausflügen in den Groß- und Außenhandel sowie die Wirtschaftswissenschaft bog er ab zur Pädagogik und danach zur Kunst. Jetzt arbeitet er als freier Autor und Künstler und lebt mit seiner Familie in Düsseldorf. Seit Jahren führt er literarisch-künstlerische Projekte mit Kindern und Jugendlichen im In- und Ausland durch. Dabei begeistern ihn vor allem die originellen Lebenswelten junger Menschen, die er am liebsten in Geschichten verwandelt.

ISBN 978-3-7026-5997-4

eISBN 978-3-7026-5998-1

1. Auflage 2024

Illustrationen: Wioleta Waligorska

Einbandgestaltung: vielseitig.co.at (Artwork: Silvia Wahrstätter)

© 2024 Verlag Jungbrunnen Wien

Alle Rechte vorbehalten – printed in Europe

Druck und Bindung: Florjančič, Maribor

Wir legen Wert auf nachhaltige Produktion unserer Bücher und arbeiten lokal und umweltverträglich: Unsere Produkte werden nach höchsten Umweltstandards gedruckt und gebunden. Wir verwenden ausschließlich schadstofffreie Druckfarben und zertifizierte Papiere.

Armin Kaster

Der Traum der grünen Papageien

Jungbrunnen

Für meinen Vater

Inhalt

Sommerflug

Ein neues Zuhause!

Kein neues Zuhause?

Der Traum der grünen Papageien

Sommerflug

Am frühen Abend ziehen Gewitterwolken auf. Sie türmen sich wie wulstige Kissen über dem Mühlbachtal. Kein Wind geht mehr durch die Bäume, und über der alten Nagelfabrik hängt eine bleierne Schwüle, die die Vögel im Wald zum Verstummen gebracht hat.

Nur die Papageien schicken ihre Schreie ins Tal. Sie sitzen in den Zweigen der alten Buche und erwarten das Gewitter mit aufgeregtem Kreischen.

Zur selben Zeit, an einem anderen Ort, fragt ein Junge: „Wo sind die Papageien jetzt?“

Der Junge heißt Kaido, und er steht mit seiner Tante Midza im Park und sieht in die verwaisten Bäume. Gestern hatten die Menschen mit Steinen nach den Papageien geworfen und die Öffnungen ihrer Bruthöhlen mit Wachs verschlossen.

„Sie sind an einem besseren Ort“, antwortet Midza.

Kaido sieht seine Tante an. Ihr Blick hat einen Schatten.

Kaido kennt diesen Blick. Als Kaidos Mutter gestorben war, hatte Midza auch so geschaut. Danach mussten sie weiterziehen.

„Werden wir bald fortgehen?“, fragt Kaido.

„Es gibt immer einen Ort, an dem es sich besser leben lässt“, weicht Midza ihrem Neffen aus. „Und den werden wir finden.“

„Und wenn wir diesen Ort nicht finden?“, fragt Kaido.

Midza bleibt stehen. Sie hockt sich vor Kaido auf den Boden und streicht ihm übers Haar.

„Wir sind Glückskinder“, sagt sie. „Schon vergessen?“

Midza nimmt Kaido in den Arm. Er sieht über ihre Schulter zu dem verlassenen Baum im Park.

„Wir sind Glückskinder“, flüstert er und denkt an die grünen Papageien, die gestern noch hier waren.

Ein neues Zuhause!

„Ich habe gehört, die Menschen auf der Brache essen ihre Hunde“, sagt Hannes’ Vater beim Abendessen.

„Wer behauptet denn so etwas?“, fragt die Mutter.

Der Vater hebt die Hände.

„Dazu will ich nichts sagen.“

„Dann sei auch still“, knurrt Hannes.

Die Mutter legt ihre Hand auf Hannes’ Arm und sieht ihn an.

„Was ist los mit dir?“, fragt sie.

„Nichts“, sagt Hannes.

Er starrt auf seinen Teller. Seit Tagen spricht sein Vater von den Menschen auf der Brache. Jeden Abend, wenn sie essen. Und dazwischen auch.

„Lass gut sein, Isabel“, sagt der Vater. „Hier darf jeder sagen, was er will. Oder, Anton? Was denkst du?“

Sein Blick wandert von Hannes zu Anton, der den Vater mit einer Mischung aus Furcht und Begeisterung ansieht.

„Warum essen die Leute auf der Brache ihre Hunde?“, fragt Anton.

Der Vater sticht mit seiner Gabel in die Spaghetti und dreht sie zu einem großen Klumpen. Seine Wangen blähen sich auf, als er die Gabel in den Mund schiebt. Hannes schließt die Augen. Er hat das Gefühl, dass sein Kopf glüht.

„Weil sie Hunger haben“, sagt der Vater, nachdem er die Spaghetti geschluckt hat.

„Darf man Hunde essen?“, fragt Anton.

„Essen schon, aber nicht töten.“

„Und wie soll man sie essen, wenn man sie nicht töten darf?“ Anton scheint zu überlegen, wie das gehen soll.

Sein Vater rutscht auf dem Stuhl vor.

„Wenn die Menschen auf der Brache Hunde essen, muss sie jemand töten. Und ich kenne niemanden, der so etwas macht. Oder meinst du, unser Metzger Grefges schlachtet Hunde?“

Anton lacht, und Hannes ruft: „Was weißt du schon von denen?“

Der Vater zwinkert Anton zu, der noch immer lacht. Hannes springt auf und verlässt das Wohnzimmer.

„Und was hast du zu berichten?“, ruft ihm sein Vater hinterher.

Hannes sagt: „Nichts.“ Doch er denkt an Kaido, den Jungen von der Brache, der vor zwei Wochen in seine Klasse gekommen ist.

Die Tür ging auf. Ein Junge stand da. Um seinen Hals war ein bunter Schal gewickelt, der bis an seine Augen reichte. Auf dem Kopf, genauer, auf den wilden dunklen Locken, lag Schnee. Hannes sah den Jungen an, und der Junge sah zurück. Ihre Blicke trafen sich wie zwei Lichtpunkte, die aufeinander zuschossen und sogleich verschmolzen. Da war ihre Freundschaft besiegelt. Ein für alle Mal.

Herr Jaite fragte: „Wer bist du?“

Der Junge schob den Schal nach unten und sagte: „Mein Name ist Kaido.“

Er ging auf Herrn Jaite zu. Jemand kicherte, als Kaido die Hand ausstreckte.

„Entschuldigen Sie meine Verspätung“, sagte Kaido.

Herr Jaite sah auf Kaidos Hand.

„Bist du neu in dieser Klasse? Davon weiß ich nichts.“

Kaido zog seine Hand zurück.

„Dann such dir erstmal einen Platz. Und ihr da hinten, seid bitte still und holt eure … äh …“

Herr Jaite schien zu überlegen, was er sagen wollte, während Kaido durch den Mittelgang lief und direkt vor Hannes stehen blieb.

„Kaido“, sagte Kaido.

Und Hannes sagte: „Ja!“

In der Pause stand Kaido an der Treppe zum Mühlbachtal. Hannes blinzelte gegen die trudelnden Schneeflocken, als er auf Kaido zuging. Kaido lächelte, als er Hannes sah. Dieses Lächeln war wie ein wärmendes Kaminfeuer.

Als der Gong ertönte, sagte Kaido: „Komm“, als wäre es das Normalste der Welt, zusammen in die Klasse zu gehen.

„So, ich habe jetzt mal nachgefragt“, sagte Herr Jaite. „Niemand weiß etwas von dir. Wo wohnst du denn?“

Kaido sagte: „Wir sind seit Freitag hier.“

Herr Jaite sah Kaido eindringlich an.

„Deine Eltern müssen dich anmelden, hast du verstanden? Heute kannst du noch bleiben. Aber morgen müssen deine Eltern kommen.“

Kaido nickte stumm, und Herr Jaite setzte seinen Unterricht fort.

Nach Schulschluss stiegen Hannes und Kaido über die Treppe hinab ins Mühlbachtal. Die Stufen waren vereist und rutschig. Als sie unten angekommen waren, zog Hannes seine Mütze ins Gesicht.

„Hier ist es kälter als oben“, sagte Hannes und schlug die Hände gegeneinander.

Kaido schien das nichts auszumachen. Er sah Hannes an und fragte: „Wohnst du da drüben?“

Kaido zeigte zum Ende des Weges, der in eine Straße überging. Von dieser Straße verzweigte sich ein System aus kleinen Wegen, die zu den Reihenhäusern führten. Von oben betrachtet war die Neubausiedlung mit ihren Straßen und Häusern ein Weihnachtsbaum mit eckigen Kugeln.

Hannes sagte: „Ich bin hier geboren. Und du? Wohnst du auch hier?“

„Wir wohnen da unten.“ Kaido zeigte zu der Stelle im Wald, wo die ehemalige Nagelfabrik stand. Das Haus war umgeben von einer Betonfläche, auf der sich eisige Pfützen gebildet hatten.

„Du wohnst auf der Brache?“, fragte Hannes. „Gehört euch das Haus?“

„Wir haben es … bekommen“, sagte Kaido.

„Ich habe auch ein Haus bekommen!“, rief Hannes. „Naja, es ist eine Hütte. Wenn du willst, zeig ich sie dir.“

„Ja, gerne“, sagte Kaido und ging mit Hannes weiter bis zum Ende des Weges.

„Wo hast du vorher gewohnt?“, fragte Hannes.

Da sah Kaido zu Boden und zuckte mit den Schultern.

„In der Stadt“, sagte er vage. „Aber jetzt bin ich hier!“

Kaido straffte seinen Rücken und zeigte zu der Brache.

Im Untergeschoss des alten Backsteinhauses waren ein paar Fenster notdürftig ausgebessert. Doch die Scheiben in den darüberliegenden Etagen waren zerbrochen. Niemand hatte es bisher gewagt, das Haus zu betreten. Auch Hannes hatte sich noch nie hierher getraut. Es hieß, die alte Nagelfabrik könnte einstürzen.

„Bis morgen“, sagte Kaido.

Er drehte sich um und lief in das kleine Waldstück, das den Weg von der Brache trennte. Im selben Moment erhob sich ein Schwarm grüner Papageien, die in der Buche neben der Fabrik gesessen hatten. Sie flogen laut kreischend über das verwitterte Backsteinhaus davon.

Am nächsten Tag kam Kaido erneut zu spät.

Herr Jaite sagte irgendetwas, während Kaidos Augen Hannes’ Augen suchten. Er trug eine ausgebeulte Kappe.

„Entschuldigen Sie meine Verspätung“, sagte Kaido, nachdem er seinen Schal vom Hals gewickelt hatte.

„Das hast du gestern schon gesagt“, erwiderte Herr Jaite.

„Komm morgens einfach pünktlich.“

„Ich versuche es“, sagte Kaido.

„Und haben dich deine Eltern angemeldet?“, fragte Herr Jaite.

Kaido sagte: „Mein Vater kommt etwas später.“

Herr Jaite nickte und sagte zögernd: „Dann setz dich mal.“

Während des Unterrichts sah Hannes immer wieder zu Kaido, der ganz ruhig, beinahe bewegungslos auf dem Stuhl neben ihm saß. Seine Hände waren voller Schwielen. Hannes versuchte sich vorzustellen, woher man solche Hände bekam. Und dann ließ er den Blick über Kaidos Haare wandern. Es schien Hannes, als würden sie einfach so aus dem Kopf wachsen, alle gleich lang und wild gelockt und nicht frisiert.

Neben Kaido kam sich Hannes wie eine gepflegte Puppe vor, warm angezogen und wohlgenährt.

„Hannes?“, rief Herr Jaite.

„Ja?“

„Ich habe dich etwas gefragt.“

„Entschuldigung, ich habe nicht zugehört. Was war denn?“ Herr Jaite sah zum Fenster hinaus. Der Schnee fiel in dicken Flocken herab.

„Vielleicht kann dir dein Sitznachbar helfen“, sagte er und tippte auf die Tafel. „Kennst du das?“

Kaido sagte ohne Umschweife: „Ja.“

In der Klasse wurde es still. Alle sahen Kaido an. Ein Mädchen lachte ungläubig, und ein paar Jungs in der hinteren Reihe begannen leise zu tuscheln.

Herr Jaite sagte: „Hattest du das schon in deiner alten Klasse?“

„Nein“, sagte Kaido.

„Und warum kannst du es?“

„Halt so.“

„Hat es dir jemand beigebracht?“

Kaido sah zu Boden und nickte.

„Na, dann hast du einen Vorteil, wenn wir nach den Ferien damit anfangen.“

Herr Jaite schnaufte anerkennend und setzte sich ans Pult. Und Hannes fragte sich, was die seltsamen Zahlenfolgen an der Tafel zu bedeuten hatten.

„Was machst du heute?“, fragte Hannes, als sie später über die Treppe ins Mühlbachtal gingen.

„Arbeiten“, sagte Kaido.

„Was denn arbeiten?“ Hannes sah Kaido fragend an.

„Weiß ich noch nicht“, erklärte Kaido. „Vielleicht streichen wir die Küche.“

„Wenn du willst, kannst du später zu mir“, bot Hannes an.

Kaido sagte: „Wir haben echt viel zu tun.“

Es schien Hannes, als wollte Kaido noch etwas hinzufügen. Doch als sie das Ende des Waldweges erreicht hatten, sagte Kaido nur: „Ein andermal komme ich gerne.“

Damit verschwand er zwischen den Bäumen des Waldes, um wenig später auf dem Platz vor der alten Nagelfabrik wieder aufzutauchen. Dort wurde er von einer jungen Frau empfangen, die ihre Arme um den Oberkörper geschlungen hielt. Sie trug ein dünnes Kleid, dessen bunter Stoff in der weißen Winterlandschaft so auffallend war wie die grünen Papageien in dem verschneiten Baum.

Am nächsten Tag kam Kaido wieder zu spät.

Herr Jaite trat ihm entgegen und sagte: „Kaido, so geht das nicht. Du musst pünktlich zum Unterricht kommen. Und deine Eltern waren gestern auch nicht hier. Ich muss dich bitten, nach Hause zu gehen.“

In der Klasse wurde es still. Kaido nickte stumm. Dann suchte er Hannes’ Blick, lächelte kurz und verließ den Raum.

„Herr Jaite?“, rief Bene. „Ich glaube, meine Eltern haben mich auch nicht angemeldet. Kann ich nach Hause gehen?“

Herr Jaite lächelte gequält. Es war ihm anzusehen, dass es ihm schwergefallen war, Kaido fortzuschicken.

Schließlich sagte er: „Kaidos Eltern müssen ihn anmelden, dann kann er auch bleiben.“

Bis zur Pause sah Hannes immer wieder aus dem Fenster. Ob Kaido draußen auf ihn wartete? Er fehlte ihm. Es war fast so wie damals, als Hannes’ Mutter gegangen war. Da hatte er tagelang zum Fenster hinausgeschaut und gehofft, dass sie durch die Straße zurückkäme.

Aber die Mutter war nicht zurückgekommen. Ein Jahr lang hatte Hannes auf sie gewartet. Und als sie dann schließlich wieder da war, kam es Hannes so vor, als wäre sie noch fort.

In der Pause ging Hannes zur Treppe, die ins Mühlbachtal führte. Kaido war nirgends zu sehen. Hannes wusste nicht, was er machen sollte. Er fühlte sich wie gefrorenes Wasser, erstarrt im Flussbett.

Schließlich ging er ins Schulgebäude, obwohl es noch nicht geläutet hatte. Niemand bemerkte Hannes, der über die breite Treppe nach oben ging, um sich an das Fenster zu stellen, durch das er ins Mühlbachtal sehen konnte. Es hatte wieder angefangen zu schneien. Von hier oben konnte Hannes bis zu dem Haus auf der Brache schauen. Aus dem Schornstein stieg heller Rauch. Ein paar Hunde liefen über die vereiste Betonfläche. Kaido war nicht zu sehen.

Auch in der folgenden Stunde fehlte Kaido. Doch kurz vor der Pause klopfte es an der Tür.

Hannes’ Herz machte einen Sprung. Kaido stand da. Hinter ihm war die junge Frau, die Hannes bereits auf der Brache gesehen hatte. Sie trug ihr buntes Kleid, über das sie einen grünen Anorak gezogen hatte.

„Das ist meine Tante“, sagt Kaido.

Herr Jaite sah die beiden an.

„Was ist denn mit deinen Eltern?“

„Kaidos Vater ist leider verhindert“, sagte die junge Frau.

„Und was ist mit seiner Mutter?“, fragte Herr Jaite.

Die junge Frau sah zu Boden.

„Meine Schwester ist tot.“

Herr Jaite zeigte zur Tür. „Dann gehen wir mal ins Sekretariat, um die Formalitäten zu erledigen. Und ihr arbeitet bitte ohne mich weiter.“

Herr Jaite ließ einen ernsten Blick durch die Klasse schweifen, ehe er mit Kaido und der jungen Frau den Raum verließ.

„Alles klar?“, rief Hannes, als er Kaido nach Schulschluss an der Treppe stehen sah.

Kaido hatte auf ihn gewartet. Sie gingen zusammen über den Waldweg nach Hause.

„Ich darf erst wieder kommen, wenn irgendwas geregelt ist.“

„Was denn?“

„Keine Ahnung“, sagte Kaido. „Die rufen meinen Vater an.“ Hannes konnte sich nicht erklären, warum es so schwer sein sollte, in die Schule zu gehen. Jeder musste in die Schule. Auch Kaido.

„Kommst du heute mit zu mir?“, fragte Hannes.

Kaido sah ihn entschuldigend an.

„Das geht nicht. Mein Vater braucht Hilfe.“

„Wobei denn?“

„Wir müssen die Fenster im Obergeschoss einbauen. Es soll in den nächsten Tagen noch viel kälter werden.“

Als sie das Ende des Weges erreicht hatten, sah Hannes, wie Kaido seine Hand hob.

Hannes schlug ein und sagte: „Bis morgen?“

„Vielleicht“, erwiderte Kaido.

Damit drehte er sich um und verschwand im Wald.

Hannes wartete, dass Kaido die Brache betrat. Die junge Frau stand vor dem Haus. Sie hatte die Arme um den Oberkörper geschlungen, und ihr buntes Kleid flatterte im frostigen Wind.

Am Donnerstag blieb der Platz neben Hannes frei. Doch am Freitag war Kaido wieder da.

Er sagte: „Entschuldigen Sie meine …“

„Habt ihr keinen Wecker?“, unterbrach Herr Jaite.

„Doch, schon“, sagte Kaido.

Herr Jaite klopfte Kaido auf die Schulter.

„Schön, dass du wieder da bist.“

In der Pause fragte Hannes: „Was machst du am Wochenende?“

„Arbeiten“, sagte Kaido.

„Immer noch?“

„Wir renovieren das Haus. Heute bekommen wir Dämmplatten und isolieren die Wände. Und wenn es wärmer ist, erneuern wir die Wasserleitungen. Ach ja, und am Montag bekommen wir die Heizungsanlage.“

„Ihr habt keine Heizung?!“

„Nein, noch nicht. Aber wir haben einen Ofen.“

„Ich auch“, rief Hannes.

Kaido sah in ungläubig an.

„In meiner Hütte. Da habe ich einen Ofen.“

Kaidos Blick wanderte von Hannes zu der alten Nagelfabrik.

„Ich muss jetzt gehen“, sagte er und lief mit schnellen Schritten durch den Wald.

„Kann ich dich mal besuchen?“, rief ihm Hannes nach.

Doch Kaido hörte ihn nicht mehr.

Am Samstagmorgen sagte Hannes’ Vater: „Wisst ihr eigentlich, dass Leute auf der Brache sind?“

Die Familie saß gerade beim Frühstück. Seit dem frühen Morgen schneite es wieder.

„In der alten Nagelfabrik?“, fragte Hannes’ Mutter.

Hannes’ Vater hielt sein Handy hoch.

„Ich habe es gerade in der Nachbargruppe gesehen.“

Auf dem Display war ein Bild, das die Brache zeigte, auf der zwei Männer vor der alten Fabrik standen. Kaido hockte in der Tür. Neben ihm saßen zwei kleine Mädchen und hinter ihm stand die junge Frau in dem bunten Kleid. Sie lehnte im Türrahmen und hielt etwas im Arm, vermutlich ein Baby. Im Hintergrund sah man mehrere Hunde, die vor dem Baum mit den grünen Papageien lagen.

„Wohnen die da?“, fragte die Mutter.

„Eigentlich sollte da längst gebaut worden sein“, sagte der Vater. „Keine gute Sache, dass da jemand haust.“

„Wer ist das denn?“, fragte Anton.

Hannes dachte: „Kaido.“

Und der Vater sagte: „Illegale.“

In seinem Ton war eine Härte, die Hannes erschreckte.

Anton fragte: „Was sind Illegale?“

Der Vater sah ihn eindringlich an.

„Verbotene Menschen“, sagte er.

Nach dem Frühstück zog Hannes seine dicken Stiefel an und schlüpfte in die warme Winterjacke. Mit Mütze, Schal und Handschuhen bekleidet, verließ er die Neubausiedlung. Er lief durch den Wald zu der Stelle am Mühlbach, wo er über einen quer liegenden Baumstamm auf die andere Seite gelangte. Hannes wollte den Tag in seiner Hütte verbringen. Diese Hütte hatte er von seinem Opa geschenkt bekommen, kurz bevor er gestorben war. In der Hütte war Hannes, wenn er allein sein wollte. Und heute war so ein Tag.

Das Mühlbachtal mit dem Wald und der weitläufigen Ebene, die im Sommer als Weide genutzt wurde, war Hannes’ Heimat. Sein Großvater hatte ihm gezeigt, wo man Beeren findet und wie man einen Unterschlupf aus Tannenzweigen baut. Hannes hatte auch gelernt, wie man im Winter Rotaugen angelt. Es gab eine Stelle im Mühlbach, die nur wenig Strömung hatte. Dort standen die Rotaugen in dem tiefen, nicht so kalten Wasser. Mit einer einfachen Angel konnte man die Fische aus dem Wasser ziehen und über einem kleinen Feuer braten.

Hannes stapfte durch den Schnee am Ufer des Mühlbachs entlang, bis er auf der Höhe der alten Nagelfabrik war. Er sah durch die kahlen Bäume zu dem Backsteingebäude hinauf. Die Fenster waren erleuchtet, ganz anders als in den Jahren zuvor, als die Fabrik unbewohnt war.

An einer seichten Stelle überquerte Hannes den Mühlbach und kletterte die Böschung hinauf, um über die gefrorene Brache zu dem alten Haus zu gelangen. Dort lehnte er sich gegen die Wand, um nicht gesehen zu werden, und spürte die eisig kalten Backsteine in seinem Rücken.

Durch das seitliche Fenster sah er ins Haus. In der Mitte eines großen Raumes stand ein Tisch, an dem Kaido saß. Dahinter war ein Mann, der seine Hände auf Kaidos Schultern gelegt hatte. Die junge Frau mit dem bunten Kleid stand daneben. Sie hielt ein Baby auf dem Arm. Weiter hinten meinte Hannes die beiden Mädchen zu erkennen, die er auf dem Foto gesehen hatte.

Da wurde er vom Knurren eines Hundes aufgeschreckt. Direkt hinter ihm.

Hannes erstarrte. Er sah gegen die Hauswand, um dem Blick des Hundes nicht zu begegnen. Das Tier würde sich sonst bedroht fühlen, das wusste er. Und ein bedrohtes Tier war gefährlich.

Im gleichen Moment sah er im Augenwinkel einen weiteren Hund näherkommen. Das riesige Tier lief knurrend auf ihn zu, gefolgt von einem dritten und einem vierten Hund, die das gleiche braun gescheckte Fell besaßen und noch lauter knurrten.

Hannes hatte Angst. Hinter ihm stand ein Rudel Hunde, das sein Revier beschützte. Für die Hunde war Hannes ein Eindringling, eine Gefahr, die sie mit ihren messerscharfen Zähnen bekämpfen würden. Vielleicht würde ihn seine Winterkleidung vor den Bissen der Hunde schützen. Aber sein Gesicht war offen. Er konnte es nur mit den Händen bedecken. Und das würde nicht reichen. Sein Hals bliebe frei. Die Hunde wussten genau, dass sie in die Kehle beißen mussten, um ihn zu töten.

Hannes’ Atem ging stoßweise. Er stand mit dem Rücken zu den Tieren und spürte sein Herz wie einen Hammer schlagen. Zugleich versuchte er ruhig zu bleiben, auch wenn seine Beine zitterten.

Da ertönte ein lauter Pfiff.

Sogleich kratzten die Pfoten der losspurtenden Hunde auf der vereisten Betonfläche. Hannes sah die braun gescheckten Tiere um das Haus hetzten. Dabei stießen sie winselnde Laute aus.

Hannes wartete noch, um sicher zu sein, dass die Hunde fort waren. Dann rannte er über die Brache und den Hang hinab zum Mühlbach, den er an der seichten Stelle durchquerte. Dennoch bekam er nasse Füße. Er hatte einige Mühe, über die schneebedeckte Ebene zur anderen Seite des Tals zu laufen. Das Wasser in seinen Schuhen machte jeden Schritt doppelt so schwer.

Hannes kletterte den gegenüberliegenden Hang hinauf. Es kam es ihm so vor, als würde sein Herz aus dem Hals springen. Er sah ins Tal zurück, ob ihm die Hunde gefolgt waren. Dann ließ er sich erschöpft in den Schnee fallen.

Als Hannes wieder ruhig atmen konnte, stand er auf und ging die letzten Meter zu der kleinen Hütte, die auf einer freien Ebene hoch über dem Mühlbachtal stand. Seine Füße waren nass und kalt, und als Hannes die Hütte sah, freute er sich bereits darauf, wenn er das Holz im kleinen Ofen zum Brennen gebracht und sich die Hütte aufgeheizt haben würde.

Der Schnee bedeckte das schräge Dach wie eine mächtige Sahnehaube. Hannes ging zur Tür, öffnete das Vorhängeschloss, zog die Schuhe aus und betrat den kleinen Raum. Als er den Ofen mit Reisig füllte, brach die Sonne durch die Wolken und legte sich wie eine goldene Decke über die verschneite Ebene.

Da setzte sich Hannes an den Tisch und sah zum Fenster hinaus aufs Mühlbachtal, um die glitzernde Schönheit dieses Ortes zu betrachten. Doch heute tat ihm der Anblick des Mühlbachtals weh. Hannes dachte an seinen toten Großvater, mit dem er hier oft gesessen hatte.

Opa Heinz hatte an diesem Tisch gezeichnet, viele Jahre lang. Hannes war oft bei ihm gewesen, wenn er den Streitereien seiner Eltern aus dem Weg gehen wollte. Doch erst als Opa Heinz gestorben war, hatten seine Eltern ihre lauten Auseinandersetzungen beendet. Hannes war durch den Tod seines Opas so maßlos traurig geworden, dass es die Eltern zum Verstummen gebracht hatte. Sie erkannten Hannes’ Leid und rissen sich fortan zusammen. Sie entschieden sich einfach, ruhig zu sein. Doch der Grund für ihr Streiten bestand noch immer, und Hannes spürte das. Ihre Wut aufeinander lag wie Schnee über der Familie. Und dann war Hannes’ Mutter vor einem Jahr gegangen. Nach Amerika. Ohne ihn.

„Warum verlässt du uns?“, hatte Hannes am Tag ihrer Abfahrt gefragt.

„Weil ich es nicht mehr aushalte“, war ihr knappe Antwort gewesen.

„Habe ich etwas falsch gemacht?“, fragte Hannes.

Anstelle einer Antwort nahm ihn seine Mutter in den Arm. Ein paar Stunden später war sie fort.

Hannes konnte sich die Entfernung nach Amerika nicht vorstellen. Der Ozean zwischen ihm und seiner Mutter war so groß wie seine Traurigkeit. Und als sie dann nach einem Jahr zurückgekommen war, konnte Hannes nicht mehr lachen. Und auch nicht weinen. Er fühlte eine Kälte in sich, die nicht verging. Es war, als wäre ein Teil seines Herzens erfroren.

„So, dann will ich mal Feuer machen“, sagte Hannes in die Stille hinein.

Er stand auf und entzündete das Reisig, das im Ofen lag. Als das Feuer entfacht war, legte er ein paar Holzscheite hinein, schloss die Ofenklappe und setzte sich an den Tisch zurück, um nach draußen zu sehen.

Hannes liebte das Mühlbachtal. Er konnte stundenlang im Wald umherlaufen und nach Tieren Ausschau halten, sei es in der Dämmerung, wenn die Fledermäuse Mücken jagten, oder im Morgendunst, wenn die Rehe auf der Weide den Tau vom Gras leckten. Dann war er glücklich. Hier war seine Heimat.

Es klopfte an die Fensterscheibe. Hannes schreckte hoch.

Er sah Kaidos Gesicht.

„Du?!“, rief er und spürte eine Welle des Glücks durch seinen Bauch strömen.

Hannes sprang auf und öffnete die Tür.

„Soll ich die Schuhe ausziehen?“, fragte Kaido atemlos. Sein Gesicht war rot und verschwitzt. Er war gerannt.

Hannes machte einen Schritt zur Seite.

Kaido schlüpfte aus den Schuhen und betrat die Hütte.

„Hattest du Angst vor unseren Hunden?“, fragte er.

Hannes sah zu Boden. Ihm schoss das Blut in den Kopf. Er fühlte sich erwischt.

„Die Hunde sind wirklich lieb“, erklärte Kaido.

„Wissen die Hunde das auch?“, fragte Hannes.

Kaido sah sich um.

„Und die Hütte gehört dir?“

„Ja, leider.“

„Warum?“

„Weil mein Opa vor drei Jahren gestorben ist. Dem hatte die Hütte gehört.“

Kaido nickte stumm. Er sah zum Fenster hinaus. Die Sonne war wieder weg, und vermutlich würde es bald schneien.

„Hier kann man gut Schlitten fahren“, sagte Kaido und zeigte zum Hang. „Hast du einen Schlitten?“

„Zu Hause.“

„Oder einen Müllsack?“

Hannes zog neben dem Ofen eine Rolle mit blauen Müllsäcken hervor. Kaido riss einen Sack von der Rolle und schlüpfte in seine Schuhe. Dann warf er sich die Jacke über und verließ die Hütte.

Wenig später saßen sie am Rand des Hangs auf ihren Müllsäcken. Von hier oben ging es steil hinunter auf die Weide. Kaido rutschte auf seinem Müllsack etwas vor. Dann rief er: „Jetzt!“, und sauste den Hang hinab.

Eine pulverige Schneewolke wehte hinter ihm her. Als er auf der Weide zum Stehen kam, winkte er Hannes zu.

Hannes zog das vordere Ende des Müllsacks zu sich heran. Dann stieß er sich ab und rutschte durch Kaidos Spur ins Tal hinab. Er musste blinzeln, um durch den aufstiebenden Schnee zu sehen. Die kalten Eiskristalle prickelten auf seiner Haut.

Mit den Müllsäcken in der Hand stapften die beiden Jungen den Hang hinauf, um erneut ins Tal zu rutschen. Dabei plätteten sie den Schnee mit ihrem Gewicht. Und nachdem sie mehrmals hinabgefahren waren, hatten sie in den Schnee eine feste Furche gedrückt, die wie eine vereiste Bobbahn war. Mit jeder Fahrt verlängerten sie die Bahn und erreichten schließlich das Ende der Weide.

„Beim nächsten Mal fliegen wir über den Mühlbach!“, schrie Kaido.

Hannes war verschwitzt und atemlos.

„Und ob!“, rief er und lief den Hang hinauf.

Oben angekommen fragte Kaido: „Du oder ich?“

Die Bahn bot nur Platz für eine Person, und Hannes sagte: „Ich“, und schoss auf seinem Müllsack in die Tiefe.