14,99 €
Alle Romane von John le Carré jetzt als E-Book! - In der britischen Kolonie Gibraltar findet eine streng geheime Anti-Terror-Operation statt: Ein islamistischer Waffenkäufer soll entführt werden. Die Drahtzieher: Fergus Quinn, ein hochrangiges Regierungsmitglied, und Jay Crispin, Chef einer internationalen Sicherheitsfirma. Toby Bell, ein früherer Mitarbeiter Quinns, stolpert über die geheime Aktion. Irgendetwas ist an der Sache faul und soll vertuscht werden. Seine Nachforschungen bringen ihn in eine gefährliche Lage. Toby muss sich zwischen seinem Gewissen und der Verpflichtung gegenüber dem britischen Geheimdienst entscheiden. Empfindliche Wahrheit ist hochaktuell und brisant: »Ein Buch, geschrieben unter einem stürmischen Himmel. Die Figuren ringen mit der Zeit und sich selbst - wie ich auch.« John le Carré Große TV-Doku "Der Taubentunnel" ab 20. Oktober 2023 auf Apple TV+
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
John le Carré
EMPFINDLICHEWAHRHEIT
Roman
Aus dem Englischen von Sabine Roth
Ullstein
Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de
Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel A Delicate Truth bei Viking, London.
ISBN978-3-8437-0665-0
© 2013 by David Cornwell © der deutschsprachigen Ausgabe2013 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München Umschlagmotiv: Superfantastic Design
Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden
eBook: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
Für VJC
So soll kein Winter, was im Lenz wuchs, stören.
John Donne
Wer die Wahrheit sagt, wird früher oder später dabei ertappt.
Oscar Wilde
In seinem Zimmer im zweiten Stock einer Bettenburg in der britischen Kronkolonie Gibraltar lief ein schlaksiger Mann Ende fünfzig nervös auf und ab. Seine sympathisch-rechtschaffenen Züge verrieten nicht nur den Engländer, sie verrieten auch ein erregbares Naturell, das sich hier auf eine harte Probe gestellt fand. Ein zerstreuter Professor, dachte man, wenn man ihn sah mit seiner leicht gebückten Haltung, den weit ausgreifenden Schritten und der widerspenstigen graumelierten Tolle, die er immer wieder gereizt mit dem Handrücken aus der Stirn schob. Nur ein ausgemachter Phantast wäre von allein darauf gekommen, dass dieser Mann, ein mittelhoher Beamter in einer der prosaischeren Abteilungen des britischen Außenministeriums, in einer Geheimmission von höchster Sensibilität unterwegs sein könnte.
Sein Vorname für diesen Zweck, wie er sich in regelmäßigen Abständen halblaut vorsagte, war Paul, und sein Nachname, nicht eben schwer zu merken, Anderson. Wenn er den Fernseher anschaltete, stand da: Willkommen, Mr. Paul Anderson. Lust auf einen Gratis-Aperitif in unserer Lord-Nelson-Klause! Das Ausrufezeichen anstelle des angebrachteren Fragezeichens erbitterte den Pedanten in ihm jedes Mal. Er trug den Hotelbademantel aus weißem Frotté, aus dem er seit Beginn seiner Klausur nicht herausgekommen war, außer für die Stunden, wenn er vergeblich Schlaf zu finden versuchte, und bei dem einen, einsamen Mahl, zu dem er sich außer der Zeit hoch ins Dachbistro gestohlen hatte, in das der Swimmingpool im dritten Stock des Nachbarhauses beizende Chlordämpfe entsandte. Wie vieles andere im Zimmer stank auch der Bademantel, der zu kurz für seine langen Beine war, nach kaltem Rauch und Lavendelspray.
Beim Herumtigern ließ er seinen Gefühlen freien Lauf, ganz bewusst ohne die Zurückhaltung, die seinem offiziellen Ich sonst auferlegt war, so dass ihm aus dem mannshohen Wandspiegel, der in die Schottentapete geschraubt war, sein Gesicht bald in heller Ratlosigkeit, bald in finsterer Empörung entgegenblickte. Zwischendurch streute er auch Selbstgespräche ein, zur Erleichterung oder als Aufmunterung. Ebenfalls hörbar? Welche Rolle spielte das, wenn man in einem leeren Zimmer festsaß, als einzige Gesellschaft eine kolorierte Fotografie unserer lieben jungen Queen auf einem braunen Pferd?
Auf einem plastiküberzogenen Tisch lagen die Überreste eines Doppeldecker-Sandwichs, das schon ungenießbar angeliefert worden war; in der Flasche daneben dümpelte ein Rest lauwarmer Coca-Cola. So hart es ihn ankam, hatte er sich während der gesamten Zeit hier drin noch keinen Tropfen Alkohol gestattet. Das Bett, das er mehr als alles andere zu hassen gelernt hatte, bot Platz genug für sechs, aber sobald er sich darauf ausstreckte, schlug ein höllischer Rückenschmerz seine Klauen in ihn. Ein leuchtend roter Überwurf aus Kunstseide bedeckte es, und auf dem Überwurf lag ein unschuldig aussehendes Mobiltelefon, angeblich nach allen Regeln der Kunst verschlüsselt – nicht, dass er viel auf so etwas gab, aber bisher schien es nur zu wahr. Sooft er an ihm vorbeikam, heftete sich sein Blick mit einer Mischung aus Vorwurf, Sehnsucht und Resignation darauf.
Leider Gottes werden Sie während Ihrer Mission außer zu operativen Zwecken absolut unerreichbar sein, Paul, hört er wieder die umständliche südafrikanische Stimme von Elliot, seinem designierten Einsatzleiter. Sollte Ihren Lieben daheim während Ihrer Abwesenheit etwas zustoßen, was wir nicht hoffen wollen, ist ihr Ansprechpartner das Lagezentrum Ihres Ministeriums, das den Kontakt zu Ihnen herstellen wird. Drücke ich mich klar genug aus, Paul?
Es wird, Elliot. Es dauert, aber es wird.
Durch die angegrauten Stores des überdimensionalen Panoramafensters starrte er böse hinauf zu dem berühmten Felsen, der, gelblich blass, furchig und fern, zurückstarrte wie eine missbilligende Matrone. Zum wiederholten Mal sah er, aus Gewohnheit und Ungeduld, auf die fremde Uhr an seinem Arm und verglich sie mit der grünen Leuchtanzeige des Radioweckers neben dem Bett. Die Uhr – zerbeulter Stahl, schwarzes Zifferblatt – war der Ersatz für die goldene Cartier-Uhr, die ihm seine geliebte Frau, die im Testament einer ihrer zahlreichen Tanten bedacht worden war, zur Silberhochzeit geschenkt hatte.
Stopp, stopp, stopp! Welche Frau denn? Paul Anderson hat keine Frau, keine Tochter. Paul Anderson ist ein gottverdammter Eremit!
»Die können wir aber nicht anbehalten, Paul, wie würde das denn aussehen?«, mahnt die mütterliche Dame in seinem Alter, die ihn – hundert Jahre scheint ihm das her zu sein – in einem roten Backsteinhäuschen nahe Heathrow zusammen mit ihrer schwesterlichen Kollegin für den Part eingekleidet hat. »Mit diesen hübschen eingravierten Initialen auch noch. Sie müssten sagen, Sie hätten sie einem verheirateten Mann geklaut, stimmt’s, Paul?«
Paul, Sportsmann, der er ist, lacht mit und schaut zu, wie sie auf einen Aufkleber Paul schreibt und seine goldene Uhr zusammen mit dem Ehering in eine Geldkassette einschließt, »bis zur Entwarnung«, wie sie sagt.
***
Wie in drei Teufels Namen bin ich überhaupt in dieser Drecksbude gelandet?
Bin ich gesprungen, oder bin ich gestoßen worden? Oder eine Mischung aus beidem?
Schildern Sie bei Ihren nächsten Runden durchs Zimmer möglichst lückenlos, was Sie dazu bringen konnte, Ihren seligen Alltagstrott gegen Einzelhaft auf einem britischen Kolonialfelsen zu vertauschen.
***
»Und wie geht’s Ihrer armen lieben Gattin?«, fragt die hart an der Pensionsgrenze dahinschrammende Eisprinzessin aus der Personalabteilung (oder Human Resources, wie das neuerdings aus unerfindlichen Gründen heißt), nachdem sie ihn ohne ein Wort der Erklärung am Freitagabend, während alle braven Bürger heimwärts eilen, in ihre Gemächer zitiert hat. Die beiden sind alte Gegenspieler. Wenn sie etwas gemeinsam haben, dann das Gefühl, einer aussterbenden Art anzugehören.
»Danke, Audrey, ganz fabelhaft geht’s ihr«, erwidert er in dem gesucht leichtherzigen Ton, den er bei lebensbedrohlichen Konfrontationen wie dieser anschlägt. »Sie ist mir lieb wie eh und je, aber gottlob nicht mehr arm. Die Remission hält an. Und selber? Alles bestens, hoffe ich doch?«
»Das heißt, sie braucht Sie nicht unbedingt«, sagt Audrey, ohne auf seine liebenswürdige Nachfrage einzugehen.
»Das will ich nicht hoffen! Inwiefern?« – er hält das heitere Geplänkel bewusst aufrecht.
»Insofern, als ich Sie fragen wollte, ob ein paar hochgeheime Auslandstage in sehr bekömmlichem Klima, vier oder allerhöchstens fünf, von irgendeinem Interesse für Sie sein könnten.«
»Wie der Zufall es will, sogar von beträchtlichem Interesse, danke, Audrey. Unsere erwachsene Tochter wohnt momentan bei uns, von daher könnte es kaum besser passen, zumal unsere Tochter Ärztin ist«, fügt er stolz hinzu, aber Audrey scheint nicht weiter beeindruckt von der Tüchtigkeit seiner Tochter.
»Ich weiß nicht, worum es geht, und ich brauche es auch nicht zu wissen«, beantwortet sie eine Frage, die er nicht gestellt hat. »Wir haben einen dynamischen jungen Staatsminister eine Etage höher, Quinn heißt er, vielleicht haben Sie ja von ihm gehört? Er möchte Sie sofort sprechen. Er ist ein neuer Besen, falls das noch nicht bis in die Ödenei der Notfalllogistik gedrungen ist, frisch aus dem Verteidigungsministerium zu uns gewechselt – nicht unbedingt eine Empfehlung, ich weiß, aber was will man machen.«
Was redet sie da für ein Zeug? Natürlich ist das zu ihm durchgedrungen. Er liest schließlich die Zeitung. Er sieht Newsnight. Fergus Quinn, Parlamentsabgeordneter, allgemein bekannt als Fergie, ist ein schottischer Streithammel, der selbsterklärte Primitivling in den Reihen von New Labour. Im Fernsehen gibt er sich vollmundig und beklemmend tatendurstig. Außerdem sieht er sich als die Geißel, mit der das Volk die Bürokraten von Whitehall züchtigt – aus der Distanz eine empfehlenswerte Tugend, aber nicht ganz so anheimelnd, wenn man selbst ein Beamter Whitehalls ist.
»Sie meinen jetzt auf der Stelle, Audrey?«
»So würde ich das Wort sofort verstehen, ja.«
Das ministeriale Vorzimmer ist leer, das Personal längst heimgegangen. Die ministeriale Mahagonitür, solide wie Eisen, steht einen Spalt offen. Klopfen und warten? Oder klopfen und drücken? Er versucht eine Kombination aus beidem, hört: »Stehen Sie nicht einfach nur da. Kommen Sie rein und machen Sie die Tür hinter sich zu.« Er tritt ein.
Der massige Oberkörper des dynamischen jungen Staatsministers ist in ein mitternachtsblaues Dinnerjacket gezwängt. Mit einem Handy am Ohr steht er vor einem offenen Marmorkamin, in dem rote Papierflammen züngeln. Wie im Fernsehen ist er auch in natura untersetzt, mit Stiernacken, kurzgeschorenem rötlichem Haar und dem Gesicht eines Boxers, aus dem zwei schnelle, gierige Augen blicken.
Das vier Meter hohe Gemälde an der Wand hinter ihm zeigt einen bestrumpfhosten Staatsmann des achtzehnten Jahrhunderts, eine Säule des Empire. Für einen despektierlichen Moment, Resultat seiner Anspannung, erscheinen ihm die beiden so unterschiedlichen Männer als ein und derselbe. Quinn mag sich als Mann des Volkes gerieren, aber das Schmollen privilegierten Missvergnügens ist bei beiden das gleiche. Beide benutzen sie das gleiche Standbein und haben das Knie des Spielbeins leicht angewinkelt. Ist der dynamische junge Minister im Begriff, einen Straffeldzug gegen die verhassten Franzosen anzuordnen? Wird er im Namen von New Labour gegen die Dummheit des johlenden Pöbels wettern? Weder noch. Mit einem kernigen »Ich melde mich dann, Brad« in sein Telefon stapft er zur Tür, sperrt sie ab und dreht sich mit Schwung um.
»Sie sollen ein erfahrener Diplomat sein, stimmt das?«, sagt er anklagend in seinem sorgsam kultivierten Glasgower Akzent, nachdem eine eingehende Musterung seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt zu haben scheint. »Ein kühler Kopf, was immer das heißt. Zwanzig Jahre diversester Auslandseinsätze, um Human Resources zu zitieren. Die Diskretion in Person, nervenstark. Große Töne. Nicht dass ich unbedingt alles glaube, was ich hier erzählt bekomme.«
»Offenbar meint es jemand gut mit mir«, erwidert er.
»Und Sie sitzen jetzt auf dem Trockenen. Der Gesundheitszustand Ihrer Frau hat Sie am Auslaufen gehindert, richtig?«
»Nur während der letzten ein, zwei Jahre, Herr Minister« – etwas pikiert über das auf dem Trockenen –, »und derzeit habe ich völlig freie Hand, sehr zu meiner Freude.«
»Und Ihre derzeitige Stelle? Erinnern Sie mich kurz.«
Er setzt dazu an, seine vielen hochwichtigen Aufgaben zu skizzieren, aber der Staatsminister fällt ihm ungeduldig ins Wort.
»Schon gut, schon gut. Folgendes: Haben Sie je irgendwelche direkten Erfahrungen mit Geheimdienstarbeit gemacht? Sie ganz persönlich?«, betont er, als hätte sein Gegenüber noch ein anderes, weniger persönliches Ich.
»Geheimdienstarbeit in welchem Sinn, Herr Minister?«
»Schlapphüte. Spionagegeschichten.«
»Leider nur als Konsument. Gelegentlicher Konsument. Des fertigen Produkts. Nicht des Entstehungsprozesses, wenn das Ihre Frage ist.«
»Auch nicht bei diesen diversesten Auslandseinsätzen, von denen so lapidar die Rede war?«
»Zu meinem Bedauern waren besagte Auslandseinsätze weitgehend ökonomischer, kommerzieller oder konsularischer Natur«, erklärt er – wie immer, wenn er sich in die Enge getrieben fühlt, nimmt er Zuflucht zu bombastischen Wendungen. »Was nicht heißt, dass ich nicht ab und an Einsicht in den einen oder anderen Geheimbericht hatte – aber nichts Hochkarätiges, muss ich gleich dazusagen. Darin erschöpfen sich meine Einblicke, fürchte ich.«
Aber den Staatsminister scheint dieser Mangel an konspirativer Erfahrung eher zu befriedigen, denn über seine breiten Züge huscht ein selbstgefälliges Lächeln.
»Aber Sie sind eine verlässliche Kraft, richtig? Unerprobt vielleicht, aber verlässlich.«
»So möchte man sich natürlich gern sehen« – bescheiden.
»Je mit Terrorismusbekämpfung zu tun gehabt?«
»Wie bitte?«
»Terrorismusbekämpfung. Ja oder nein?« – als hätte er einen Idioten vor sich.
»Ich fürchte, nein, Herr Minister.«
»Aber es ist Ihnen ein Anliegen? Ja?«
»Was genau jetzt, Herr Minister?« – so beflissen, wie er nur klingen kann.
»Das Wohlergehen unserer Nation, was denn sonst! Die Sicherheit unserer Staatsbürger, wo immer sie sich aufhalten. Unsere Grundwerte in stürmischen Zeiten. Unser – ja, unser Erbe, wenn Sie so wollen« – so wie er das Wort spricht, ist es eine Klatsche für die Tories. »Sie sind keiner von diesen schlappschwänzigen Liberalen, die heimlich finden, dass die Terroristen das Recht haben sollten, die Welt in die Luft zu jagen, oder?«
»Nein, Herr Minister, das denn doch nicht«, murmelt er.
Aber der Herr Minister, weit davon entfernt, seine Verlegenheit zu teilen, setzt noch eins drauf:
»Schön, schön. Wenn ich Ihnen also sagen würde, dass es bei der extrem delikaten Aufgabe, die ich für Sie im Sinn habe, darum geht, den terroristischen Feind daran zu hindern, einen geplanten Angriff auf unser Heimatland durchzuführen, würden Sie nicht sofort zurückzucken, oder?«
»Im Gegenteil. Ich wäre … nun ja …«
»Sie wären was?«
»Erfreut. Geehrt. Und ja, stolz. Wenn auch eine Spur überrascht natürlich.«
»Überrascht wovon?« – in regelrecht beleidigtem Ton.
»Nun, es ist nicht an mir, das zu fragen, Herr Minister, aber wieso ich? Das Ministerium verfügt doch sicher über etliche Mitarbeiter mit der Art von Erfahrung, die Sie suchen.«
Volkstribun Fergus Quinn dreht sich zum Erkerfenster, das Kinn angriffslustig vorgereckt über der Fliege, so dass die Speckwülste in seinem Nacken den Kragen noch stärker einklemmen, und blickt hinab auf den Kies des Horse Guards Parade, den die Abendsonne vergoldet.
»Und wenn ich Ihnen außerdem sagen würde, dass Sie bis ans Ende aller Zeiten weder durch Wort noch Tat noch auf sonst einem Wege enthüllen dürfen, dass eine gewisse Antiterror-Operation auch nur angedacht war, von der Ausführung gar nicht erst zu reden« – unwirsch sucht er nach einem Weg aus dem Satzlabyrinth, in das er sich hineinmanövriert hat –, »würde Sie das an- oder abtörnen?«
»Herr Minister, wenn Sie mich für den richtigen Mann halten, stehe ich Ihnen zu Diensten, für welche Aufgabe auch immer. Und selbstverständlich können Sie sich meiner dauerhaften und umfassenden Diskretion gewiss sein«, bekräftigt er, leicht errötend vor Unmut, seine Loyalität so unverfroren auf dem Prüfstand zu sehen.
Quinn, die Schultern hochgezogen à la Churchill, verharrt in der Rahmung des Erkerfensters, als wartete er ungeduldig darauf, dass die Fotografen ihr Werk vollenden.
»Es gibt gewisse Brücken, die erst noch überquert werden müssen«, verkündet er seiner Spiegelung in der Scheibe in strengem Ton. »Ein paar ziemlich wichtige Leute hier ums Eck« – der Boxerschädel ruckt in Richtung Downing Street – »müssen ein gewisses grünes Licht erteilen. Wenn es kommt – falls es kommt, und keine Sekunde früher –, beginnt Ihr Einsatz. Von diesem Moment an, und so lange, wie ich es für richtig halte, werden Sie meine Augen und Ohren vor Ort sein. Keine Schönfärberei, verstanden? Keine von Ihren Diplomatenverklausulierungen und -ironisierungen. Nicht unter mir, nein danke. Sie werden mir ungeschminkt berichten, eins zu eins. Der unverstellte Blick durch die Augen des alten Profis, der Sie ja angeblich sein sollen. Hören Sie zu?«
»Absolut, Herr Minister. Ich höre zu, und ich verstehe genau, was Sie sagen« – seine eigene Stimme klingt wie aus einer fernen Wolke zu ihm.
»Haben Sie irgendwelche Pauls in der Familie?«
»Bitte was?«
»Himmelarsch! Was ist an der Frage nicht zu verstehen? Heißt jemand bei Ihnen in der Familie Paul? Bruder, Vater, was weiß ich?«
»Nein. Kein Paul weit und breit, leider Gottes.«
»Und Pauline? Die weibliche Form eben, Paulette, keine Ahnung?«
»Entschieden nein.«
»Wie steht es mit Anderson? Keine Andersons auf der Bildfläche? Als Mädchenname? Anderson?«
»Meines Wissens nicht, Herr Minister.«
»Und Sie sind halbwegs auf dem Damm? Körperlich? Ein flotter Marsch über raues Gelände zwingt Sie nicht in die Knie wie gewisse andere hier?«
»Ich bin ein großer Spaziergänger. Und ein passionierter Gärtner« – alles aus derselben fernen Wolke.
»Warten Sie, bis ein Mann namens Elliot Sie anruft. Elliot wird Ihr erstes Signal sein.«
»Und ist Elliot der Nachname oder der Taufname?«, hört er sich sagen, begütigend wie zu einem Irren.
»Wie zum Teufel soll ich das wissen? Er agiert undercover für eine Organisation namens Ethical Outcomes. Sie sind neu, können aber mit den Besten in der Branche mithalten, wie mir aus Fachkreisen versichert wird.«
»Verzeihung, Herr Minister, von welcher Branche sprechen wir?«
»Private Militärdienstleister. Wo leben Sie, Mann? Privat ist heutzutage die Devise. Der Krieg ist in Unternehmerhand, falls Sie das noch nicht mitgekriegt haben. Berufsarmeen haben ausgedient. Kopflastig, schlecht ausgestattet, ein Brigadegeneral für zehn Hanseln und sündteuer dazu. Setzen Sie sich ein paar Jährchen ins Verteidigungsministerium, wenn Sie mir nicht glauben.«
»Oh, ich glaube Ihnen ja, Herr Minister« – bestürzt über diese Pauschalverurteilung des britischen Militärs, aber dennoch bestrebt, Entgegenkommen zu zeigen.
»Und Sie wollen Ihr Haus verscheuern, ja? Harrow, kann das sein?«
»Harrow, ja« – jenseits aller Verwunderung jetzt – , »North Harrow.«
»Geldprobleme?«
»O nein, ganz und gar nicht zum Glück!«, ruft er, dankbar für jedes winzige Stückchen Boden unter den Füßen. »Ich habe selbst ein wenig auf der hohen Kante, und meine Frau hat eine kleine Erbschaft gemacht, die ein Anwesen auf dem Land mit einschließt. Wir wollen unser derzeitiges Haus verkaufen, solange der Markt noch hält, und bis zum Umzug den Gürtel etwas enger schnallen.«
»Elliot wird sagen, dass er Ihr Haus in Harrow kaufen will. Von Ethical et cetera wird er nichts sagen. Er hat die Anzeige beim Makler im Fenster gesehen oder weiß Gott wo, hat sich das Haus von außen angeschaut, findet es geeignet, aber es gibt ein paar Punkte, über die er noch reden will. Er wird Ihnen einen Treffpunkt und eine Zeit nennen. Sie willigen in alles ein, was er vorschlägt. So arbeiten diese Leute. Sonst noch Fragen?«
Hat er bisher eine gestellt?
»Bis dahin machen Sie einfach Ihren Stiefel. Kein Wort zu irgendwem. Nicht hier im Büro, nicht daheim. Ist das klar?«
Nein. Nichts ist klar. Schon gar nicht, wie er nach seinem inbrünstigen, verdatterten »Ja« zu der ganzen Sache und dem anschließenden Stärkungsgläschen in seinem Club in Pall Mall eigentlich nach Hause gekommen ist.
***
Über seinen Computer gebeugt, während Frau und Tochter nebenan munter schwatzen, gibt der angehende Paul Anderson »Ethical Outcomes« ein. Meinten Sie: Ethical Outcomes Incorporated, Houston, Texas? In Ermangelung sonstiger Informationen bestätigt er.
Mit einem brandneuen internationalen Team höchstqualifizierter geopolitischer Experten bietet Ethical innovative, hochdifferenzierte, topaktuelle Risikoanalysen für Großkonzerne und staatliche Stellen. Wir von Ethical sind stolz auf unsere Integrität, unser Verantwortungsbewusstsein und ultramodernes Cyber-Know-how. Personenschutz und Verhandlungshilfe bei Geiselnahmen auch kurzfristig verfügbar. Ihre persönlichen und vertraulichen Anfragen richten Sie bitte an Marlon.
Dazu E-Mail-Adresse und ein Postfach, ebenfalls in Houston, Texas. Kostenfreie Telefonnummer für die persönlichen und vertraulichen Anfragen an Marlon. Keine Namen, weder von Geschäftsführern, Vorstandsmitgliedern, Beratern noch von höchstqualifizierten geopolitischen Experten. Kein Elliot, Vor- oder Nachname. Das Mutterunternehmen von Ethical Outcomes nennt sich Spencer Hardy Holdings, ein multinationaler Konzern, dessen Betätigungsfelder von Öl über Weizen, Holz, Rindfleisch und Projektentwicklung bis hin zu gemeinnützigen Initiativen reichen. Dieselbe Muttergesellschaft finanziert außerdem evangelikale Stiftungen, Glaubensschulen und Bibelkampagnen.
Für weitere Informationen zu Ethical Outcomes geben Sie bitte Ihr Passwort ein. Da er kein Passwort besitzt und sich jetzt schon als Eindringling fühlt, bricht er seine Recherchen ab.
Eine Woche vergeht. Jeden Morgen beim Frühstück, den Tag über im Büro und abends nach dem Heimkommen macht er seinen Stiefel wie befohlen und wartet auf das folgenschwere Telefonat, das kommen oder auch nicht kommen wird oder dann kommen wird, wenn er am wenigsten damit rechnet; und genau das tut es eines frühen Morgens, während seine Frau ihren Medikamentenrausch ausschläft und er in Cordhose und Karohemd den Abwasch vom Vorabend besorgt und sich vornimmt, gleich nachher endlich dem Rasen zu Leibe zu rücken. Das Telefon klingelt, er meldet sich mit einem fröhlichen »Guten Morgen«, und es ist Elliot, der, wie könnte es anders sein, die Anzeige im Fenster des Maklers gesehen hat und ernsthaft an ihrem Haus interessiert ist.
Nur dass er wie Illiot klingt, nicht wie Elliot, dank dem südafrikanischen Akzent.
***
Gehört auch Elliot zu Ethical Outcomes’ brandneuem internationalem Team höchstqualifizierter geopolitischer Experten? Möglich, wobei man es ihm nicht zwingend ansieht. Das kahle Büro, in dem sich die beiden Männer keine anderthalb Stunden später gegenübersitzen, liegt in einer schäbigen Seitenstraße in der Nähe von Paddington Street Gardens, und Elliot trägt zu seinem seriösen Sonntagsanzug eine gestreifte Krawatte mit einem Muster aus kleinen Fallschirmen. Kabbala-Ringe schmücken die drei dicksten Finger seiner manikürten Linken. Er hat einen glänzenden Schädel, olivfarbene Haut, ein pockennarbiges Gesicht und beängstigende Muskeln. Sein Blick, der in spielerischer Verstohlenheit seinen Gast abtastet, dann wieder weggleitet zu den fleckigen Wänden, ist farblos. Sein Englisch ist so gestelzt, dass man meinen könnte, es würde auf Akkuratesse und Aussprache benotet.
Jetzt nimmt er aus einer Schublade einen nahezu neuen britischen Pass, leckt sich über die Daumenkuppe und blättert ihn mit wichtiger Miene durch.
»Manila, Singapur, Dubai, das sind nur einige der Metropolen, in denen Sie Statistikerkongresse besucht haben. Verstehen Sie, Paul?«
Paul versteht.
»Falls ein neugieriger Sitznachbar im Flieger von Ihnen wissen will, was Sie nach Gibraltar führt, sagen Sie ihm, dass Sie zu einem Ihrer Kongresse unterwegs sind. Und dass er sich bitte schön um seinen eigenen Kram kümmern soll. Ein Standbein von Gibraltar sind Glücksspiele im Internet, die keineswegs alle ganz koscher sind. Da mögen es die Bosse nicht, wenn das Fußvolk zu viel redet. Ich muss Sie jetzt fragen, Paul, und antworten Sie bitte in aller Offenheit: Quälen Sie irgendwelche Bedenken hinsichtlich Ihrer Tarnung?«
»Nun ja, in einer Hinsicht schon, wenn ich ehrlich sein soll, Elliot«, räumt er nach gebührendem Abwägen ein.
»Sprechen Sie, Paul. Frei von der Leber weg.«
»Ich finde einfach, wenn ich als Brite – und Diplomat, der recht viel herumgekommen ist – als ein anderer Brite in traditionell britisches Territorium einreise, ist das, na ja« – er sucht nach einem Wort – »etwas arg fragwürdig, ganz offen gestanden.«
Elliots kleine kreisrunde Augen heften sich wieder auf ihn, starren ihn an, ohne zu blinzeln.
»Ich meine, könnte ich nicht einfach als ich selbst fahren und das Risiko eingehen? Wir wissen beide, dass ich den Kopf einziehen muss. Aber sollte es dazu kommen, dass ich trotz aller Vorsichtsmaßnahmen doch jemanden treffe, den ich kenne, beziehungsweise der mich kennt, dann könnte ich wenigstens der sein, der ich bin. Anstatt …«
»Anstatt was, Paul?«
»Anstatt mich für einen windigen Statistiker namens Paul Anderson auszugeben. Ich meine, wer soll so einen Schwachsinn schlucken, wenn er genau weiß, wer ich bin? Ich bitte Sie, Elliot« – er fühlt Hitze in sein Gesicht steigen und kann nichts dagegen tun –, »unsere Regierung hat einen riesigen Stützpunkt für die verbundenen Streitkräfte auf Gibraltar. Und dazu einen großen Diplomatenstab plus eine nicht zu kleine Abhörstation. Und ein Special-Forces-Trainingslager. Da muss doch nur einer auftauchen, den wir nicht auf der Rechnung hatten, und mich als seinen lang verlorenen Kumpel umarmen, und ich bin – ja, geliefert. Und was weiß ich denn schon über Statistik? Keinen blassen Schimmer habe ich. Nicht dass ich Ihre Kompetenzen anzweifeln will, Elliot. Und natürlich mache ich alles, was nötig ist. Ich frage einfach nur.«
»Ist das die gesamte Summe Ihrer Bedenken, Paul?«, erkundigt sich Elliot fürsorglich.
»Natürlich. Absolut. Das sollte nur ein Hinweis sein.« Den er schon wieder bedauert, aber wie zum Teufel wirft man die Logik einfach aus dem Fenster?
Elliot leckt sich die Lippen, runzelt die Stirn und antwortet in seinem sorgsam getakteten Englisch wie folgt:
»Tatsache ist, Paul: Niemand in Gibraltar wird auch nur einen feuchten Furz darum geben, wer Sie sind, solange Sie schön mit Ihrem britischen Pass wedeln und den Ball konsequent flach halten. Aber Tatsache ist auch: Es ist Ihr Kopf, der in der Schusslinie wäre, sollte es zum Worst-Case-Szenario kommen, eine Eventualität, die immer mitbedacht sein will. Einmal gesetzt den Fall, die Operation nimmt eine Wendung, die ihre Planer, darunter meine Wenigkeit, nicht einkalkuliert haben. Dann könnte die Frage nach einem Spitzel laut werden. Wer ist dieser komische Heilige Anderson, der sich Tag und Nacht mit einem Buch in seinem Hotelzimmer verkrochen hat?, könnten sie sich dann fragen. Wo finden wir diesen Anderson, in einer Kolonie, die gerade mal so groß wie ein Golfplatz ist? Wenn diese Situation einträte, wären Sie vermutlich heilfroh, nicht der Mensch gewesen zu sein, der Sie im wahren Leben sind. Jetzt zufrieden, Paul?«
Zufrieden und glücklich, Elliot. Wunschlos. Komplett am Rudern, ohne ein Fitzelchen Orientierung, das jedoch aus vollem Herzen. Aber Elliot scheint ihm ein bisschen verschnupft dreinzuschauen, und um die detaillierten Instruktionen, die er von ihm erhalten soll, nicht zu gefährden, versucht er, gut Wetter bei ihm zu machen:
»Und wie verschlägt es einen Mann mit Ihren Qualifikationen hierher, wenn die Frage nicht zu aufdringlich ist, Elliot?«
Elliots Stimme wird noch einen Tick salbungsvoller:
»Ich bin Ihnen sogar aufrichtig dankbar für die Frage, Paul. Ich bin Soldat; das ist mein Leben. Ich habe in großen und in kleinen Kriegen gekämpft, die meisten davon auf dem afrikanischen Kontinent. Während dieser Zeit hatte ich das Glück, einem Mann zu begegnen, dessen Informationsquellen so legendär sind, dass man sie fast unheimlich nennen muss. Seine Kontaktpersonen weltweit sprechen zu ihm wie zu keinem Zweiten, denn alle wissen sie, dass ihr Material von ihm zur Förderung der demokratischen Prinzipien und der Freiheit verwendet wird. Die Operation Wildlife, deren Einzelheiten ich Ihnen jetzt enthüllen werde, ist von ihm persönlich aus der Taufe gehoben worden.«
Eine stolze Feststellung, die Anlass zu der naheliegenden, wenn auch kriecherischen Frage gibt:
»Und den Namen dieses großen Mannes, Elliot, darf man den erfahren?«
»Paul, Sie gehören ab sofort zur Familie. Ich kann Ihnen darum strikt im Vertrauen verraten, dass der Gentleman, welcher der Gründer von Ethical Outcomes und die treibende Kraft hinter dem Unternehmen ist, Mr. Jay Crispin heißt.«
***
Rückfahrt nach Harrow in einem schwarzen Taxi.
Ab jetzt alle Quittungen aufbewahren, hat Elliot ihm eingeschärft. Also Taxifahrer bezahlen, Quittung aufheben.
Als Nächstes Jay Crispin googeln.
Heyloo! Ich bin Jay, 19 Jahre alt und aus Paignton, Devon. Ich jobbe als Kellnerin …
J. Crispin, Lacke und Furniere, wurde 1900 in Shoreditch gegründet …
Jay Crispin, Casting für Models, SchauspielerInnen, MusikerInnen und TänzerInnen …
Aber nicht ein Hinweis auf Jay Crispin, treibende Kraft hinter Ethical Outcomes und Vater der Operation Wildlife.
***
Schon wieder ausgebremst durch das übergroße Fenster seines Hotel-Gefängnisses, stieß der Mann, der sich gezwungenermaßen Paul nannte, einen müden Schwall stumpfsinniger Obszönitäten aus, mehr im neumodischen Stil als in seinem eigenen. Fuck! – dann ein Doppel-Fuck! Dann noch mehr Fuck!s, ein lustloses Trommelfeuer in Richtung des Mobiltelefons auf dem Bett, das mit einem Appell endete – Läute, du Miststück, willst du wohl läuten –, ehe ihm zu dämmern begann, dass irgendwo innerhalb oder außerhalb seinen Kopfes besagtes Mobiltelefon, nun nicht mehr stumm, ihn mit seiner blödsinnigen Melodie andudelte.
Ungläubig blieb er am Fenster stehen. Es ist der fette bärtige Grieche nebenan, der unter der Dusche singt. Es ist dieses sexbesessene Pärchen von oben drüber, er grunzend, sie winselnd. Ich leide an Halluzinationen.
Im nächsten Moment wollte er als Einziges schlafen und erst wieder aufwachen, wenn alles vorbei war. Doch da war er schon zum Bett gestürzt und presste sich das verschlüsselte Handy ans Ohr, wobei ihn jedoch ein verqueres Sicherheitsdenken vom Sprechen abhielt.
»Paul? Sind Sie dran, Paul? Ich bin’s, Kirsty, erinnern Sie sich?«
Kirsty, seine Übergangsaufpasserin, von der er bisher nur die Stimme kannte – schnippisch, fordernd; alles Weitere blieb seiner Phantasie überlassen. Manchmal meinte er einen unterdrückten australischen Akzent herauszuhören, quasi das Pendant zu Elliots Südafrikanisch. Und manchmal überlegte er, was für ein Körper zu der Stimme gehören mochte, und dann wieder, ob es überhaupt einen Körper dazu gab.
Ihr Ton jedenfalls enthielt eine leichte Schärfe und jede Menge Bedeutungsschwere dazu.
»Noch alles gut bei Ihnen oben, Paul?«
»Bestens, Kirsty, bestens. Bei Ihnen auch, hoffe ich doch?«
»Wie wär’s mit einem kleinen Ausflug? Nachtvögel beobachten? Wo Sie doch so ein Eulenfreak sind?«
Denn Paul Anderson, so wollte seine groteske Tarnung es, war Hobbyornithologe.
»Dann kommt jetzt das Update. Alles so weit startklar. Heute Abend. Die Rosemaria nimmt seit fünf Stunden Kurs auf Gibraltar. Aladin lässt für seine Passagiere beim Chinesen in der Queensway-Marina eine Riesenparty steigen. Er wird warten, bis seine Gäste ordentlich am Feiern sind, und sich dann davonstehlen. Sein Date mit Punter ist für 23.30 Uhr angesetzt. Ich hole Sie um 21 Uhr im Hotel ab, in Ordnung? Punkt neun. Gebongt?«
»Wann treffe ich mich dann mit Jeb?«
»Sobald es geht, Paul«, gab sie zurück, mit einer Extraportion Strenge in der Stimme, wie jedes Mal, wenn Jeb zwischen ihnen erwähnt wurde. »Alle Maßnahmen sind getroffen. Ihr Freund Jeb erwartet Sie. Sie ziehen sich fürs Vögelbeobachten an. Sie checken nicht aus. Abgemacht?«
Das war es bereits seit zwei Tagen.
»Sie nehmen Ihren Pass und die Brieftasche mit. Sie packen Ihre Sachen, lassen sie aber im Zimmer. Sie geben Ihren Schlüssel an der Rezeption ab, als ob Sie spät zurückkommen würden. Und warten Sie am besten draußen auf der Treppe, dann müssen Sie nicht in der Lobby rumstehen und sich von den Reisegruppen anstarren lassen.«
»In Ordnung. Mache ich. Gute Idee.«
Auch das war längst so besprochen.
»Schauen Sie nach einem blauen Toyota-Geländewagen, neu und glänzend. Mit einem roten Schild rechts an der Windschutzscheibe, auf dem KONGRESS steht.«
Zum dritten Mal seit seiner Ankunft ordnete sie einen Uhrenvergleich an – reichlich überflüssig in der Quartz-Ära, dachte er, ehe ihm einfiel, dass er es mit dem Radiowecker ja genauso gemacht hatte. Noch eine Stunde und zweiundfünfzig Minuten.
Sie hatte aufgelegt. Er war wieder in Einzelhaft. Bin das wirklich ich? Doch. Ich bin’s, die bewährte Kraft, nur fühle ich mich alles andere als kraftvoll.
Mit dem Widerwillen des Gefangenen musterte er das Zimmer, diese Zelle, die sein Zuhause geworden war. Da lagen die Bücher, die er sich mitgenommen und von denen er keine Zeile gelesen hatte: Simon Schamas Chronik der Französischen Revolution. Montefiores Geschichte Jerusalems. Unter besseren Umständen wäre er mit beidem schon durch. Das Handbuch über die mediterrane Vogelwelt, das sie ihm aufgezwungen hatten. Sein Blick wanderte hinüber zu seinem Erzfeind, dem Stuhl-der-nach-Pisse-roch. Er hatte die halbe gestrige Nacht darin gesessen, nachdem das Bett ihn ausgeworfen hatte. Sollte er ihm eine letzte Chance geben? Sich nochmals den Film seines Namensvetters über die Zerstörung der deutschen Talsperren im Mai ’43 zu Gemüte führen? Wobei Laurence Oliviers Heinrich der Fünfte vielleicht die sicherere Wahl war, um die Götter der Schlacht günstig zu stimmen. Oder er brachte sich gleich mit ein paar Takten eines vatikan-zensierten Softpornos auf Touren …
Ungeduldig öffnete er die Tür des rachitischen Kleiderschranks, holte Paul Andersons mit Reiseaufklebern übersätes Rollköfferchen heraus und packte es voll mit dem Plunder, der die fiktionale Identität eines vielgereisten Vögel beobachtenden Statistikers ausmachte. Dann saß er auf dem Bett und sah dem verschlüsselten Handy beim Aufladen zu, denn er wurde die Angst nicht los, dass es im entscheidenden Augenblick seinen Geist aufgeben könnte.
***
Ob er aus Liverpool sei, fragte ihn im Lift ein nicht mehr junges Paar in grünen Blazern. Leider nein. Ob er dann zur Gruppe gehöre? Bedauerlicherweise nicht – welche Gruppe denn? Aber da hatten sein Upperclass-Akzent und die exzentrische Freizeitbekleidung schon ihre Wirkung getan, und sie ließen von ihm ab.
Im Erdgeschoss angekommen, fand er sich in einem veritablen Hexenkessel wieder. Eine blinkende, von grünen Girlanden und Ballons eingerahmte Neonschrift rief den St. Patrick’s Day aus. Ein Akkordeon quäkte irische Volksmusik. Vierschrötige Männer und Frauen mit grünen Guinness-Hauben auf dem Kopf tanzten. Eine beschwipste Frau mit verrutschter Haube packte ihn um den Hals, küsste ihn auf den Mund und ernannte ihn zu ihrem Goldjungen.
Unter Entschuldigungen rempelte er sich bis zur Eingangstreppe durch, wo ein Pulk von Gästen auf ihre Autos wartete. Er atmete tief und roch durch die Benzindämpfe einen Duft nach Lorbeer und Honig. Über ihm die verhangenen Sterne einer Mittelmeernacht. Er war so gekleidet, wie ihm aufgetragen: festes Schuhwerk, und bloß nicht den Anorak vergessen, Paul, nachts kann es frisch werden am Meer. Und überm Herzen, in der reißverschlussgesicherten Innentasche des Anoraks, das unknackbar verschlüsselte Handy. Er spürte es als leichten Druck an der linken Brustwarze – was seine Finger aber nicht davon abhalten konnte, sich nochmals verstohlen zu vergewissern.
Ein glänzender Toyota-Geländewagen hatte sich in die Schlange vorfahrender Autos eingereiht, und ja, er war blau, und ja, an der Windschutzscheibe auf der Beifahrerseite hing ein rotes Schild: KONGRESS. Dahinter zwei weiße Gesichter, der Fahrer männlich, mit Brille, jung. Das Mädchen, kompakt und tatkräftig, sprang heraus wie eine Seglerin und wuchtete die Fondtür auf.
»Sie sind Arthur, oder?«, rief sie in breitestem Australisch.
»Nein, ich heiße Paul.«
»Stimmt. Paul. Sorry. Arthur ist unser nächster Stopp. Ich bin Kirsty. Schön, Sie kennenzulernen, Paul. Hüpfen Sie rein.«
Auch diese Scharade war abgemacht. Typischer Overkill, aber sei’s drum. Er hüpfte hinein und fand sich allein auf dem Rücksitz. Die Fondtür wurde zugeschlagen, und der Geländewagen manövrierte sich zwischen den weißen Torpfosten hindurch auf die kopfsteingepflasterte Straße.
»Und das ist Hansi«, sagte Kirsty über die Lehne ihres Sitzes. »Hansi gehört mit zum Team. ›Immer auf Zack‹, das ist sein Motto. Stimmt’s, Hansi? Sag auch mal was.«
»Willkommen an Bord, Paul«, sagte der zackige Hansi, ohne den Kopf zu wenden. Die Stimme vielleicht amerikanisch, vielleicht auch deutsch. Der Krieg war in Unternehmerhand, allerdings.
Sie fuhren zwischen hohen Steinmauern entlang, und er trank sämtliche Anblicke und Geräusche gleichzeitig in sich hinein: verwischte Jazzklänge aus einer Bar, die übergewichtigen englischen Paare an ihren Außentischen, die sich mit steuerfreiem Alkohol zuschütteten, das Tattoostudio mit seinem gemusterten Torso in einer niedrigsitzenden Jeans, der Friseursalon mit den sechzig Frisuren im Fenster, der krumme alte Mann mit Yarmulke, der einen Kinderwagen schob, das Kuriositätengeschäft, das Statuetten von Windhunden, Flamencotänzerinnen und Jesus im Kreis seiner Jünger feilbot.
Kirsty hatte sich umgedreht und musterte ihn in dem wechselnden Licht. Ein knochiges Gesicht, gesprenkelt von den Sommersprossen des Outback. Kurzes dunkles Haar unter einem Buschhut. Kein Make-up und keine Botschaft in den Augen, oder zumindest keine für ihn. Kinn in die Armbeuge gedrückt, während sie ihn taxierte. Der Körper nicht einschätzbar unter den Wülsten einer gesteppten Buschjacke.
»Und haben Sie alles in Ihrem Zimmer gelassen, Paul? So wie vereinbart?«
»Alles gepackt, wie Sie gesagt haben.«
»Das Vogelbuch auch?«
»Das Vogelbuch auch.«
Jetzt eine dunkle Seitengasse, über die sich Wäscheleinen spannten. Klapperige Fensterläden, schadhaftes Pflaster, Graffiti: ENGLÄNDERRAUS! Dann wieder die Lichterspiele der großen Straßen.
»Und Sie haben nicht aus Versehen doch ausgecheckt?«
»Die Hotelhalle war so brechend voll, dass ich beim besten Willen nicht zur Rezeption hätte vordringen können.«
»Was ist mit Ihrem Zimmerschlüssel?«
In meiner verdammten Tasche. Wie ein Idiot legte er ihn in ihre ausgestreckte Hand und sah zu, wie sie ihn an Hansi weitergab.
»Erst mal die Besichtigungstour, okay? Elliot will, dass wir die ganze Strecke abfahren, damit Sie ein Bild haben.«
»Gut.«
»Wir wollen zum Upper Rock, da kommen wir direkt an der Queensway-Marina vorbei. Das da draußen ist die Rosemaria. Sie ist vor einer Stunde eingelaufen. Sehen Sie sie?«
»Ja.«
»Aladin hat seinen festen Ankerplatz, und dort vorn ist seine Privattreppe zum Pier. Niemand außer ihm darf sie benutzen, er besitzt Eigentumsanteile an der Kolonie. Er ist noch an Bord, seine Gäste sind spät dran, sie müssen sich schließlich die Nasen pudern, bevor die Sause beim Chinesen losgeht. Die Rosemaria wird von allen angestarrt, warum also nicht von Ihnen. Hauptsache relaxed. Ist ja wohl nichts dabei, einen relaxten Blick auf eine Dreißig-Millionen-Dollar-Yacht zu werfen.«
War es die erwachende Jagdlust? Einfach die Erleichterung, seinem Gefängnis entkommen zu sein? Oder die schiere Aussicht darauf, seinem Land auf solch unverhoffte Weise dienen zu dürfen? Was immer der Grund, ihn erfasste eine Welle patriotischer Begeisterung angesichts dieser Jahrhunderte imperialer Landnahme. Die Standbilder großer Admirale und Generale, die Kanonen, Schanzen und Basteien, die ramponierten Warnschilder, die unseren stoischen Verteidigern den Weg zum nächsten Luftschutzbunker wiesen, die Gurkha-Krieger, die mit aufgepflanztem Bajonett vor dem Gouverneurspalast Wache standen, die Bobbys in ihren ausgebeulten britischen Uniformen: All das war sein Erbe. Selbst die tristen Reihen von Fish & Chips-Läden, die sich hinter den eleganten spanischen Fassaden angesiedelt hatten, weckten Heimatgefühle in ihm.
Aus den Augenwinkeln nahm er Kanonen wahr, dann Kriegerdenkmäler, ein britisches, ein amerikanisches. Willkommen im Ocean Village, hoch aufragende Wohnsilos mit blauen Glasbalkonen, die Meereswellen darstellen sollten. Sie bogen in eine Privatstraße mit einem Tor und einem Wachhäuschen ohne Wächter. Unter ihnen ein Wald aus weißen Masten, eine festlich mit Teppich belegte Landungsbrücke, eine Zeile von Boutiquen und das Chinarestaurant, in dem Aladins große Sause steigen sollte.
Und dort auf dem Wasser, in aller Pracht: die Rosemaria, über und über mit Lichterketten behängt. Die Fenster des Zwischendecks schwarz. Die Salonfenster hell erleuchtet. Bullige Männer hielten zwischen leeren Tischen die Stellung. Und am Fuß einer vergoldeten Schiffsleiter ein schlankes Motorboot mit zwei weiß uniformierten Seeleuten darin, das Aladin und seine Gäste an Land bringen sollte.
»Aladin, so könnte man sagen, ist letztendlich ein gemischtrassiger Pole mit libanesischer Staatsbürgerschaft«, erklärt Elliot in dem kleinen Kabuff in Paddington. »Was ihn zu einem sehr ungut gepolten Polen macht, wenn Sie mir das Bonmot gestatten. Aladin ist der mit Abstand gewissenloseste Mordbrenner auf diesem Erdball, der auf Du und Du mit dem übelsten Abschaum der internationalen Gesellschaft steht. Der wichtigste Posten auf seiner Liste dürften nach meinen Informationen Manpads sein.«
Manpads, Elliot?
»Zwanzig Stück bei der letzten Zählung. Neuester Stand der Technik, extrem strapazierfähig, extrem tödlich.«
Elliots glatzköpfiges, überlegenes Lächeln, der gerissene Blick, das alles braucht seine Zeit.
»Manpads steht für Man-Portable Air-Defence System, Paul. Ein Akronym, verstehen Sie? Manpads sind Einmann-Flugabwehr-Lenkwaffen, so leicht, dass selbst ein Kind sie handhaben kann. Sie sind zufällig auch das Mittel der Wahl, wenn man vorhat, ein Zivilflugzeug zum Absturz zu bringen. Und das haben diese mordlustigen Dreckschweine durchaus manchmal vor.«
»Aber wird Aladin sie bei sich haben, die Manpads, Elliot? Jetzt? In der fraglichen Nacht? An Bord der Rosemaria?« Er gibt sich bewusst unbedarft, denn das scheint Elliot gutzutun.
»Laut den verlässlichen und exklusiven Quellen unseres Anführers sind besagte Manpads Teil einer sehr viel größeren Lieferung, die außerdem modernstes Panzerabwehrgerät, Bazookas und Sturmfeuergewehre aus den Arsenalen aller einschlägigen Schurkenstaaten umfasst. In bester Tausendundeine-Nacht-Manier hat Aladin seine Schätze in der Wüste gebunkert, daher der Deckname. Er wird den erfolgreichen Bieter erst dann über ihren Verbleib in Kenntnis setzen, wenn der Deal perfekt ist – den er in diesem Fall mit keinem anderen als Punter höchstpersönlich abzuschließen gedenkt. Fragen Sie mich nach dem Zweck des Stelldicheins zwischen Aladin und Punter, und ich werde Ihnen sagen, dass sie sich über die Parameter des Geschäfts verständigen werden, über die Einzelheiten der Zahlung, die in Gold erfolgt, und über eine Besichtigung der Ware vor der Übergabe.«
***
Der Toyota hatte den Yachthafen hinter sich gelassen und umfuhr einen Kreisverkehr, in dessen Mitte Palmen und Stiefmütterchen wuchsen.
»Jungs und Mädels alle bettfertig. Gewaschen und Zähne geputzt«, sprach Kirsty mit neutraler Stimme in ihr Handy.
Jungs? Mädels? Bettfertig? Was habe ich nicht mitgekriegt? Er musste sie gefragt haben.
»Zwei Vierergruppen, die beim Chinesen sitzen und auf Aladin und seine Freunde warten. Zwei Passanten-Pärchen. Ein Taxi und zwei Motorräder, die ihm folgen, wenn er von der Party abhaut«, listete sie auf wie für ein Schulkind, das nicht ordentlich aufgepasst hat.
Beide schwiegen sie ein paar gereizte Sekunden. Für sie bin ich das fünfte Rad am Wagen. Der feine englische Pinkel, der von nichts eine Ahnung hat und ihnen nur Knüppel zwischen die Beine wirft.
»Und wann treffe ich nun Jeb?«, erkundigte er sich dann, nicht zum ersten Mal.
»Ihr Freund wird Sie plangemäß am vereinbarten Treffpunkt erwarten, wie ich Ihnen gesagt habe.«
»Wegen ihm bin ich schließlich hier.« Seine Stimme war zu laut. Er spürte, wie ihm der Kamm schwoll. »Jeb und seine Männer können nicht zugreifen, ohne dass ich das Signal dazu gebe. So lautet die Abmachung.«
»Das ist uns bewusst, vielen Dank, Paul, und Elliot ist es auch bewusst. Je eher Sie und Ihr Freund Jeb zusammenkommen und die beiden Teams in Kontakt sind, desto schneller haben wir das Ding in trockenen Tüchern und können heimgehen. Okay?«
Er brauchte Jeb. Er brauchte die Verankerung.
Sie waren jetzt nahezu allein auf der Straße. Die Bäume hier waren kleiner, der Himmel weiter. Er zählte die Sehenswürdigkeiten mit. St. Bernard’s Church. Die Ibrahim-al-Ibrahim-Moschee mit ihrem weiß angestrahlten Minarett. Das Heiligtum Unserer Lieben Frau von Europa. All das ihm bestens vertraut von den zahllosen Malen, die er unkonzentriert in der speckigen Hotelbroschüre herumgeblättert hatte. Draußen vor der Küste lag eine Armada von erleuchteten Frachtern. Unsere Marineeinheit wird vom Mutterschiff von Ethical aus operieren, sagt Elliots Stimme.
Kein Himmel mehr da. Dieser Tunnel ist kein Tunnel. Es ist ein stillgelegter Bergwerksstollen. Es ist ein Luftschutzbunker. Schiefe Stahlträger, krumme Wände aus Betonblöcken und unbehauenem Felsgestein. Neonstreifen fliegen über sie hinweg, weiße Straßenmarkierungen halten Schritt mit ihnen. ACHTUNGSTEINSCHLAG warnt ein Schild. Schlaglöcher, Rinnsale von braunem Wasser, eine Eisentür, die Gott weiß wohin führt. Ist Punter hier auch schon durchgefahren? Lauert er mit einem seiner zwanzig Manpads hinter einer Tür? Punter ist nicht einfach nur ein großer Fang, Paul. Um mit Mr. Jay Crispin zu sprechen: Punter ist ein Sechser im Lotto – O-Ton Elliot.
Zwischen Säulen hindurch, die ihm wie das Tor zu einer anderen Welt vorkommen, entlässt der Berg sie aus seinem Innern, auf eine Straße, die in den Hang geschnitten ist. Windstöße rütteln an der Karosserie, ein Halbmond ist am oberen Rand der Windschutzscheibe erschienen, und der Toyota rumpelt über das Bankett an der Beifahrerseite. Unter ihnen die Lichtpünktchen von Ufersiedlungen. Dahinter die pechschwarzen Berge Spaniens. Und draußen auf dem Wasser wieder die regungslose Armada von Frachtern.
»Nur noch Standlicht«, ordnete Kirsty an.
Hansi schaltete die Frontscheinwerfer ab.
»Motor aus.«
Sie rollten zum diskreten Grummeln von Reifen auf bröckelndem Asphalt. Vor ihnen blinkte ein stecknadelkopfgroßes rotes Licht auf, zweimal, dann ein drittes Mal, näher.
»Hier.«
Sie blieben stehen. Kirsty stemmte die Fondtür auf, und kalter Wind fuhr herein, zusammen mit einem stetigen Motorendröhnen vom Meer her. Auf der anderen Talseite wallte mondbeschienenes Gewölk aus den Schluchten empor, wälzte sich wie Pulverdampf den Grat entlang. Ein Auto schoss aus dem Tunnel hinter ihnen, strich mit seinen Lichtfingern den Hang ab und hinterließ nur noch tieferes Dunkel.
»Paul, Ihr Freund ist da.«
Wo? Er rutschte zur offenen Tür hinüber, und sofort beugte Kirsty auf dem Vordersitz sich vor und zog ihre Rückenlehne mit sich, als könnte sie es nicht erwarten, ihn loszuwerden. Er begann, sich auf den Boden hinunterzulassen, und hörte das Kreischen schlafloser Möwen, Grillenzirpen. Aus der Finsternis streckten sich ihm zwei behandschuhte Hände entgegen. Dahinter kauerte der kleine Jeb mit zurückgeschobener Sturmhaube, aus der sein schwarz gesprenkeltes Gesicht glänzte, und einer um die Stirn geschnallten Lampe, die ihm etwas Zyklopenhaftes gab.
»Freut mich, Sie wiederzusehen, Paul. Da, probieren Sie die mal auf«, sagte er in seinem Waliser Singsang.
»Und mich erst, Jeb, ganz ehrlich«, antwortete er ungestüm, indem er die Nachtsichtbrille nahm, die Jeb ihm hinhielt, und dafür seine Hand ergriff. Es war der Jeb, an den er sich erinnerte: ruhig, drahtig, ganz und gar sein eigener Herr.
»Hotel in Ordnung, Paul?«
»Der reinste Alptraum. Und Ihrs?«
»Kommen Sie mit und schauen Sie sich’s an. Vier Sterne. Treten Sie dahin, wo ich auch hintrete. Alles schön mit der Ruhe. Und wenn ein Stein runterkommt, ducken.«
War das ein Scherz? Er grinste sicherheitshalber. Der Toyota holperte schon wieder den Hang hinab, Auftrag erledigt. Er setzte die Brille auf, und die Welt wurde grün. Vereinzelte Regentropfen, die der Wind herantrug, zerschellten vor seinen Augen wie Insekten. Jeb stapfte vor ihm bergauf, dem Strahl seiner Stirnlampe nach. Der einzige Pfad war der, den Jebs Füße vorgaben. Wie damals mit meinem Vater im Moor, drei Meter hohes Ginstergebüsch nach allen Seiten, nur dass an diesem Hang kein Ginster wuchs, dafür zählebige Büschel Silbergras, das ihm an den Knöcheln zerrte. Manche Männer führt man, und manchen folgt man, hatte sein Vater, ein General a.D., gern gesagt. Jeb war einer der Männer, denen man folgte.
Der Boden wurde ebener. Der Wind flaute ab, frischte wieder auf, und gleich darauf stieg auch das Gelände erneut an. Über ihnen knatterte ein Hubschrauber. Mr. Crispin wird die ganze Palette auffahren, verkündet ihm Elliot, Unternehmerstolz in der Stimme. Im besten amerikanischen Stil. Nicht dass Ihnen das viel sagen wird, Paul. Aber modernste Ausrüstung wird für alle Standard sein, sogar eine Predator zu Beobachtungszwecken dürfte das Budget keineswegs sprengen.
Der Aufstieg steiler jetzt, unter ihren Füßen teils Geröll, teils angewehter Sand. Einmal stolperte er über etwas Stählernes, einen Haken, einen Notanker. Und einmal – aber Jebs Hand wies vorsorglich darauf – wollte ein metallenes Steinschlagnetz überklettert sein.
»Hübsche kleine Wanderung, was, Paul? Und die Eidechsen in Gibraltar beißen auch nicht. Skinks heißen die hier, fragen Sie mich nicht, warum. Sie haben auch Familie daheim, oder?« – und auf das spontane Ja hin, das er zur Antwort bekam: »Wer wartet daheim auf Sie, Paul? Nichts für ungut.«
»Meine Frau. Meine Tochter«, erwiderte er außer Atem. »Meine Tochter ist Ärztin« – verflixt, jetzt hatte er völlig vergessen, dass er Paul der Junggeselle war, aber zum Teufel damit … »Und bei Ihnen, Jeb?«
»Meine Frau und mein Sohn. Fünf wird er nächste Woche. Ein Pfundskerl – wie Ihr Mädel sicher auch.«
Aus dem Tunnel hinter ihnen kam ein Auto. Er wollte sich hinwerfen, aber Jeb hielt ihn mit so eisernem Griff aufrecht, dass er aufkeuchte.
»Niemand entdeckt uns, solange wir uns nicht bewegen«, erklärte Jeb, auch jetzt in seinem gemächlichen walisischen Tonfall. »Wir haben noch hundert Meter vor uns, ziemlich steile ab hier, aber das packen Sie schon. Dann noch quer über den Hang, und wir sind da. Es sind nur die drei Jungs und ich« – als könnte er sich damit wie zu Hause fühlen.
O ja, es war steil, Dickichte und rutschender Sand, dann ein zweites Netz zum Überklettern, und Jebs Hand in Bereitschaft, falls er stolperte, aber er stolperte nicht. Und dann waren sie plötzlich angekommen. Drei Männer im Kampfanzug und mit Headsets, einer davon deutlich größer als der Rest, hockten auf einer Plane, Alubecher in der Hand, den Blick auf Computerbildschirme gerichtet, als liefe darin ein samstagnachmittägliches Fußballspiel.
Der Unterschlupf war in das Stahlgestänge eines Steinschlagnetzes gebaut. Verfilzte Zweige und Gestrüpp bildeten die Wände. Ohne Jeb wäre er wahrscheinlich selbst aus nächster Nähe daran vorbeigelaufen. Die Monitore waren tief in Rohrummantelungen versenkt. Man musste gezielt in die Röhren hineinschauen, um sie zu erkennen. Durch das Flechtwerk des Daches blinkten ein paar dunstige Sterne. Verirrte Mondstrahlen schienen auf Waffen, wie er sie im Leben noch nicht gesehen hatte. An einer der Wände warteten vier gepackte Tornister.
»Also, Jungs, das ist Paul. Unser Mann vom Ministerium«, sagte Jeb über das Windesrauschen hinweg.
Einer nach dem anderen drehten die Männer sich um, zogen einen Lederhandschuh aus, drückten ihm die Hand eine Spur zu kräftig und stellten sich vor.
»Don. Willkommen im Ritz, Paul.«
»Andy.«
»Shorty. Hallo, Paul. Den Aufstieg gut überstanden?«
Shorty, weil er einen Kopf größer ist als die anderen: vollkommen logisch. Jeb reichte ihm einen Becher Tee mit gesüßter Kondensmilch. In der Wand war eine waagrechte, mit Zweigen getarnte Schießscharte. Die Computerröhren waren ein Stück darunter angebracht, so dass der Blick den Berg hinunter auf die Küstenlinie und das Meer frei blieb. Zu seiner Linken erhoben sich wieder die spanischen Berge, höher jetzt, näher. Jeb dirigierte ihn zu dem linken Bildschirm, der einen steten Wechsel von Bildern aus versteckten Kameras zeigte – den Yachthafen, das Chinarestaurant, die lichtergeschmückte Rosemaria. Jetzt, durch eine wackelnde Handkamera, eine Innenaufnahme des Restaurants. Die Kamera auf Bodenhöhe. Am Kopfende einer langen Tafel vor der Fensterbucht ein dicker Mittfünfziger mit Seemannsjacke und perfekter Frisur, der herrisch gestikulierend auf seine Tischgenossen einredete. Rechts von ihm eine schmollende Brünette, höchstens halb so alt wie er. Nackte Schultern, ein üppiger Busen, Diamantkollier, herabgezogene Mundwinkel.
»Der gute Aladin scheint ein bisschen cholerisch zu sein, Paul«, ließ Shorty ihn wissen. »Erst hat er auf Englisch den Oberkellner zur Sau gemacht, weil kein Hummer da war. Jetzt kriegt seine Freundin eine Abreibung auf Arabisch, und das, wo er Pole ist. Wundert mich eigentlich, dass er ihr keine aufs Ohr gibt, so wie sie’s treibt. Fast wie zu Hause, was, Jeb?«
»Kommen Sie kurz hier rüber, Paul?«
Jeb hatte ihm die Hand auf die Schulter gelegt. Er machte einen großen Seitwärtsschritt vor den mittleren Bildschirm. Hier wechselten Luft- und Bodenaufnahmen. Verdankten sie die der Predator, die Mr. Crispins Budget keineswegs sprengte? Oder eher dem Hubschrauber, den er in den Lüften tuckern hörte? Eine Reihe weißer Häuser, nach der Wetterseite hin holzverschalt, an der Kante des Steilufers. Zwischen den Häusern Steintreppen zum Strand hinab. Die Treppen mündeten auf einen dürftigen Halbmond aus Sand. Ein Kieselstrand, umschlossen von einem zerklüfteten Kliff. Orangefarbene Straßenlaternen. Ein Schotterweg führte hinauf zur Küstenstraße. Keine Lichter in den Fenstern. Keine Vorhänge.
Und durch die Schießscharte dieselbe Häuserreihe in natura.
»Ein Abrissprojekt, sehen Sie, Paul?«, erklärte Jeb. »Eine Firma aus Kuwait baut da einen Kasinokomplex und eine Moschee hin. Deshalb stehen die Häuser leer. Aladin ist einer der Geschäftsführer der kuwaitischen Firma. Seinen Gästen hat er gesagt, er hätte heute Abend ein vertrauliches Treffen mit dem Bauunternehmer. Eine sehr lukrative Angelegenheit, wie es scheint. Sie streichen die Profite für sich selbst ein, erzählt seine Freundin. Verrückt eigentlich, dass ein Mann wie Aladin da nicht dichthält, aber wenn er meint …«
»Angeber halt«, sagte Shorty. »Scheiß-Angeber-Pole.«
»Ist Punter denn bereits im Haus drin?«, fragte er.
»Sagen wir so: Wenn er drin ist, haben wir ihn noch nicht entdeckt, Paul«, erwiderte Jeb in demselben sachlichen Ton wie zuvor. »Jedenfalls nicht von außen, und reinschauen können wir nicht. Es gab keine Gelegenheit, hieß es. Gut, zwanzig Häuser in einem Aufwasch zu verkabeln ist wohl bisschen viel verlangt, sogar mit der heutigen Technik. Vielleicht versteckt er sich im einen Haus und schleicht sich zu seinem Treffen ins nächste. Wir wissen es nicht, noch nicht jedenfalls. Da hilft als Einziges abwarten. Abwarten und auf gar keinen Fall losschlagen, ehe man nicht genau weiß, womit man es zu tun hat. Gerade wenn man einen Oberboss von al-Qaida fangen will.«
Er hat noch Elliots leicht angedickte Beschreibung des nämlichen Herrn im Ohr:
Um es in eine ganz schlichte Formulierung zu kleiden, Paul: Punter ist das Phantom des Dschihad, um nicht zu sagen, ein Schemen, die Ungreifbarkeit in Person. Er lehnt jegliche elektronische Kommunikation ab, einschließlich Mobiltelefonen und unverfänglichen E-Mails. Bei Punter wird alles mündlich übermittelt, und nie durch denselben Kurier zweimal.