Der wachsame Träumer - John le Carré - E-Book

Der wachsame Träumer E-Book

John Le Carré

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Beschreibung

Alle Romane von John le Carré jetzt als E-Book! - Mit "Der wachsame Träumer" verlässt John le Carré die Welt des Spionageromans und erzählt ein großes Abenteuer des Lebens und des Liebens: In der Hoffnung, endlich das Glück zu finden, löst sich ein Mann aus allen Sicherheiten seiner bisherigen Existenz – eine Entscheidung, die nicht nur für ihn dramatische Folgen hat. »Eine grandiose Satire« FAZ Große TV-Doku "Der Taubentunnel" ab 20. Oktober 2023 auf Apple TV+

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Das Buch

Der Unternehmer Aldo Cassidy, gelangweilt von der glatten Fassade seines Erfolgs, von seiner Familie, seiner Fabrik, seinem Bentley, sucht nach Erfüllung: Als er das Bohème-Ehepaar Shamus und Helen kennenlernt, ist er fasziniert von der ungezwungenen und sorglosen Art, mit der die beiden durchs Leben gehen: Ungeahnte Möglichkeiten tun sich vor ihm auf, er will sich selbst neu erleben, ein anderer Mensch werden. Und so gibt er Hals über Kopf seine geschäftliche und private Sicherheit auf, um sich in der Welt der Künstler seinen Traum von Freiheit und Glück zu erfüllen.

Der Autor

John le Carré, am 19. Oktober 1931 in Poole, Dorset, geboren, war nach seinem Studium in Bern und Oxford in den sechziger Jahren in diplomatischen Diensten u. a. in Bonn und Hamburg tätig. Sein Roman Der Spion, der aus der Kälte kam machte ihn 1963 weltbekannt. Zahlreiche seiner Bestseller wurden erfolgreich verfilmt. Der Autor lebt mit seiner Frau in Cornwall.

In unserem Hause sind von John le Carré bereits erschienen:

Absolute Freunde · Agent in eigener Sache · Dame, König, As, Spion · Das Rußlandhaus · Der ewige Gärtner · Der heimliche Gefährte · Der Nachtmanager · Der Spion, der aus der Kälte kam · Der Schneider von Panama · Der wachsame Träumer · Die Libelle · Ein blendender Spion · Ein guter Soldat · Ein Mord erster Klasse · Eine Art Held · Eine kleine Stadt in Deutschland · Empfindliche Wahrheit · Geheime Melodie · Krieg im Spiegel · Marionetten · Schatten von gestern · Single & Single · Unser Spiel · Verräter wie wir

John le Carré

Der wachsame Träumer

Roman

Aus dem Englischenvon Rolf und Hedda Soellner

List Taschenbuch

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www.ullstein-buchverlage.de

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ISBN 978-3-8437-0843-2

1. Auflage Oktober 2006

© der deutschen Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2006

© 1971 by le Carré Productions

Titel der englischen Originalausgabe: The Naive and Sentimental Lover

(Hodder and Stoughton, London)

Übersetzung von Rolf und Hedda Soellner

mit freundlicher Genehmigung des Verlages Kiepenheuer & Witsch, Köln

Umschlaggestaltung: Sabine Wimmer, Berlin

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzung wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

E-Book: CPI – Clausen & Bosse, Leck

HAVERDOWN

1

Cassidy fuhr wohlgemut durch den abendlichen Sonnenschein, sein Gesicht war so nah an der Windschutzscheibe, wie der Sicherheitsgurt es zuließ, der Fuß wechselte rastlos zwischen Gaspedal und Bremse, der Blick spähte die schmale Straße entlang nach verborgenen Gefahren. Auf dem Nebensitz lag, säuberlich in einer Plastikhülle verwahrt, eine Generalstabskarte von Mittel-Somerset. Ein Ölbasis-Kompaß neuesten Typs war mittels einer Saugvorrichtung am Walnußpaneel befestigt. In einer Ecke der Windschutzscheibe, gerade noch innerhalb seines Blickfeldes, steckte ein Exemplar des Angebots der Maklerfirma mit dem klingenden Briefkopf Firma Grimble & Outhwaite, Mount Street W., in einer von Cassidy selber erfundenen Aluminium-Halterung. Er fuhr, wie immer, mit größter Konzentration, und von Zeit zu Zeit summte er mit der verschämten Treuherzigkeit vor sich hin, die unmusikalischen Personen zu eigen ist.

Er fuhr jetzt über ein Moor. Dünner Bodennebel zog über Gräben und Weidenbäume, glitt in kleinen Schwaden über die funkelnde Kühlerhaube seines Wagens, doch der Himmel über ihm war hell und wolkenlos, und die Frühlingssonne verwandelte die nahenden Hügel in Smaragde. Durch einen Hebeldruck ließ er das elektrisch gesteuerte Fenster herab und lehnte die eine Kopfhälfte in den Luftstrom. Sofort stieg ihm kräftiger Torf- und Silogeruch in die Nase. Über das beflissene Schnurren des Motors hinweg hörte er Geräusche von weidenden Herden und den Ruf eines Hirten, der seine Tiere freundschaftlich schmähte.

»Eine Idylle«, erklärte er laut. »Eine perfekte Idylle.« Mehr als das, es war eine sichere Idylle, denn in der ganzen schönen weiten Welt war Aldo Cassidy der einzige Mensch, der wußte, wo Aldo Cassidy sich aufhielt.

Jenseits seines akustischen Bewußtseins antwortete in einer abgeschlossenen Kammer seiner Erinnerung ein Echo auf die unbeholfenen Akkorde eines angehenden Pianisten. Sandra, Aldos Ehefrau, pflegt ihre künstlerischen Ambitionen.

»Gute Nachricht aus Bristol«, sagte Cassidy in die Musik hinein. »Sie haben vielleicht ein passendes Grundstück für uns. Wir werden es natürlich erst planieren lassen müssen.«

»Gut«, sagte Sandra und korrigierte sorgfältig ihre Handhaltung über den Tasten.

»Liegt eine Viertelmeile von der größten Grundschule und sechshundert Meter von der höheren Schule entfernt. Die Gemeinde sagt, wenn wir die Planierung übernehmen und die Umkleidekabinen stiften, würden sie höchstwahrscheinlich einen Fußgängerübergang über die Umgehungsstraße errichten.«

Sie spielte einen abgerissenen Akkord.

»Hoffentlich keinen häßlichen, Aldo. Stadtplanung ist etwas unendlich Wichtiges, Aldo.«

»Ich weiß.«

»Kann ich mitkommen?«

»Du hast doch deine Anstalt«, erinnerte er sie mit einem Versuch zur Strenge.

Ein weiterer Akkord.

»Ja. Ja, ich habe meine Anstalt«, pflichtete sie bei, und ihre Stimme trällerte leicht kontrapunktisch. »Also mußt du allein hin, nicht wahr? Armer Pailthorpe.«

Sie hatte ihm den Namen Pailthorpe gegeben, es war ihm entfallen, warum. Pailthorpe der Bär, vermutlich; ihre Fauna beschränkte sich vorwiegend auf Bären.

»Tut mir leid«, sagte Cassidy.

»Du kannst ja nichts dafür«, sagte Sandra. »Es hängt vom Bürgermeister ab, nicht wahr?«

»Vom bösen Bürgermeister«, sagte Cassidy. »Sie sollten ihn absägen.«

»Absägen, absägen«, sagte Sandra vergnügt und versuchte, die Schatten aus ihrem Gesicht zu verscheuchen.

Er war blond, achtunddreißig und in entsprechendem Licht betrachtet ein gutaussehender Mann. Wie sein Wagen war er mit liebevoller Eleganz ausstaffiert. Vom linken Reversknopfloch bis zur Brusttasche seines tadellosen Jacketts zog sich eine dünne Goldkette, die offensichtlich einem bestimmten, jedoch nicht bestimmbaren Zweck diente. Ästhetisch harmonierte sie vollendet mit dem dezenten Nadelstreifen des darunterliegenden Stoffes; als Teil der Takelage verband sie den Kopf des Mannes mit dem Herzen, wobei offenblieb, welchem Ende der Vorrang gebührte. In Bau und Aussehen hätte er als architektonischer Prototyp des gutbürgerlichen Engländers dienen können, der zwischen den beiden Weltkriegen eine Privatschul-Erziehung genossen hatte; der gerade noch den Pulvergeruch, nie aber den Kugelregen kennenlernte. Er war gedrungen, kurzbeinig, ganz auf Landjunker angelegt, und die knabenhaft trotzigen Züge, die zugleich reif und zurückgeblieben wirkten, ließen noch immer einen Rest von Hoffnung zu, daß der Herr Papa für die Vergnügungen des Herrn Sohnes aufkommen werde. Nicht daß er weibisch gewirkt hätte. Zugegeben, der Mund schob sich deutlich aus dem Gesicht vor, und die Unterlippe war besonders ausgeprägt. Zugegeben auch, daß er sich beim Fahren gewisse Manieriertheiten erlaubte, die in die weibliche Richtung wiesen, zum Beispiel eine Haarsträhne aus der Stirn streichen oder den Kopf zurücklehnen und die Augen schließen, als hätte ein Migräneanfall einen brillanten Gedankengang jäh unterbrochen. Doch wenn diese Mätzchen überhaupt etwas bedeuteten, so spiegelten sie eine sympathische Empfindlichkeit gegenüber einer Welt, die gelegentlich zu schrill für ihn war, ein ebenso väterliches wie kindliches Einfühlungsvermögen und nicht irgendwelche unerfreulichen Neigungen, die aus der Internatszeit übriggeblieben waren.

Spesenlokale kannte er sichtlich nicht nur von außen. Eine schwer abzuschätzende Fülligkeit zeigte sich an der Gürtellinie (er hatte zur größeren Sicherheit und Bequemlichkeit den obersten Hosenknopf geöffnet) und zwischen den weißen Manschetten, die seine Hände von jeglicher manuellen Tätigkeit ausschlossen; Nacken und Teint strahlten bereits jenen glatten und satten Glanz aus, fast eine Politur, eher flambé als sonnenverbrannt, wie ihn nur Ballongläser, Rechauds und der Rauch von crêpes suzettes naturgetreu wiederzugeben vermögen. Trotz dieses evidenten körperlichen Wohlbefindens oder vielleicht als Ausgleich dazu besaß der äußere Cassidy auf rätselhafte Weise die geradezu gebieterische Fähigkeit, andere aufzuscheuchen. Obgleich er nicht im geringsten hilflos wirkte, hatte er etwas an sich, das Aufmerksamkeit erregte und Beistand heischte. Irgendwie vermochte er die Überzeugung zu wecken, daß die wuchernden Pfunde noch nicht die Macht des Geistes erdrückt hatten.

Als hätte auch der Wagen die Beschützerrolle akzeptiert, die Cassidy unbewußt seiner Umgebung aufdrängte, war das Innere mit zahlreichen wichtigen Extras ausgestattet, die ihm die verhängnisvollen Folgen eines Zusammenstoßes ersparen sollten. Nicht nur, daß Wände, Dach und Türen üppig mit mehreren Schichten Steppbezug ausgekleidet waren; das Steuerrad, die ohnehin tief in köstlichen Filzmulden versenkten Türgriffe mit Sicherungsklinke, das Handschuhfach, die Handbremse, sogar der diskret verborgene Feuerlöscher, alles war noch eigens in handgestepptes Leder verpackt und mit einer molligen fleischartigen Masse gepolstert, die auch den härtesten Aufprall zu einem bloßen Streicheln dämpfen mußte. Am Rückfenster hing ein elektrisch zu bedienendes und mit kleinen Seidenpompons gesäumtes Rollo, jederzeit bereit, den Nacken des braven Mannes vor einer übereifrigen Sonne oder seine Augen vor der Blendung durch fremde Scheinwerfer zu schützen. Und das Armaturenbrett war eine wahre Reiseapotheke voll technischer Vorbeugungsmittel: von Signal-Lampen bis zum Glatteis-Detektor, von der Reservebatterie bis zum Reserve-Ölvorrat, vom Safari-Tank bis zu einem zusätzlichen Kühlungssystem fanden sich dort Schalter zur Verhütung jeglicher der Natur und den einschlägigen Firmen bekannten Katastrophe. In Cassidys Wagen fuhr man nicht, man wurde getragen; wie in einem Mutterleib, aus dessen gepolsterter, geglätteter Höhlung der Insasse erst noch seinen Weg in eine härtere Welt würde antreten müssen.

»Wie weit ist’s noch bis Haverdown, bitte?«

»Was?«

»Haverdown.« Sollte er es buchstabieren? Höchstwahrscheinlich war der Bursche Analphabet. »Haverdown. Das große Haus. Das Gut.«

Der blöde Mund öffnete sich, schloß sich teilweise, als er lautlos den Namen nachformte; ein schmutziger Arm wies nach dem Hügel. »Geradeaus rauf und drüben runter.«

»Und wie weit noch, so ungefähr?« fragte Cassidy laut, als spräche er zu einem Schwerhörigen.

»Keine fünf Minuten nicht mehr, in dem da.«

»Tausend Dank. Mach’s gut, mein Sohn.«

Im Spiegel starrte ihm das braune Gesicht des Dorfdeppen mit einem Ausdruck komischer Ungläubigkeit nach, bis er außer Sicht war. Nun, dachte Cassidy, heute hat der Junge ein Stück von der Welt gesehen, und von den zwei Shilling wird er sich nicht betrinken. Alles Lebende schien aufgeboten, um an seiner Durchreise Anteil zu nehmen. In Bauerngärtchen ließen umhertollende Kinder ihre uralten Spiele sein und drehten sich um, um ihn anzuglotzen, als er vorüberglitt. Wie pastoral, dachte er; wie ursprünglich, wie vital. Aus Bäumen und Hecken brachen mit jahreszeitlich bedingter Kraft Knospen in verschiedenen Grüntönen, während sich auf den Feldern wilde Narzissen mit anderen Blumen mischten, die er nicht identifizieren konnte. Er verließ das Dorf und fuhr hügelan. Der steile Hang wich sanft abfallenden lichten Wäldern. Unter ihm entschwanden Gehöfte, Felder, Kirchen und Flüsse am fernen Horizont. Von solch reizender Aussicht besänftigt, gab er sich dem Nachsinnen über sein Streben hin.

»Streben wonach?« quengelte eine Stimme in seinem Innern. »Ein Hinstreben oder ein Wegstreben?«

Mit einer lässigen Bewegung des Kopfes schüttelte Cassidy solche Pedanterien ab. Unsinn, belehrte er sein inwendiges Publikum, ich bin hier, um ein Haus zu kaufen. Zu besichtigen, zu prüfen, zu kaufen. Und wenn ich es meiner Frau nicht mitgeteilt habe, so ist das allein meine Sache.

»Wirst du die Nacht über wegbleiben?« warf Sandra ganz beiläufig ein. Die Klavierübungen waren vorübergehend eingestellt, und sie beendeten ihr Abendessen.

»Es kann vielleicht erst gegen fünf losgehen«, erwiderte Cassidy und umging eine direkte Antwort. »Kommt darauf an, wann der Bürgermeister Zeit hat.« Eine versöhnliche Geste: »Ich denke, ich nehme mir etwas zum Lesen mit. Wenn du mir ein Buch aussuchen könntest.«

Langsam, Hand in Hand mit seiner Beraterin in kulturellen Lebensfragen, schritt Cassidy, der angehende Leser, die Reihen von Sandras Bücherregal ab.

»Also«, überlegte sie sehr ernsthaft. »Was liest ein Pailthorpe, wenn er nach Bristol auf galante Abenteuer auszieht?«

»Muß etwas sein, was ich auch noch mit ein paar Promille bewältigen kann«, warnte er. Sie lachten beide. »Und nicht«, – er spielte auf eine frühere Auswahl an – »nicht Jane Austen.«

Sie einigten sich auf ein Sachbuch, ohne Schnörkel, das Richtige für einen müden Pailthorpe mit wenig Phantasie.

»Manchmal«, sagte Sandra scherzend, »frage ich mich, ob du diese Leute überhaupt wirklich aufsuchst.«

»Natürlich nicht«, sagte Cassidy und warf den Ball geschickt zurück. »Sie ist eine Blondine und mißt zwei Meter vierzig.«

»Sexy«, sagte Sandra und küßte ihn. »Wie heißt sie?«

Haverdown.

Hoffentlich hatte er es richtig ausgesprochen. Auf solche Dinge kann es ankommen, wenn man in eine neue Nachbarschaft zieht. Haverdown.

War das a lang oder kurz? von »have« oder von »haver«?

Eine Taube versperrte ihm die Zufahrt. Er hupte. Sie zog sich bedächtig zurück.

Und das down: was bedeutete down? Ein Landjunker sollte seine Wortstämme kennen. Down wie die Abwärtsbewegung oder down wie in den rollenden Dünen Englands? Dann kam ihm ein glücklicher Einfall, als mit der übertriebenen Gestik derer, die ihre eigene Gesellschaft genießen, der Schlagfertige seine Brauen hob und in stiller akademischer Überlegenheit lächelte. Oder down wie Daunen, Flaum? Antworten Sie gefälligst, sehr geehrte Firma Grimble & Outhwaite in Mount Street W.

Haverdown.

Es war unleugbar ein hübscher Name, obwohl Namen in solchen Fällen natürlich nichts bedeuten. Auch ein stolzer Name. Nicht Hall oder Court oder Grange, nicht einmal Gut Haverdown. Nur Haverdown: ein souveräner Begriff, wie sein Lehrer in Oxford gesagt haben würde, der keines Attributes bedurfte. Haverdown. Könnte man gut als Adelstitel wählen, falls man so etwas je von ihm verlangen sollte. »Kennen Sie den jungen Cassidy von Haverdown? Bemerkenswerter Bursche. Blühende Firma in London. Gibt alles auf und zieht hier heraus. Nach zwei Jahren hat er ein Mustergut. Dabei hat er zu Anfang keinen Deut von Landwirtschaft verstanden, glatte Null. Es heißt allgemein, er hat den goldenen Daumen. Die Leute hier vergöttern ihn. Fast kriminell großzügig.«

Cassidy wollte in den Spiegel blicken und seinem adeligen Abbild frivol eine Grimasse schneiden, als er scharf abschwenkte. Die Einfahrt wird markiert durch zwei elegant proportionierte Steinpfosten, die Wappentiere aus dem 16. Jahrhundert tragen. Direkt vor ihm ragten zwei bröckelige Greife, grimmig den Wappenschild umkrallend, ins grüne Dunkel einer Birke. Ihre Füße waren an die Säulenplatte geschmiedet und ihre Schultern eingesunken vor Müdigkeit. Aufmerksam studierte Cassidy die eingerollten Wappenschilde. Ein verwaschenes Schrägkreuz bildete die Zentralfigur, Federn oder liegende Schlangen füllten das obere Dreieck. Verwundert runzelte er die Stirn. Federn bedeuten Wales, soviel wußte er; aber war das nicht ein Andreas-Kreuz? Und bedeutete Sankt Andreas nicht Schottland, daher die Schraffierung für »rot«?

Er legte den Gang ein und startete die Einfahrt entlang. Geduld. Zu gegebener Zeit würde er die Sache genauer untersuchen, es würde eine Beschäftigung für die Wintermonate abgeben. Er hatte sich schon immer gern als eine Art Lokalhistoriker gesehen, der die Gemeindebüchereien abgraste, Ausgrabungen anregte und an gebildete Dorfvikare Postkarten schrieb.

»Vielleicht«, sagte Sandra, als sie sich zum Schlafengehen anschickten, »kann ich das nächste Mal mitkommen?«

»Aber natürlich«, sagte Cassidy. »Wir machen eine Extrafahrt.«

»Eine gewöhnliche Fahrt reicht aus«, sagte Sandra und löschte das Licht.

Für kurze Zeit schloß sich das Unterholz um ihn. Über einen Teppich aus Glockenblumen hinweg sah er zwischen den Bäumen Wasser aufblitzen. Der Fahrweg führte ihn wieder ins Sonnenlicht, an einem unbewohnten Holzhaus vorbei, einen rostigen Eisenzaun entlang. Dann teilte ein zerbrochener Wegweiser mit Schlagseite die Anfahrt. Händler links, Besucher rechts. Ich bin beides, dachte Cassidy vergnügt und schlug die rechte Piste ein. Tulpen säumten den Wegrand, reckten die Köpfe zwischen den Nesseln. Gute Bestände hier, wenn er dem Unkraut rechtzeitig beikommen könnte. Der Teich war überwachsen. Libellen flitzten über die geschlossene Fläche der Seerosen, das Bootshaus verschwand fast unter dem Schilf. Wie flink die Natur das Ihre zurückforderte, überlegte Cassidy mit wachsendem Glücksgefühl, wie unerbittlich, wie mütterlich war ihr Wille!

Auf seinem Rasenplateau, zwischen einer zerfallenen Kapelle und dem kahlen Gerippe eines Treibhauses ragte plötzlich Haverdown vor ihm auf.

Als historisches und unter Denkmalschutz stehendesBURGARTIGES HERRENHAUS MIT BERGFRIEDdreißig Meilen von Bath (von Paddington eine Stunde vierzig Minuten) entfernt, ist Haverdown ein HERRSCHAFTLICHER WOHNSITZSOFORTVOLLBEZUGSFERTIGMITFÜNF JAGDHÜTTENUNDVIERZIG MORGENGUTEN WEIDELANDS. Teils im Tudorstil, teils noch früher errichtet, die Umbauten stammen zumeist aus der Georgianischen Zeit, in welcher auch der ursprüngliche Bergfried nach den Angaben LORDAlfred de Waldeberes vollständig restauriert wurde. Zu den zahlreichen vorteilhaften Neuerungen gehören ein schön geschwungenes Treppenhaus im Adam-Stil und eine Anzahl schöner und sehr wertvollerITALIENISCHER BÜSTEN, die im Verkaufspreis inbegriffen sind. Haverdown war von alters her Stammsitz und Festung der De-Waldebere-Familie.

DERGEORGIANISCHE TRAKT. Einmalig schön auf einer natürlichen Erhebung gelegen, beherrscht die elegante Südfassade aufs glücklichste eine der reizvollsten Landschaften Somsersets. Die Mauern bestehen aus alten Ziegeln, denen Zeit und Witterung eine elegante rostbraune Tönung verliehen haben. Den Mittelbau krönt ein Flachgiebel aus Putzstein, acht Sandsteinstufen, vom Fuß der Zeit abgetreten, führen zu einem imposanten halbrunden, von sechs aparten Säulen getragenen Portikus. Im Westen, zwischen der Kapelle und dem Treibhaus, sorgt eine herrliche, leicht reparaturbedürftige Familiengruft für die Wahrung der Symmetrie. Das unverändert erhalten gebliebene Taubenhaus bietet reichlich Platz für eine Heizungsanlage, ein Gästehaus oder eine EREMITAGE. Der gußeiserne Cupido (in traditioneller Pose) im rückwärtigen GARTENist getrennt veranschlagt (s. Anlage).

DIEÄLTEREN GEBÄUDEbestehen aus dem reich gezinnten TURMmit Stufen und Glockenstube aus der Zeit, nebst einer Reihe von Armenhäuschen im Tudorstil. In ihrer Mitte erhebt sich, unterkellert und vonALTEM WASSERGRABENUMZOGEN, die türmchen- und zinnenbewehrte Great Hall mit dem Refektorium. Hauptanziehungspunkt der Great Hall, sicherlich einer der schönsten in West-England, ist eine aus der Regierungszeit Edwards I. stammende Spielmanns-Empore. Dort entrichteten, wie die Heimatforschung zu vermelden weiß, fahrende Sänger ihren Tribut an SIR Hugo de Waldebere, den ersten uns bekannten Besitzer von Haverdown, der im Jahre 1261 wegen Bruchs der Lehenstreue des Landes verwiesen wurde. Das Haus ging an seinen jüngeren Sohn über, nach welchem uns kein Besitzer vermeldet wird, bis im Jahre 176o Lord ALFREDaus der Fremde heimkehrte, um das Haus seiner Väter wieder aufzubauen, die vermutlich durch die Katholikenverfolgungen für lange Zeit in alle Winde zerstreut waren: Die Gärten sind nachKLASSISCHEMenglischen Muster angelegt, das die Natur ohne übertriebene Beschneidung erhalten wissen will, und bedürfen der Pflege.

Anfragen

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Z. HD. Jun./P. Mr. GRIMBLE

Nachdem er den Prospekt sorgfältig wieder in den Halter gesteckt und einen leichten Kaschmir-Mantel von einem Patenthaken neben dem Rückfenster genommen hatte, warf Cassidy zufällig einen Blick nach hinten, über den Babysitz und die seidenen Troddeln an dem Vorhang hinweg, und erlag einer interessanten Halluzination. Die Auffahrt war verschwunden. Dicke Wände aus Grün, von dunklen Tunnels durchstoßen, hatten sich über seiner Spur geschlossen und ihn von der Außenwelt isoliert. Er war allein in einer Zauberhöhle aus dunklem Grün; im Märchentheater mit seinem Vater; in der Kindheit, vor dreißig Jahren …

Später konnte er diese optische Täuschung ohne weiteres erklären. Ein Nebelstreif, so versicherte er sich selber, ein Nebelstreif, wie sie über dem Moor lagen, hatte sich unterhalb seines unmittelbaren Gesichtsfelds abgelagert und durch irgendeine Lichteinwirkung die Farbe des Blattwerks angenommen. Es mußte geregnet haben (es hatte tatsächlich geregnet), und die Feuchtigkeit des Weges zusammen mit der tiefstehenden Sonne hatte einen grünen Schimmer erzeugt, der die Straße wie hohes Gras erscheinen ließ. Oder er selbst hatte durch die rasche Kopfbewegung nach der langen Fahrt frühere optische Eindrücke auf das reale Bild projiziert … ergo ein Zusammentreffen natürlicher Gegebenheiten, genau wie bei einer Fata Morgana.

Dennoch hatte er den Zeitraum eines Augenblicks lang – der im Aldo Cassidyschen Innenleben beträchtlich länger währen mochte – das Gefühl, in einer Welt eingeschlossen zu sein, die weniger kontrollierbar war als die Welt, die er kannte: kurz, eine Welt, die bestürzende metaphysische Sprünge machen konnte, und wenn auch ein zweiter Rückblick die Auffahrt alsbald wieder an ihren vorgegebenen Platz in der Ordnung der Dinge schob, so veranlaßte ihn doch diese Beweglichkeit, oder vielmehr die Erinnerung daran, noch eine Weile sitzen zu bleiben und sich zu sammeln. Und nur mit einigem Mißtrauen und dem unabweisbaren Gefühl des Ausgeschlossenseins öffnete er schließlich die Wagentür und setzte vorsichtig einen wohlbeschuhten Fuß auf die launenhafte Oberfläche der Erde.

»Und viel Spaß«, hatte Sandra ihm beim Frühstück in ihrem Truppenbetreuungston empfohlen. »Laß dich von denen nicht überfahren. Vergiß nicht, du bist der gebende Teil.«

»Will’s versuchen«, versprach Cassidy und grinste wie ein englischer Kriegsheld.

Sein erster Eindruck war alles andere als angenehm, er glaubte, mitten in einen Luftangriff geraten zu sein. Von Osten her war ein scharfer Abendwind aufgekommen, der seine Ohren unter Beschuß nahm und wie Trommelfeuer in die Ulmen einschlug. Tollkühn über ihm wirbelnde Saatkrähen ließen sich kreischend auf den Eindringling herabstürzen. Das Haus selbst hatte bereits einen Treffer abbekommen. Es ächzte in allen Fugen und Angeln, schwenkte empört die unnützen Glieder, ließ sie im Todeskampf gegen die eigenen schutzlosen Wände klatschen. Zu seinen Füßen lagen die Trümmer von Mauerwerk und Ziegeln. Ein gerissenes Kabel lief dicht über Cassidys Kopf hinweg den ganzen Garten entlang. Einen gräßlichen Augenblick lang bildete er sich ein, er sähe daran eine tote Taube an ihrem durchgescheuerten Bindfaden hängen, es war jedoch nur ein altes Hemd, das von einem achtlosen Zigeuner hängengelassen und von einem achtlosen Wind um sich selber gewickelt worden war. Komisch, dachte er und faßte sich wieder: sieht aus wie eins von den meinen, denen, die man vor ein paar Jahren trug, gestreift mit steifem Kragen und reichlich weiten Manschetten. Er fror ungemein. Das Wetter, das vom Wageninneren aus so freundlich und einladend gewirkt hatte, sprang ihn nun mit ganz unnatürlicher Bosheit an, blähte seinen dünnen Mantel mit barbarischen Böen und peitschte die Aufschläge seines superleichten Maßanzugs. Ja, dieser erste Ansturm der Wirklichkeit auf seine inneren Träumereien war so jäh und so wild, daß Cassidy in Versuchung geriet, sofort und auf der Stelle in die Geborgenheit seines Wagens zurückzukehren, und nur eine verspätete Trotzreaktion hielt ihn davor zurück. Schließlich, wenn er hier den Rest seines Lebens verbringen sollte, so gewöhnte er sich am besten gleich jetzt an das Klima. Er hatte, nach seinen Maßstäben, eine lange Fahrt zurückgelegt, um die dreißig Meilen; wollte er wahrhaftig wieder umkehren, nur wegen einer kleinen Brise? Entschlossen knöpfte er den Kragen zu und schritt allen Ernstes zur ersten Etappe seiner Inspektion.

Er nannte dieses Verfahren die Atmosphäre auf sich wirken lassen. Er hatte es oft geübt: Es galt, viele unwägbare Details zu testen. Die ganze Anlage zum Beispiel, ist sie feindselig oder freundlich? Bietet sie liebsame Abgeschlossenheit oder unliebsames Abgeschnittensein? Umhegt sie den Bewohner oder setzt sie ihn aus? Könnte man sich vorstellen – eine entscheidende Frage –, daß er hier geboren wäre?

Trotz der Kälte waren seine ersten Eindrücke nicht unvorteilhaft. Der Park, der die Aussicht von den Vorderfenstern des Hauses bilden müßte, hatte eine üppige ländliche Note, etwas entschieden Beruhigendes. Die Bäume waren Laubbäume (ein ausgesprochener Glücksfall, denn insgeheim fand er Nadelbäume zu düster), und ihr hohes Alter verlieh ihnen väterliche Milde.

Er lauschte.

Der Wind hatte nachgelassen, und die Saatkrähen beruhigten sich allmählich. Vom Moor herüber, auf dem immer noch der Meeresnebel haftete, wetteiferte das Raspeln einer Handsäge mit dem Muhen des Viehs. Er musterte die Weiden. Gute Umzäunung, reichlich Platz für Ponys, vorausgesetzt, daß hier keine Eiben wuchsen und sie vergifteten. Er hatte irgendwo gelesen, vermutlich bei William Cobbett, dessen Buch Rural Rides er für sein Abschlußexamen durchgearbeitet hatte, daß diese Bäume für Ponys Gift seien, und diese sinnlose Grausamkeit der Natur hatte sich seinem Gedächtnis eingeprägt.

Palaminos, so hießen sie.

Ich werde Palaminos halten. Brauchen kein Dach über dem Kopf, die Kastanienbäume liefern das Dach. Die Waliser sind die besten: zähe Biester, hieß es allgemein, genügsam und billig in der Haltung. Auch von der richtigen Gemütsart: Stadtleute konnten mit ihnen umgehen, ohne daß Vergeltungsmaßnahmen zu befürchten waren. Er schnupperte.

Holzrauch, feuchte Tannennadeln und der undefinierbare dumpfe Geruch, den Vernachlässigung erzeugt. Er hatte nichts daran auszusetzen.

Und schließlich wandte er – äußerlich ganz kühl – sich und sein kritisches Augenmerk dem Hause zu. Tiefes Schweigen hatte sich über den Hügelkamm gesenkt. In den Bäumen regte sich nichts. Das Hemd hing träge von seinem Kabel. Minutenlang blieb er stehen wie im Gebet, die behandschuhten Hände lose über dem Magen gefaltet, die Schultern stramm zurückgezogen, den blonden Kopf leicht zur Seite geneigt, der Überlebende am Grabe der gefallenen Kameraden.

Im Abendlicht seines neununddreißigsten Lenzes blickte Aldo Cassidy auf ein geballtes Dutzend englischer Generationen.

Noch während er dort stand, schwand das Licht. Rote Pfeile blitzten von der verbogenen Wetterfahne herab, strichen über die Glasreste in den Schiebefenstern und waren verschwunden. Ein Fels, dachte er, mit einem Schwall stolzen viktorianischen Purpurs. Ein Berggipfel vor dem Abendhimmel, unbezwinglich, unvergänglich, zu lebendigem Stein gewordene englische Geschichte. Ein Fels, wiederholte er, und sein romantisches Herz hämmerte halbvergessene Verse aus der englischen Heldenlyrik; ein Stück des Herzens, dessen Name England ist. Ein Fels, gemeißelt von der Hand der Zeiten, von Gottes Mauerleuten zubehauen, bewacht von seinen Scharen.

Wieviel gäbe ich darum, in einem solchen Haus geboren zu sein! Um wieviel größer, wieviel tapferer könnte ich dann sein! Von einem solchen Denkmal heroischer Zeitalter Namen, Glauben, Ahnenreihe, ja sogar den Beruf herzuleiten: noch immer Kreuzritter sein, nicht nur durch Mut, durch Demut vielmehr einer Sache dienen, die über allen Worten steht? In meinem eigenen Burggraben schwimmen, in meinem eigenen Küchentrakt kochen, in meiner eigenen großen Halle speisen, meiner eigenen Zelle meditieren? In meiner eigenen Gruft herumspazieren, unter den bleizerfetzten Fahnen meiner Ahnherren; Landpächtern Brot geben, widerspenstiges Gesinde zur Räson bringen, und dies in wohlig abgetragenem Tweed bis an mein kühles Grab?

Vor dem inneren Auge des Träumers baute sich ein Bild auf:

Ein Weihnachtsabend, kahl stehen die Bäume vor dem frühen Sonnenuntergang. Die einsame Gestalt, kein Jüngling mehr, in teueren, aber unauffälligen Kleidern, reitet durch die langen Schatten der Kastanienallee. Das Pferd, wohl wissend, welch kostbare Last es trägt, ist lammfromm sogar noch angesichts des heimatlichen Stalls. Eine Laterne winkt unter dein Portal, freudig eilt die Dienerschaft zum Tor. »Ein guter Ritt gewesen, Mister Aldo?« »Nicht übel, Giles, nicht übel. Nein, nein, ich reib’ ihn selber trocken, vielen Dank. Schönen guten Abend, Mistress Hopcroft. Die Feier schon im Gange, nehm’ ich an?«

Und drinnen, was erwartet ihn drinnen? Keine Kinder, keine Enkel, die nach seiner Hand fassen? Keine liebenswerte Lady im langen hausgewobenen Tweedrock, die über die elegant geschwungene Treppe im Adam-Stil herabschreitet, eine Schale mit aromatischen Kräutern in der lilienweißen Hand? Keine Sandra, um ein Dutzend Jahre jünger, pianolos, frei von ihrem inneren Dünkel, die Aldos männliche Überlegenheit nicht in Frage stellt? Zu einem anmutvollen Dasein geboren, neu für ihn, witzig, schillernd und bewundernd? »Mein armer Liebster, du mußt ganz durchfroren sein. Ich mache Feuer im Kamin der Bibliothek. Komm, laß mich dir mit deinen Stiefeln helfen.«

Es gab kein Drinnen. In solchen Fällen warf Cassidy sich entschlossen auf das Draußen.

Um so überraschter war er, als er bei einem zufälligen ärgerlichen Blick nach oben, nach einem Taubenschwarm, dessen rastloses Flattern seine Gedanken unterbrochen hatte, einen dünnen, aber unübersehbaren Rauchkringel aus dem westlichen Schornstein aufsteigen und ein wirkliches Licht, sehr gelb, wie eine Öllampe, unter dem gleichen Portal leise hin und her schwingen sah, das er vor wenigen Augenblicken in seiner Phantasie durchschritten hatte.

»Hallo, Lover«, sagte eine angenehme Stimme. »Wir suchen wohl jemand, ja?«

2

Cassidy tat sich einiges auf seine Kaltblütigkeit in kritischen Situationen zugute. In Geschäftskreisen genoß er den, wie er fand, wohlverdienten Ruf eines schnellen Denkers. »Gewitzt« hatten ihn The Times Business News im Zusammenhang mit einer unlängst stattgefundenen Fusions-Verhandlung genannt. »Der sanfte Knacker harter Nüsse.« Diese Fähigkeit entsprang nicht zuletzt der Weigerung, das Ausmaß einer Gefahr zu erkennen, und sie wurde gestützt durch ein solides Wissen von der Nützlichkeit des Geldes. Cassidys erste Reaktion bestand daher darin, das Befremdliche der Anrede zu ignorieren und dem Mann einen guten Abend zu wünschen.

»Himmel«, sagte die Stimme. »Schon so spät?«

Die zweite Reaktion bestand darin, daß er beiläufig zu seinem Wagen schlenderte, keineswegs um zu fliehen, sondern um sich als dessen Besitzer auszuweisen und dementsprechend als kapitalkräftiger, potentieller Käufer. Außerdem dachte er an das detaillierte Verkaufsangebot in einer Aluminiumhalterung, das im Bedarfsfalle den Beweis lieferte, daß er kein unbefugter Eindringling war. Er war sehr ärgerlich über die Agentur. Schließlich hatte sie ihn hierhergeschickt, ihm eindeutig versichert, daß das Haus unbewohnt sei, und sie würden ihren Fehler morgen auch teuer bezahlen müssen. »Es ist ein Zwangsverkauf, mein Lieber«, hatte Outhwaite ihm am Telefon in jenem albernen Verschwörerton zugekrächzt, den man offenbar ausschließlich im Immobiliengeschäft erwirbt. »Bieten Sie ihnen die Hälfte, und sie werden Sie vor Dankbarkeit in Stücke reißen.« Nun, es würde sich herausstellen, wer nach diesem Streich in Stücke gerissen wurde. Nachdem er rücklings aus dem Wagen aufgetaucht war, die vervielfältigten Blätter deutlich sichtbar in der freien Hand, fiel ihm unangenehm auf, wie starr der Blick seines Befragers, verkörpert durch den unbeweglichen Lichtstrahl der Laterne, auf ihn gerichtet war.

»Das ist doch Haverdown, nicht wahr?« fragte er zu den Stufen hinauf und benutzte das kurze a. Der Tonfall war genau berechnet. Verwirrt, aber nicht bestürzt, mit einem Schuß Entrüstung, um seine Autorität zu wahren: Der ehrenwerte Bürger, der bei der Abwicklung seiner legalen Geschäfte behindert wird.

»Würde ich fast annehmen, Lover«, erwiderte die Laterne nicht unbedingt scherzhaft. »Wir möchten’s wohl kaufen, was?«

Die Züge des Sprechenden waren noch immer hinter dem Lampenlicht verborgen, doch vom Höhenabstand zwischen Kopf und Türsturz konnte Cassidy errechnen, daß der Mann etwa die gleiche Größe wie er selber haben mußte; und den gleichen Körperbau, nach der Schulterbreite, die sich vor dem dunklen Hausinneren abhob. Alle übrigen Auskünfte lieferte ihm, während er die acht vom Fuß der Zeit abgetretenen Sandsteinstufen erklomm, sein Gehör. Der andere war auch in seinem Alter, aber selbstsicherer, der rechte Mann, um die Truppen anzufeuern und mit den Toten fertig zu werden. Die Stimme war überdies bemerkenswert zwingend. Sogar dramatisch, würde er sagen. Intensiv eindringlich. Ein sanft überredender Klang schwang mit. Cassidy entdeckte ferner – er hatte ein feines Ohr für soziale Untertöne – eine gewisse regional bedingte Abweichung, möglicherweise in Richtung aufs Gälische, eine Mundart, kein Akzent, die in keiner Weise seine positive Meinung über den guten Stall des Unbekannten schmälerte. Das Andreaskreuz und die Federn von Wales: Nun, das hier war, wenn er nicht irrte, die Harfe Irlands. Er war auf der obersten Stufe angelangt.

»Nun, natürlich möchte ich es gern besichtigen. Ihre Makler haben mich geschickt, Grimble & Outhwaite«, er wedelte leicht mit den abgezogenen Blättern, um zu zeigen, daß er den Beweis in Händen halte. »Die haben sich wohl mit Ihnen in Verbindung gesetzt?«

»Keine Spur«, erwiderte die Laterne gleichmütig. »Kein Ton, kein Sterbenswörtchen.«

»Aber ich habe den Termin vor beinah einer Woche verabredet! Ich möchte doch meinen, sie hätten bei Ihnen anrufen können oder so. Meinen Sie nicht auch?«

»Anschluß ist gesperrt, Lover. Hier draußen ist das Ende der Welt. Nur die Kuhlemuhle und die Kohlmeisen. Und natürlich wilde Saatkrähen, die suchen, wen sie verschlingen können, diese Galgenvögel.«

Es schien Cassidy nötiger denn je, die Verhandlungslinie strikt einzuhalten.

»Auf jeden Fall hätten sie schreiben können«, protestierte er, in dem Bestreben, zwischen sich und dem anderen das Gespenst eines gemeinsamen Gegners heraufzubeschwören. »Also wirklich, diese Leute sind das Letzte.«

Die Antwort ließ eine ganze Weile auf sich warten.

»Vielleicht wissen sie nicht, daß wir hier sind.«

Während des ganzen Wortwechsels war Cassidy der Gegenstand eingehender Betrachtung gewesen. Die Lampe, die langsam über seinen ganzen Körper spielte, hatte zuerst die handgearbeiteten Schuhe begutachtet, dann seinen Anzug, und nun verharrte sie bei der Entschlüsselung des Emblems auf seiner dunkelblauen Krawatte.

»Herr im Himmel, was ist das?« fragte die sanfte Stimme. »Indien?«

»Ach, nur ein Dining Club«, gestand Cassidy, der dankbar war für die Frage. »Nennt sich die Nondescripts.«

Lange Pause.

»O nein«, protestierte die Stimme schließlich echt erschüttert. »Mein Gott, was für ein verdammt gräßlicher Name: die ›Unbeschreiblichen‹, die ›Untermenschen‹. Ich meine, was würde Nietzsche dazu sagen, um Gottes willen? Nächstens werdet ihr euch noch die krätzigen Kameltreiber nennen.«

Cassidy war an solche Behandlung in keiner Weise gewöhnt. Dort, wo er sein Geld ausgab, war sogar seine Unterschrift eine überflüssige Formalität, und unter gewöhnlichen Umständen hätte er energisch gegen jede bloße Andeutung protestiert, die seinen Kredit oder seine Person – ganz zu schweigen von seinem Dining Club – in Zweifel gezogen hätte. Doch hier waren die Umstände nicht gewöhnlich: Anstatt von einer entrüsteten Aufwallung wurde Cassidy aufs neue von jenem unangenehmen Gefühl des Gespaltenseins ergriffen. Es war, als wäre die Gestalt hinter der Laterne kein Fremder, sondern er selbst, der auf geheimnisvolle Weise von den Tiefen des flüssigen Zwielichts reflektiert wurde; als musterte sein beschwingteres, freieres Ich im Licht dieser ungewöhnlichen Laterne die Züge seiner erdgebundenen anderen Hälfte. Und genau besehen waren die Nondescripts wirklich ein schäbiger Haufen; in letzter Zeit war dieser Gedanke ihm mehr als einmal gekommen. Schließlich gelang es ihm, solche bizarren Hirngespinste beiseite zu schieben und sich in einen fast hitzigen Ton hineinzusteigern.

»Hören Sie«, sagte er entschieden, »ich will nicht lästig fallen, ich kann durchaus ein anderes Mal wiederkommen. Vorausgesetzt, daß Sie verkaufen wollen«, fügte er hinzu, um der Sache Nachdruck zu verleihen.

Die Stimme ließ sich Zeit, ehe sie ihn beruhigte.

»Sie fallen nicht lästig, Lover«, sagte sie schließlich, als spräche sie ein wohlerwogenes Urteil. »Sie sind klasse, das seh’ ich. Erstrangig. Kein Witz. Seit Jahren haben wir hier keinen Bourgeois zu sehen gekriegt.«

Der Strahl senkte sich. Im gleichen Moment flammte ein Schimmer roten Sonnenlichts, den das Oberfenster der Kapelle zurückwarf, wie ein winziges Morgenrot über das Innere des Vorbaus und verschaffte Cassidy zum erstenmal einen Blick auf seinen Inquisitor. Er war, wie Cassidy bereits vermutet hatte, ein sehr gut aussehender Mann. Wo Cassidy sich wölbte, war der andere glatt. Wo Cassidy schwach war, war der andere resolut; hier kompromißbereit, dort feurig; wo Cassidy Flüssigkeit war, war der andere Fels, und wo er blaß und blond war, war sein Widerpart dunkel und jäh und eifrig. Aus einem gutgeschnittenen Gesicht leuchteten dunkle Augen von großer Lebhaftigkeit; ein gälisches Lächeln, zerstörerisch und wissend zugleich, erhellte seine Züge.

So weit, so gut. Indes gab Cassidy den Versuch nicht auf, den Mann einer der sozialen gesellschaftlichen Kategorien zuzuordnen, in die unsere Welt natürlicherweise eingeteilt ist, und er lenkte sein Augenmerk nun auf die Kleidung. Der Mann trug ein schwarzes Jackett von der Machart, wie sie von ehemaligen Indien-Offizieren bevorzugt wird, ein Mittelding zwischen Smoking und Waffenrock, jedoch mit einer deutlichen orientalischen Note im Zuschnitt. Er war barfuß, und die untere Körperhälfte war in ein rockähnliches Gebilde gehüllt.

»Herrje«, sagte Cassidy unwillkürlich, und er war drauf und dran, eine weitere Entschuldigung vorzubringen, etwa: »Mein Gott, Sie saßen gerade in der Badewanne«; oder »Wirklich unverzeihlich von mir, ich hab’ Sie aus dem Bett geholt«, als die Laterne abrupt von ihm abschwenkte und sich auf den Wagen richtete.

Hier war die Lampe höchst überflüssig. Die helle Karosserie hob sich deutlich gegen das Dämmerlicht ab – ein Sicherheitsfaktor, der Cassidy natürlich bekannt war –, doch der Inquisitor benutzte die Lampe dennoch, vielleicht weniger zum Sehen, als vielmehr um die reinen Konturen mit langsamem, liebevollem Strahl abzustreichen, genau wie er kurz zuvor den Eigentümer studiert hatte.

»Gehört Ihnen, Lover?«

»Ganz recht, mir.«

»Gehört Ihnen richtiggehend? Ganz und gar?«

Cassidy lachte heiter, er witterte eine zarte Anspielung auf einen Ratenkauf, eine Zahlungsform, die er (da er sie nicht nötig hatte) als eine Krankheit seiner Generation betrachtete.

»Aber ja. Alles andere hat doch keinen Sinn, meinen Sie nicht auch?«

Eine Weile antwortete der Inquisitor nicht, sondern verharrte in tiefster Konzentration, sein Körper war regungslos, die Laterne schwang leise in seiner Hand, die Augen starrten auf den Wagen.

»O Gott«, flüsterte er schließlich. »O Gott. Ein Leichenwagen für einen ›Unbeschreiblichen‹.«

Cassidy hatte schon öfter Leute beobachtet, die seinen Wagen bewunderten. Er hatte sie sogar dazu ermuntert. Wenn er zum Beispiel an einem Sonnabendvormittag von einem Einkauf oder einer anderen halbfreizeitlichen Erledigung zurückkam und ein Grüppchen von Autofans um die elegante langgestreckte Karosserie geschart fand, so konnte es ihm einfallen, einen Abriß der Geschichte und Qualitäten des Wagens zum besten zu geben und einige seiner ausgefalleneren Verbesserungen im Stand vorzuführen. Diese demokratische Aufgeschlossenheit empfand er als eine seiner liebenswertesten Gaben. Wohl hatte das Leben einiges davon abgeschliffen, doch wenn es um die Kameradschaft der Landstraße ging, so schätzte Cassidy sich wenig höher ein als seinen Nächsten. Das Interesse seines Gastgebers war jedoch ganz anderer Art. Auch hier schien es sich um ein prinzipielles Problem zu handeln, die Grundfrage nach gewissen noch nicht erfaßten Werten, die untrennbar mit der Existenz des Wagens verbunden waren, und Cassidys Unbehagen wuchs. Fand er ihn ordinär? War er weniger gut als sein eigener? Die oberen Zehntausend hatten, wie er sehr wohl wußte, strenge Ansichten über die Zurschaustellung des Wohlstands, indessen war der Wagen doch wohl aufgrund seiner Besonderheit über solche summarischen Beschuldigungen erhaben? Irgend jemandem mußte er schließlich gehören. Genau wie Haverdown irgend jemandem gehören mußte, ha, ha. Vielleicht sollte er etwas sagen, eine bescheidene Abwehr äußern? Unter anderen Umständen hätte er verschiedene Versionen vorbringen können: »Im Grunde nur ein Spielzeug … Ich betrachte ihn immer als eine Art Nerzcape für Männer … natürlich hätte ich ihn mir zu Anfang nicht rein privat leisten können … Geschenk der Steuerzahler, wie ich fürchte …« Er erwog noch immer einen derartigen Schachzug, als eine überraschend kräftige Hand seinen Arm packte. »Los, Lover«, sagte die Stimme überredend, »kommen Sie schon zu Stuhl, mich friert.«

»Also, wenn ich Ihnen bestimmt nicht ungelegen komme«, begann Cassidy, während er fast über die morsche Schwelle gestolpert wäre. Er sollte nie erfahren, ob er ungelegen kam oder nicht. Die schwere Tür hatte sich hinter ihm geschlossen. Die Laterne war verschwunden. Er stand in der völligen Finsternis eines unbekannten Raumes, einzig gesteuert vom freundlichen Griff seines Gastgebers.

Während er wartete, daß seine Augen sich an die Beleuchtung gewöhnten, durchlitt Cassidy eine Reihe von Halluzinationen, wie sie den zeitweilig Erblindeten befallen. Als erstes glaubte er sich in den Scale-Lichtspielen in Oxford, wo er sich an einer Reihe unsichtbarer Knie vorbeizwängte und, Entschuldigungen murmelnd, auf unsichtbare Füße trat. Einige waren hart, andere weich; alle waren feindselig. Damals, als Cassidy die Ehre gehabt hatte, eine höhere Schulbildung zu genießen, gab es in Oxford sieben Kinos, die er Woche für Woche säuberlich abgraste. Bald, dachte er, wird sich das graue Rechteck vor mir auftun und ein dunkelhaariges, nach der damaligen Mode gekleidetes Mädchen wird zu den bewundernden Pfiffen der Jung-Akademiker auf französisch ihre Bluse aufknöpfen. Doch noch ehe er solcher Wonnen teilhaftig wurde, fand er sich jählings ins Naturhistorische Museum in South Kensington versetzt, dem er, wie eine seiner Stiefmütter ihm angedroht hatte, zur Strafe für Selbstbefriedigung übereignet werden sollte. »Du bist nicht besser als ein Tier«, hatte sie ihm zornerfüllt versichert. »Also sollst du auch zu den Tieren. Für immer.« Obgleich die Sicht sich nun erhellte, fand sich noch vieles, was den Alpträumen zur Nahrung dienen konnte: rauhe, nach Kino riechende Polsterung, der beißende Gestank nach räudigem Pelz und Formalin, die abgeschnittenen Köpfe von Elchen und Gnus, die mit dem verglasten Entsetzen ihrer letzten Agonie auf ihn herabstarrten, hochragende Mammutformen unter weißen Staubhüllen.

Zu seiner Erleichterung sprachen allmählich vertrautere Bilder für eine menschliche Wohnstatt. Eine Standuhr, ein Eichenbüfett, ein Eßtisch aus der Zeit Jakobs 1., ein steinerner Kamin mit gekreuzten Musketen auf dem Wappenschild, dem angenehm vertrauten Emblem der de Waldeberes.

»Du lieber Himmel«, sagte Cassidy schließlich und hoffte, daß es ehrfürchtig klänge.

»Hübsch, was?« fragte sein Begleiter. Er zauberte die Laterne von wer weiß wo herbei und ließ den Strahl nonchalant über die unebenen Quader flackern.

»Prächtig. Ganz prächtig.«

Sie standen in der großen Halle. Schmale Streifen grauen Lichts markierten die gewaltigen Ausmaße der mit Läden verschlossenen Fenster. Lanzen, Speere und Hirschgeweihe zierten die oberen Wandflächen; Versandkisten und zerfledderte Bücher waren über den Fußboden verstreut. Direkt vor ihnen hing eine Empore aus massiver schwarzer Eiche. Dahinter öffneten sich steinerne Bögen auf düstere Korridore. Der Geruch nach Trockenfäule war unverkennbar.

»Wollen Sie das übrige auch noch sehen?«

»Furchtbar gern.«

»Den ganzen Kasten? Mit sämtlichen Beulen?«

»Von oben bis unten. Ist phantastisch. Aus welcher Zeit stammt übrigens die Empore? Sollte ich eigentlich wissen, fällt mir aber nicht mehr ein.«

»Menschenskinder, ist zum Teil aus der Arche Noah geschnitzt. Ohne Witz. Jedenfalls hab’ ich’s gehört.«

Cassidy lachte pflichtschuldigst, konnte jedoch nicht umhin, über den vertrauten Antiquitätengeruch hinweg die Whiskyfahne seines Gastgebers zu bemerken.

Ha, ha, dachte er mit einem innerlichen Anerkennungsgrinsen. Die Aristos. Kratz ein bißchen an der Oberfläche, darunter sind sie alle gleich. Dekadent, gewissenlos … aber eben doch fabelhaft nach den Maßstäben einer anderen Welt.

»Sagen Sie«, fragte er höflich, als sie um eine weitere Ecke ins Dunkel bogen, »steht das Mobiliar ebenfalls zum Verkauf?« Seine Stimme hatte sich hörbar verhochenglischt, als er sie der Begutachtung des Aristokraten anheimstellte.

»Erst wenn wir draußen sind, Lover. Müssen uns noch irgendwo draufsetzen können, nicht wahr?«

»Natürlich. Aber später?«

»Klar. Alles, was Sie wollen.«

»Es würde sich nur um kleinere Gegenstände handeln«, sagte Cassidy vorsichtig. »Ich habe nämlich schon eine ganze Menge. Im Vorrat, sozusagen.«

»Sammler, wie?«

»Nun, wenn man so will. Aber nur, wenn der Preis vernünftig ist«, fügte er im gleichen defensiven Ton hinzu. Wenn es eine Sache gibt, wovon ein englischer Gentleman etwas versteht, so ist es der Wert des Geldes. »Bitte, könnten Sie vielleicht das Licht ein bißchen aufdrehen? Ich kann nichts sehen.«

Im Korridor reihten sich Porträts freundlicher Krieger und mörderischer Zivilisten aneinander. Der Lichtstrahl enthüllte sie nur sprunghaft, bedauerlicherweise, denn Cassidy war überzeugt, daß er in ihren mannigfaltigen Zügen Spuren seines exzentrischen Begleiters hätte identifizieren können: das strahlende unberechenbare Lächeln zum Beispiel, die von innen her leuchtenden Seeräuber-Augen, den schwarzen Haarschopf, der so stolz in die mächtige Stirn fiel. Die Lampe senkte sich, stieg anscheinend eine kurze Treppe hinab und ließ ihn aufs neue in tiefster Finsternis stehen.

»Nimmt kein Ende«, sagte Cassidy mit nervösem Lachen, und dann: »Allein hätte ich das nie geschafft. Ehrlich gesagt, die Dunkelheit ist mir ein bißchen unheimlich, war’s schon immer. Manche Leute mögen keine großen Höhen, ich mag die Dunkelheit nicht.« Genau gesagt machte Cassidy sich auch nicht allzuviel aus großen Höhen, aber er wollte die Analogie nicht zerstören. »Sind Sie schon lange hier?« fragte er, als er keine Absolution auf seine Beichte erhielt.

»Zehn Tage.«

»Ich meine, Ihre Familie.«

Der Strahl streifte einen rostigen eisernen Kleiderhaken, dann senkte er sich auf den Fußboden. »O Herrje … seit Urzeiten, Mann, seit Urzeiten.«

»Und hat Ihnen Ihr Vater …«

Einen peinlichen Augenblick lang fürchtete Cassidy, er habe sich wiederum auf zu dünnes Eis gewagt: ein kürzlich stattgehabter Todesfall ist schließlich kein Thema, das man im Dunkeln bespricht. Es verstrich eine ganze Weile, ehe er seine Antwort erhielt.

»Eigentlich mein Onkel«, gestand die sanfte Stimme und gab einen kleinen vielsagenden Seufzer von sich. »Aber wir standen einander sehr nah.«

»Mein Beileid«, murmelte Cassidy.

»Wurde von einem Stier aufgespießt«, fuhr sein Führer in heiterem Ton fort, der das Mundartliche hervorhob. »So ging’s wenigstens schnell. Ich meine, kein langes Herumziehen mit Kamillentee und Haferschleim.«

»Nun, wenigstens ein Trost«, sagte Cassidy. »War er schon alt?«

»Sehr. Und ich meine, der Stier …«

»Ja?« sagte Cassidy verwirrt.

Die Laterne schien in einer Anwandlung plötzlichen Kummers zu zucken. »Ja, der Stier war auch schon schrecklich alt. Will sagen, es war eine Art Tod in Zeitlupe. Wenn ich so drüber nachdenke, dann frage ich mich, wie sie einander aufgegabelt haben.«

Die Komik hatte offenbar den Sieg über das Tragische davongetragen, denn jetzt stieg ein wildes Jungenlachen zum unsichtbaren Dach empor, der Strahl pendelte fröhlich im Takt mit dem Gelächter, und eine starke Hand fiel vergnügt auf Cassidys Schulter.

»Hören Sie, großartig, daß Sie hier sind. Großartig. Sie tun mir mächtig gut, so wahr ich hier stehe. Mensch, was hab’ ich mich gelangweilt; den Kohlmeisen John Donne vorgelesen. Stellen Sie sich vor. Ein großer Dichter, aber was für ein Publikum. Wie sie einen anschauen! Menschenskinder. Hören Sie, ich hab’ mir vorhin einen Kleinen genehmigt, es macht Ihnen hoffentlich nichts aus?«

Zu seiner großen Verwunderung spürte Cassidy ein deutliches Kneifen an der Stelle, die vor Gericht als die Verlängerung des Rückgrats bezeichnet wird.

»Kippen selber gern dann und wann einen, was?«

»Allerdings.«

»Besonders, wenn Sie einsam sind oder in einer kleinen Pechsträhne?«

»Und auch zwischendurch, das kann ich Ihnen versprechen!«

»Tun Sie das nicht«, sagte der Fremde kurz und in jäh umschwenkender Stimmung. »Niemals etwas versprechen.«

Sie stiegen zwei Stufen hinab.

»Mit wem kommt man hier schon zusammen?« fuhr er in seinem scherzenden Ton fort. »Nicht mal die verdammten Zigeuner wollen mit einem reden. Wissen Sie, zum Teufel, das ist Klassendenken, überall Klassendenken.«

»Du liebe Zeit«, sagte Cassidy.

Die Hand führte ihn noch immer an der Schulter. Im allgemeinen ließ Cassidy sich nicht gern anfassen, besonders nicht von Männern. Doch die Berührung störte ihn weniger, als er erwartet hätte.

»Und die vielen Morgen Land?« fragte er. »Geben die Ihnen nicht reichlich zu tun?«

Der Geruch nach Holzrauch, den Cassidy bislang wegen seiner ländlichen Note bewundert hatte, wurde plötzlich erstickend.

»Ach, scheiß auf die Morgen. Wer zum Teufel will heute noch Land? Papierkrieg … Tollwut … Seuchen … amerikanische Flugplätze. Damit ist’s vorbei, glauben Sie mir. Außer natürlich, Sie machen in Nerz, Nerze sind die Masche.«

»Ja«, stimmte Cassidy zu; er war einigermaßen verwirrt über diese eigenwillige Darstellung der landwirtschaftlichen Problematik. »Ja, ich habe auch gehört, daß Nerze eine Menge Geld einbringen können.«

»Hören Sie mal. Sind Sie religiös?«

»Nun, so la la.«

»In County Cork wohnt nämlich ein Mensch, der sich der einzig wahre lebendige Gott nennt, Sie haben vielleicht über ihn gelesen? J. Flaherty of Hillside, Beohmin. War in allen Zeitungen. Glauben Sie, daß da was dran ist?«

»Ich weiß es wirklich nicht«, sagte Cassidy. Der Laune seines Begleiters gehorchend, ließ er sich zum Stillstand bringen. Das dunkle Gesicht schob sich dicht an das seine, und er empfand plötzliche Spannung.

»Weil ich ihm nämlich geschrieben habe, zum Duell gefordert. Dachte schon, Sie wären’s.«

»Oh«, sagte Cassidy. »O nein, ich bin’s leider nicht.«

»Trotzdem, Sie haben was von ihm, Sie haben entschieden etwas Göttliches an sich, das sehe ich auf jede Entfernung.«

»Oh.«

»O ja.«

Sie waren um eine zweite Ecke und in einen weiteren Korridor gebogen, der noch länger und öder war als der erste. Am anderen Ende spielte roter Flammenschein über eine Steinwand, und Rauchspiralen kringelten sich durch den offenen Zugang ihnen entgegen. Cassidy wurde von plötzlicher Müdigkeit erfaßt, von dem unheimlichen Gefühl, gegen eine Flut anzugehen. Die Dunkelheit zerrte an seinen Füßen wie eine warme Strömung. Der Rauch, dachte er, der Rauch hat mich schwindlig gemacht.

»Der verdammte Kamin ist verstopft. Wollten ihn schon reparieren lassen, aber diese Kerle kommen ja nicht, wie?«

»Ist in London der gleiche Jammer«, pflichtete Cassidy bei und erwärmte sich an seinem Lieblingsthema. »Man kann sie anrufen, anschreiben, bestellen, hilft alles nichts. Sie kommen, wann sie wollen, und berechnen, was sie wollen.«

»Dreckspack. Mein Großvater hätte sie allesamt ausgepeitscht.«

»So was kann man heute nicht mehr machen, fürchte ich«, sagte Cassidy laut, im Ton eines Mannes, der sich gleichfalls nach einer einfacheren Gesellschaftsordnung sehnt. »Die würden Ihnen schön aufs Dach steigen.«

»Ich will Ihnen mal was sagen, es ist Zeit für einen neuen verdammten Krieg. Hören Sie, angeblich soll er dreiundvierzig sein.«

»Wer?«

»Gott. Der Kerl in Cork. Verdammt komisches Alter hat er sich da ausgesucht, finden Sie nicht? Ich meine, soll er jung sein oder alt, das hab’ ich ihm auch gesagt, hören Sie, wer zum Teufel soll ihm den Gott glauben, mit dreiundvierzig? Trotzdem, als ich den Wagen sah, und dann Sie … Sie können’s mir nicht verübeln, oder? Ich meine, falls Gott einen Wagen fahren würde, dann würde Ihr Bentley da …«

»Wie steht’s mit Dienstboten hier draußen?« unterbrach Cassidy seine Ausführungen.

»Verdammt mistig. Wollen bloß noch faulenzen, fernsehn und ficken.«

»Werden sich wohl einsam fühlen. Genau wie Sie.«

Cassidy hatte sich jetzt völlig von seiner anfänglichen Nervosität erholt. Die urwüchsigen Verlautbarungen seines Gefährten, die über ihm widerhallten, waren bei aller Absonderlichkeit angenehm beruhigend; der Feuerschein war entschieden näher gerückt, und sein Anblick nach ihrem Gang durch die immer dunkler werdenden Gemächer der weitläufigen Behausung heiterte ihn zusehends auf. Er hatte indessen sein Gleichgewicht kaum wiedererlangt, als es aufs neue von einem weiteren und gänzlich unerwarteten Ereignis heftig erschüttert wurde. Unvermittelt näherte sich aus einer Seitentür ein Hauch von dünner Musik, und ein Mädchen kreuzte ihren Weg.

Cassidy sah sie zweimal.

Einmal als Silhouette gegen den rauchigen Feuerschein am Ende des Korridors, und einmal im direkten Strahl der Laterne, als sie stehenblieb, den Kopf wandte und die beiden anblickte, zuerst Cassidy und dann, kühl und fragend, den Fackelträger. Ihr Blick war starr und in keiner Weise einladend. Sie trug ein Handtuch überm Arm und ein kleines Transistorradio in der Hand. Das üppige rötlich-braune Haar war auf dem Kopf getürmt, als sollte es vor Nässe geschützt werden, und Cassidy stellte während eines kurzen Blickwechsels fest, daß sie das gleiche Programm hörte, das er im Wagen eingestellt hatte, eine Auswahl von Frank-Sinatra-Songs über das Thema der männlichen Einsamkeit. Diese Eindrücke folgten nicht unmittelbar aufeinander, sie wurden zerhackt durch den wandernden Lichtstrahl der Laterne, das Flackern des Feuerscheins und die Schwaden von Holzrauch. Die Erscheinung des Mädchens, ihr sekundenlanges Zögern, ihr doppelter Blick waren nur Streiflichter auf sein geschärftes Bewußtsein. Im nächsten Moment war sie weg, in einen weiteren Durchgang entschwunden, doch Cassidy hatte Zeit gehabt, mit der hilflosen Objektivität, die häufig eine völlig unerwartete Erfahrung begleitet, festzustellen, daß sie nicht nur schön war, sondern auch nackt. In der Tat war die Erscheinung so völlig unwahrscheinlich – zugleich vertraut und zutiefst erschreckend –, so unverträglich die Wirkung auf Cassidys strapazierte Einbildungskraft, daß er sie einfach abgeschrieben hätte – sie sofort seiner stets einsatzbereiten Zweifelverarbeitungsanlage eingefüttert –, wenn nicht der Strahl der Laterne ihm unerbittlich den Beweis ihrer irdischen Existenz aufgedrängt hätte.

Sie war auf Zehenspitzen gegangen. Sie mußte das Barfußgehen gewohnt sein, denn jeder Zehenabdruck zeichnete sich in einem eigenen runden Fleck auf den Quadern ab, wie die Fußspur eines kleinen Tieres im Schnee.

3

Vor langer Zeit hatte in einem großen Restaurant eine ältere Dame Cassidys Fisch gestohlen. Sie hatte neben ihm an einem angrenzenden Tisch gesessen, mit dem Gesicht zum Lokal, und sie hatte mit einer einzigen Bewegung den Fisch – Seezunge »Walewska«, reichlich mit Käse und allerlei Meeresgetier garniert – in ihren offenen Beutel befördert. Der Zeitpunkt war tadellos berechnet. Cassidy blickte gerade auf, einem inneren Anruf folgend – ein Mädchen wahrscheinlich, vielleicht aber auch ein Gericht, das vorbeigetragen wurde und das er beinah an Stelle der Walewska gewählt hätte –, und als er wieder auf den Tisch blickte, war der Fisch verschwunden, und nur eine rosafarbene Fährte quer über seinen Teller, eine Schneckenspur aus Maismehl, Käse und Garnelenpartikel, bezeichnete die Richtung, die er eingeschlagen hatte. Er hatte den Fisch gegessen und in seiner Zerstreutheit nichts geschmeckt. Aber wie hatte er ihn gegessen? fragte sich der Meisterdetektiv. Mit den Fingern? Messer und Gabel waren unbenutzt. Der Fisch war eine Fata Morgana gewesen: Der Kellner hatte ihn noch nicht gebracht, Cassidy starrte auf den schmutzigen Teller, den der letzte Gast vor ihm zurückgelassen hatte.

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