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Wie im Rausch schrieb Johannes Kepler 1609 in zwei Nächten diese geheimnisvolle Traumerzählung einer Reise zum Mond. In seinen letzten Lebensjahren ergänzte er sie um einen umfangreichen astronomisch-mathematischen Anmerkungsteil, erst nach seinem Tod konnte diese Schrift veröffentlicht werden. Von zeitgenössischen Astronomen als "bizarr" und "seltsam" abgelehnt, steckt in ihr mehr als eine mutige Verteidigung des kopernikanischen Weltbilds. Zum ersten Mal erscheint nun diese Traumerzählung voll blühender Phantasie in einer textkritischen Übersetzung nach der Originalausgabe von 1634 vollständig auf Deutsch mit einem Essay von Beatrix Langner, in dem sie die Träumereien dieses äußerst ungewöhnlichen Mathematikers, Astronoms und Denkers des deutschen Humanismus vor dem Hintergrund der religions- und naturphilosophischen Debatten seiner Zeit nachzeichnet und deren Spur bis heute verfolgt.
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Johannes Kepler
Aus dem Lateinischen von Hans Bungarten, herausgegeben und mit einem Leitfaden für Mondreisendevon Beatrix Langner
Johannes KeplerDer Traum, oder: Mond-Astronomie
Noten zum Traum
Geographischer Anhang oder, wenn du lieber willst, Mondbeschreibung
Beatrix LangnerDas Kugelspiel. Ein Leitfaden für Mondreisende
Anhang
Literaturverzeichnis
Register
Als im Jahr 1608 Streit zwischen den Brüdern Kaiser Rudolf und Erzherzog Matthias entbrannt war, und man ihre Handlungen allgemein auf Beispiele zurückführte, die aus der Geschichte Böhmens herangezogen waren, wurde ich durch die allgemeine Neugier erregt und wandte mich der Lektüre böhmischer Literatur zu. Dabei stieß ich auf die Geschichte der Heldin Libussa, einer hochberühmten Zauberin; so kam es, dass ich eines Nachts, nachdem ich den Mond und die Sterne betrachtet hatte, behaglich im Bett lag und in tiefen Schlaf fiel. Und ich sah mich im Schlaf ein Buch durchlesen, das ich in Frankfurt auf der Messe erworben hatte, dessen Text folgender war:
Mein Name ist Duracotus1, mein Heimatland Island2, das die Alten Thule nannten. Meine Mutter3 war Fiolxhilde, die, da sie jüngst4 gestorben ist, mir die Erlaubnis zum Schreiben erteilte, auf die ich längst gewartet hatte. Solange5 sie lebte, gab sie sich alle Mühe, mich vom Schreiben abzuhalten. Sie pflegte nämlich zu sagen, es gebe viele gefährliche Feinde der Künste, die6 das, was sie wegen der Stumpfheit ihres Geistes nicht fassen können, anprangern und dem Menschengeschlecht ungerechte Gesetze7 auferlegen würden. Tatsächlich seien nicht wenige aufgrund dieser Gesetze8 verurteilt und vom Schlund des Hekla9 verschlungen worden. Den Namen10 meines Vaters hat sie selbst niemals genannt. Sie behauptete stets, er sei ein Fischer11 gewesen und als Greis von 150 Jahren gestorben. Als ich drei Jahre alt war, habe er rund 70 Jahre seiner Ehe hinter sich gehabt.
In meinen ersten Knabenjahren führte mich meine Mutter oft, indem sie mich an der Hand nahm, manchmal auch auf die Schulter setzte, auf die niedrigeren12 Bergjoche des Hekla, besonders13 um die Zeit des Johannistages, wenn die Sonne 24 Stunden sichtbar ist und die Nacht verdrängt. Sie selbst14 sammelte Kräuter unter allerlei Riten, kochte sie zu Hause, nähte Säckchen15 aus Ziegenfell, füllte sie und brachte sie zum Verkauf an Schiffsherren zum nahe gelegenen Hafen. So verdiente sie sich den Lebensunterhalt.
Einmal zerriss ich aus Neugier ein Säckchen, das meine ahnungslose Mutter verkaufen wollte, nahm die Kräuter und Leinenläppchen16, in welche die verschiedenen Sortenzahlen eingestickt waren, auseinander und brachte so meine Mutter um den Gewinn. Zornentbrannt übergab sie mich anstelle des Säckchens dem Schiffsherrn als Eigentum, um selbst das Geld behalten zu können. Und dieser Schiffsherr brach tags darauf unversehens aus dem Hafen auf und steuerte unter günstigem Wind Bergen17 in Norwegen an. Als sich nach einigen Tagen der Nordwind18 erhob, wurde er zwischen England und Norwegen verschlagen, steuerte Dänemark an und fuhr durch die Meerenge, da er einen Brief des isländischen Bischofs19 dem Dänen Tycho Brahe überbringen sollte. Der wohnte auf der Insel Hveen. Ich aber erkrankte heftig wegen des Schwankens des Schiffes20 und der ungewohnten Wärme der Luft. Ich war ja noch ein Junge von 14 Jahren. Der Schiffsherr landete und setzte mich21 zusammen mit dem Brief bei einem Fischer der Insel ab. Er versprach zurückzukommen und legte ab.
Als Brahe den Brief erhalten hatte, war er hocherfreut und begann, mich vielerlei zu fragen22. Ich verstand das23 nicht, weil ich seine Sprache nicht konnte, außer wenigen Worten. Daher gab er seinen Studenten, von denen24 er eine große Zahl betreute, den Auftrag, häufig mit mir zu sprechen. Die Großherzigkeit25 Brahes und wenige Wochen Übung bewirkten, dass ich einigermaßen gut Dänisch sprechen konnte. Und ich erzählte genauso bereitwillig, wie jene fragten. Da hatte ich freilich viel Ungewohntes zu bestaunen, aber ich konnte aus meinem Vaterland auch viel Neues berichten, das die Zuhörer in Erstaunen versetzte.
Schließlich kehrte der Schiffsherr zurück und wollte mich abholen; aber er holte sich eine Abfuhr26, worüber ich mich sehr freute.
Auf wunderbare Weise27 lachten mich die astronomischen Studien an. Denn Brahe und die Studenten betrachteten ganze Nächte lang mit erstaunlichen Geräten den Mond und die Sterne; das erinnerte mich an meine Mutter, die ja auch selbst28 unablässig mit dem Mond zu sprechen pflegte.
Durch diese günstigen Umstände gelangte ich, von Herkunft ein Halbbarbar, an Vermögen völlig mittellos, zur Kenntnis der göttlichen Wissenschaft. Die ebnete mir den Weg zu Höherem.
Als ich nämlich ein paar Jahre auf dieser Insel zugebracht hatte, verlangte mich schließlich danach, mein Vaterland wiederzusehen. Ich glaubte nämlich, es könnte mir nicht schwerfallen, mit der erworbenen Wissenschaft bei meinem ungebildeten Volk zu einem gewissen Ansehen zu gelangen. Also verabschiedete ich mich von meinem Gönner, erhielt die huldvolle Erlaubnis zur Abreise und kam nach Kopenhagen. Dort gewann ich Reisegefährten, die mich wegen meiner Sprach- und Ortskenntnis in ihren Schutzbund aufnahmen. Im fünften Jahr, nachdem ich es verlassen hatte, kehrte ich in mein Vaterland zurück.
Das erste Glück meiner Rückkehr war, dass ich meine Mutter noch lebend antraf, in genau derselben Weise beschäftigt wie einst. Ihrer unablässigen Reue darüber, dass sie ihren Sohn durch Unbesonnenheit verloren hatte, setzte ich dadurch ein Ende, dass ich lebendig und angesehen war. Damals neigte sich29 das Jahr zum Herbst, und es folgten30 darauf unsere langen Nächte. Denn im Monat der Geburt Christi taucht die Sonne kaum ein wenig auf, um sich auf der Stelle wieder zu verbergen. So war31 meine Mutter frei von ihrer Tätigkeit und heftete sich an mich, wich nicht von meiner Seite, wohin ich mich auch mit meinen Empfehlungsschreiben begab. Bald fragte sie mich aus über die Länder, die ich bereist hatte, bald über den Himmel. Dass ich diese Wissenschaft studiert hatte, freute sie ganz besonders. Sie verglich, was sie selbst erfahren hatte, mit dem, was ich erzählte, und rief immer wieder aus, jetzt32 sei sie bereit zu sterben, weil sie als Erben ihrer Wissenschaft, ihres einzigen Besitzes, ihren Sohn zurücklassen werde.
Ich, von Natur begierig, Neues zu lernen, befragte sie meinerseits über ihre Künste, und welche Lehrer sie darin gehabt habe in einem Volk, das von den übrigen so sehr getrennt ist. Darauf legte sie an einem bestimmten Tag, an dem wir uns Zeit für ein Gespräch genommen hatten, die ganze Sache von den ersten Anfängen an dar, etwa auf folgende Weise: »Vorzüge, mein Sohn Duracotus, besitzen nicht nur die Länder, die du bereist hast, sondern auch unser Vaterland. Wenn uns nämlich auch Kälte und Finsternis bedrücken und andere Übel, die ich erst jetzt empfinde, nachdem ich durch dich vom Glück der übrigen Länder erfahren habe, so haben wir dagegen33 Überfluss an Begabungen. Uns34 stehen zu Diensten hochweise Geister, denen das viele Licht der anderen Länder und der Lärm der Menschen verhasst sind, und die deshalb unsere Schatten aufsuchen und mit uns freundschaftliche Gespräche führen. Von denen sind neun35 die vorzüglichsten, und einer davon36 ist mir besonders bekannt; er ist von allen gerade der sanfteste und unschuldigste37 und wird durch 21 Zeichen38 herbeigerufen. Mit seiner Hilfe39 werde ich oft in einem Augenblick zu anderen Küsten, die ich selbst bestimmt habe, entrückt; oder ich kann, wenn ich von irgendwelchen Zielen durch zu große Entfernung abgeschreckt40 werde, durch Nachfragen so großen Nutzen ziehen41, wie wenn ich selbst dort wäre: So hat er mir das meiste von dem, was du entweder mit eigenen Augen gesehen, durch Berichte vernommen oder aus Büchern geschöpft hast, genau so wie du berichtet.
Besonders das Land, von dem er mir so oft gesprochen hat, wünsche ich mit dir gemeinsam zu erkunden. Sehr wundersam ist nämlich, was er von ihm erzählt. Levania42, so nannte er es.«
Unverzüglich stimme ich zu, dass sie ihren Meister herbeiruft, und setze mich, um die ganze Beschaffenheit des Weges und die Beschreibung des Landes anzuhören. Es war schon Frühling43 und zunehmender Mond, der, sobald die Sonne unter den Horizont getaucht war, in Konjunktion mit dem Planeten Saturn im Zeichen des Stiers aufzustrahlen begann.
Die Mutter44 ging voraus bis zur nächsten Weggabelung45, erhob ein Geschrei und brachte einige wenige Wörter46 hervor, mit denen die sie ihre Bitte äußerte. Nachdem sie ihre Riten47 vollendet hat, kehrt sie zurück, gebietet mit ausgestreckter rechter Hand48 Schweigen und setzt sich neben mich. Kaum hatten wir das Haupt49 mit dem Gewand (wie es vereinbart war) verhüllt, da erhebt sich das Gekrächz50 einer stammelnden und dumpfen Stimme. Und sofort beginnt sie auf folgende Weise zu sprechen, aber in isländischer Sprache.
50000 deutsche Meilen53 entfernt liegt54 in der Tiefe des Äthers die Insel Levania. Der Weg55 von hier dorthin oder von dort hierher steht nur sehr selten offen. Und wenn er offensteht, kann unser Volk56 ihn zwar leicht beschreiten, für menschliche Reisende57 ist er aber ganz schwierig und mit höchster Lebensgefahr verbunden. Keine Freunde sitzender Lebensweise58 werden von uns in unsere Gemeinschaft aufgenommen, keine dicken, keine verzärtelten Leute. Vielmehr59 wählen wir die aus, die ihr Leben lang ständig auf schnellen Pferden reiten, oder die häufig nach Indien segeln; sie müssen daran gewöhnt sein, sich von Zwieback, Knoblauch, Dörrfisch und abscheulichen Speisen zu ernähren. Besonders60 eignen sich für uns saftlose alte Weiber, die von Kindheit an mit der Kunst vertraut sind, nachts auf Böcken, Astgabeln oder zerschlissenen Mänteln zu reiten und riesenhafte Entfernungen zwischen Ländern zu überwinden. Deutsche Männer sind überhaupt nicht61 geeignet. Spanier mit ihren drahtigen Körpern nehmen wir gerne auf.
So lang der ganze Weg62 auch ist, er wird in höchstens vier Stunden zurückgelegt. Und da wir immer sehr beschäftigt sind, steht für uns der Zeitpunkt der Abreise nämlich nicht früher63 fest, als bis der Mond von Osten her angefangen hat abzunehmen. Sind wir bei Vollmond noch auf dem Weg, wird unsere Reise unmöglich gemacht. Da die Reisegelegenheit sich immer so kurzfristig64 ergibt, haben wir vom Menschengeschlecht wenige Genossen, und nur solche, die uns die größte Hochachtung entgegenbringen.
Also65 gehen wir auf einen so gearteten Menschen los, indem wir eine Mannschaft bilden, uns alle unter ihn stemmen und ihn in die Höhe heben. Die erste66 Bewegung ist jeweils für ihn die härteste. Denn er ist keinen geringeren Strapazen ausgesetzt67, als wenn er, von Sprengpulver hochgeschossen, über Berge und Meere schwebte. Deswegen68 muss er gleich anfangs mit Narkotika und Opiaten eingeschläfert und Glied für Glied69 auseinandergefaltet werden, damit nicht der Rumpf vom Hintern, der Kopf vom Rumpf getrennt davongetragen wird, sondern der Druck auf die einzelnen Glieder sich gleichmäßig verteilt. Darauf70 folgt die nächste Schwierigkeit, nämlich ungeheure Kälte und Atemnot71. Jener72 treten wir mit der uns angeborenen Kraft entgegen, dieser73 mit feuchten Lappen, die wir vor die Nase halten. Ist der erste Teil überstanden74, wird die Reise leichter. Dann75 setzen wir die Körper der freien Luft aus und ziehen die Hände weg. Die Körper aber kugeln sich ein wie Spinnen, wir bewegen sie76 fast nur noch mit unserem Willen, so dass77 schließlich die Körpermasse selbst zu dem vorgesehenen Platz strebt. Aber78 diese Schwungkraft ist für uns zu langsam und deshalb von geringem Nutzen. Daher beschleunigen wir sie, wie gesagt, durch unseren Willen. Und wir eilen nun dem Körper voraus, damit er nicht durch allzu harten Aufprall auf dem Mond Schaden nimmt. Wenn die Menschen erwachen, klagen sie immer79 über unsägliche Schlappheit aller Glieder. Davon erholen sie sich erst spät so weit, dass sie gehen können.
Außerdem treten viele Schwierigkeiten auf, über die zu berichten zu lange dauern würde. Uns80 stößt fast gar kein Übel zu. Wir wohnen nämlich dichtgedrängt im Erdschatten, solange er dauert. Sobald er Levania berührt, sind wir zur Stelle, als wenn81 wir aus einem Schiff an Land gingen. Und dort82 ziehen wir uns rasch in Höhlen und dunkle Orte zurück, damit uns die Sonne, sobald sie uns in offenem Gelände bestrahlt, nicht aus dem gewählten Aufenthaltsort vertreibt und zwingt, dem weichenden Schatten zu folgen. Dort haben wir Muße83, unsere Talente nach Herzenslust auszubilden. Wir unterhalten uns mit den Dämonen dieser Gegend, schließen Freundschaft mit ihnen, und sobald84 die Sonne ein Gebiet verlässt, schließen wir uns zu Gruppen zusammen und wandeln im Schatten, und wenn dieser mit seiner Schärfe — was85 meistens geschieht — die Erde trifft, wenden auch wir uns der Erde86 mit gemeinschaftlichen Unternehmungen zu. Das ist nur zu Zeiten möglich, wenn die Menschen die Sonne verfinstert sehen. Daher kommt es, dass Sonnenfinsternisse so sehr gefürchtet werden.
Und das soll genug sein über den Weg nach Levania.
Ich fahre fort, indem ich von der Beschaffenheit des Landes selbst berichte; ich beginne nach Art der Geographen mit dem, was von dort aus gesehen am Himmel geschieht.
Zwar87 ist der Anblick der Fixsterne für ganz Levania derselbe wie für uns. Jedoch beobachtet man dort Bewegungen und Größen der Planeten, die von den uns sichtbaren völlig verschieden sind, und zwar so sehr, dass bei ihnen die ganze Wissenschaft der Astronomie vollkommen verschieden ist.
Wie88 also unsere Geographen den ganzen Erdkreis wegen der Himmelserscheinungen in fünf Zonen aufteilen, so89 besteht Levania aus zwei Halbkugeln, einer der Subvolven (subvolvae) und einer der Privolven (privolvae). Von diesen genießt jene unablässig den Anblick ihrer Volva90, die für sie das ist, was für uns der Mond; diese aber bekommt die Volva niemals zu sehen.
Der Kreis, der die Halbkugeln voneinander trennt, verläuft durch91 die Pole der Welt hindurch, entsprechend unserem Sonnenwend-Kolur, und wird Divisor (Teiler) genannt.
Was beiden Halbkugeln gemeinsam ist, will ich zuerst erklären. Also: Ganz Levania92 erlebt den Wechsel von Tag und Nacht, wie wir. Aber es fehlt93 die Verschiedenheit im Laufe des Jahres, die wir hier bei uns haben. In ganz Levania nämlich sind die Tage den Nächten annähernd gleich, außer dass94 bei den Privolven regelmäßig jeder Tag kürzer ist als die zugehörige Nacht, bei den Subvolven umgekehrt. Was aber während des Umlaufs von acht Jahren wechselt, soll weiter unten gesagt werden. Unter beiden Polen95 aber ist die Sonne zur Hälfte verdeckt, die andere Hälfte leuchtet. Das gleicht die Nacht aus. Die Sonne umkreist die Berge. Levania scheint nämlich ihren Bewohnern genau so96 festzustehen und von den Gestirnen umkreist zu werden, wie uns die Erde. Nacht und Tag97 zusammen entsprechen einem unserer Monate. Bei Sonnenaufgang erscheint natürlich das Tierkreiszeichen des heraufziehenden Tages vollständiger als am Vortage. Und wie bei uns98 das Jahr 365 Sonnenumläufe und 366 Fixsternumläufe hat — oder genauer: in vier Jahren 1461 Sonnenumläufe, aber 1465 Fixsternumläufe —, so haben jene in einem Jahr zwölf Sonnenumläufe und 13 Fixsternumläufe — oder genauer: in acht Jahren 99 Sonnenumläufe und 107 Fixsternumläufe. Aber vertrauter ist ihnen selbst eine Periode von 19 Jahren. Denn in dieser Zeitspanne geht die Sonne 135 mal auf, die Fixsterne aber 254 mal.
Den mittleren oder innersten Subvolven geht die Sonne auf, wenn bei uns das letzte Viertel erscheint, den innersten Privolven aber dann, wenn bei uns das erste Viertel zu sehen ist. Was99 ich aber von der jeweiligen Mitte sage, muss man jeweils auf den ganzen Halbkreis beziehen, der durch die Pole und den Mittelkreis läuft und mit dem Divisor einen rechten Winkel bildet. Diese Halbkreise könnte man Medivolvane nennen.
Es gibt aber einen Kreis in der Mitte zwischen den Polen, der unserem Äquator entspricht. Mit diesem Namen soll er auch bezeichnet werden. Er schneidet an zwei Stellen den Divisor und die Medivolvane an einander gegenüberliegenden Stellen. Die Scheitelpunkte aller Orte, die auf ihm liegen, überquert die Sonne täglich in kürzestem Abstand, und zwar genau an zwei im Lauf des Jahres einander gegenüberliegenden Tagen im Mittagspunkt. Für die übrigen Leute, die beiderseits gegen die Pole hin wohnen, weicht die Sonne100 am Mittag von der Senkrechten ab.
Man kennt in Levania auch einen geringen Unterschied zwischen Sommer und Winter, der aber nicht mit dem unsrigen zu vergleichen ist; auch treten diese Jahreszeiten nicht immer an denselben Orten und zur selben Zeit des Jahres auf, wie bei uns.
In einem Zeitraum von zehn Jahren nämlich101 wandert jener Sommer an ein und demselben Ort von einem Teil des Gestirnjahres in den entgegengesetzten Teil; denn im Ablauf von 19 Gestirnjahren oder 235 Tagen herrscht an den Polen zwanzigmal der Sommer, genau so oft der Winter, am Äquator vierzigmal. Bei ihnen102 gibt es jährlich sechs Sommertage, das übrige sind Wintertage, wie bei uns die Monate. Dieser Unterschied ist am Äquator kaum spürbar, weil die Sonne dort nicht mehr als fünf Grad nach beiden Seiten hin abweicht. Stärker spürt man den Unterschied an den Polen. Dort scheint die Sonne wechselweise sechs Monate und sechs Monate nicht, wie auch bei uns in jenen Ländern, die nahe den Polen liegen. Daher ist auch die Levania-Kugel in fünf Zonen geteilt, die unseren Erd-Zonen in etwa entsprechen. Aber die dürre Zone wie auch die kalten Zonen umfassen kaum zehn Grad. Der ganze Rest entspricht unseren gemäßigten Zonen103. Die Dürrezone läuft um die Mitte der Halbkugeln, nämlich die Hälfte ihrer Länge bei den Subvolven, die andere Hälfte bei den Privolven.
Aus den Schnittstellen104 des Äquators und des Tierkreises ergeben sich auch vier Kardinalpunkte, entsprechend unseren Äquinoktien und Solstitien, und von diesen Schnittstellen an beginnt der Tierkreis. Die Bewegung der Fixsterne von diesem Anfang zum Folgenden ist sehr schnell. Denn sie durchlaufen in zwanzig tropischen Jahren105, die durch einen Sommer und einen Winter definiert sind, den ganzen Tierkreis, was bei uns kaum in 26000 Jahren geschieht.
Soviel zur ersten Bewegung!
Das Wesen der zweiten Bewegungen ist genau so verschieden von denen, die uns erscheinen, und viel komplizierter. Denn bei allen sechs Planeten — Saturn, Jupiter, Mars, Sonne, Venus, Merkur — treten neben den vielen Ungleichheiten, die uns und ihnen gemeinsam sind, bei ihnen drei weitere hinzu, zwei Ungleichheiten der Länge: eine täglich, die andere im Verlauf von 8½ Jahren; die dritte Ungleichheit ist die der Breite: im Verlauf von 19 Jahren. Die mittleren Privolven106 sehen die Sonne an ihrem Mittag (bei sonst gleichen Bedingungen) größer, die Subvolven kleiner als beim Aufgang. Beide glauben übereinstimmend107, dass die Sonne einige Minuten von der Ekliptik hin und her abweiche, bald bei diesen, bald bei jenen Fixsternen. Und diese Abweichungen werden nach 19 Jahren, wie gesagt, in die ursprüngliche Bahn zurückgelenkt. Ein wenig mehr108 jedoch beträgt diese Abweichung bei den Privolven, etwas weniger bei den Subvolven. Und obwohl man annimmt, dass die Sonne und die Fixsterne bei der ersten Bewegung beinahe gleichförmig um Levania kreisen, bewegt sich für die Privolven die Sonne109 am Mittag dennoch beinahe gar nicht unter den Fixsternen vorwärts, bei den Subvolven ist aber am Mittag ihre Bewegung sehr schnell. Das Gegenteil soll von der Mitternacht gelten. Sosehr scheint die Sonne unter den Fixsternen gleichsam Sprünge zu machen, und zwar einzelne an einzelnen Tagen.
Dasselbe110 gilt für Venus, Merkur und Mars. Bei Jupiter und Saturn sind diese Dinge fast nicht bemerkbar.
Und doch111 ist die Bewegung nicht einmal sich selbst gleich, die täglich zu den gleichen Stunden stattfindet. Manchmal ist sie langsamer bei der Sonne und ebenso bei den Fixsternen, im entgegengesetzten Teil des Jahres aber schneller zur gleichen Tageszeit. Diese Verlangsamung wandert durch die Tage des Jahres, so dass sie bald im Sommer auftritt, bald im Winter, entsprechend dem anderen Jahr, das die Beschleunigung erlebt hatte. Ein Umlauf112 vollzieht sich in einem Zeitraum von etwas weniger als neun Jahren. Und so113 dauert bald der Tag länger (durch natürliche Langsamkeit, nicht wie bei uns auf der Erde durch die ungleichen Abschnitte des natürlichen Tageskreises), bald wechselweise die Nacht.
Tritt114 die Verlangsamung bei den Privolven zur Mitternacht ein, verschiebt sich ihr Verlauf über den Tag hin. Tritt sie am Tag ein, dann gleichen sich Nacht und Tag mehr an; das geschieht einmal in neun Jahren, umgekehrt bei den Subvolven.
Soviel also über das, was in den beiden Hemisphären ungefähr in gleicher Weise geschieht.
Was nun die einzelnen Hemisphären getrennt betrifft, so besteht zwischen ihnen ein ungeheuer großer Unterschied. Nicht nur bewirkt die Gegenwart oder Abwesenheit der Volva einen ganz ungleichen Anblick, sondern auch die gemeinsamen Phänomene selbst haben hier und dort ganz verschiedene Wirkungen, so dass die Hemisphäre der Privolven eher als extrem bezeichnet werden könnte, die der Subvolven als gemäßigt. Denn bei den Privolven dauert die Nacht 15 oder 16 unserer natürlichen Tage an, unter ständiger schrecklicher Finsternis, wie bei uns die mondlosen Nächte sind, da diese Nacht nicht einmal durch irgendwelche Abstrahlungen der Volva jemals erleuchtet wird. Daher starrt alles vor Kälte und Reif115 und darüber hinaus116 vor ganz steifen und starken Winden. Es folgt der Tag, 14mal so lang wie unsere Tage117, oder etwas weniger als dies, an dem die Sonne118 sowohl größer ist als sich auch unter119 den Fixsternen nur langsam bewegt und sich kein Wind120 regt. Daher kommt es zu ungeheurer Hitze. Und so herrscht im Zeitraum eines Erdmonats oder eines levanianischen Tages an ein und demselben Ort sowohl Hitze, fünfzehnmal kochender als unsere afrikanische, und Kälte, unerträglicher als unsere hiesige.
Besonders zu bemerken ist, dass der Planet Mars den Privolven der Mittelzone um Mitternacht, den übrigen je in ihrem Abschnitt der Nacht, bisweilen beinahe121 doppelt so groß erscheint wie uns.
Ich gehe dazu über, indem ich mit ihren Randbewohnern beginne, die am Divisor-Kreis leben. Ihnen ist nämlich eigentümlich122, dass ihnen der Abstand der Venus und des Merkurs von der Sonne viel größer erscheint als uns. Auch scheint ihnen123 die Venus zu bestimmten Zeiten doppelt so groß wie uns, besonders124 denen, die am Nordpol wohnen.
Die angenehmste Betrachtung aller Leute in Levania ist die ihrer Volva, deren Anblick sie in gleichem Maß genießen wie wir den unseres Mondes. Der125 ist ihnen, wie auch besonders den Privolven, vollständig versagt. Und nach der beständigen Gegenwart der Volva heißt diese Hemisphäre die subvolvene, der andere nach der Abwesenheit der Volva der privolvene, weil sie des Anblicks der Volva beraubt sind.
Uns Erdbewohnern scheint unser Mond, wenn er voll ist, beim Aufgang und auf seinem Weg über weit entfernte Häuser die Größe eines Fassreifens zu haben. Sobald er in die Mitte des Himmels aufgestiegen ist, entspricht sein Umfang kaum dem eines menschlichen Gesichts. Die Subvolven aber sehen ihre Volva genau im Himmelsmittelpunkt (diese Stelle nimmt sie ein bei denen, die in der Mitte oder am Nabel dieser Hemisphäre wohnen) mit beinahe126 der vierfach größeren Länge des Durchmessers als wir unseren Mond sehen, so dass, wenn man beide vergleicht, ihre Volva fünfzehnmal größer ist als unser Mond. Für die aber, für welche die Volva unablässig am Horizont klebt, hat sie von ferne das Aussehen eines glühenden Berges.
Wie wir also die Regionen unterscheiden durch die größere oder geringere Polhöhe, obwohl wir den Pol selbst nicht mit Augen sehen, so dient ihnen zu demselben Zweck die Höhe der Volva, die immer sichtbar ist, verschieden an verschiedenen Orten.
Bei einigen nämlich steht sie, wie gesagt, über dem Scheitel, an anderen Orten scheint sie nahe an den Horizont herabgedrückt zu sein. Für den Rest ist sie von der Scheitelhöhe bis zum Horizont jeweils geneigt und nimmt dabei für jeden beliebigen Ort für immer eine konstante127 Höhe ein.
Sie haben selbst128 ihre eigenen Pole, nicht129 jedoch bei jenen Fixsternen, die für uns die Weltenpole sind, sondern130 bei anderen, die für uns die Anzeichen der Ekliptik der Pole sind. Diese Pole beschreiben im Zeitraum von 19 Mondjahren unter dem Sternbild des Drachen, des gegenüberliegenden Schwertfisches, des Fliegenden Fisches und der Meereswolke kleine Kreise um die Pole der Ekliptik; diese Pole sind ungefähr einen Viertelkreis131 von denen der Volva entfernt, so dass man einen Ort sowohl anhand der Pole als auch anhand der Volva bestimmen kann. Daher ist es ganz klar, wie sehr die Mondbewohner selbst uns an Bequemlichkeit überlegen sind. Die Länge der Orte bestimmen sie durch ihre unbewegliche Volva132, die Breite133 sowohl durch ihre Volva als auch durch die Pole. Wir hingegen haben für die Bestimmung der Längen134 nichts als jenen so sehr verachteten und kaum unterscheidbaren Ausschlag der Magnetnadel.
Für die Bewohner steht also ihre Volva fest135, als wäre sie mit einem Nagel an den Himmel geheftet, unbeweglich, was den Ort angeht, und über sie gehen die übrigen Sterne, sogar die Sonne selbst, vom Aufgang bis zum Untergang hin. Und keine136 Nacht gibt es, in der nicht irgendwelche Fixsterne des Tierkreises sich hinter diese Volva zurückziehen und dann auf der anderen Seite wieder auftauchen. Doch137 nicht in allen Nächten tun das dieselben Fixsterne, sondern sie wechseln sich untereinander ab, alle diejenigen, die von der Ekliptik sechs138 oder sieben Grad entfernt sind; es vollzieht139 sich im Verlauf von 19 Jahren nämlich eine Periode, danach beginnt der Kreislauf von vorn.
Ihre Volva nimmt zu und ab genau140 wie unser Mond. Der Grund ist bei beiden derselbe, nämlich die Anwesenheit der Sonne oder die Entfernung von ihr. Auch die Zeit ist dieselbe, wenn man das Wesen der Sache betrachtet. Doch zählen jene anders als wir. Jene rechnen als einen Tag und eine Nacht die Zeit, in der sich alle Zunahmen und Abnahmen der Volva vollziehen; den Zeitraum nennen wir einen Monat. Fast niemals141 freilich, nicht einmal bei Neu-Volva, ist die Volva bei den Subvolven unsichtbar, wegen ihrer Größe und Helligkeit. Das gilt besonders142 für die Polbewohner, die zeitweilig zwar die Sonne nicht sehen, für die aber die Volva gerade im Intervolvium zur Mittagszeit die Hörner aufwärts wendet. Denn143 im Allgemeinen ist für diejenigen, die zwischen der Volva-Breite und den Polen sowie unter dem medivolvanischen Kreis wohnen, das Neu-Volvium das Zeichen des Mittags, das erste Viertel das des Abends; das Voll-Volvium teilt die Nacht in gleiche Teile, und das letzte Viertel führt die Sonne zurück. Für diejenigen144 aber, welche die Pole und die Volva am Horizont sehen, und die unter dem Schnittpunkt des Äquators mit dem Divisor wohnen, bringen das Neu-Volvium und Voll-Volvium Morgen und Abend, die Viertel die Teilung des Tages und der Nacht. Hieraus kann man sich auch ein Bild über die dazwischen Wohnenden machen.
Und am Tag unterscheiden sie die Stunden auf folgende Weise, nämlich jeweils nach den Phasen ihrer Volva: Je näher Sonne und Volva zueinander stehen, umso näher rückt den einen der Mittag, den anderen der Abend oder Sonnenuntergang. Für die Nacht aber, die regelmäßig 14 unserer Tage und Nächte dauert, haben sie viel mehr Hinweise zur Zeitmessung, als wir. Denn außer jener Abfolge der Phasen der Volva, von denen das Voll-Volvium — wie gesagt — die Mitternacht anzeigt für ihr Medivolvanum, zeigt auch ihre Volva ihnen durch sich selbst die Stunden an. Obwohl145 man sie sich nämlich überhaupt nicht vom Ort bewegen sieht, vollführt sie an146 ihrem Platz eine Kreisbewegung um sich selbst, im Gegensatz zu unserem Mond, und zeigt nacheinander eine bewundernswerte147 Fülle verschiedener Flecken, die sich beständig von Osten148 nach Westen verschieben. Eine149 solche Umdrehung also betrachten die Subvolven, wenn dieselben Flecken wiederkehren, als eine Zeitstunde. Dem entspricht150 aber etwas mehr als ein Tag und eine Nacht bei uns: Und das ist151 die einzige vergleichbare Zeitmessung. Denn die Sonne und die Sterne durchlaufen, wie oben gesagt152, ihre Bahn für die Mondbewohner täglich in verschiedener Zeit: Weil gerade am meisten diese Umkreisung der Volva die Entfernungen der Fixsterne vom Mond im Vergleich zu ihr bewirkt. Im Allgemeinen153 scheint diese Volva, was den oberen nördlichen Teil angeht, zwei Hälften zu haben, eine154 dunklere und mit zusammenhängenden Flecken bedeckte und eine155 leicht hellere. Als Trennung liegt zwischen156 beiden ein heller Gürtel zum Norden hin. Die Gestalt ist schwer zu erklären. Doch erkennt man im östlichen157 Teil etwas wie das Profil158 eines Menschen, in Höhe der Achseln abgeschnitten, der sich ein Mädchen159 zum Küssen heranzieht, das in ein langes Gewand160 gehüllt ist und mit nach hinten ausgestreckter161 Hand eine heranspringende Katze162 reizt. Doch der größere163 und breitere Teil des Fleckens springt ohne bestimmbare Form nach Westen164 vor.
Die andere Hälfte der Volva165 besteht aus mehr hellerer Fläche und einem Fleck166. Man könnte diesen das Bild einer Glocke167 nennen, die an einem Seil168 hängt und nach Westen169 geschwungen170 ist. Was171 darüber und darunter172 ist, kann man nicht identifizieren.
Und nicht genug damit, dass die Volva ihnen auf diese Weise die Stunden des Tages unterscheidet. Vielmehr gibt sie auch auf die Jahreszeiten klare Hinweise, wenn man darauf achtet oder wenn einem die Lehre von den Fixsternen unbekannt ist. Steht die Sonne im Krebs, zeigt die Volva auch173 deutlich den Nordpol ihrer Rotation. Da ist nämlich ein kleiner174 und runder Fleck, über dem Bild des Mädchens, mitten175 in den hellen Bezirk eingepflanzt. Der176 wandert vom höchsten, äußersten Teil der Volva nach Osten, steigt von hier in die Scheibe ab, wendet sich nach dem äußersten Westen177, von wo er wieder zur Höhe der Volva in Richtung Osten zurückkehrt; und so178 ist er während der ganzen Zeit ununterbrochen sichtbar. Wenn aber die Sonne im Steinbock steht, ist dieser Fleck nirgends zu sehen: Sein ganzer Umlauf ist zusammen mit seinem Pol hinter dem Körper der Volva versteckt. Und179 in diesen beiden Teilen des Jahres streben die Flecken geradewegs nach Westen. In den Zwischenzeiten, wenn die Sonne im Widder resp. in der Waage steht, steigen die Flecken in leicht gebogener Linie entweder querhin ab, oder sie steigen auf. Hieraus erkennen wir auch, dass die Pole180 dieser Rotation, während der Mittelpunkt des Volva-Körpers an seinem Ort bleibt, im Jahr einmal im Polarkreis um ihren Pol kreisen.
Wer genauer beobachtet, bemerkt auch, dass die Volva nicht immer dieselbe Größe behält. In den Stunden181 des Tages nämlich, in denen die Sterne sich schnell bewegen, sieht er, dass der Durchmesser der Volva viel größer ist, so dass er dann insgesamt das Vierfache unseres Mondes übersteigt.
Was soll ich aber nun über die Finsternisse der Sonne und der Volva sagen, die in Levania sich ereignen, und zwar im selben Augenblick wie hier auf der Erdkugel die Finsternisse der Sonne und des Mondes, allerdings aus ganz entgegengesetzten Gründen? Denn wenn182 sich uns die Sonne ganz verfinstert, verfinstert sich ihnen die Volva. Wenn umgekehrt uns sich unser Mond verfinstert, verfinstert sich bei ihnen die Sonne. Dennoch aber passt nicht alles genau zusammen. Oft nämlich sehen die Mondbewohner eine Teilfinsternis183 der Sonne, wenn wir den Mond ganz sehen. Und umgekehrt: Sie sind nicht selten von einer Erdverfinsterung gar nicht184 betroffen, während wir eine Teil-Verfinsterung der Sonne erleben. Volvafinsternisse185 gibt es bei ihnen während der Voll-Volvien, wie bei uns Mondfinsternisse bei Vollmond, Sonnenfinsternisse aber sehen sie bei Neu-Volvien, wie wir hier bei Neumond.
Da ihre Tage und Nächte so lang sind, haben sie sehr häufig Finsternisse beider Gestirne. Anstatt dass wie bei uns ein großer Teil der Finsternisse zu den Antipoden hinüberwandert, sehen ihre Antipoden, da sie ja Privolven sind, überhaupt nichts von diesen Erscheinungen, die Subvolven hingegen erleben allein alles.
Eine totale Erdfinsternis186 sehen sie nie. Vielmehr gleitet über den Körper der Volva ein kleiner187 runder Fleck, rot188 am Rand, schwarz in der Mitte189, der im Osten190 der Volva auftritt und am Westrand wieder verschwindet; er nimmt zwar denselben191 Weg wie die ursprünglichen Flecken, übertrifft sie aber an Schnelligkeit. Das dauert ein Sechstel ihrer Stunde, oder vier192 unserer Stunden.
Die Ursache der Sonnenfinsternisse ist für sie ihre Volva, genau wie für uns unser Mond. Da diese Volva einen viermal größeren Durchmesser hat als die Sonne, muss die Sonne, die sich vom Osten durch den Süden hinter der unbeweglichen Volva zum Westen bewegt, sehr häufig hinter der Volva verschwinden. Und so wird ein Teil der Sonne oder ihr ganzer Körper verdeckt. Es ist aber die völlige Verschattung der Sonne, obzwar häufig, so doch sehr bemerkenswert, weil193 sie einige unserer Stunden dauert und das Licht beider, der Sonne und der Volva, zugleich verlöscht. Das ist bei den Subvolven ein großes Ereignis, weil ihre Nächte sonst nicht viel dunkler als die Tage sind wegen des Glanzes und der Größe der allzeit gegenwärtigen Volva, während bei Sonnenfinsternis für sie beide Lichtquellen, Sonne und Volva, ausgelöscht sind.
Dennoch zeigt sich194 während der Sonnenfinsternisse bei ihnen dieses einzigartige Phänomen, das sehr häufig auftritt, dass, wenn die Sonne kaum hinter dem Körper der Volva verschwunden ist, auf der entgegengesetzten Seite ein Glanz entsteht, als ob die Sonne gedehnt wäre und den ganzen Körper der Volva umfasste, während doch sonst die Sonne um vieles kleiner erscheint als die Volva. Daher ist die Finsternis nicht immer vollständig, sondern nur, wenn195 auch die Mittelpunkte der Körper fast auf einer Linie liegen und ein durchscheinendes Medium196 es erlaubt. Aber197 auch die Volva verlöscht nicht plötzlich so, dass sie unsichtbar würde, obwohl die Sonne gänzlich hinter ihr verschwunden ist, sondern nur198 im mittleren Abschnitt der größten Dunkelheit. Am Anfang einer totalen Finsternis dämmert für einige Punkte des Divisors die Volva noch, wie wenn nach Verlöschen einer Flamme noch lebendige Glut übrig bleibt. Wenn dieser Dämmerschein auch erloschen ist, erreicht die größte Finsternis die Mitte ihrer Dauer (denn nur bei größter199 Finsternis erlischt dieser Dämmerschein). Wenn aber der Dämmerschein der Volva zurückkehrt (am entgegengesetzten Teil des Divisors), naht auch der Anblick der Sonne heran. So verlöschen gewissermaßen beide Lichtquellen gleichzeitig in der Mitte der größten Finsternis.
Und das ist genug über die Erscheinungen in beiden Hemisphären von Levania, sowohl der subvolvenen wie der privolvenen. Daraus ist es nicht schwer zu beurteilen — auch wenn ich nichts darüber sage —, wie sehr sich die Subvolven von den Privolven in den übrigen Gegebenheiten unterscheiden.
Denn obwohl die Nacht der Subvolven 14 unserer Nachttage [νυχθήμερα] dauert, erhellt die Gegenwart der Volva dennoch die Landflächen und schützt sie vor Kälte. Eine so große200 Masse nämlich und so große Leuchtkraft muss notwendig Wärme erzeugen.
Umgekehrt: Zwar bringt der Tag bei den Subvolven die lästige Gegenwart der Sonne für 15 oder 16 unserer Nächte und Tage mit sich, doch201 ist die Sonne kleiner und besitzt nicht so feindliche Kräfte, und die vereinigten Lichtquellen202 ziehen auf diese Hemisphäre alles Wasser, das die Landstriche überflutet203, so dass kaum etwas von ihnen übrig ist; hingegen trocknet204 und kühlt die privolvene Hemisphäre aus, da ihr alles Wasser entzogen ist. In der folgenden Nacht205 bei den Subvolven, dem Tag bei den Privolven, teilt sich, da die Hemisphären untereinander die Lichtquellen aufgeteilt haben, auch das Wasser. Bei den Subvolven wird das Land wieder frei, den Privolven aber wird Feuchtigkeit zuteil als kleiner Trost gegen die Hitze.
Da206 der Umfang der ganzen Levania nicht mehr als 1400 deutsche Meilen beträgt — das ist gerade nur der vierte Teil unserer Erde —, hat sie dennoch sehr hohe Berge207 sowie sehr tiefe und weite Täler208; daher steht sie an Vollkommenheit der Rundung weit hinter unserer Erde zurück. Sie ist mittlerweile ganz porös209 und von Löchern und Höhlen gleichsam durchbohrt, am meisten210 auf der privolvenen Seite. Das211 gibt den Bewohnern hauptsächlich Schutz gegen Hitze und Kälte.
Alles, was212 auf der Erde wächst oder über den Boden einherschreitet, ist von riesenhafter Größe. Das Wachstum213 geschieht sehr schnell; alles ist kurzlebig, weil es zu so ungeheurer Körpergröße heranwachsen muss.
Die Privolven haben keinen214 sicheren Unterschlupf, keinen festen Wohnsitz. Die ganze Kugel durchstreifen sie in Gruppen an einem einzigen ihrer Tage, so wie es die Natur eines jeden erlaubt: Teils zu Fuß, mit Beinen, die bei Weitem länger sind als die unserer Kamele, teils mit Flügeln, teils mit Schiffen folgen sie den zurückweichenden Wassern; oder wenn ein Aufenthalt von mehreren Tagen nötig ist, dann kriechen sie durch die Höhlen. Die meisten sind Taucher. Alle ziehen, wenn sie natürlich atmen, die Luft sehr langsam ein. Unter Wasser können sie sich also in der Tiefe aufhalten, indem sie der Natur durch Kunst zur Hilfe kommen. Sie sagen215 nämlich, in jenen Wassertiefen erhalte sich die Kühle, während die oberen Wellen von der Sonne erhitzt würden. Alles, was an der Oberfläche216 hängen bleibt, wird von der Sonne am Mittag gesotten und dient den ankommenden Wandersiedlern als Nahrung. Denn im Allgemeinen ist die subvolvene Hemisphäre unseren Dörfern, Städten und Gärten vergleichbar, die privolvene unseren Äckern, Wäldern und Wüsten.
Diejenigen217, die ein stärkeres Bedürfnis nach Atem haben, leiten heißes Wasser durch einen engen Kanal in die Höhlen, damit es, durch den langen Weg in den innersten Teil geführt, sich allmählich abkühlt. Dort halten sie sich den größten Teil des Tages auf und genießen jenes Wasser als Trank. Wenn es Abend wird, kommen sie hervor, um sich draußen Nahrung zu verschaffen.
Bei den Pflanzen218 hüllt eine Rinde, bei den Tieren ein Fell oder etwas Ähnliches den größeren Teil der Körpermasse ein. Es ist schwammig und porös. Und wenn etwas während des Tages angefasst worden ist, verhärtet es sich an der Oberfläche und wird versengt. Wenn der Abend kommt, fällt es ab.
Was die Erde hervorbringt — auf den Bergjochen ist das natürlich wenig —, entsteht und vergeht meistens innerhalb eines Tages; und täglich wächst Neues nach.
Die Tiergattung219 der Schlangen herrscht ganz allgemein vor. Es gleicht einem Wunder, dass sie sich am Mittag der Sonne aussetzen, als wenn ihnen das Lust verschaffte, jedoch nirgendwo anders als in der Nähe der Höhlenöffnungen, damit sie sich den sicheren und raschen Rückzug offenhalten.
Einigen220 vergeht während der Tageshitze der Atem, und das Leben erlischt. Während der Nacht erholen sie sich wieder, auf umgekehrte Weise wie bei uns die Fliegen.
Überall221 auf dem Boden verstreut liegen Gegenstände, die wie Pinienzapfen geformt sind. Tagsüber ist ihre Rinde angesengt, abends öffnen sie sich und geben, wie aus einem Versteck, Lebewesen von sich.
Die hauptsächliche222 Linderung der Hitze besteht auf der subvolvenen Hemisphäre aus beständigen Wolken und Regenfällen, die223 manchmal die Hälfte der Fläche oder mehr beherrschen.
Als ich in meinem Traum bis hierhin gekommen war, riss mich ein Sturm mit prasselndem Regen aus dem Schlaf, und zugleich verlor sich das Ende des in Frankfurt beschafften Buches. Und so verließ ich den erzählenden Dämon und die Zuhörer, den Sohn Duracotus mit seiner Mutter Fiolxhilde, deren Häupter verhüllt waren, kehrte zu mir selbst zurück und fand tatsächlich meinen Kopf auf dem Kissen und meinen Körper in Decken gehüllt.
1) Der Klang selbst des Wortes kommt mir in den Sinn aus der Erinnerung an ähnlich klingende Eigennamen aus der Geschichte Schottlands, von wo aus man auf den isländischen Ozean blickt.
2) In unserer deutschen Sprache bedeutet das »Eisland«. Auf dieser weit entfernten Insel nun suchte ich einen Platz für mich zum Schlafen und Träumen aus, um die Philosophen in dieser Art von Literatur nachzuahmen. Denn auch Cicero setzte nach Afrika über, um zu träumen, und Platon hat Atlantis in ebendem westlichen Ozean geplant, von wo er märchenhafte Hilfsmittel für soldatische Tapferkeit beschaffen wollte. Und Plutarch schließlich greift in seinem Dialog über das Gesicht im Mond nach langer Rede aus in den amerikanischen Ozean und beschreibt uns die Lage der Inseln so, dass sie ein moderner Geograph wahrscheinlich den Azoren, Grönland und Labrador nahe Island zuordnen würde. Sooft ich freilich dieses Buch des Plutarch wiederlese, wundere ich mich jedes Mal wieder sehr, wie es kommen mag, dass unsere Träume und Geschichten so genau übereinstimmen. Denn ich erinnere mich ganz genau daran, wie mir die einzelnen Teile meiner Abhandlung eingefallen sind, und dass sie nicht alle aus der Lektüre dieses Buches stammen. Ich besitze noch ein recht altes Papier, das von deiner Hand, hochberühmter D. Christoph Besold, beschrieben ist. Als du die rund zwanzig Thesen über die Himmelserscheinungen aus meinen Abhandlungen im Jahr 1593 aufgegriffen und sie dem D. Veit Müller, damals ordentlicher Präsident der philosophischen Disputationen, vorgelegt hattest, um darüber, wenn er einverstanden sei, einen Vortrag zu halten, da hatte ich Plutarchs Werke noch gar nicht gesehen. Danach stieß ich auf Lukians zwei Bücher »Ἀληθεῖς ‘Iστορίαι« (Wahre Geschichten); sie sind auf Griechisch geschrieben, und ich habe sie mir ausgewählt, um Griechisch zu lernen, unterstützt durch den Reiz der tolldreisten Geschichten, die jedoch etwas von der Natur des ganzen Universums aufblitzen ließen. So jedenfalls stellt es Lukian selbst in der Einleitung dar. Und auch er segelt über die Säulen des Herakles hinaus in den Ozean, wird von den Wirbelwinden zusammen mit seinem Schiff emporgerissen und landet schließlich auf dem Mond. Das waren für mich die ersten Anregungen zu einer Reise zum Mond, die ich dann später anstrebte. In Graz bekam ich Plutarchs Buch zuerst im Jahre 1595 in die Hand, nachdem ich in dem Kommentar von Erasmus Reinhold zu den Theorien des Purbach davon gelesen hatte. Ich habe dann daraus in Prag im Jahre 1604 viel in den optischen Teil der Astronomie übernommen. Doch habe ich meine Erzählung nicht deswegen auf die Inseln im isländischen Meer verlegt, die Plutarch schon nennt, weil ich Island als Ausgangspunkt meines Traums wählte; vielmehr ist einer der Gründe, dass zu der Zeit in Prag Lukians Buch über die Reise zum Mond erschien, ins Deutsche übersetzt von Rollenhagen Sohn, zusammen mit den Erzählungen des S. Brendan über den Läuterungsort des S. Patrick in den unterirdischen Höhlen des isländischen Vulkans Hekla. Da auch Plutarch im Sinne der Lehrmeinung der heidnischen Theologie einen Reinigungsort der Seelen auf den Mond vermutete, schien es mir richtig, am besten von Island aufzubrechen, wenn ich zum Mond reisen wollte. Eine noch stärkere Empfehlung für diese Insel ergab sich aus der Erzählung des Tycho Brahe; darüber später. Stark beeinflusst hat mich auch die Erinnerung an die Lektüre der Geschichte von der Überwinterung der Holländer auf Nova Zembla im Eismeer. Darin finden sich sehr viele astronomische Beobachtungen, die ich in den optischen Teil meiner Astronomie im Jahre 1604 übernommen habe.
3) In meiner Wohnung, die mir Martin Bacháček, Rektor der Academia Carolina, überlassen hatte, hing an der Wand eine sehr alte geographische Karte Europas, auf der Island mit dem Wort Fiolx bezeichnet war. Was auch immer es bedeutete — es gefiel mir durch seinen rauen Klang, und ich fügte ihm den Zusatz Hildis an, in der alten Sprache vielfach als Teil von Frauennamen gebräuchlich, z.B. Brunhilde, Mathilde, Hildegard, Hiltrud u.ä.
4) Weil es wahrscheinlicher ist bei diesem Sohn, dem Verbreiter der Künste der Mutter, als wenn er noch zu ihren Lebzeiten zu schreiben vorgäbe. Aber ich wollte auch andeuten, dass der Nachkomme Wissenschaft sein kann, auch wenn die Mutter ungelehrte Erfahrung ist oder — in der Sprache der Ärzte — empirische Ausübung; und dass es für jenen nicht sicher ist, solange Mutter Unwissenheit unter den Menschen lebt, die verborgensten Gründe der Dinge öffentlich zu verkünden. Vielmehr muss man das ehrwürdige Alter schonen, die Reife der Jahre abwarten, in der die Unwissenheit, durch das Greisenalter gleichsam erschöpft, endlich stirbt. Da es also Ziel meines Traums ist, am Beispiel des Mondes einen Beweis zu führen für die Bewegung der Erde, oder eher: die Einwände zu entkräften, die aus dem allgemeinen Widerspruch des Menschengeschlechts gewonnen sind, glaubte ich schon damals, diese alte Unwissenheit sei überwunden und aus dem Gedächtnis der geistig wachen Menschen bis auf die Wurzel ausgetilgt. Allerdings kämpft die gute Seele auch jetzt noch mit der Fesselung durch so viele Glieder, die in so vielen Jahrhunderten fest mit ihr verwachsen sind. Und die betagte Mutter überlebt in den Akademien. Aber sie lebt so, dass ihr der Tod glücklicher vorkommen muss als das Leben.
5) [fehlt im Original]