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Bertolt Brecht, geboren 1898 in Augsburg, beginnt die Arbeit an Der Untergang des Egoisten Johann Fatzer in Berlin Ende 1926. Obwohl das Material, das er unter diesem Titel innerhalb der darauffolgenden Jahre sammelt, viele hundert Seiten umfaßt und er in mehreren Phasen intensiv daran arbeitet, wird Fatzer nicht zu Ende geschrieben. Brecht arbeitet in diesen Jahren zweigleisig: Einerseits studiert er mit großem Interesse die Theorien politischer Ökonomie und versucht in mehreren Anläufen, daraus bühnenwirksame Texte zu machen. Auf der anderen Seite schreibt er zusammen mit Kurt Weill 1927 seine Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, kurz darauf sein erfolgreichstes Stück Die Dreigroschenoper. - Das Fatzer-Material enthält sehr viele leitmotivische und häufig wiederverwendete Ideen Brechts, bis hin zu seiner berühmten Keuner-Figur, die er in diesem Kontext entwickelt hat. Bis zu seinem Tod rechnet Brecht das Fatzer-Fragment zu seinen wichtigsten Arbeiten.
Heiner Müller, geboren 1929, konstruierte seine Bühnenfassung des Fatzer 1978 für die Aufführung am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg (Regie: Wolfgang Karge / Matthias Langhoff).
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Seitenzahl: 85
Bertolt Brecht
Der Untergang des Egoisten Johann Fatzer
Bühnenfassung von Heiner Müller
Suhrkamp
Im ersten Heft der Versuche ist ein Text aus Brechts Fatzer-Fragment abgedruckt. Das habe ich in den 50er Jahren gelesen, und seitdem war Fatzer für mich ein Objekt von Neid. Das ist ein Jahrhunderttext, von der sprachlichen Qualität her, von der Dichte. Diese Qualität hat mit dem Schock der Großstadt zu tun. Brecht kam nach Berlin, wohnte in einer Mansarde, ein Stadtplan von Berlin war an die Wand geheftet. Brecht hat Fähnchen gesteckt, wo sich kommunistische Zellen bildeten, das Warten auf die Revolution …
1932 hat er die Arbeit an Fatzer abgebrochen. Er war einer von den wenigen, die über die Dauer der nächsten Periode, also des Nationalsozialismus, keine Illusionen hatten. Die meisten linken Intellektuellen dachten, das geht ein paar Monate, Hitler ist ein Idiot, das ist ein kurzer Spuk. Brecht hat das später einmal so formuliert: »In der Roten Fahne stand noch ›Wir werden siegen‹, da hatte ich mein Geld schon in der Schweiz.« Er hat Fatzer auch ganz deutlich in den Zusammenhang mit der Ermordung von Liebknecht und Luxemburg gebracht. Er wußte, daß das eine Enthauptung war, die Enthauptung der deutschen Kommunistischen Partei, ihre Auslieferung an Lenin. Ein Blick auf den Nullpunkt des Jahrhunderts. Fatzer sagt vor seiner Erschießung durch die Kameraden/Genossen: »Von nun an und für eine lange Zeit / Wird es auf dieser Welt keine Sieger mehr geben, sondern nur noch Besiegte.«
Es gibt circa vierhundert Seiten im Brecht-Archiv, diffuses Material, manchmal steht eine Zeile auf dem Blatt, manchmal ist die Seite voll, Ansätze zu verschiedenen Fassungen.
Ich habe in dem Zimmer, in dem ich gearbeitet habe, die vierhundert Seiten ausgebreitet, bin dazwischen herumgelaufen und habe gesucht, was zusammenpaßt. Ich habe auch willkürlich Zusammenhänge hergestellt, an die Brecht nicht denken konnte, ein Puzzle-Spiel. Der »Egoist« Fatzer, zunächst ganz offensichtlich eine Identifikationsfigur für Brecht, wurde von Fassung zu Fassung immer mehr abgebaut. Dann wurde Koch der Protagonist. In der letzten Fassung, von der es nur Bruchstücke gibt, wird Koch zu Keuner, Keuner als Leninfigur, der Pragmatiker, der das Mögliche versucht. Der Fatzer ist ein Komplement zu Koch und umgekehrt. Koch der Terrorist, Fatzer der Anarchist, Koch/Keuner die Verbindung von Disziplin und Terror. Für mich war es auch ein Stück über die RAF, in einer sehr deutschen Tradition, von den Nibelungen bis Die Räuber, Faust und Dantons Tod und Grabbes Gotland. Dramen der deutschen Teilung. Franz und Karl Moor, Faust und Mephisto, Danton und Robespierre, Gotland und der Neger Berdoa. Der Glücksanspruch von Danton und die Drosselung des Glücksanspruchs für eine gedachte Zukunft, für ein Programm. Insofern hat sich die Oktoberrevolution aus dem Rahmen der Französischen Revolution nie herausbewegt, das ging keinen Schritt weiter, im Ergebnis war sie eher ein Schritt zurück. Die Französische Revolution muß in Rußland unter neuen Bedingungen noch einmal stattfinden.
Langhoff und Karge fragten mich, weil sie in Hamburg Homburg inszenieren wollten, ob ich in Ergänzung dazu Fatzer für sie bearbeiten würde. Mein aktueller Bezugspunkt war die RAF. Der Schlußteil liest sich wie ein Kommentar zur Geschichte der RAF, das Verhältnis des Kollektivs, der Disziplin, zu den Abweichlern. Es gab ja immer wieder Situationen in der Geschichte der RAF, in denen ein Abweichler exekutiert wurde. Es gehört zur Tragik von militanten Gruppen, die nicht zum Zug kommen, daß die Gewalt sich nach innen kehrt. Das war auch der Zusammenhang mit »Homburg«. Die Inszenierung war wahrscheinlich nicht gelungen, weil den Regisseuren zuviel einfiel, sie war nicht einfach, und kein Kritiker hat den Bezug verstanden, was mir dann doch ein Rätsel war, denn der Schluß war sehr gut inszeniert. Das war Mogadischu, aber keiner hat etwas gesehen. Alle schrieben nur, es wäre besser gewesen, wenn der Text Fatzer in der Schublade geblieben wäre. Das einzige Sensationelle an der ganzen Sache war, daß Wolfgang Storch ein Programmbuch mit RAF-Texten gemacht hatte, das auf Anweisung des Intendanten Ivan Nagel in den Reißwolf mußte. Die RAF war damals nicht nur für mich das interessanteste Material aus dem Westen. Die Möglichkeit einer Renaissance des Faschismus in der Bundesrepublik war schon Brechts »Wildente« gewesen. So konnte man die DDR aushalten. Die Überreaktion des westdeutschen Staatsapparats auf den bewaffneten Kampf einer verschwindenden Minderheit nährte diese Furcht/ Hoffnung. Das gehörte zur Situation des Kalten Krieges. Paradigmatisch war die Kaufhaus-Brandstiftung, der Versuch, den Leuten mit einer konkret spürbaren Metapher ein Gefühl dafür zu geben, was der Vietnam-Krieg bedeutet. Die Schlußrede von Koch: »Seid nicht hochfahrend, Brüder / Sondern demütig und schlagt es tot / Nicht hochfahrend sondern: unmenschlich.« Diese Verbindung von Demut und Töten ist ein Kernpunkt des Fatzer-Textes und ursprünglich auch der RAF-Ideologie. Leute, die sich zum Töten zwingen müssen. Darum geht es auch in Mauser und in der Maßnahme. Eigentlich ist politische Gewalt dadurch diskreditiert worden, daß der Staat das Töten übernommen hat, es bürokratisiert hat durch das staatliche Gewaltmonopol. Wir leben in einer Zivilisation der Stellvertretung, die christliche Zivilisation ist die Zivilisation der Stellvertretung, der Delegierung, einer für alle, einer hängt für die andern am Kreuz.
In einem Buch des Polen Richard Kapuściński über Äthiopien wird aus der Rede eines Guerillaführers vor einer entscheidenden Schlacht zitiert. Er betete zum ersten Mal zu dem Gott der Christen: »But this time don’t send your son, come yourself.« Das ist, glaube ich, ein ganz wesentlicher Schnitt zwischen der christlichen Zivilisation Europas und andern Zivilisationen. Einen Kommentar dazu liefert eine Science-fiction-Story: Sie spielt auf einem Planeten, wo die Bevölkerung rein logisch funktioniert. Es gibt da eine Handelsstation, Fabriken, die exakt arbeiten, jedenfalls aus der Sicht des leitenden Ingenieurs, der aus Ohio stammt. Eines Tages steigt aus einem Raumschiff von der Erde ein Missionar. Der Ingenieur weiß genau, das ist die Katastrophe. Er versucht, den Missionar ins Flugzeug zurückzudrängen, schlägt den Mann krankenhausreif. Der Ingenieur wird um zwei Gehaltsklassen zurückgestuft, der Missionar erholt sich und fängt an zu missionieren. Er trägt den Eingeborenen das Evangelium vor. Sie lernen es auswendig, sie bauen eine Kirche und stellen ein Kreuz auf. Dann passiert, was der Ingenieur geahnt und befürchtet hat. Er hört ein Brüllen, rennt in die Kirche und sieht, wie die logischen Christen den Missionar ans Kreuz nageln, damit er auferstehen und zum Himmel fahren kann.
Der Kern des Problems ist, daß man Töten denken kann. Wenn man es für notwendig hält, hat man nicht das Recht, es selbst nicht zu tun: es nur zu delegieren, wäre unmoralisch.
Ein anekdotisches Beispiel aus dem Russisch-Polnischen Krieg, das in Zement zitiert wird, von Isaak Babel: Nach einer verlorenen Schlacht, die Truppe muß zurück, bitten verwundete Rotarmisten den Regiments-Kommissar: »Töte uns!« Sie wußten, daß die polnischen Ulanen die Gewohnheit hatten, den feindlichen Verwundeten mit Lanzen die Eingeweide aus dem Leib zu drehn. Der Kommissar kann sie nicht töten, und die Verwundeten beschimpfen ihn als dreckigen Intelligenzler, weil er sie nicht töten kann. Die These von Carl Schmitt in Theorie des Partisanen ist, daß mit der Revolution das totale Feindbild entsteht. Von den religiösen Fundamentalisten schweigt der Katholik. Mit den totalen Weltverbesserungsprogrammen entsteht das totale Feindbild. Wer Ausbeutung als ein Phänomen des Lebendigen akzeptiert, braucht kein absolutes Feindbild.
Für Carl Schmitt hatte der Krieg bis zur Französischen Revolution – das ist natürlich auch eine Frage der Entwicklung der Waffentechnik – Duellcharakter. Es war ein Krieg der Armeen. Mit dem Volkskrieg entfällt dieser Duellcharakter, entfällt die Unterscheidung zwischen Zivilisten und Soldaten, das heißt, ohne die Idee der Revolution keine Bombardierung von Coventry, Warschau, Dresden, und keine Guerilla. Der Atomkrieg schließlich setzt das totale Feindbild voraus, erzwingt Fundamentalismus. Unsere Zivilisation ist eine Zivilisation der Stellvertretung. Und Repräsentation bedingt Selektion, Auschwitz und Hiroshima sind Finalprodukte selektiven Denkens.
Der Kaufhausbrand war ein verzweifelter Versuch, die Zivilisation der Stellvertretung, der Delegierung des Leidens, zu provozieren, die Verlegung des Vietnamkriegs in den Supermarkt.
Denken ist lebensfeindlich. Es gibt eine Differenz zwischen Denken und Sein, zwischen Denken und Leben. Das ist das Paradox der menschlichen Existenz. Flaubert hat gesagt, der Individualismus ist die Barbarei. Die Konsequenz ist der Gedanke von Foucault, der Humanismus ist die Barbarei, weil Humanismus auch Ausschließung, Selektion bedeutet. Die Menschheit setzt sich einen Zweck, der Weg zu dem Ziel erfordert Kontrolle, Organisation, Disziplinierung, Selektion. Wenn es um die Emanzipation der Menschheit geht, ist der Feind ein Feind der Menschheit, also kein Mensch. Das ist die Grundfrage. Aber wie kann man absehen von Zwecksetzungen? Das ist ein Denken, mit dem wir aufgewachsen sind. Wie lernt man sich zurücklehnen und die Dinge akzeptieren, wie sie sind, sie nur einigermaßen zu regeln? Aber in den Wörtern »regeln« und »einigermaßen« steckt schon wieder das Problem. Immer »geht es« nur »einigermaßen«, nichts geht auf. Das ist die Provokation der Apokalypse, der Johannes-Offenbarung. Da wird die Frage zum ersten Mal gestellt und dann an das Jüngste Gericht delegiert.
Ich glaube, Kunst ist ein Angriff auf dieses Paradox, auf jeden Fall eine Provokation, die auf dieses Paradox hinweist. Das ist eine Funktion von Kunst, eine vielleicht asoziale oder zumindest antisoziale, aber moralische Funktion von Kunst. Moral ist nicht sozial, das kann man nicht gleichsetzen. Ich finde die moralische Empörung über den Terrorismus irrelevant und eine Heuchelei, deswegen ist mir dieser Kernsatz in Brechts Fatzer so wichtig, das Wort »demütig«. Töten, mit Demut, das ist der theologische Glutkern des Terrorismus. Es gibt keine Lösung, das ist das menschliche Paradox. Aber mit Kunst kannst du dem nicht ausweichen in Moral, jedenfalls nicht in die gängige sozial eingebundene Moral. Kunst ist vielleicht auch ein Versuch der Tierwerdung im Sinne von Deleuzes und Guattaris Buch über Kafka. Ich fürchte, wir müssen es so dunkel lassen.
Heiner Müller
Fatzer • Koch • Büsching • Mellermann • Nauke • Schmitt • Kaumann • Keuner • Leeb • Frühhaupt
Chor • Gegenchor
Frau des Kaumann • Therese • Die Kaumann • Therese Kaumann
Frau • Ein Soldat • Fleischer • Vier Weiber • Der Eine • Der Andere • Zivilist • Zwei Fleischer • Die Fleischer • Ein Fleischer
Die Frau • Frau • Die Andere
Der Wartende • Arbeiter • Der Mann • Erster Soldat • Zweiter Soldat • Mädchen
Projektion: Schau der Kriegsgeräte
chor
Ihr noch wißt
Im zweiten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts
War ein Krieg aller Völker
Welche sich eingruben
Und ihre unsinkbaren Schiffe
Versenkend
Von einem Meer zum andern
Und vier Jahre hausend unter dem Boden
In Löchern aus Zement
Einander beschossen mit zehntausend Zentnern Erz
Essend Gras und Fleisch ihrer Pferde
Auf Maschinen aus Blech neuer Erfindung durch die Luft fliegend