Der Tropfen weiß nichts vom Meer - Mahbuba Maqsoodi - E-Book

Der Tropfen weiß nichts vom Meer E-Book

Mahbuba Maqsoodi

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Beschreibung

Eine inspirierende Lebensgeschichte von poetischer Kraft und Schönheit ....

In Afghanistan eine Tochter zu bekommen verheißt Unheil, eine Finsternis für die Familie, denn Mädchen bedeuten Kummer und Sorgen. Mahbubas Vater hatte sieben Töchter und hieß doch jede freudig willkommen. Das Schicksal tausender afghanischer Mädchen blieb Mahbuba deshalb erspart: Ihre Eltern haben sie nicht verkauft, und ihren Mann konnte sie selber wählen – doch in der traditionellen Gesellschaft sind selbstbewusste Frauen nicht gern gesehen. Als ihre Schwester von einem islamistischen Terroristen erschossen wird, kommt alles ins Wanken, und Mahbuba verlässt ihr Land. Dass ihre Lebensreise sie zunächst für Jahre nach Russland und schließlich nach Deutschland verschlägt, wo man ihr politisches Asyl gewährt und sie eine neue Heimat findet, hätte sie sich nie erträumt. Ein ungewöhnliches Memoir in literarischem Ton – poetisch, ergreifend und kraftvoll: für die Rechte der Frau.

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Seitenzahl: 412

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MAHBUBA MAQSOODI

HANNA DIEDERICHS

Der Tropfen weiß nichtsvom Meer

Eine Geschichte von Liebe, Kraft und Freiheit

Mein afghanisches Herz

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Die Erinnerungen von Mahbuba Maqsoodi bilden die Grundlage für die in diesem Buch enthaltenen Dialoge. Die Gespräche werden sinngemäß wiedergegeben. Ein Anspruch auf eine wörtliche Übereinstimmung mit den tatsächlich erfolgten Dialogen wird nicht erhoben.

Copyright © 2017 by Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Umschlagfoto: Mathias Haslauer, HamburgSatz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN: 978-3-641-21684-9V002

www.heyne.de

Der Tropfen weiß nichts von der Welle,die Welle weiß nichts vom Meer.

Maulana Rumi

INHALT

Vorwort

Afghanistan

Die Erde soll sich auftun und mich verschlingen

Leicht und rosafarben

Wird zerrissen

Das Wettspiel

Rock voller Blumen

Ein Getreidespeicher im Wohnzimmer

Ein scheinbarer Aufstieg

Die Note Null

Der Schuh des Cousins

Warum bin ich geboren?

Die Mutter von Ta’us

Die Hände hinter dem Rücken

Das ewige Tabu

Schmeiß es in den Fluss

Der lebende Kredit

Gekettet

Gerechtigkeit

Brüchige Fundamente

Die Welle

Ein Blumenstrauß für Papa

Das Gefäß

Eine märchenhafte Welt

Wer entscheidet?

Warte nicht auf das Licht

Revolution?

Ein Frauenprojekt – gottlos?

Ich tanze nicht nach der Flöte der anderen

Die Kugel

Ein Lächeln, verziert von einem Tropfen Blut

Ich könnte ihm verzeihen

Russland

Türen öffnen sich wie von Geisterhand

Der Unterricht muss warten

Schole morg

Omid, das heißt Hoffnung

Das Taschkent-Jahr geht zu Ende

Grau

Keramik oder Glas?

Persische Kinderlieder

Vor der Staffelei

Hauptfach und Nebenfach

Eine segensreiche Unordnung

Sich belügen

Die Treppe

Ein Engel auf einer Säulenspitze

Die Erdbeerschlange

Lenin pflanzte keine Blumen

Privileg

Hat das eine Frau geschrieben?

Haben Sie vergessen?

Bin ich zu einer Russin geworden?

Eine Schale Wasser

Zwischen Erde und Himmel

Deutschland

Tränenflut

Eine spuckende Wand

Amtsdeutsch

Grüß Gott

So viele Kinder

Eine Empfehlung

Können Sie so etwas?

Geduld

Weiße Bergspitzen

Fluchtschatten

Die oder das Beste?

Mariä Himmelfahrt

Die neu erwachte Flamme

Der Traum einer Mutter

Warum machen Sie das?

Das Ungeheuer

Gift als Hoffnung

Ich warte nicht auf die Kirschen

Die persische Schachblume

Der Weg

Rettung

Wassertöne

Dreißig Tage

Am Ende der Welt

Der Baum

Nachwort

Dank

VORWORT

Die Welt, aus der ich komme, ist so beschaffen: Wenn eine Frau schwanger ist, sind alle, die zur Familie gehören, mit dem Gedanken beschäftigt, was für ein Geschlecht sich in der Gebärmutter bewegt. Diese Beschäftigung kann sehr unterschiedlich sein, weil ihre Wurzeln von der Realität der Zeit und des Ortes gewässert werden, und natürlich auch von den gesellschaftlichen, kulturellen und ökonomischen Bedingungen.

In Afghanistan ist wie überall auf der Welt eine Geburt ein besonderes Ereignis, und vor allem die Mutter ist ängstlich und angespannt. Öffnet ein Junge die Augen zur Welt, bekommt die Familie vor Freude Flügel. Wenn ein Mädchen aus dem Dunkel der Gebärmutter an das Licht kommt, ist das ein unangenehmes Erlebnis, eine unschöne Nachricht für alle. Es ist ein Unglück, das die Harmonie der Familie zerstören, im schlimmsten Fall die Mutter sogar das Leben kosten kann.

In der Welt, in der ich geboren bin, gibt es ein Sprichwort: Das Mädchen gehört dem Fremden. Das heißt, sie ist ein Gegenstand, über den andere verfügen. Sie ist eine Sache wie ein Haus, ein Garten, ein Pferd, ein Kamel. Sie kann gekauft und verkauft werden. Ihre Eigentümer sind ihr Vater, ihre Brüder, später ihr Mann. Und so lernt sie schon von Kindheit an: Sie gehört nicht sich, sondern anderen.

Und weil sie als Gegenstand betrachtet wird, ist sie für diese anderen ein Kopfschmerz. Man muss überlegen – wann verkauft man sie, an wen verkauft man sie, wie viel kostet sie, was muss man vom Kaufpreis als Mitgift abgeben, wie viel behalten die Eltern für sich. Mit all diesen Überlegungen hat sie selbst nichts zu tun.

Diese Situation kann sich verändern, wenn sie Mutter wird. Und nähert sie sich dann langsam einem Alter, in dem sie buchstäblich alt ist, bekommen ihre Gedanken und Taten ein bisschen Gewicht.

In so einer Gesellschaft ist es ungut, wenn eine Familie eine Tochter hat. Wenn sie zwei Töchter hat, ist der Alltag in Finsternis. Sind es aber drei oder vier, dann überschreitet das Maß an Unruhe und Finsternis in der Familie die Grenze des Erträglichen.

Ich bin in eine Familie hineingeboren worden, die sieben Töchter hatte. Im Kreis dieser Familie, und das heißt im Kreis des Lebens, gab es keinen Mann außer dem Vater. Zwei Söhne, die meine Mutter auf die Welt gebracht hatte, wurden krank und verließen nach etwa einem Jahr das Leben. Die Töchter dagegen haben alle Krankheiten überstanden.

Ich war die vierte dieser Töchter. Nach mir haben drei Schwestern im Abstand von jeweils ungefähr drei Jahren ihre Augen in die Welt geöffnet. Ich hatte also drei ältere und drei jüngere Schwestern. Warum sage ich »hatte«? Weil die zweite Tochter, die Schwester, die meine allernächste Vertraute war und mir so nahestand, in ihren besten Jahren vernichtet wurde. Finsternis und Unwissenheit konnten ihre strahlenden Gedanken nicht erkennen – sie wurde 1979 in einem Akt des Terrors ermordet. Es war die Zeit, in der Afghanistan sich langsam, Schritt für Schritt, auf die schweren Schatten zubewegte, die bis heute auf ihm lasten, ohne dass wir, jedenfalls die meisten von uns, das Ausmaß der drohenden Katastrophe hätten erkennen können.

Ich werde ihre Geschichte später erzählen, weil ich zunächst bei den Gedanken über meine Familie bleiben möchte. Diese Familie war stabil, der Umgang liebevoll und sensibel. Sie war vor allem durch meinen Vater geprägt, diesen klugen Mann, der die Ankunft jeder Tochter mit weit offenem Herzen willkommen hieß. Niemals hat er etwas gezeigt, das auf Unzufriedenheit hingedeutet hätte – nicht in den Linien seines Gesichtes, nicht im Bogen seiner Stimme.

Ich war in der sechsten Klasse, als meine Mutter zum letzten Mal schwanger wurde. Wir Schwestern waren voller Hoffnung und hatten uns ganz auf das Ereignis eingerichtet, einen Bruder zu bekommen. Alle hatten Brüder. Wir nicht. Bruder – das bedeutete Mann, das bedeutete Kraft, Macht, Herrschaft und Schutz, und all dies schmückte eine Familie. Unser Wunsch war also sehr begründet.

Dass ein Bruder unseren Weg in Zukunft auch bestimmen und beherrschen könnte – dieser Gedanke ist mir nie gekommen, weil mein Vater, der Schlüssel zu unserer Erziehung, nie einen Zweifel daran aufkommen ließ, dass alle Mitglieder der Familie dieselben Rechte haben und gleich behandelt werden müssen.

In den letzten Tagen der Schwangerschaft meiner Mutter zählte ich die Stunden mit hoffnungsvollem Herzen. Als ich eines Nachmittags von der Schule kam, sah ich meinen Vater auf der Lehmbank sitzen, die zu dem Laden neben unserem Haus gehörte. Ich konnte spüren, dass etwas geschehen war. Er wusste genau, dass meine Erwartung von Freude beherrscht war, dass sich darin aber auch die Angst vor Enttäuschung versteckte. »Hat Gott uns einen Bruder geschenkt?«, fragte ich ihn. Er lachte leise: »Nein, eine Schwester. Aber wichtig ist, dass deine Mutter und deine Schwester gesund sind. Geh nach Hause, umarme sie und gratuliere.«

Es war, als würde ein Eimer kaltes Wasser auf mich geschüttet, wie es in einem persischen Sprichwort heißt. Aber diese Worte meines Vaters waren sehr wertvoll. Sie haben mir Wärme zurückgegeben und mir geholfen, in Ruhe die Enttäuschung zu verdauen.

Warum erzähle ich diese Geschichte? Man hat in aller Regel ein festes Bild über Afghanistan und afghanische Frauen. Dieses Bild zeigt ihre Hilflosigkeit, ihr Unglück, es zeigt Zerstörung, Unterdrückung und Unrecht. Alles, was man darüber lesen oder durch andere Medien erfahren kann, weist darauf hin, dass sie ein Schicksal voller Schmerzen haben. Und das entspricht der Realität. In der jüngeren Vergangenheit wurden afghanische Frauen und ihre nicht existenten Rechte zudem als Grund und Auslöser für schwerwiegende politische Machtspiele in der Region benutzt und entsprechend instrumentalisiert.

Als Mädchen und auch als junge Frau habe ich über diese Problematik nicht weiter nachgedacht, weil ich meine persönliche Lage als selbstverständlich vorausgesetzt habe. Doch die politischen Entwicklungen in den 1990er-Jahren, die Herrschaft der Mudschaheddin und später der Taliban, die auf das Leben so vieler Menschen, vor allem aber auf das der Frauen, unsägliche Auswirkungen hatten, haben mein Bewusstsein geschärft. Ich begann mir die Frage zu stellen, warum die Geschehnisse in meinem Heimatland, in dem ich damals schon nicht mehr lebte, mir so fremd waren. Und so habe ich versucht, meine Kenntnis über die afghanische Gesellschaft zu vertiefen, herauszufinden, wo sich die schmerzhaften Wurzeln dieser so offensichtlichen Ungleichheit von Mann und Frau verstecken.

Je mehr ich in Erfahrung brachte, desto klarer wurde mir, dass ich zu einer glücklichen Minderheit gehörte. Und ich erkannte, dass dieser Reichtum ein Erbteil ist, das ich meinem Vater verdanke. Er war Muslim, und er lebte in einer traditionellen Gesellschaft, einer Gesellschaft, deren Charakter von den fünf Säulen des Islam geprägt war – dem öffentlichen Glaubensbekenntnis, dem täglichen rituellen Gebet, der Almosenspende, dem Fasten während des Ramadan, der Pilgerfahrt nach Mekka. Aber er hat seinen Glauben nicht blind befolgt. Er hat die Regeln seines Glaubens als Mensch betrachtet und sie als Mensch umgesetzt.

Wenn ein Mann keine Söhne hat, sondern nur Töchter, wird sein Name nicht weitergegeben und gerät dadurch schneller in Vergessenheit. Und wie seinem Namen ergeht es dann auch seinen Taten. Die Rolle, die mein Vater in meinem Leben und auch im Leben seiner anderen Töchter spielte, war von großer Bedeutung, und der Reichtum, den er uns durch seine Liebe, seine Aufgeschlossenheit und sein durch und durch gerechtes Wesen schenkte, war unermesslich. Ich bin ihm zutiefst dankbar, und ich möchte versuchen, in diesem Buch, in dem ich meine und ein bisschen auch seine Geschichte erzähle, diese Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen.

Ich bin Malerin, deshalb denke ich in Bildern. Und so möchte ich meine Erinnerungen nicht als streng chronologische Erzählung wiedergeben, sondern in der Form von einzelnen Bildern, Zeichnungen oder sogar Miniaturen.

Und da ich Afghanin bin, ist Persisch, genauer gesagt Farsi oder Dari, die Sprache, in der ich denke, schreibe und auch träume – immer noch, obwohl ich nun schon seit mehr als zwanzig Jahren in Deutschland lebe. Spuren meiner Herkunft, meiner orientalischen Prägung, finden sich immer wieder auch in der Sprache und im Ton meiner Erzählungen. Könnte das anregend sein, oder wirkt es nur befremdlich? Diese Spuren ließen sich auch verwischen, glätten. Aber sollte ich das wollen?

Um meinen erzählten Bildern auch einen Rahmen zu geben, habe ich den Titel und das letzte Wort jeder Geschichte in meiner Sprache niedergeschrieben und mich dabei an der Kufi-Schrift orientiert.

Das politische Afghanistan – wie kommt es in meinen Erzählungen zur Sprache? Ob national betrachtet oder in weltpolitischen Zusammenhängen gesehen, der Konflikt war und ist heillos abgrundtief, kaum durchschaubar und allem Anschein nach zurzeit durch nichts und niemanden zu lösen. Ich beschränke mich deshalb in meinen Erinnerungen auf mein subjektives Erleben von Politik und die Erfahrungen, die meine Familie machte. Sosehr ich mir eine positive politische Entwicklung meines Heimatlandes auch wünsche, so schwer fällt es mir, daran zu glauben.

Aber ich kann hoffen.

Afghanistan

DIE ERDE SOLL SICH AUFTUN UND MICH VERSCHLINGEN

In Afghanistan wie auch in mehreren anderen Ländern, denen der Islam als Glaube geschenkt wurde, ist es üblich, dass die Kinder in eine Vorschule gehen, wo sie lernen, den Koran auf Arabisch zu lesen. Das kann in einer Moschee geschehen oder im Haus einer Frau, die diese Aufgabe übernimmt. Man nennt sie Atun.

Auch in unserem nahe bei Herat gelegenen Dorf gab es eine Atun, und meine Eltern brachten mich zu ihr, als ich etwa fünf Jahre alt war. Sie war kinderlos, ihr Mann arbeitete auf dem Bau, und selbst wir Kinder konnten spüren, dass er ein friedlicher Mensch war. An die fünfzehn Kinder zwischen fünf und zehn Jahren kamen täglich zu ihr. Wir saßen im Kreis, jeder musste laut seinen Stoff wiederholen, und wenn ein Fehler passierte, kam ihr Zeigestock zum Einsatz. Einige wenige Kinder hatten Kissen, die anderen saßen auf dem blanken Lehmboden, zwei oder drei von uns hatten sogar ein kleines Pult und mussten ihren Koran nicht auf dem Schoß halten.

Im Sommer saßen wir im Hof unter einer wunderschönen Platane, die uns reichen Schatten bescherte. Ich gehörte zu den Kindern, denen das Lernen leichtfiel, darüber hinaus kümmerte sich zu Hause auch mein Vater um meine Fortschritte beim Lesen. Meine Mutter konnte weder lesen noch schreiben, aber sie war ein Sinnbild für Liebe und Wärme und stellte alle ihre Fähigkeiten in den Dienst der Familie.

Es war ein Tag im späten Herbst, die Malerei der Natur war geschwächt, die farbigen Blätter waren schon zu Boden gefallen, alle Bäume glichen einander. Gegen drei Uhr nachmittags schlug die Atun uns Kindern vor, mit ihr in den nicht allzu weit entfernten Garten zu gehen, um für sie Laub und trockene Äste zu sammeln. Sie wollte Brot backen und ihren Holzvorrat wieder auffüllen. Alle waren einverstanden und freuten sich auf den kleinen Ausflug. Auch ich hatte große Lust dazu, obwohl mir bewusst war, dass die Regeln meiner Familie mir das nicht erlauben würden, denn ich würde zwei Stunden später als erwartet nach Hause kommen. Ich war gespalten. Der Konflikt zwischen meinem persönlichen Wunsch und dem Respekt vor den Eltern schien unüberbrückbar.

Die Atun erkannte mein Dilemma und bot mir Rettung an: »Mahbuba, du sagst deinen Eltern, dass du heute im Unterricht schwach warst und ich dich deshalb zur Strafe zwei Stunden nachsitzen ließ.«

Ich entschied mich für den Ausflug, wenn auch mit einem tief versteckten Schuldgefühl. Der kahle Garten allerdings hat mich dann ziemlich enttäuscht, doch das Spiel mit den Kindern und der Geschmack von klebrigem Aprikosenharz im Mund haben mir Freude gemacht. Bei Sonnenuntergang kam ich nach Hause und erzählte meiner Mutter, die sehr beunruhigt war, unter Tränen von meiner Strafe. Sie wirkte nicht unbedingt überzeugt, brachte aber gleich das für mich aufbewahrte Essen und tröstete mich. Ich war von all dem so erschöpft, dass ich ohne Abendessen schlafen ging.

Am Morgen, es war ein Freitag und damit Feiertag, erwachte ich mit dem Gefühl, dass die Lüge gut platziert war. Die Sonne schenkte uns ihre herbstliche Wärme, ich saß mit der Mutter und den Schwestern im Hof und kratzte von einem Kochtopf den Ruß ab, der dazu dienen sollte, meine hölzerne Schreibtafel in ein tiefes Schwarz zu tauchen. Dann könnte die weiße, mit einem Bambusstift aufgetragene Tinte aus Kalkstein noch besser glänzen und die Schönheit meiner kindlichen Buchstaben zum Ausdruck bringen.

Als mein Vater vom Freitagsgebet aus der Moschee zurückkam, begrüßten ihn alle, doch er ging nicht darauf ein, sondern wandte sich an mich. »Mahbuba«, sagte er nur, und ich ahnte, was auf mich zukommen würde. Dieses Bild und dieses Gefühl holen mich noch heute, nach so vielen Jahren, ein. »Du bist gestern in der Schule bestraft worden, hast du gesagt.« Schweißperlen aus Schuldgefühl sammelten sich auf meiner Stirn, die Welt drehte sich in meinem Kopf. Ich verstand, dass die Lüge sich in Wahrheit verwandelt hatte. Ein einziger Wunsch beherrschte mich: die Erde möge sich spalten und mich verschlingen, damit ich gerettet sei.

Es war mir unmöglich, den Kopf zu heben, um meinem Vater ins Gesicht zu blicken.

»Ich habe in der Moschee den Mann der Atun getroffen. ›Wenn die Leistungen meiner Tochter ungenügend sind‹, habe ich zu ihm gesagt, ›dann muss man mich darüber informieren, ehe man sie dafür bestraft.‹ Er war verwundert. ›Aber Mahbuba ist nicht bestraft worden‹, hat er mir erklärt. ›Sie war mit den Kindern im Garten beim Holzsammeln.‹ Es wäre besser gewesen, du hättest uns die Wahrheit gesagt. Diese Lüge muss die erste und die letzte bleiben.«

Diese Reaktion meines Vaters, die so weit entfernt war von jeglicher Gewalt, sei es durch Worte oder körperliche Züchtigung, traf mich bis ins Mark. Meine Scham ließ es nicht zu, dass ich mich verteidigte, und mein kindlicher Verstand sagte mir klar und deutlich, dass diesen Fehler ich begangen hatte, nicht meine Lehrerin, die mir diesen Weg vorgeschlagen hatte.

Die Erde hat mich nicht verschluckt, aber die Wahrheit hat mir ihre Kraft gezeigt.

LEICHT UND ROSAFARBEN

Meine Kindheit war ruhig, schön und klar. Dennoch fehlten mir ab und zu Dinge, die die anderen hatten und ich nicht. Eines davon war Taschengeld. Das gab es nur sehr selten. Einmal zum Ramadanfest und dann zwei Monate später zum Idequorban, dem Opferfest, das Abraham und Isaak zu Ehren gefeiert wird. Der Gläubige kann ein Schaf opfern oder sich an der Opferung einer Kuh oder eines Kamels beteiligen, und dieses Fleisch wird dann an die Armen verteilt. Gibt es in der eigenen Verwandtschaft oder Nachbarschaft keine Bedürftigen, kann man sich auch auf eine Pilgerreise nach Mekka begeben, um so das Opferfest zu feiern und damit auch die fünfte Säule des Glaubens zu verwirklichen.

Wir Kinder warteten sehnlichst auf das Ende der anstrengenden Ramadanzeit und versammelten uns voller Angespanntheit vor einer Nische, in der auf einer reich bestickten Decke das Radio stand – in unserem Haushalt der einzige moderne Gegenstand von Wert. Wann endlich würde die Nachricht verkündet werden, dass am Himmel von Mekka der Neue Mond erschien und das Fest des Fastenbrechens, »die Nacht der Bestimmung«, gefeiert werden konnte? Für uns bedeutete das, dass wir an diesem Abend mit hennabemalten Händen zu Bett gehen würden.

Am späten Nachmittag schon stellte Großmutter eine Schale mit Wasser bereit und löste darin Henna auf, viel Henna, denn in unserer Familie gab es viele weibliche Wesen. Aus der Truhe nahm sie dann ein Bündel, das nur zweimal im Jahr Verwendung fand. Es bestand aus bunten Stoffdreiecken, die jeweils in einen langen Faden mündeten. Nach dem festlichen Abendessen im Licht der Petroleumlampe tunkten Großmutter, Mutter und wir Schwestern unsere Bambusstifte in die Hennaschale, und das große Malen konnte beginnen. Es waren meist geometrische Muster, mit denen wir uns gegenseitig Finger und Handflächen innen wie außen verzierten. Um die Farbe tief einwirken zu lassen und sowohl die Muster wie auch das Bettzeug zu schützen, umwickelten wir unsere Hände mit diesen Stoffdreiecken, ehe wir in der Hoffnung auf einen möglichst ruhigen Schlaf, der die gemalte Schönheit nicht verderben würde, zu Bett gingen.

Voller Stolz und Eifer betrachteten wir am nächsten Morgen unsere Hände. Wer hatte die schönsten Muster, wer die tiefsten, dunkelsten Farben? Doch nicht nur die Hände wurden verziert, auch unsere Körper wurden geschmückt. Es gab neue Kleider für alle Mitglieder der Familie.

Die dritte Gelegenheit, an Taschengeld zu kommen, ergab sich, wenn Papa uns in die Stadt mitnahm. Der Betrag, den er uns dabei aushändigte, war klein – zwei Rupien. Und wie immer ließ er es nicht an Gerechtigkeit fehlen: Jeder von uns, ob zwanzig Jahre alt oder zwei, bekam genau zwei Rupien. Was wir mit diesem Geld anfingen, blieb ganz uns selbst überlassen.

Die Festzeiten genossen wir Kinder von Herzen – wir konnten Karussell fahren und bestaunten und belagerten die vielen Verkaufsstände, die allerlei Holzspielzeug und die herrlichsten Süßigkeiten anboten. Im Alltag dagegen waren wir auf unseren winzigen Dorfladen angewiesen. Es gab dort die Dinge für den täglichen Bedarf, aber nichts darüber hinaus.

Spielsachen mussten wir uns entweder in der Natur suchen oder sie selbst erfinden und bauen. Meine Mutter gab mir einen kleinen Stock, ein bisschen Stoff, Nadel und Faden und zeigte mir, wie man daraus eine Puppe macht. Ich wollte so viel lieber ein Pferd basteln, doch meine Mutter wusste nicht, wie man das anstellen könnte. Das hat mir dann schließlich eine Tante beigebracht, aber nur, weil ich ihr wochenlang damit in den Ohren lag.

Und dann kam dieser ganz besondere Tag. Ich sah in unserem Laden etwas, das ich noch nie gesehen hatte: Es hatte die Form einer kleinen Zucchini, es war leicht, es war rosafarben, es hing an einer Schnur, und mir schien es voller Luft zu sein. Dieses Gebilde faszinierte mich, und in mir brannte der Wunsch, es zu besitzen.

Ich lief nach Hause und bat meine Mutter, mir Geld zu geben. Ihr Nein war keine Überraschung, und ich brach in Tränen aus. Es war die Zeit des Sonnenuntergangs, und ich weinte bis in die Finsternis.

Als Papa nach Hause kam, erkundigte er sich nach der Ursache meines Kummers. Er versuchte, mir die Unsinnigkeit meines heißen Wunsches deutlich zu machen – ohne Erfolg. Ich konnte nicht aufhören zu schluchzen, und so ließ er sich erweichen und gab mir fünfundzwanzig Pul. Mit den Flügeln, die ich mir durch meine Tränen verdient hatte, stürmte ich in den Laden, gerade noch rechtzeitig, ehe sich seine Türen für die Nacht schlossen. Als ich dann endlich diese unbekannte Wunderform in der Hand hielt, war meine Freude grenzenlos. Mit großartigen Gedanken und fantastischen Vorstellungen darüber, wie ich den nächsten Tag mit meinem rosafarbenen Luftballon gestalten würde, ging ich zu Bett.

Unser Vater hatte für die Familie ein neues Haus gekauft, und ich durfte ihn am nächsten Morgen dorthin begleiten. Nach dem Frühstück, das wie immer aus einer Tasse schwarzem Tee mit etwas Zucker und einem Stück Brot bestand, machten wir uns auf den Weg. Ich mit Papa und meinem Luftballon, der auf meiner Schulter genauso hin und her sprang wie ich selbst – mein Glück war vollkommen.

Dann standen wir vor dem Haus. Ein leichter Wind kam auf. Ich war so achtsam gewesen, und dennoch gelang es diesem zarten Wind, mir meinen Luftballon zu stehlen. Er nahm ihn mir aus der Hand, ließ ihn etwas steigen, schweben und auf einen Dornbusch zusteuern. Ich lief los, wollte ihn einfangen, doch ein lauter Knall erschreckte mich, hielt meine Füße am Boden festgenagelt.

Ich war fassungslos. Meine rosafarbene Wunderform war zerstört, in Fetzen.

»Mit so vielen schweren Tränen hast du dir deinen Luftballon erkämpft, Mahbuba«, sagte mein Vater. »War er das wert?«

WIRD ZERRISSEN

Als ich die erste Klasse besuchte, hatte ich eine junge, sehr hübsche Lehrerin. Sie war modern, und das hieß, dass sie als Einzige in unserem Dorf kurzes Haar hatte, hautfarbene, dünne Strümpfe und Schuhe mit hohen Absätzen trug und darüber einen Mantel, der nur bis zum Knie reichte. Sie war verheiratet und hatte vor Kurzem ihr erstes Kind bekommen.

Mir war es eine Freude, mich nach dem Unterricht in ihrer Wohnung aufzuhalten, die sich im selben Gebäude wie meine Schule befand. Der Grund war ihr kleiner Sohn, den ich liebend gern im Arm hielt, um auf ihn aufzupassen und mich mit ihm zu beschäftigen.

Ich erinnere mich an einen Tag, an dem die Frau in dem lang gestreckten großen Raum, in dem ich mit dem Kind spielte, auf weichen Kissen lag, eng angeschmiegt an ihren Mann. Ich empfand die Situation als ungewöhnlich, sogar als leise beschämend, wusste aber nicht, wie ich damit umgehen sollte. Die Lehrerin befreite sich und mich aus dieser unguten Lage. Sie schickte mich in den Hof hinaus, ich sollte die gewaschenen Windeln von der Leine nehmen. Ich tat, wie geheißen, ging aber nicht zurück in dieses Zimmer, sondern wollte nach Hause.

In fast allen alten Häusern in Herat befanden sich zu beiden Seiten des Eingangstors breite Lehmbänke, auf denen die Männer in der Sonne oder auch im Schatten sitzen konnten, sich unterhielten oder sich auf sonst eine Weise die Zeit vertrieben. Ich hatte mir auf dem Weg einen breiten Grashalm gepflückt und setzte mich nun auf die Bank. Den Halm hielt ich zwischen beiden Daumen, presste ihn an meine Lippen und versuchte, möglichst laute Pfeiftöne hervorzubringen. Ich war sehr darum bemüht, einen harmonischen Klang zu erreichen, und konzentrierte mich ganz intensiv darauf, meinem Halm besonders schöne Töne zu entlocken.

Plötzlich hörte ich eine Stimme, laut und voller Spott: »Wird zerrissen.« Ich vergaß den Grashalm, blickte mich um. Der Nachmittag war heiß und drückend, die Straße war leer, wer konnte hier gesprochen haben? Da sah ich einen jungen Mann vorübergehen. Meine Überraschung war groß. Es gab nur ihn und mich. Also konnte er nur mich gemeint haben.

Mein Spiel war zerstört. Ein Gefühl der Scham überkam mich, ohne dass ich gewusst hätte, warum. Ich empfand sogar einen feinen, versteckten Schmerz. Es war, als hätte mir jemand eine Grenze aufgezeigt.

Das war ein Einschnitt für mich, ein Grunderlebnis: die Erfahrung, dass es anderen erlaubt ist, mir Grenzen zu setzen. Etwas, das mir später noch häufig geschehen sollte und mich immer wieder neu verletzte. Aber genau das hat wohl auch mein Bewusstsein dafür geweckt und meinen Widerstand dagegen gestärkt.

»Wird zerrissen.« Nur zwei Wörter, und sie können so viel beinhalten. Hier ist ein Mädchen, noch keine sieben Jahre alt. Sie versteht nicht wirklich, was gemeint ist. Könnte es sich darauf beziehen, was sie zwischen ihren Beinen hat? Etwas, das für sie vollkommen natürlich ist, so natürlich wie ihre Augen, Ohren, Hände. Sie weiß nicht, was dieses Stück Fleisch bedeutet. Könnte vielleicht aber das die Ursache dafür sein, dass ein fremder Mann, der vorübergeht, ob reich oder arm, ob gebildet oder ungebildet, ob schön oder hässlich, es sich erlauben kann, über sie zu entscheiden und sein Urteil zu fällen?

Es ist so. All die Mühsal, all die belastenden Gedanken, alle Beschränkungen, denen ein Mädchen durch Vater, Mutter, Brüder und letztlich die Gesellschaft ausgesetzt ist, kreisen grundsätzlich und jederzeit um dieses »Zerrissen«. Es geht um die Jungfräulichkeit, den höchsten Schatz, den ein Mädchen besitzt und der ihr dennoch nicht gehört. Er muss bewahrt werden um jeden Preis, muss aufbewahrt werden für den zukünftigen Eigentümer, den scheinbaren Eigentümer, den Ehemann.

Sexualität in Liebe und Würde ausgelebt ist fraglos ein großer Reichtum – wenngleich es in der afghanischen Gesellschaft ein absolutes Tabu ist, darüber zu sprechen. Wenn Frauen aber ausschließlich unter dem Aspekt der Jungfräulichkeit betrachtet und bewertet werden, kann dies nur zu einem Strom von Unbehagen und Unglück führen. Mann und Frau erleben sich in einer Art gesellschaftlichem Kokon, aus dem sie sich nicht befreien können.

Wie oft habe ich von einer Mutter, einer Großmutter, einer älteren Schwester Worte dieser Art gehört: »Pass auf.« – »Schäm dich.« – »Es wird zerrissen.«

Auch wenn dies noch so sehr aus Zuneigung und Fürsorge geschehen mag, so hat es doch zur Folge, dass einem jungen Mädchen viele Möglichkeiten verwehrt bleiben. Das gilt mit Sicherheit für diverse Sportarten, kann sich aber sehr wohl auch auf die Wahl von Studium und Beruf auswirken. Viele afghanische Mädchen leben in der unbegründeten und dennoch tief empfundenen Angst, dass beispielsweise Fahrradfahren, Seilspringen oder auf einen Baum klettern ihr zukünftiges Glück gefährden oder gar verhindern könnte.

Sie werden es erleben, dass »es« nur von einem Mann zerrissen werden kann.

Wie traurig und absurd, wenn ein siebenjähriges Mädchen, das in aller Unschuld mithilfe seiner Lippen und beider Daumen einem Grashalm schöne Töne zu entlocken sucht, in das dunkle Netz dieser Gedanken gedrängt wird.

DAS WETTSPIEL

Wetten, das ist eine Leidenschaft, die man in den unterschiedlichsten Kulturen und deshalb natürlich auch in den unterschiedlichsten Formen findet. Und sie treibt die Menschen um – ob sie wollen oder nicht.

Unser Vater wollte verhindern, dass die Wettlust in der Familie zu einem Konkurrenzdenken führen würde, das uns beschädigen könnte; und so machte er daraus eine Art pädagogisches Spiel, das unsere Konzentrationsfähigkeit stärken sollte.

In unserem Hof lief immer eine Schar von Hühnern herum, die uns ihre Eier schenkten, aber es gab auch hin und wieder Anlässe, bei denen sie für uns ihr Leben lassen mussten. So etwa beim Ramadanfest und beim Opferfest, wenn ein Familienmitglied krank war, oder wenn meine Mutter wieder einmal ein Kind zur Welt gebracht hatte.

In reichen Familien konnte so ein Festessen an der Tagesordnung sein; bei uns aber war es die Ausnahme, eine Ausnahme, die mit bestimmten Erwartungen und Ritualen verbunden war.

Das gemeinsame Abendessen war allgemein die Hauptmahlzeit. Eine wichtige Aufgabe kam dabei einem fünf, sechs Jahre alten Kind zu: Es legte sich ein handgewebtes helles Leinentuch mit bunten Streifen und Fransen über die Schulter, nahm eine mit Wasser gefüllte aftaaba, eine schlanke, glänzend ziselierte Kupferkanne, und eine lagaan, eine kupferne Schale, in die Hände. Das Kind begab sich zur ältesten Person, das konnte ein Mann sein oder eine Frau, goss Wasser über deren Hände, fing es mit der lagaan auf und reichte dann das Tuch zum Trocknen. Streng nach der Hierarchie des Alters ging es so von einem zum anderen, bis alle, die an der Mahlzeit teilnahmen, diesen schönen und sinnvollen Brauch der Reinigung vollzogen hatten. Für uns war es selbstverständlich und vollkommen natürlich, mit den Händen zu essen.

Wir Kinder liebten diese festlichen Mahlzeiten, wenn unter dem duftenden Reis, dem morg palau, ein Hähnchen versteckt lag. An einem dieser Abende, ich war etwa sechs Jahre alt, war ich mir sicher: Endlich würde die Reihe an mir sein. Dieses Mal würde Papa mit mir das Wettspiel antreten, bei dem sich alles um die Hühnerbrust und den V-fömigen Knochen drehte, der sich darin verbarg. Keiner von uns hätte je daran gezweifelt, dass dem Vater grundsätzlich der beste Teil des Essens zustand. Nachdem das Brustfleisch verzehrt war, kam das von mir so sehr ersehnte knöcherne V ans Licht, und Papa sagte: »Mahbuba, wir beide wetten heute Abend.« Ohne die Regeln dieser Wette zu kennen, ohne zu wissen, wie sie beginnen und wie sie zu Ende gehen würde, fühlte ich mich bereit.

Er streckte mir das nackte, von allem Fleisch befreite Brustbein entgegen und behielt dabei den einen Flügel dieses knochigen Winkels in seiner starken, erfahrenen und liebevollen Hand. Mein Kinderhändchen umfasste den anderen Teil. Beide wollten wir diesen Knochen brechen, und das war der Augenblick, in dem die Wette begann.

Das gelang uns auch, und so hielt schließlich jeder ein Stück Hühnerknochen in der Hand. Papa reichte mir seinen Teil des Brustbeins, und ohne zu zögern nahm ich es an. Meine Überraschung war groß, als Papa zu lachen anfing und sagte: »Ich erinnere mich. Und du hast vergessen.« Im selben Augenblick wurde mir klar, dass ich diese Wette verloren hatte. Ich fühlte mich entsetzlich dumm und kam mir lächerlich vor.

Bei dieser Wette, der chanaq zadan, kommt dem Satz »Ich erinnere mich« die wesentliche Rolle zu. Wenn einer der beiden Wettpartner, egal bei welcher Gelegenheit, egal zu welcher Zeit, dem anderen irgendetwas überreicht, muss dieser sagen: »Ich erinnere mich.« Geschieht dies nicht, weil der Nehmende vielleicht unaufmerksam oder unkonzentriert ist, sagt der Gebende: »Ich erinnere mich. Und du hast vergessen« – und ist damit der Gewinner.

Ich musste einige Zeit warten, bis es wieder einen Anlass gab, ein Hähnchen zu schlachten und den morg palau zu genießen. Aber auch mein zweiter Wettversuch war nicht erfolgreich, und ich blieb als verbitterter Verlierer zurück. Dennoch hatten diese Niederlagen für mich auch ihr Gutes. Sie führten dazu, dass ich mich später in der Schule immer so gut wie nur möglich konzentrierte, um alle Aufgaben richtig zu erledigen und keinen Wettbewerb zu verlieren.

Inzwischen war ich ein junges Mädchen geworden, und eine chanaq zadan hatte ich immer noch nicht gewonnen. Aber ich brannte auf eine solche Gelegenheit. Es war die Zeit, in der sich eine familiäre Veränderung ergab. Uns war ein neues Schmuckstück zugewachsen, weil unsere dritte Schwester geheiratet hatte. Zum ersten Mal gab es also neben Papa einen Mann im Haus.

Die beiden lebten zunächst in der Familie des Mannes, die etwas außerhalb von Herat ein schönes altes Haus besaß. Halima war Lehrerin, doch der Weg zu ihrer Schule war lang, umständlich und beschwerlich. Öffentliche Verkehrsmittel standen ihr nicht zur Verfügung, aber ihr Mann besaß ein Motorrad, und so beschlossen sie, dass er sie jeden Morgen damit zur Arbeit bringen sollte. In ihrer Lehreruniform saß sie auf dem Rücksitz, und auf dem Kopf trug sie lediglich ein kleines Tuch. Dieses Bild war etwas völlig Neues für die Stadt Herat, und das zog natürlich Gerede nach sich – ob gut oder schlecht, wer weiß das schon.

Unser Vater aber empfand das als eine Belastung und wollte es nicht dulden. Also musste man für dieses angebliche Problem eine Lösung finden. Sie bestand darin, dass die ganze, um den neuen Ehemann erweiterte Familie in ein größeres Haus umzog. Das junge Paar musste sich jedoch keinerlei Familienzwängen unterwerfen, sondern konnte sein eigenes unabhängiges Leben führen. Feste, Ausflüge und ähnliche Ereignisse feierten wir aber gerne gemeinsam.

An einem Freitag machten wir einen Ausflug zu unseren Verwandten auf dem Dorf. Die Stadt Herat mit ihrem Umland ist nicht nur für ihre prächtigen Seidenstoffe berühmt, sondern auch für ihre köstlichen Weintrauben, die jedoch nicht auf Weinbergen, sondern auf flachen, von Menschenhand angelegten Hügelketten wachsen. Die Rebe wird in einer Tiefe von etwa drei Metern gepflanzt und der wachsende Rebstock mit seinem reichen Traubenbehang, der in den unterschiedlichsten Farben glänzen kann, muss nicht gestützt werden, weil er sich an die für ihn aufgehäufte Erde schmiegt. Dazwischen finden sich vielerlei Bäume, die herrliches Obst tragen, wie etwa Äpfel, Birnen, Pflaumen, Königsmaulbeeren und Granatäpfel. Besonders schön ist es im Frühling, wenn nicht nur die Bäume blühen, sondern auch Tulpen, Narzissen, Lilien, Iris und Hyazinthen.

Am Rande eines großen Gartens befinden sich bei uns in der Regel Maulbeerbäume, Aprikosenbäume, Feigen- und Pfirsichbäume. Da vor allem der Maulbeerbaum ein großartiger Schattenspender ist, werden unter seiner Krone häufig Lehmbänke errichtet, die zu einem Picknick geradezu einladen. Und so hatte sich an jenem Freitag unsere ganze Familie unter einem Maulbeerbaum im Garten der Verwandten eingefunden. Zum Mittagessen sollte dort eine Suppe aus Lammfleisch und mehreren Gemüsesorten zubereitet werden, und mein Schwager war für die Feuerstelle verantwortlich.

Seit fast drei Monaten lief zwischen ihm und mir die bewusste Wette. Die Worte »Ich erinnere mich« waren in meinen Gedanken höchst lebendig. Ich war kein Kind mehr, und ich wollte dieses Mal auf keinen Fall verlieren. Meinem Schwager ging es nicht anders. Um keinen Preis der Welt wollte er gegen eine Frau verlieren. Sollte er gewinnen, müsste ich für ihn ein gutes Rasierwasser kaufen. Ich als Siegerin würde eine kleine Flasche weißen Nagellack bekommen.

Ich hielt mich in seiner Nähe und konnte erkennen, dass er ganz in seine Aufgabe vertieft war und ihn das Feuermachen gefangen hielt. Ich tat, als wollte ich ihm helfen, und reichte ihm Streichhölzer. Er nahm sie mir ab, ohne die Zauberformel zu sprechen. »Ich erinnere mich. Und du hast vergessen«, so sagte ich in dem wunderbaren Gefühl meines Sieges. Er war fassungslos. Für mich sollte dies die dritte und letzte chanaq zadan meines Lebens sein.

Dieser Nagellack war mir unendlich wichtig, einmal, weil ich zum ersten Mal gewonnen hatte, und dann, weil ich noch nie zuvor so etwas besessen, aber schon lange Zeit ersehnt hatte. Als kleines Mädchen hatte ich bei der Verlobungsfeier einer Cousine die in strahlendem Rot glänzenden Fingernägel der Braut bewundern dürfen. Ich war hingerissen, und dieses Bild blieb in meinem Herzen.

Für mich selbst wählte ich dann die Farbe Weiß, weil ich meine Hände zwar schmücken, aber nicht allzu sehr verfremden wollte. Ich wagte es sogar, die Nägel meiner linken Hand etwas länger wachsen zu lassen, um dem Glanz mehr Raum zu bieten. In Papas Gegenwart allerdings versuchte ich, meine Linke zu verbergen. Ich wusste, dass unsere Religion das Tragen langer Fingernägel verbot. Dahinter steckte der Gedanke, dass sich darunter im Laufe des Tages Schmutz ansammeln und die gebotene Reinheit der täglichen Gebete beeinträchtigen und womöglich sogar zu gesundheitlichen Schäden führen könnte. Eines Morgens beim Frühstück aber fragte er mich: »Warum sind deine Nägel so lang? Das ist doch eine Sünde.«

Obwohl ich meine langen Nägel so gerne behalten hätte, habe ich sie geschnitten – aus Respekt vor meinem Vater.

Die Wahrheit ist: Mein Herz war dagegen, mit aller Macht und Ohnmacht.

ROCK VOLLER BLUMEN

In vielen persischsprachigen Ländern wird nouruz, das Neujahrsfest, am Abend des 20. März, der Tagundnachtgleiche, gefeiert. Der Tag, an dem auf der nördlichen Erdhalbkugel der Frühling beginnt, ist der erste Tag des neuen Jahres. Dieses Fest, das seine Wurzeln in der Natur hat, kann auf ein langes Leben zurückblicken, auf eine Spanne von gut viertausend Jahren. Man feiert das Erwachen und die Erneuerung, die Überwindung des Alten und Abgelebten. Seine Riten verweisen auf die zoroastrischen Vorfahren und stammen damit aus vorislamischer Überlieferung. Zwar lassen sich kleinere regionale Unterschiede entdecken, in ihrem Kerngehalt aber sind sie unverändert geblieben.

Was bei dieser Freudenfeier auf keinem Tisch oder Essteppich, dem sofreh, fehlen darf, sind die haft-sin. Das sind sieben pflanzliche Nahrungsmittel, die Unterschiedliches symbolisieren, deren Gemeinsamkeit aber darin besteht, dass sie alle mit demselben Buchstaben, dem S, beginnen. Mit einem S beginnt auch saal, das Wort, das Jahr bedeutet.

Sir, der Knoblauch, soll schützen; somagh, ein saures Pulver, das aus dem Fruchtstand des Essigstrauchs gewonnen wird, stellt den Geschmack des Lebens dar; serkeh, der Essig, steht für Fröhlichkeit; sib, der Apfel, fördert die Gesundheit; sendsched, die Maulbeere, symbolisiert die Saat des Lebens; samanou ist eine Weizenpaste, die Segen bringt, und sebzeh, die frischen grünen Kräuter und Sprossen, gelten als Muntermacher.

Die Zubereitung von samanou beispielsweise ist aufwendig. Zehn bis sieben Tage vor Neujahr legt man Weizenkörner in eine Schale, gibt etwas Wasser hinzu und bedeckt sie mit Gaze. Sind die Sprossen etwa fingerhoch, gibt man sie in eine innen glasierte Keramikschüssel, zermahlt sie mit einem runden Stein und presst sie dann durch ein Tuch, um den Saft zu gewinnen.

Am Neujahrsabend wird im Hof ein Feuer entfacht, auf dem dieser Saft langsam eingekocht wird. Die Familien versammeln sich um das Feuer, unterhalten sich, singen Lieder und tanzen. Die Jungen und auch die Mädchen machen sich ihren Spaß daraus, über das Feuer zu springen und einander dabei so gut wie möglich an Mut und Fröhlichkeit zu übertreffen.

Um zwölf Uhr, wenn das neue Jahr beginnt, umarmen sich alle und wünschen einander Glück. Die Frauen aber füllen ihre alten Tonkrüge mit Wasser, steigen damit auf das Hausdach und schmettern sie lustvoll und mit Wucht in die Tiefe. Das spritzende Wasser soll Sauberkeit, Helligkeit, Gesundheit und Reichtum ins Haus bringen, der Klang der zerberstenden Scherben soll alle bösen Kräfte vertreiben. Die Ursprünge dieser Tradition lassen sich zurückverfolgen bis in die Zeiten der Lehren des Zarathustra, in denen Wasser, Feuer, Luft und Erde als heilige Elemente verehrt wurden.

Der Neujahrstag ist im ganzen Land ein offizieller Feiertag, der aber von Frauen und Männern getrennt begangen wird. Die Männer versammeln sich auf Festplätzen, die am Stadtrand liegen, und verlustieren sich auf ihre Weise.

Auch die Frauen treffen sich an bestimmten Festorten. Sie kleiden sich in ihre schönsten und neuesten Gewänder, schminken sich das Gesicht und schmücken ihr Haar. Zu Hause hat jede schon eine Schüssel voll mit gelbem Neujahrsreis zubereitet, der nun präsentiert und dann gemeinsam verspeist wird. Sie spielen Karten, singen und tanzen, begleitet vom Klang der daaf, einer flachen Trommel, die von Frauen schon seit Jahrhunderten gerne gespielt wird. Dieses Fest ist für die Frauen im Grunde die einzige Gelegenheit, sich in der Öffentlichkeit ohne Männer zu zeigen, sich auszutauschen, sich zu vergleichen und vielleicht auch sogar ein bisschen miteinander zu konkurrieren.

Am meisten aber genießen die Kinder das Neujahrsfest. Ich habe viele schöne Erinnerungen an diese Tage. Vor allem das Karussell fand meine Bewunderung, auch wenn mir davon schwindlig wurde. Und die Vielfalt an Süßigkeiten, in herrlichen Farben und teils bizarren Formen, war überwältigend. Was mich aber am nachdrücklichsten in Erstaunen versetzte, waren die präzisen roten Kreise, die sich die Frauen als Schmuck auf die Wangen gemalt hatten. Bei meiner Mutter hatte ich so etwas noch nie gesehen.

Als wir uns einmal bei Sonnenuntergang auf den Weg nach Hause machten, war ich ganz erschöpft von so viel Festlichkeit und den vielen neuen Eindrücken. Wir stiegen einen Hügel hinab, und in der Ebene, die vor uns lag, erblickte ich plötzlich Felder und Felder voller wilder blühender Blumen. Das helle Abendlicht, das traumhaft schöne Violett der Blumenfelder, der Duft, den die Natur verströmte, das alles verzauberte mich, und ich fühlte mich augenblicklich wieder voller Leben. Ich raffte meinen kurzen Faltenrock, den ich wie immer über einer Hose trug, wie ein Tuch zusammen, lief mitten hinein in diese Blumenpracht und pflückte von diesen zarten Gebilden eines nach dem anderen, bis mein Rock so voll gefüllt war, dass er keines mehr fassen konnte.

Zu Hause legte ich meinen Schatz in einer Ecke unseres Hofes ab. Am nächsten Morgen, als ich erwachte, lief ich voller Freude und so schnell ich nur konnte, zu meinen Blumen. Sie waren alle tot. Ich war traurig, abgrundtief.

Meine Mutter klärte mich auf: »Du hättest sie nicht pflücken sollen. Und wenn, dann hättest du ihnen Wasser geben müssen.«

Mir war das unbekannt. Noch nie hatte ich eine lebendige Blume in einem Gefäß gesehen. Wenn etwas in einer Vase steckte, dann waren das künstliche Scheinpflanzen. Aber ich habe daraus gelernt, dass man das Leben nicht von seinen Wurzeln trennen darf.

EIN GETREIDESPEICHER IM WOHNZIMMER

In Afghanistan gibt es nicht allzu viele Menschen, die genau wissen, wann sie geboren sind. Dass das Jahr, der Tag, die Stunde und die Minute ihrer Geburt auf der weißen Brust eines Papiers festgehalten und damit auch dokumentiert wird, ist nur ganz selten der Fall. Man behilft sich eher so: Es war kalt, es war warm, es war Sommer, vielleicht Frühling, es war die Zeit, in der man den Weizen geerntet hat, die Sonne ist untergegangen, es hat gedonnert und geblitzt, viel Regen fiel vom Himmel. Kommt ein Sohn an einem Festtag zur Welt, sei es an Ramadan, zum Opferfest oder zum Neuen Jahr, ist die Freude besonders groß, und häufig erhält dieser Junge dann auch einen Namen, der sich auf dieses Fest bezieht, wie etwa Nouruz, Gorban oder Ramadan.

Das hat nicht unbedingt damit zu tun, dass die Menschen das Schreiben nicht beherrschen, denn auch in vielen gebildeten Familien unterlässt man es, die Geburt eines Kindes schriftlich festzuhalten. Was sich darin ausdrückt, ist eine bestimmte Einstellung dem Geborenwerden und damit dem Leben gegenüber. Der Mensch kommt und geht, er ist ein paar Tage Gast auf dieser Erde. Diese Welt ist einem nicht treu, man verlässt sie in der Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod, auf ein ewiges Leben, das besser sein wird und das man höher wertet als jenes, das man hat oder gehabt hat.

Auch wenn die Geburt nicht dokumentiert wird, so wird sie dennoch sehr wohl gefeiert, besonders dann, wenn ein Junge seine Augen für die Welt geöffnet hat. Es ist eine Herzensfreude, und sie geht einher mit Stolz. Das gilt für die Mutter, noch mehr aber für den Vater, der sich nun mit hocherhobenem Haupt und kerzengerade auf all seinen Wegen in der Familie, in den Straßen und der Gemeinde zeigen kann.

Die Paschtunen, vor allem die Nomaden, geben ihrer Freude über die Geburt eines Jungen durch Gewehrsalven Ausdruck. In der Stadt werden an die Verwandten und Nachbarn Süßigkeiten verteilt. In reichen Familien wird eine Knabengeburt am siebten Tag opulent gefeiert mit festlichem Essen, mit Musik und Tanz. Und so sitzen dann am Kopf der Festtafel neben dem Vater womöglich der Imam und der arbab, der Gemeindevorsteher, oder wer sonst noch von den reichen und einflussreichen Persönlichkeiten als Gast zu gewinnen ist; man nimmt gerne auch einen Dichter oder Intellektuellen als schmückendes Beiwerk. Die Frauen feiern getrennt und längst nicht so aufwendig wie die Männer. Ihre Freude geht mehr nach innen.

Das jährliche Geburtstagsfest ist ein neuerer Brauch, der mittlerweile von Europa aus seinen Weg in die städtischen Kreise der jungen Generation gefunden hat.

Mein Vater hatte ein Notizbuch. Es war von Hand gebunden, sein Umschlag bestand aus handgeschöpftem, grün marmoriertem Karton, und für uns Kinder stellte es eine geheimnisvolle, fremde Welt dar, zu der nur Papa den Zugang hatte. In seiner schönen Schrift, die als die gebrochene Kalligrafie bezeichnet wird, hielt er mit blauer Tinte so manches darin fest – wie beispielsweise alle Geburts- und Sterbedaten der Familie. Auch mein Name stand da, weil ich als sechstes Kind am 19. Januar 1957 in einer tiefen kalten Winternacht meine Mutter von der Last meines Gewichts befreit und mit einem Schrei als Zeichen meiner Gesundheit diese unklare Welt begrüßt hatte. Das geschah unter dem Dach des Hauses, das meine Mutter von ihrem Vater geerbt hatte, im Dorf Hause-Karbas etwa dreißig Kilometer nördlich von Herat.

Meine Eltern waren beide Einzelkinder. Mein Vater stammte aus dem Dorf Dschegara, das mit großem Wasserreichtum gesegnet war. In meiner Erinnerung ist dieser Ort eine Oase, leuchtend grün, fruchtbar und umgeben von reich tragenden Obstgärten. Sein Vater und sein Großvater waren beide Richter gewesen, die, um ihren Arbeitsplatz in der Stadt zu erreichen, noch ein Pferd besteigen mussten. Mein Vater war drei Jahre alt, als sein Vater völlig unerwartet starb. Die Todesursache konnte nicht geklärt werden, weil es damals keinen Zugang zu einer medizinischen Versorgung gab. Dieser Verlust hinterließ in ihm tiefe Spuren, da sich seine Mutter bald darauf für eine zweite Ehe entschied. Bei der Hochzeitsfeier hielt der Dreijährige sich am grünen Schleier der Braut fest, die Augen voller Tränen. Der neue Ehemann war Landwirt und Geschäftsmann. Da er keinerlei Interesse an Bildung zeigte, durften später weder mein Vater noch seine Halbgeschwister, ein Mädchen und zwei Jungen, die Schule besuchen. Stattdessen musste mein Vater im Haus helfen und die Schafe auf die Weide führen.

Seine Onkel, die Brüder seines Vaters, waren nicht glücklich über diese Entwicklung, und so beschlossen sie, den Elfjährigen, der, wie sie fanden, auf die Nähe der Mutter nicht mehr dringend angewiesen war, zu sich zu holen und ihm den Schulbesuch zu ermöglichen – ein Glück für meinen Vater, und für die meisten afghanischen Kinder damals alles andere als selbstverständlich.

Meine Mutter, die wie ich im Dorf Hause-Karbas geboren worden ist, wurde schon als Kind von ihren Eltern zur zukünftigen Frau meines Vaters bestimmt. In Afghanistan kommen auf diese Weise viele Ehen zustande. Wenn auch nicht immer glückliche, weil die Eltern sich aus Gründen der Ehre in alle Zukunft an ein Heiratsversprechen gebunden glauben und deshalb auf die Gefühle ihrer heranwachsenden Kinder keine Rücksicht nehmen wollen oder können. Meine Eltern gehörten zu jenen Kindern, für die die Entscheidung der Erwachsenen sich nicht in ein Unglück verwandelte, sondern im Gegenteil zu einer liebevollen, harmonischen Ehe führte. Meine Mutter war vierzehn Jahre alt, als sie in das Hochzeitszimmer geleitet wurde. Nicht das tatsächliche Alter war ausschlaggebend für eine Eheschließung, sondern die Anzeichen körperlicher Reife – bei der Frau der Beginn der Menstruation, beim Mann das Sprießen von Barthaaren.

In der Regel wird die Frau nach der Hochzeit in die Familie des Mannes aufgenommen; doch da mein Vater keine stabile eigene Familie hatte, zog er zu den Eltern seiner Frau. Meine Mutter fühlte sich bei ihm sehr aufgehoben. Er war Lehrer, sah gut aus, trug Anzug und Krawatte und war glatt rasiert. Damit gehörte er zu den modernen Männern und unterschied sich so von den meisten anderen Dorfbewohnern. Ihre Liebe und ihre gegenseitige Achtung nahm diese junge Familie wie ein Schutzengel unter seine Flügel.

Der Vater meiner Mutter konnte nicht lange an dem jungen Glück in seinem Haus teilhaben, weil er das Leben verließ. Seine Frau, meine Großmutter, entschied sich nicht für eine zweite Ehe, sondern stellte ihre ganze Kraft und alle ihre Fähigkeiten der Familie ihrer Tochter zur Verfügung. Sie war eine schöne, große schlanke Frau, die immer etwas zu tun fand – so jedenfalls habe ich sie in Erinnerung. Ihre Gedanken und ihre Ansichten hatten Gewicht, auch bei meinem Vater.

Meine Großmutter hatte eine sehr starke Bindung an das Haus, in dem die Familie lebte. Es war ein traditionelles, für Herat und seine Umgebung typisches Haus, aus ungebrannten Ziegeln errichtet, die mit einer Schicht aus Lehm und Heu verputzt worden waren. Wenn es geregnet hatte, verströmte es einen Duft, der so frisch und intensiv war, dass er noch heute meine Nase streichelt.

Mitten durch unseren Hof lief ein Bach, der uns das so wertvolle Wasser, auch unser Trinkwasser, lieferte. Er wurde überschattet von einer mächtigen alten Platane, unter deren Schutz wir uns an heißen Sommertagen liebend gerne zurückzogen. In einer Ecke des Hofes befand sich der tendur, ein Backofen aus Lehm, der zwei- bis dreimal die Woche mit Holz und Dornenzweigen aufgefüllt und zum Brotbacken befeuert wurde.

Das Haus bestand aus zwei Stockwerken. Das Erdgeschoss war in der Regel für die Tierhaltung vorgesehen, aber da wir keine Tiere besaßen, wurde bei uns stattdessen ein geräumiger Raum als Gästezimmer eingerichtet, das allerdings Männern vorbehalten war. Unser Vater empfing dort Freunde, man speiste reichlich, widmete sich aber auch von Herzen der Dichtung und der Musik. Man las die Verse von Ferdouzi aus dem berühmten Epos Schachameh und spielte zur musikalischen Untermalung auf den Saiteninstrumenten dutar und robab.

An dieses Gästezimmer schlossen sich zwei kleinere Räume an, die meine Großmutter als Vorrats- und Speisekammern nutzte. Sie bewahrte darin beispielsweise ihren selbst fabrizierten Essig auf, den serkeh, aber auch allerlei Haus- und Heilmittel, die sie für die Familie auf Vorrat und nach teils komplizierten Verfahren ansetzte. Char arraq fällt mir dabei ein, ein Mittel gegen Magenschmerzen, und vor allem golgant, das so verlässlich gegen Erkältung oder auch einfach Unwohlsein half – unzählig viele Rosenblätter musste man dafür mit etwas Zucker einstampfen und das innen glasierte Keramikgefäß, in dem sie aufbewahrt wurden, anschließend mit einem Wattebausch zustopfen und dann mit einer Teigschicht überziehen, um sie so vor dem Verderben zu bewahren.

Alle Zimmer im Obergeschoss waren mit einer kuppelförmigen Decke ausgestattet, in deren Mitte sich ein Loch befand, das für Belüftung sorgte. Dort waren unser geräumiger Wohnraum, ein zusätzlicher großer Abstellraum und das Elternschlafzimmer, das für uns Kinder haram war, das hieß: Eintritt verbo