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Auf unserer Erde, so wird erzählt, gibt es noch heute unbekannte Gebiete, Gegenden, die niemals ein gewöhnlicher Mensch betreten oder befahren könnte. In einem dieser Gebiete ? weit weg von uns, irgendwo da draußen ? existierten bis vor kurzer Zeit geheimnisvolle Berge, von denen man nicht genau weiß, wie hoch sie wirklich waren. Die Täler, die sich zwischen diesen Bergen versteckten, reichten unglaublich tief hinab und die Hitze, die dort herrschte, machte jede Art von Leben unmöglich. Eingeschlossen von diesen hohen Bergen und tiefen Tälern, fast unerreichbar, lag ein verwunschenes Land ? Kippihonia, ein Land ohne Zeit, ohne wärmende Sonne, aber auch ohne Dunkelheit. Alles schien trostlos und unwirklich. Und dennoch lebten hier vereinzelte Männer und Frauen. Vom schrecklichen Zauberer Wawum verschleppt, waren sie gezwungen, ein Dasein ohne Hoffnung zu fristen, bis zu dieser Geschichte, der Geschichte vom Zauberer Filuh ?
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Seitenzahl: 142
Wolfgang Lambrecht
Michael Imhof Verlag
Wolfgang Lambrecht: Der verwunschene Zauberer Filuh
© 2016 (1. Druckaufl. 2012)
Stettiner Straße 25 | 36100 Petersberg
Tel. 0661/29 19 166-0
Fax 0661/29 19 166-9
www.imhof-verlag.de | [email protected]
Gestaltung und Reproduktion: Michael Imhof Verlag
Illustrationen: Dennis Lohausen
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2016
ISBN 978-3-7319-0380-2
Cover
Titel
Impressum
Die Hauptpersonen
Der verwunschene Zauberer Filuh
Das Land Kippihonia
Der erste Ozean
Der zweite Ozean
Der dritte Ozean
Der vierte Ozean
Der fünfte Ozean
Der sechste Ozean
Das Land des Todders und der siebte Ozean
Die Länder der Winde und der Feuer
Die plötzliche Gefahr
Aufkleber zum Sammeln
Auf unserer Erde, so wird erzählt, gibt es sogar noch heute unbekannte Gebiete, Gegenden, die niemals ein gewöhnlicher Mensch betreten oder befahren kann. Deshalb sollte es eigentlich unmöglich sein, etwas darüber zu erfahren. Manchmal aber geschieht es, dass – auf welchen geheimnisvollen Wegen auch immer – einige wenige Kunde davon erhalten und diese weitertragen.
In einem dieser Gebiete – weit weg von uns, irgendwo da draußen – existierten bis vor kurzer Zeit seltsame Berge, von denen man nicht genau weiß, wie hoch sie wirklich waren. Dass es die höchsten der Erde gewesen sein müssen, ist allerdings jedem klar, der Kenntnis davon hat. Es geht die Mär, auf dem Gipfel sei es so kalt gewesen, dass jeder der darüber steigen wollte, bereits beim ersten Kontakt mit dem Boden auf der Stelle zu dickem Eis gefröre. Würde diese Berührung jedoch vermieden – durch Fliegen oder Schweben beispielsweise – geschähe nichts. Eine sehr geheimnisvolle, nicht zu verstehende Sache.
Die Täler aber, die sich zwischen diesen Bergen versteckten, reichten unglaublich tief hinab – fast sogar bis zum Erdinnern, dem Mittelpunkt unseres Planeten. Deshalb war es dort so heiß, dass Leben unmöglich möglich war. Bäume wären sofort in Flammen aufgegangen, Menschen beim ersten Wimpernschlag verglüht. Außer Fels und Stein existierte hier nichts, sogar jegliches Metall verlöre seine Form, schmölze schnell dahin und flösse kochend und brodelnd über den Boden.
Eingeschlossen von diesen seltsamen, hohen Bergen und übermäßig heißen, tiefen Tälern aber gab es ein Land, das Land Kippihonia. Es war ein Land ohne Zeit, ohne wärmende Sonne, aber auch ohne Dunkelheit. Noch nicht einmal ein Wetter gab es hier, das sich veränderte. Der Himmel war an allen Tagen unangenehm gleichmäßig grau und bedrückend. Alles schien trostlos und unwirklich. Trotzdem gab es hier Leben – vereinzelte Männer und Frauen wohnten in diesem Land – allerdings unfreiwillig, verschleppt, gezwungen.
Der Einzige, der über die Berge und Täler nach Kippihonia zu gelangen in der Lage war, war Wawum – der schrecklichste Zauberer, den es je gab. Er hasste das Lachen, das Glück, die Freude und die Zufriedenheit. Kam er in eine Stadt oder in ein Dorf, so bestrafte er in seinem übermäßigen Hass jeden, der gerade lachte und sich freute – und manchmal gar verschleppte er ihn in das von ihm selbst erschaffene Land der Traurigkeit. Hier waren jegliche Unterhaltung, Freude oder Lachen strengstens verboten.
Und dies ist die Geschichte, die du kennen solltest …
Die Existenz des schrecklichen Zauberers Wawum sprach sich unter den Menschen der Region mit der Zeit herum, und so wusste man überall von ihm. Wo er auftauchte, wurde es im Nu sehr ernst und still, bedrückend und beklemmend. Rundherum, im ganzen Ort, herrschte wie auf Kommando eine frostig eisige Stimmung. Genau so fühlte sich Wawum wohl, das war es, was er wollte: Menschen voller Angst, erschrocken, zurückgezogen.
Tauchte der schreckliche Zauberer jedoch sehr heimlich und leise, plötzlich und überraschend irgendwo auf und entdeckte ausgerechnet in diesem Moment einen Menschen, der lachte, so wurde dieser, schon bevor er fertig gelacht hatte, für zwei Tage und zwei Nächte zu einem starren, unbeweglichen, grauen Klotz aus Stein verwandelt. War die Zeit vorüber, kehrten Farbe und Bewegung in den Klotz zurück, die Erstarrung löste sich und es war, als sei nichts gewesen.
Schlimmer aber war es an Tagen, an denen Wawum während seines plötzlichen Besuches bei den Menschen weit unzufriedener war als gewöhnlich – und bedenke: Er war nie wirklich zufrieden, nicht mit sich und nicht mit der Welt. An diesen Tagen nämlich ließ er das die anderen spüren und brachte noch größeres Leid über sie. Vor den Augen der Umherstehenden lud er sich mit kaltem, raschem, aber hartem Blick in die Runde den soeben gezauberten Klotz auf die Schulter und trug ihn für alle Zeit fort. Nach Kippihonia – von wo es niemals mehr eine Rückkehr geben sollte, weil niemand in der Lage war, über die hohen Berge und durch die tiefen Täler zu gelangen.
In diesem großen, weiten Land voller Traurigkeit und bedrückender Stille, fernab der Heimat und ihrer Familien, fristeten die armen verschleppten Menschen fortan ihr Dasein. Alles, was sie hatten, war ihnen von einem Augenblick zum anderen genommen – außer den Kleidern und Schuhen, die sie beim plötzlichen Auftauchen des Zauberers trugen, und dem, was in den Taschen steckte.
Hier in Kippihonia war es öde und kahl, es gab nichts, auf das man hätte stolz sein oder worüber man sich hätte freuen können – zumal Freude ohnehin verboten war. Sogar das scheinbar Einfachste und Notwendigste, die tägliche Ernährung, kostete Überwindung.
Dürstete nämlich einen der Verschleppten, so musste er an der Quelle am Fuße des großen Felsens trinken. Heraus kam zwar klares und kaltes, aber unsagbar bitteres Wasser. Eine zweite Quelle, deren Trank süß, ein wenig schokoladig und recht lecker schmeckte, lockte zu Beginn natürlich jeden Neuankömmling. Wer jedoch davon nahm, wurde durstiger und immer durstiger, konnte nicht aufhören zu trinken bis er fast platzte und bekam die schlimmsten Bauchschmerzen, die man sich nur vorstellen konnte.
Wer hungrig war, der musste einen steinernen, schweren Eimer mit Hilfe eines unglaublich langen Stricks in einen mit nichts zu vergleichenden tiefen Brunnen herablassen und ihn anschließend wieder heraufkurbeln. Dieser Brunnen war gefüllt mit einem warmen Brei, der einzigen Speise, die es tagein und tagaus gab. Das war nicht nur sehr eintönig, es war zudem eklig. Der Brei hatte nämlich den Geschmack des widerlichsten Hustensaftes aller Hustensäfte. Richtiggehend grausig – und dennoch weit besser als einen qualvollen Hungertod sterben zu müssen.
Im Laufe der Zeit zimmerten sich die Frauen und Männer, als sie sich mit dem Aufenthalt in Kippihonia abgefunden hatten, notdürftig kleine Hütten, in denen sie fortan wohnten. Niemand weiß, wie sie das machten, ohne Nägel und Schrauben, aber sie taten es. In den Hütten war es spärlich, kein elektrisches Licht, kein Fernsehapparat, keine Möbel, keine Heizung. Eigentlich war gar nichts darin – schließlich war in ganz Kippihonia nichts vorhanden, nicht einmal Strom oder normales Wasser. Die Hütten dienten nur dazu, sich zurückziehen zu können, um den eigenen Gedanken nachzuhängen. So saßen die Menschen dann schweigend und vor sich hin träumend auf dem staubigen Boden und lehnten manchmal stundenlang mit dem Rücken an der Holzwand.
Doch damit nicht genug. Zusätzlich zum kompletten Verzicht hatte die Angst Besitz von den Menschen ergriffen, die sich jeden Moment ihres hoffnungslosen und tristen Lebens vor neuen Besuchen Wawums fürchteten – auch weil sie sich sorgten, dass er möglicherweise einen weiteren Klotz bringen würde – so einen armen Menschen, der, nur weil er gelacht hatte und fröhlich war, verwandelt und ins Land der Traurigkeit verschleppt wurde.
Eines Tages, die Nacht gab es hier ja nicht, stieg Wawum wieder über die hohen Berge und tiefen Täler nach Kippihonia und brachte auf der Schulter tragend einen Klotz. Dieser war viel kleiner als die bisherigen und an einem Ende spitz zulaufend.
Die Männer und Frauen schielten erschrocken aus den Wandöffnungen ihrer Hütten und versuchten zu erhaschen, was vor sich ging, trauten sich jedoch nicht nach draußen. Wawum stellte den neuen Klotz nahe der Schokoladenquelle ab, schaute beängstigend böse in die Runde und verschwand lautlos – so wie er es meistens tat.
Nach und nach wagten sich nun Männer und Frauen aus den Hütten heraus, um neugierig zu beobachten, wen oder was Wawum gerade gebracht hatte. Aus Angst aber, der schreckliche Zauberer könne unerwartet zurückkehren und sie bestrafen, redeten sie kein Wort miteinander – denn das war bei Strafe verboten.
Als die Zeit für zwei Tage und zwei Nächte gekommen war, löste sich die Erstarrung des kleinen grauen Klotzes und es kam wieder Farbe und Leben in ihn zurück. Es handelte sich um einen zierlichen Jungen, der mit einem seltsamen Umhang aus dunkelblauem Samt mit aufgestickten, goldenen Sternen bekleidet war. Links und rechts hatte dieser Umhang Schlitze, die wie Taschen zu sein schienen. Ein spitzer, schwarzer Hut schmückte den Kopf.
Der Junge schlug die Augen auf: „Wo bin ich hier? Wer seid ihr?“
Die Männer und Frauen, die um ihn herum standen, antworteten nicht. Sie sahen sich noch nicht einmal an. Sie senkten ihre Köpfe und wichen den Blicken des Jungen aus.
„Warum redet ihr nicht mit mir? Weshalb schaut ihr mich nur verstohlen an und tut, als sei ich eine ansteckende Krankheit?“
Die Umstehenden schwiegen jedoch weiterhin – ohne ihn anzusehen. „Bitte, sagt es mir doch!“
Endlich trat ein großer, kräftiger Mann nach vorne. Er trug eine hellblaue Jeans mit einem braunen Gürtel, ein kariertes Hemd und braune Schuhe. Seine Haare waren dunkel und wuschelig, aber nicht sehr lang. Die tiefbraunen Augen strahlten Güte und Wärme aus.
Als er anfing zu lächeln, war es, als würde alles Eis der Welt schmelzen: „Hallo, ich heiße Malert. Was ich dir nun sage, wird nicht schön für dich sein. Du bist in die Fänge des schrecklichen Zauberers Wawum geraten, der dich verschleppt und hergebracht hat – wie auch uns. Dort, wo wir einst lebten, waren wir lustige, glückliche und gute Menschen. Weil Wawum dies aber nicht mag, hat er großes Leid über uns und unsere Familien gebracht! Zunächst verwandelte er uns in einen starren Klotz, dann trug er uns in dieses Land namens Kippihonia, ein Land ohne Freude und Lachen, ohne Zeit, ohne wärmende Sonne, aber auch ohne Dunkelheit. Das Einzige, das sich hier verändert, sind wir – jedoch nicht äußerlich. Tief in unseren Herzen werden wir mit jedem Tag hoffnungsloser und trauriger, verzichten auf Liebe und Glück, dürfen nicht lachen. Selbst das Essen ist eklig und sogar das Wasser schmeckt bitter. Von hier gibt es weder Ausweg noch Flucht. Jeder, der bisher über die hohen Berge steigen wollte, erstarrte sofort zu dickem Eis und wer eines der tiefen Täler betreten wollte, verglühte beim ersten Wimpernschlag. So sind wir gefangen für alle Ewigkeit und müssen für immer hier bleiben. Unsere Familien und Freunde werden wir wahrscheinlich niemals wiedersehen.“
Der zierliche Junge schaute mit seinen lieben grünen Augen erschrocken zuerst auf Malert, dann auf die anderen, die mittlerweile um ihn herumstanden, und fragte: „Wie lange seid ihr schon hier?“
Malert antwortete: „Das weiß niemand von uns so genau, weil es im Lande Kippihonia nicht Tag und nicht Nacht gibt, nicht einmal Zeit. Sogar unsere Uhren stehen still. Seit wir hier sind, zeigen sie keine Minuten oder Stunden an. Siehst du die Bäume dort? Sie sind kahl und verändern sich nicht, tragen keine Blätter und keine Frucht. Wir wissen nicht, ob zu Hause Frühling ist, Sommer, Herbst oder Winter. Hier gibt es keine Jahreszeiten. Es wird nicht wärmer und nicht kälter, es ist immer gleich. Tagein und tagaus! Das ist ein seltsames Land, das Land des schrecklichen Zauberers Wawum.“
„Bestimmt“, philosophierte der kleine Junge, „hat es Wawum verzaubert! Zu einem tristen und öden Land, so wie er euch zu traurigen Menschen machte. Vielleicht war auch dieses Land einst fruchtbar und bunt. Ich habe schon viel über ihn gehört, er soll unter uns Zauberern der schrecklichste überhaupt sein …“
Malert unterbrach ihn: „Unter uns Zauberern? Was willst du damit sagen?“
„Auch ich bin ein Zauberer, der kleine Filuh. Ich lerne bei den Großen, den Besten meiner Zunft. Leider habe ich noch nicht die Kraft, ständig und alles zu zaubern – das ist bei Kindern so. Aber ich denke, im Moment gibt es Wichtigeres als über mich zu reden.
Kommt, setzt euch zu mir und erzählt von euch.“
Die Frauen und Männer zuckten in sich zusammen. Hinsetzen und reden! Unmöglich.
Malert erklärte: „Das geht nicht. Wenn der schreckliche Wawum zurückkehrt und uns zusammen sieht, wird er uns bestrafen. Neulich haben drei von uns an der Quelle am Felsen gestanden und miteinander gesprochen, als er plötzlich hier auftauchte. Sofort verwandelte er den Ersten in diesen trockenen Ast, den Zweiten in den Stein und den Dritten in das Seil dort.“ Während er sprach, zeigte er auf die Gegenstände und fügte hinzu: „Es ist zu gefährlich zusammen zu sein und miteinander zu sprechen.“
„Dann könnte also jeder Stein, jeder Baum, jeder Ast ein Mensch gewesen sein? Das ist ja furchtbar!“, stellte Filuh fest.
Das Ziel des schrecklichen Zauberers war es, Angst und Schrecken zu verbreiten, den armen Seelen in Kippihonia jegliche Freude und allen Mut zu nehmen und ihnen gerade so viel zu geben, dass sie leben konnten. Tanzte einer aus der Reihe und hielt sich nicht an die Regeln, wurde er verdammt und in irgendetwas Nutzloses verzaubert!
Filuh fragte neugierig: „Falls wir vorher wissen würden, wann Wawum über die hohen Berge und die tiefen Täler zu uns steigt, würdet ihr mir dann mehr von euch erzählen? Wir könnten in diesem Fall immer zeitig genug auseinandergehen und schweigen. Warum habt ihr keine Wachen aufgestellt?“
Wieder antwortete nur Malert: „Der schreckliche Zauberer ist um ein Vielfaches schneller als jeder von uns. Was nutzt eine Wache, wenn sie uns nicht benachrichtigen kann?“
Der kleine Zauberer Filuh strich mit der rechten Hand unter seinem Kinn entlang und überlegte: „Wie wäre es, wenn wir eine Taube hinüber schicken würden, die zu uns flöge wenn sie Wawum erblickt? Eine Taube kann schneller fliegen als ein Zauberer läuft!“
Diesmal meldete sich skeptisch ein anderer Mann zu Wort. Er war weißhaarig, machte einen intelligenten Eindruck und trug eine Brille auf der Nase: „Ich bin Holger. Falls du es nicht gemerkt haben solltest, Filuh, in Kippihonia gibt es keine Tiere. Wo sollten wir also eine Taube herhaben? Das funktioniert mit Sicherheit nicht!“ Der kleine Filuh ließ nicht locker: „Wenn wir eine Taube hätten, die wir als Wache einsetzen könnten, wäret ihr damit einverstanden? Würden wir dann in Zukunft zusammen sprechen und lachen können?“
Die Frauen und Männer sahen sich flüchtig an und grummelten durcheinander. Überall hörte man ein undeutliches „ja schon – ja – warum nicht?“, dabei nickten sie dezent mit den Köpfen, um gleich wieder bestimmt zu sagen: „Aber das geht nicht, wir haben keine Taube.“
Filuh erhob den rechten Zeigefinger und blickte langsam in die Runde, griff anschließend in den rechten Schlitz seines Umhangs, holte einen einzigartig gewundenen, glänzenden Stab hervor und sprach hoch konzentriert eine Zauberformel, die sich ungefähr so anhörte:
„Columba alba volatica – sei für uns als Wache da!“
Dabei schwang er geheimnisvoll seinen Zauberstab, und er sprühte hauchdünnen, goldenen Staub rundherum in die Luft. Dort, wo er sich besonders schnell drehte, kam auf wundersame Weise eine Taube hervor – so hell und weiß leuchtend, wie sie noch niemals irgendjemand gesehen hatte – und landete vor den Füßen Filuhs.
Der kleine Zauberer bückte sich zu ihr hinunter und sprach: „Bitte weiße Taube, hilf uns. Sei unsere zuverlässige Wache und berichte uns schnell wie der Blitz, wenn der schreckliche Zauberer Wawum ins Land Kippihonia unterwegs ist. Kannst du das für uns tun?“
Die Taube reckte ihren Kopf und drehte ihn dabei etwas zur Seite. Mit sanfter Stimme antwortete sie so, dass es jeder verstehen konnte: „Nennt mich Ocissima, das bedeutet ‚die Schnellste‘, denn ich bin die schnellste Taube des Universums. Gerne tue ich das für euch und mache mich gleich auf den Weg. Weit über den hohen Bergen werde ich mit meinen scharfen Augen Ausschau halten und wenn ich Wawum erblicke, bin ich sofort bei euch. In meinem schnellen Flug wird mich niemand als Taube erkennen, und jeder wird mich höchstens für einen gleißenden Lichtstrahl halten. Um das möglich zu machen, bin ich von dieser Helligkeit und so weiß leuchtend.“
Mit diesen Worten hob sie sich in die Lüfte und war schon nicht mehr zu sehen. Man hätte sich einbilden können, ein Lichtstrahl sei in Kippihonia aufgeblitzt – und schon war es wieder vorbei.
Unsicher, ob das Vorhaben tatsächlich so klappen würde wie es sich der kleine Zauberer Filuh vorstellte, standen die Frauen und Männer wenig entscheidungsfreudig herum und wussten nichts zu tun.
Filuh ergriff auflockernd das Wort: „Jeder Zauber kostet mich viel Kraft, denn ich bin noch klein und jung. Lasst uns einen Moment reden, bevor ich mir einen Platz zum Schlafen suche. Setzt euch und erzählt etwas.“
Mit einer ausladenden Handbewegung deutete er den anderen an, sich zu setzen, während er sich selbst niederließ. Die Frauen und Männer bildeten einen Halbkreis um Filuh, dem kleinen Zauberer, und berichteten von der bitteren Quelle, die den Durst löschte, und von der süßen, leckeren Quelle, die immer durstiger machte und extreme Bauchschmerzen mit sich brachte. Sie sprachen über den tiefen Brunnen, aus dem sie mühevoll mit dem schweren Eimer aus Stein ihr Essen nach oben kurbeln mussten. Ihr Essen, das täglich nur aus Brei bestand, der nach ekligstem Hustensaft schmeckte. Dabei blickten sie ständig ängstlich in die Runde, denn sie zweifelten noch an der Zuverlässigkeit der Taube.