Tinker Tailor Soldier Spy - John le Carré - E-Book

Tinker Tailor Soldier Spy E-Book

John Le Carré

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Beschreibung

George Smiley – Der Spion, der Geschichte schrieb Ein vom Moskauer Zentrum eingesetzter Maulwurf hat die höchsten Ränge des britischen Geheimdienstes infiltriert und ihn dabei fast zerstört. Der ehemalige Spionagechef George Smiley wird aus dem Ruhestand geholt, um den Verräter zur Strecke zu bringen. Aber wem kann er trauen? Ein raffiniertes Spiel der Identitäten beginnt – mit tragischem Ausgang.   »John le Carrés Romane überzeugen wie die von Balzac, sie klagen an wie die von Zola, aber sie predigen nicht. Sie addieren sich zu einem einzigen großen humanistischen Plädoyer.«Der Spiegel  ***Ein Agententhriller der Weltklasse - neu übersetzt von Peter Torberg.*** www.johnlecarre.com

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Tinker Tailor Soldier Spy

JOHN LE CARRÉ 1931 bis 2020, studierte in Bern und Oxford. Er unterrichtete in Eton, bevor er während des Kalten Krieges für den britischen Geheimdienst arbeitete. Fast sechzig Jahre war dann das Schreiben sein Beruf. Der in London und Cornwall lebende Autor wurde 2011 mit der Goethe-Medaille ausgezeichnet.Le Carrés Roman Tinker, Tailor, Soldier, Spy war vor fünfzig Jahren ein Welterfolg und gilt heute als Klassiker, seine Figur George Smiley wurde zu einer der bekanntesten Serienfiguren überhaupt.Peter Torberg, geboren 1958, studierte in Münster und in Milwaukee, Wisconsin. Zu den von ihm übersetzten Autoren gehören u. a. Paul Auster, William Golding, David Peace, Oscar Wilde und Daniel Woodrell.

EIN AGENTEN-THRILLER DER WELTKLASSEEin von Moskau eingesetzter Maulwurf hat die höchsten Ränge des britischen Geheimdienstes infiltriert und ihn so fast zerstört. Der ehemalige Spionagechef George Smiley wird aus dem Ruhestand geholt, um den Verräter zur Strecke zu bringen. Aber wem kann er trauen? Ein raffiniertes Spiel der Identitäten beginnt – mit tragischem Ausgang.Neu übersetzt von PETER TORBERG.

John le Carré

Tinker Tailor Soldier Spy

Roman

Ullstein

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Die Originalausgabe erschien 1974 unter dem Titel Tinker, Tailor, Soldier, Spy bei Hodder & Stoughton, London.

Neuübersetzung

© 1974 by le Carré Productions © der deutschsprachigen Ausgabe2024 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinWir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.Alle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: zero-media.net, München nach einer Vorlage von © R.D. Scudellari, used  by Permission of Alfred A. Knopf, IncAutorenbild: © White HareE-Book powered by pepyrus

ISBN 978-3-8437-2616-0

Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.

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Inhalt

Titelei

Das Buch

Titelseite

Impressum

TEIL EINS

1

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12

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TEIL ZWEI

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TEIL DREI

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Anhang

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

TEIL EINS

Widmung

Für James Bennett und Dusty Rhodes,in Gedenken

    

TAILOR,

SOLDIER,

SAILOR,

RICH MAN,

POOR MAN,

BEGGARMAN,

THIEF.

Kinderabzählreim, vorzugsweise beim Zählen von Kirschkernen, Mantelknöpfen, Blütenblättern von Gänseblümchen und den Samen von Timotheegras.

– Oxford Dictionary of Nursery Rhymes, 1951.

TEIL EINS

1

Ehrlich gesagt, wäre der alte Major Dover nicht auf der Pferderennbahn Taunton tot umgefallen, dann hätte Jim wohl niemals in Thursgoods Schule angefangen. Er tauchte ohne irgendein Vorstellungsgespräch mitten im Schuljahr auf, Ende Mai, obwohl man das am Wetter nicht hätte erkennen können; vermittelt worden war er von einer recht zwielichtigen Agentur, die sich auf Aushilfslehrer für Privatschulen spezialisiert hatte, um den Unterricht des alten Dover zu übernehmen, bis man einen passenden Ersatz gefunden hatte. »Ein Sprachwissenschaftler«, verkündete Thursgood im Lehrerzimmer, »eine vorübergehende Maßnahme«, und wischte sich hoch motiviert eine Strähne aus der Stirn. »Priddo.« Er buchstabierte den Namen: »P-R-I–D« – Französisch war nicht Thursgoods Fach, also warf er einen Blick auf das Stück Papier – »E-A-U-X, James mit Vornamen. Ich schätze, wir haben mit ihm eine gute Zwischenlösung gefunden.« Der Lehrerschaft bereitete es keinerlei Schwierigkeiten, die Zeichen richtig zu deuten. Jim Prideaux musste zu den unterprivilegierten Weißen des Kollegiums zählen. Er war Teil jenes traurigen Haufens, zu dem auch Mrs Loveday zu rechnen war, die Aushilfslehrerin für Religion, die früher mal im Besitz eines Persermantels gewesen war, bis ihre Schecks geplatzt waren, oder Mr Maltby, der Musiklehrer, den man aus den Chorproben geholt hatte, damit er der Polizei bei ihren Ermittlungen zur Seite stehen konnte, was er, soweit man wusste, bis zum heutigen Tage tat, denn Maltbys Koffer lag noch immer für die nächsten Schritte im Keller bereit. Mehrere Lehrer, allen voran Marjoribanks, waren dafür, den Koffer zu öffnen. Darin würden sich aller Voraussicht nach allseits bekannte vermisste Schätze wiederfinden lassen: das Foto von Aprahamians libanesischer Mutter im silbernen Bilderrahmen zum Beispiel, Best-Ingrams Schweizer Messer oder die Uhr der Hausmutter. Doch Thursgood beantwortete die Bitten des Kollegiums nur mit einem strengen Blick aus seinem faltenlosen Gesicht. Seit er die Internatsschule von seinem Vater übernommen hatte, waren erst fünf Jahre vergangen, doch diese Jahre hatten ihn gelehrt, dass manche Dinge am besten unter Verschluss zu bleiben hatten.

Jim Prideaux traf an einem Freitag während eines Unwetters ein. Der Regen zog wie Geschützqualm die Bergkessel der Quantock Hills hinunter, fegte über die leeren Kricketfelder und klatschte gegen den Sandstein der bröckelnden Fassaden. Prideaux kam kurz nach dem Lunch in einem alten roten Alvis, der einen gebraucht gekauften, ehemals blauen Wohnwagen zog. Der frühe Nachmittag in Thursgoods Internat diente der Ruhe, ein kurzer Waffenstillstand im fortlaufenden Kampf eines jeden Schultags. Die Jungen werden in ihre Schlafsäle geschickt, die Lehrer versammeln sich beim Kaffee im Lehrerzimmer zum Zeitunglesen oder Korrigieren der Schulaufgaben. Thursgood liest seiner Mutter einen Roman vor. Von den gesamten Internatsbewohnern beobachtete einzig der kleine Bill Roach Jims Ankunft, sah den Dampf, der aus der Motorhaube des Alvis aufstieg, als der Wagen keuchend die zerfurchte Zufahrt entlangzuckelte; die Scheibenwischer arbeiteten auf Hochtouren, der Wohnwagen rumpelte schwankend durch die Pfützen hinterher.

Roach war ein neuer Schüler und galt als ziemlich begriffsstutzig, wenn nicht gar beschränkt. Thursgood war schon seine zweite Privatschule in zwei Schuljahren. Er war ein dickes, rundliches Kind mit Asthma, und er verbrachte den Großteil der Ruhezeit damit, am Bettende zu hocken und aus dem Fenster zu glotzen. Seine Mutter führte in Bath ein ausschweifendes Leben; sein Vater, darin waren sich alle einig, war der reichste der Schulväter, ein Ruf, für den sein Sohn teuer bezahlen musste. Als Scheidungskind war Roach zudem der geborene Beobachter. Und wie Roach beobachten konnte, hielt Jim nicht vor dem Schulgebäude, sondern fuhr weiter in Richtung der Ställe. Offenbar kannte er das Gelände. Später entschied Roach, dass Jim wohl alles ausgekundschaftet oder einen Lageplan studiert haben musste. Als Jim die Ställe erreicht hatte, hielt er nicht an, sondern fuhr direkt weiter zum nassen Gras und drückte aufs Gas, um den Schwung nicht zu verlieren. Dann fuhr er über den kleinen Hügel und steuerte in die Senke hinein, sodass er außer Sicht geriet. Jim nahm die Höhe derart entschieden, dass Roach schon halb damit rechnete, dass der Wohnwagen aufsetzen würde, doch es hob sich nur das Hinterteil, und der Wagen verschwand wie ein riesiges Kaninchen in seinem Bau.

Die Senke war Teil des kulturellen Erbes von Thursgood. Sie liegt auf einem Stück Ödland zwischen Obstgarten, Gewächshaus und den Stallungen. Bei genauerem Hinsehen handelt es sich um kaum mehr als eine grasbedeckte Mulde mit kindshohen Erdwällen an der Nordseite, die von dichtem, im Sommer leicht durchdringbarem Gestrüpp bewachsen sind. Diese Wälle verleihen der Senke ihren besonderen Reiz als Spielort und prägen zugleich die Legende darum, die je nach Fantasie einer neuen Schülergeneration variiert. Überreste einer Silbermine im Tagebau, heißt es beim einen Jahrgang, und es wird begeistert nach Schätzen gebuddelt. Eine römisch-britische Befestigungsanlage, vermutet die nächste Schülergeneration, und es werden Schlachten mit Stöcken und Lehmgeschossen veranstaltet. Wieder ein anderer Jahrgang meint in der Senke einen Bombenkrater aus Kriegszeiten zu erkennen und sieht die Wälle als kauernde Leichen, die eine Explosion in den Tod gerissen hat. Die Wahrheit sieht erheblich unspektakulärer aus. Sechs Jahre zuvor, kurz bevor Thursgoods Vater kurzerhand mit einer Empfangsdame aus dem Castle Hotel durchbrannte, hatte dieser einen Spendenaufruf gestartet, um den Bau eines Swimmingpools zu finanzieren, und die Schüler dazu gebracht, ein großes Loch mit einem tiefen und einem flachen Ende auszuheben. Die Gelder, die eingegangen waren, fielen allerdings zu mickrig aus, um das Projekt fertigzustellen, und wurden zweckentfremdet, für Dinge wie einen Projektor für die Kunstklasse und den Plan, im Keller des Internats Pilze zu züchten. Und wohl auch, so behaupteten böse Zungen nach der Flucht des Pärchens in die deutsche Heimat der Dame, als Startkapital für deren Liebesnest.

Jim wusste nichts von all diesen Geschichten. Doch Tatsache bleibt, dass er durch reinen Zufall genau jenen Bereich von Thursgoods Internat ausgewählt hatte, der, so sah es Roach, über übernatürliche Eigenschaften verfügte.

Roach wartete am Fenster, konnte aber nichts weiter sehen. Der Alvis und der Wohnwagen waren verschwunden, und wenn da nicht die nassen roten Spuren im Gras gewesen wären, dann hätte er sich wohl gefragt, ob er sich das alles nicht nur eingebildet hatte. Aber die Spuren waren wirklich da, und als der Gong zum Ende der Ruhezeit ertönte, zog er seine Gummistiefel an, stapfte durch den Regen zur obersten Kante der Senke, schaute hinein und entdeckte Jim in einem Armeeregenmantel und mit einer wirklich bemerkenswerten Kopfbedeckung, breitkrempig wie ein Safarihut, aber aus Filz; zudem war die Krempe an einer Seite verwegen piratenmäßig hochgeschlagen, und dort plätscherte das Wasser heraus wie bei einer Regenrinne.

Der Alvis parkte auf dem Hof vor den Stallungen. Roach bekam nie heraus, wie Jim ihn aus der Senke befördert hatte, aber der Wohnwagen befand sich jetzt ohne das Auto unten am tiefen Ende und war auf verwitterten Ziegelsteinen aufgebockt. Jim saß auf der Stufe vor der Wohnwagentür, trank aus einem grünen Plastikbecher und rieb sich die rechte Schulter, so als wäre er irgendwo angestoßen, und der Regen floss ihm weiter vom Kopf. Dann hob sich der Hut, und Roach starrte in ein wutrotes Gesicht, das durch den Schatten, den die Krempe warf, und den braunen Schnurrbart, den der Regen zu Fangzähnen geformt hatte, noch wütender wirkte. Das restliche Gesicht war über und über von wilden Furchen durchzogen, die so schief und krumm waren, dass Roach in einem weiteren Aufblitzen seiner prächtigen Fantasie mutmaßte, Jim musste mal an einem tropischen Ort sehr gehungert und sich danach wieder berappelt haben. Seinen linken Arm hielt er weiterhin quer über der Brust, und die rechte Schulter hatte er noch immer an den Hals hochgezogen. Seine ganze schiefe Gestalt hatte sich versteift, und er wirkte wie ein mit dem Hintergrund verschmolzenes, erstarrtes Tier: Ein Hirsch, dachte Roach hoffnungsvoll, etwas ganz Besonderes.

»Wer zum Henker bist du?«, fragte eine sehr militärisch klingende Stimme.

»Roach, Sir. Ich bin neu im Internat.«

Einen Augenblick lang musterte das ziegelsteinrote Gesicht Roach aus dem Schatten des Huts. Dann entspannten sich die Gesichtszüge zur großen Erleichterung des Jungen und gingen in ein draufgängerisches Grinsen über, die linke Hand, die noch immer die rechte Schulter hielt, setzte mit der langsamen Massage fort, und der Mann nahm einen großen Schluck aus dem Becher.

»Neu hier, hm?«, sagte Jim grinsend in den Becher hinein. »Na, diesen Tag werde ich mir rot im Kalender anstreichen.«

Jim erhob sich, wendete Roach den Rücken zu und machte sich daran, die vier Stützen des Wohnwagens einer eingehenden Begutachtung zu unterziehen, einer sehr peniblen Begutachtung, zu der das kräftige Rütteln an der Aufhängung, das Schräghalten des so auffällig bedeckten Kopfes und das Unterlegen mehrerer Ziegel in verschiedenen Winkeln und an unterschiedlichen Stellen gehörten. Der Frühlingsregen prasselte in der Zwischenzeit weiter auf alles nieder: Mantel, Hut und Dach des alten Wohnwagens. Und Roach bemerkte, dass Jims rechte Schulter bei der ganzen Aktion kein Stück nachgab, sondern weiter an den Hals gezogen blieb wie ein Stein unter dem Regenmantel. Das brachte ihn zu der Überlegung, ob Jim eine Art buckliger Riese war und ob alle Buckel so schmerzten wie der von Jim. Und er stellte ganz allgemein fest, dass Menschen mit Rückenproblemen lange Schritte machten, das hatte wohl etwas mit der Balance zu tun.

»Ein Neuer, hm? Tja, ich bin schon mal kein Neuer«, fuhr Jim erheblich freundlicher fort und zog an einer der Stützen. »Ich bin alt. Alt wie Rip van Winkle, wenn du’s genau wissen willst. Noch älter. Hast du schon Freunde gefunden?«

»Nein, Sir«, antwortete Roach in dem apathischen Ton, in dem alle Schulkinder »Nein« sagen und es der fragenden Person überlassen, eventuell positiv darauf zu reagieren. Jim reagierte allerdings überhaupt nicht, und Roach überkam plötzlich ein merkwürdig hoffnungsvolles Gefühl von Zugehörigkeit.

»Mit Vornamen heiße ich Bill«, sagte er. »Ich bin Bill getauft, aber Mr Thursgood nennt mich William.«

»Bill, hm? Machen die anderen billige Scherze mit dir?«

»Nein, Sir.«

»Ein guter Name.«

»Ja, Sir.«

»Hab ne Menge Bills gekannt. Alles gute Männer.«

Und damit war die Vorstellungsrunde praktisch vorbei. Jim sagte nicht zu Roach, dass er verschwinden solle, also blieb er oben auf der Kuppe stehen und schaute durch die regenverschmierte Brille nach unten. Die Ziegel, so stellte er voller Ehrfurcht fest, waren vom Gurkenbeet entwendet worden. Ein paar der Ziegel waren schon locker gewesen, und Jim musste sie wohl noch weiter gelockert haben. Roach fand es fantastisch, dass jemand, der gerade erst am Internat angekommen war, derart selbstsicher sein konnte und sich einfach zu eigenen Zwecken am Eigentum der Schule bediente, und noch viel fantastischer war, dass Jim sich vom Hydranten einen Wasseranschluss gelegt hatte, denn für diesen Hydranten galt eine besondere Schulregel: Ihn auch nur zu berühren, zog Prügel nach sich.

»He, Bill. Du hast nicht zufällig eine Murmel bei dir?«

»Eine was, bitte, Sir?«

»Eine Murmel, mein Freund. Eine runde Glasmurmel, eine kleine Kugel. Spielen denn Jungs nicht mehr mit Murmeln? In meiner Schulzeit schon.«

Nein, Roach hatte keine Murmel, aber Aprahamian hatte eine ganze Sammlung davon, direkt aus Beirut eingeflogen. Roach brauchte etwa fünfzig Sekunden, um zum Schulhaus zurückzulaufen, sich im Austausch gegen die wildesten Versprechungen eine Murmel zu beschaffen und keuchend zur Senke zurückzukehren. Dort blieb er stehen, denn in seiner Vorstellung war Jim bereits Eigentümer der Senke, und Roach brauchte dessen Erlaubnis, um sie zu betreten. Doch Jim war im Wohnwagen verschwunden, und nachdem Roach einen Augenblick gewartet hatte, stieg er vorsichtig den Rand hinunter und hielt die Murmel zur offenen Tür herein. Jim bemerkte ihn nicht sofort. Er trank aus seinem Becher und starrte zum Fenster hinaus auf die schwarzen Wolken, die über die Quantocks zogen. Diese Trinkbewegung, fiel Roach auf, war tatsächlich recht schwierig zu bewerkstelligen, denn Jim konnte nicht einfach gerade stehen und schlucken, er musste für den richtigen Kippwinkel den ganzen verdrehten Oberkörper nach hinten biegen. Der Regen hatte wieder zugenommen, und das Wasser prasselte wie Kieselsteine auf den Wohnwagen.

»Sir«, sagte Roach, doch Jim rührte sich nicht.

»Das Problem am Alvis ist, er hat keine Stoßdämpfer«, sagte Jim schließlich, eher zum Fenster denn zu seinem Besucher. »Man sitzt mit dem Hintern auf der Straße. Das legt jeden lahm.« Und wieder bog er den ganzen Körper nach hinten und trank.

»Ja, Sir«, sagte Roach, ganz überrascht, dass Jim ihn für einen Autofahrer halten könnte.

Jim hatte den Hut abgenommen. Sein rötlich gelbes Haar war kurz geschnitten, und es gab Stellen, an denen jemand mit der Schere zu tief geraten war, größtenteils an der einen Seite, daher nahm Roach an, dass Jim sich die Haare mit dem guten Arm selbst geschnitten hatte, und nun wirkte er noch schiefer.

»Ich habe hier eine Murmel«, sagte Roach.

»Sehr gut. Danke, mein Freund.« Jim nahm die Murmel und ließ sie langsam über seine harte, trockene Handfläche rollen. Roach wurde sofort klar, dass Jim in allen möglichen Zusammenhängen recht geschickt war; das hier musste ein Mann sein, der sich gut mit Werkzeug und Gegenständen im Allgemeinen auskannte. »Das Ganze ist uneben, verstehst du, Bill?«, sagte er und konzentrierte sich weiter auf die Murmel. »Schief und krumm. Genau wie ich. Pass auf«, sagte er dann und drehte sich zu dem größeren Fenster. An der unteren Kante befand sich eine Aluminiumleiste zum Auffangen des Kondenswassers. Jim legte die Murmel auf die Leiste und schaute zu, wie sie bis zum Ende entlangrollte und zu Boden fiel.

»Krumm und schief«, wiederholte er. »Kippt zum Heck hin. Das geht so nicht. He, wo bist du denn hin, du kleines Mistding?«

Der Wohnwagen war nicht sonderlich gemütlich eingerichtet, wie Roach auffiel, als er sich bückte, um die Murmel aufzuheben. Er hätte sonst wem gehören können, aber zumindest war der Innenraum penibel sauber. Eine Koje, ein Küchenstuhl, ein Gaskocher, eine Propangasflasche. Nicht mal ein Bild von seiner Frau, dachte Roach, der, abgesehen von Mr Thursgood, keine Junggesellen kannte. Die einzigen persönlichen Gegenstände waren ein Seesack, der an der Tür hing, Nähzeug, das neben der Koje lag, und eine selbst gebaute Dusche, die aus einer durchlöcherten Blechdose bestand, die ordentlich ans Dach geschweißt worden war. Auf dem Tisch stand eine Flasche mit einer farblosen Flüssigkeit, Gin oder Wodka, den trank auch sein Vater, wenn Roach ihn in den Ferien übers Wochenende besuchte.

»Ost-West ist in Ordnung soweit, aber Nord-Süd ist schief und krumm«, stellte Jim fest und probierte es am anderen Fenster. »Worin bist du gut, Bill?«

»Das weiß ich nicht, Sir«, antwortete er hölzern.

»In irgendwas musst du doch gut sein, ist doch jeder. Wie steht’s mit Fußball? Spielst du gut Fußball, Bill?«

»Nein, Sir«, antwortete Roach.

»Ach, bist du ein Stubenhocker?«, fragte Jim achtlos, setzte sich mit einem kurzen Grunzer aufs Bett und nahm einen Schluck aus dem Becher. »So siehst du allerdings nicht aus«, fügte er höflich hinzu. »Aber ein Einzelgänger bist du ja schon.«

»Ich weiß nicht«, wiederholte Roach und machte einen halben Schritt auf die Tür zu.

»Was kannst du denn am besten?« Jim trank noch einen Schluck. »In irgendwas musst du doch gut sein, Bill, ist doch einfach jeder. Ich konnte immer am besten Steine übers Wasser hüpfen lassen.«

Roach eine solche Frage zu stellen war unglücklich, denn sie beschäftigte ihn den Großteil des Tages. Tatsächlich hatten ihn in letzter Zeit große Zweifel befallen, ob er überhaupt irgendeine Bestimmung auf der Welt hatte. In Schule und Freizeit hielt er sich für vollkommen unzulänglich, und selbst tägliche Routinen wie das Bettenmachen oder ordentliche Aufräumen der Kleidung schienen ihn zu überfordern. Zudem fehlte es ihm an Frömmigkeit, wie die alte Mrs Thursgood ihm mitgeteilt hatte, weil er im Gottesdienst gern das Gesicht verzog. Roach gab sich selbst die größte Schuld an diesen Defiziten, doch am allermeisten daran, dass die Ehe seiner Eltern gescheitert war; das hätte er vorausahnen und etwas dagegen unternehmen können. Er fragte sich sogar, ob er nicht direkt dafür verantwortlich war, ob er zum Beispiel besonders böse oder spalterisch oder träge gewesen war und sein schlechter Charakter die Trennung erst herbeigeführt hatte. In der vorherigen Schule hatte er diese Gedanken durch Schreiattacken zum Ausdruck gebracht und indem er spastische Anfälle vorgetäuscht hatte, wie er sie von seiner Tante kannte. Seine Eltern kamen überein, wie sie das auf ihre vernünftige Art häufig taten, ihn in eine andere Schule zu stecken. Daher stürzte ihn diese gedankenlose Frage, wie sie da in dem engen Wohnwagen ein Geschöpf an ihn richtete, das zumindest auf halbem Wege zur Göttlichkeit war und ebenso einsam wie er selbst, plötzlich beinahe in eine Katastrophe. Er spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss, er bemerkte, wie seine Brille beschlug und der Wohnwagen in einem Schleier aus Kummer zu verschwimmen begann. Ob Jim das überhaupt bemerkte, sollte Roach nie herausbekommen, denn plötzlich hatte der Bill den krummen Rücken zugedreht, war zum Tisch gegangen und trank einen ordentlichen Schluck aus dem Plastikbecher, während er die rettenden Sätze sprach.

»Na, jedenfalls bist du ein guter Beobachter, so viel steht fest, mein Freund. Sind wir Einzelgänger doch immer, haben ja keinen, auf den wir uns verlassen können, richtig? Außer dir hat mich noch keiner entdeckt. Hab mich regelrecht erschrocken, wie du da oben aufgetaucht bist. Hab dich glatt für einen Juju-Mann gehalten. Der beste Beobachter in der ganzen Truppe, dieser Bill Roach, darauf wette ich. Solange er seine Brille auf der Nase hat. Richtig?«

»Ja«, bestätigte Roach dankbar, »das bin ich.«

»Also, du bleibst hier und beobachtest«, befahl Jim und setzte seinen Safarihut wieder auf, »und ich gehe raus und gleiche die Stützen aus. Machst du das?«

»Ja, Sir.«

»Wo ist die verfluchte Murmel?«

»Hier, Sir.«

»Du rufst, wenn sie rollt, klar? Nach Norden, Süden, egal wohin. Verstanden?«

»Ja, Sir.«

»Weißt du, wo Norden liegt?«

»Dort«, antwortete Roach sofort und streckte seine Hand in irgendeine Richtung aus.

»Richtig. Also, du rufst, wenn sie rollt«, wiederholte Jim und verschwand im Regen. Einen Augenblick später spürte Roach, wie der Boden unter seinen Füßen schwankte, und hörte einen Schrei aus Schmerz oder Wut, als Jim sich an einer der rechten Stützen abmühte.

Im Laufe dieses Sommerhalbjahres erwiesen die Jungen Jim die Ehre eines Spitznamens. Es brauchte mehrere Anläufe, bis sie zufrieden waren. Erst versuchten sie es mit Trooper, was ein wenig das Militärische an ihm abbildete, sein gelegentliches harmloses Fluchen und seine einsamen Wanderungen durch die Quantocks. Doch Trooper setzte sich nicht durch, also probierten sie es mit Pirat und eine Zeit lang sogar mit Gulasch. Gulasch wegen seiner Vorliebe für scharf gewürztes Essen, wegen des Geruchs nach Curry, Zwiebeln und Paprikapulver, der ihnen in warmen Schwaden entgegenwehte, wenn sie auf dem Weg zur Abendandacht an der Senke vorbeikamen. Und Gulasch auch wegen seines perfekten Französischs, das ihrer Meinung nach ein wenig schmalzig klang. Spikely aus der 5 b konnte ihn täuschend echt nachahmen: »Du hast doch die Frage gehört, Berger. Was betrachtet Emile?« – eine ruckartige Bewegung der rechten Hand – »Glotz mich nicht so an, mein Freund, ich bin doch kein Juju-Mann. Qu’est-ce qu’il regarde, Emile, dans le tableau que tu as sous le nez? Mon cher Berger, falls du nicht auf der Stelle einen klaren Satz Französisch herausbringst, je te mettrai tout de suite à la porte, tu comprends, du hässliche Kröte?«

Allerdings wurden diese schrecklichen Drohungen niemals in die Tat umgesetzt, weder auf Französisch noch auf Englisch. Kurioserweise verstärkte sich dadurch sogar noch die sanfte Ausstrahlung, die Jim umgab, eine Sanftmut, die nur Jungen an großen Männern entdecken können.

Aber Gulasch gefiel ihnen letztlich auch nicht. Es fehlte der Anteil an innerer Kraft. Und der Name verriet auch nichts von Jims leidenschaftlicher Liebe zu England, das einzige Thema, an das er zuverlässig Zeit vergeudete. Kröte Spikely musste nur eine abfällige Bemerkung zur Monarchie machen und die Freuden irgendeines anderen Landes preisen, vorzugsweise eines in den Tropen gelegenen, schon lief Jim rot an und ließ sich lang und breit über die Ehre aus, als Engländer geboren zu sein. Er wusste, dass es nur darum ging, ihn zu provozieren, aber er hatte sich da nicht im Griff. Meistens beendete er seine Moralpredigt mit einem reumütigen Grinsen und murmelte etwas von falschen Fährten, schlechten Noten und roten Gesichtern, wenn gewisse Kinder nachsitzen müssten und so ihr Fußballtraining verpassen würden. Aber England galt nun mal seine Liebe; letzten Endes sollte darunter niemand zu leiden haben.

»Der beste Platz auf der ganzen verfluchten Welt!«, brüllte er einmal. »Und weißt du auch, warum, du Kröte?«

Das wusste Spikely nicht, also schnappte sich Jim ein Stück Kreide und zeichnete einen Globus. Die USA im Westen, erklärte er, sind voller gieriger Hohlköpfe, die ihr Erbe beschmutzen. Im Osten China und Russland, aber da machte er keinen großen Unterschied: Arbeitsmontur, Straflager und ein verdammt langer Marsch, der nirgendwo hinführte. In der Mitte …

Schließlich kamen die Jungen bei dem Spitznamen auf Rhino.

Zum einen war das ein Reim auf Prideaux, zum anderen enthielt der Name eine Anspielung darauf, dass er als Selbstversorger von allem lebte, was das Land hergab, und auf seinen Drang zur Bewegung, den sie ständig an ihm beobachten konnten. Während sie in aller Frühe in der Schlange vor den Duschen froren, konnten sie Rhino mit einem Rucksack auf dem Buckel die Combe Lane entlangstampfen sehen, wenn er gerade von seinem Frühmarsch zurückkam. Machten sie sich bettfertig, sahen sie seine einsame Gestalt durch das Plexiglasdach des Squash-Courts, wo Rhino unermüdlich die Betonwand malträtierte. Und an warmen Abenden beobachteten sie ihn manchmal heimlich aus ihren Schlafsaalfenstern, wie er mit einem haarsträubend alten Schläger Golf spielte und im Zickzack über die Sportplätze lief, oft nachdem er ihnen zuvor aus einem zutiefst englischen Abenteuerbuch vorgelesen hatte: Biggles, Percy Westerman oder Jeffrey Farnol, was immer er sich spontan aus der schäbigen Bibliothek geschnappt hatte. Bei jedem Schlag warteten sie darauf, dass er beim Ausholen grunzte, und sie wurden selten enttäuscht. Sie zählten säuberlich mit. Beim Kricket warf er 75, bevor er sich auswerfen ließ, indem er Spikely im Mittelfeld absichtlich einen Ball zuspielte. »Fang schon, du Kröte, na los. Gut gemacht, Spikely, mein Junge, dafür bist du hier.«

Die Jungen erkannten auch Jims untrügliches Gespür, wenn es um kriminelle Tendenzen ging – seiner toleranten Ader zum Trotz. Dafür gab es mehrere Beispiele, doch das eindrücklichste davon ereignete sich ein paar Tage vor Ende des Schuljahres, als Spikely in Jims Papierkorb einen Entwurf der Klausuraufgaben des folgenden Tages fand und sie seinen Mitschülern für fünf neue Penny pro Nase anbot. Ein paar Jungs bezahlten und verbrachten eine qualvolle Nacht in ihren Schlafsälen damit, die Antworten im Schein einer Taschenlampe auswendig zu lernen. Doch als die Klausur stattfand, legte Jim ganz andere Aufgaben vor.

»Die könnt ihr euch kostenlos anschauen«, brüllte er und setzte sich. Er schlug seinen Daily Telegraph auf und widmete sich in aller Ruhe den neuesten Weisheiten der Juju-Männer, womit er, wie sie wussten, quasi sämtliche Leute mit intellektuellen Ambitionen meinte, auch wenn diese sich für die Sache der Krone aussprachen.

Und schließlich war da noch der Zwischenfall mit der Eule, die allerdings in Zusammenhang mit der Beurteilung von Jim einen besonderen Platz einnahm, weil es darin auch um den Tod ging, ein Phänomen, auf das die Kinder ganz unterschiedlich reagieren. An diesem Mittwoch war das Wetter kalt, deshalb brachte Jim einen Eimer Kohlen mit ins Klassenzimmer und heizte damit ein, saß mit dem Rücken zur Wärme da und gab ein dictée. Als Erstes rutschte etwas Ruß den Kamin hinunter, was er ignorierte, aber dann kam die Eule hinterher, eine ausgewachsene Schleiereule, die zweifellos viele Sommer und Winter dort in ihrem Nest verbracht hatte, da der Kamin zu Dovers Lehrzeiten nicht gefegt worden war. Nun war sie ausgeräuchert worden und ganz schwarz und verwirrt, nachdem sie bis zur Erschöpfung im Kaminschacht herumgeflattert war. Das Tier stürzte über die Kohlen hinweg und brach bebend und zuckend auf den Holzdielen zusammen, wo sie schließlich wie eine Abgesandte des Teufels liegen blieb, die Flügel von sich gestreckt, lädiert, aber noch atmend, und die Jungen aus rußverschmierten Augen anstarrte. Es gab niemanden, der es nicht mit der Angst bekam – selbst Spikely, sonst der Held, zitterte. Niemanden, bis auf Jim, der das Tier kurzerhand packte und wortlos hinausschaffte. Die Kinder hörten daraufhin nichts, obwohl sie so angestrengt lauschten wie blinde Passagiere, bis sie vom Ende des Flurs Wasser rauschen hörten, wo Jim sich offenbar die Hände wusch. »Er musste mal Pipi«, sagte Spikely, was ihm nervöses Lachen einbrachte. Doch als sie das Klassenzimmer geordnet verließen, entdeckten sie die Eule mit eingefalteten Flügeln tot auf dem Komposthaufen in der Nähe der Senke, wo das Tier auf seine Beerdigung wartete. Ihm war der Hals umgedreht worden, wie die Mutigeren unter ihnen herausfanden. Nur ein Jäger, so erklärte Sudeley, der bei sich zu Hause einen eigenen hatte, konnte wissen, wie man eine Eule derart sauber tötete.

Innerhalb der restlichen Gemeinschaft von Thursgood fiel das Urteil über Jim weniger einheitlich aus. Der Geist von Mr Maltby, dem Musiklehrer, war zäh. Die Hausmutter erklärte Jim – ganz in Übereinstimmung mit Bill Roach – für so heldenhaft wie schutzbedürftig: Es sei ein Wunder, wie er mit dem Buckel zurechtkäme. Marjoribanks meinte, Jim sei im betrunkenen Zustand von einem Bus erwischt worden. Marjoribanks wies zudem während des Kricketmatchs der Lehrer, bei dem Jim überragend gespielt hatte, auf Jims Pullover mit den Insignien der Oxford University hin. Marjoribanks war selbst kein Kricketspieler, stand aber mit Thursgood am Spielfeldrand, um zuzuschauen.

»Glauben Sie, dass das mit dem Pullover sauber ist?«, fragte er mit hoher, witzelnder Stimme. »Oder glauben Sie, er hat ihn geklaut?«

»Leonard, das ist äußerst unfair«, schalt ihn Thursgood und gab seinem Labrador einen Klaps auf die Flanken. »Beiß ihn, Ginny, beiß den bösen Mann.«

Doch als Thursgood wieder in sein Arbeitszimmer zurückkehrte, war ihm das Lachen vollständig vergangen, und Nervosität hatte ihn gepackt. Mit falschen Oxford-Absolventen konnte er ja leben, schließlich hatte er im Laufe der Zeit Griechischlehrer kennengelernt, die kein Griechisch konnten, und Pfarrer, die keine Ahnung von Theologie hatten. Stellte man diese Männer mit dem Beweis ihres Schwindels zur Rede, brachen sie zusammen, flennten und verschwanden, oder sie blieben – bei halbem Gehalt. Doch Männer, die sich nicht mit ihren tatsächlichen Leistungen brüsteten, gehörten zu einer ihm unbekannten Art, von der er jedoch bereits ahnte, dass er sie nicht mochte. Nachdem er im Universitätsalmanach nachgesehen hatte, rief er die Arbeitsvermittlungsagentur an und bekam Mr Stroll von Stroll & Medley ans Telefon.

»Was genau möchten Sie denn wissen?«, fragte Stroll nach einem tiefen Seufzer.

»Nun, nichts Bestimmtes.« Thursgoods Mutter stickte an einem Mustertuch und schien nicht zuzuhören. »Doch wenn man um einen schriftlichen Lebenslauf bittet, dann möchte man doch ganz gern, dass er auch vollständig ist. Man möchte keine Lücken vorfinden. Nicht, wenn man dafür bezahlt hat.«

An dieser Stelle ertappte Thursgood sich bei dem wilden Gedanken, er hätte Mr Stroll womöglich aus dem Tiefschlaf gerissen, in den dieser nun wieder gefallen sein könnte.

»Sehr patriotisch eingestellt«, sagte Mr Stroll schließlich.

»Ich habe ihn nicht wegen seines Patriotismus eingestellt.«

»Er lag darnieder«, flüsterte Mr Stroll wie durch ungeheuer dichten Zigarettenqualm. »War aus dem Verkehr gezogen. Rückgrat.«

»Mag sein. Aber ich nehme doch nicht an, dass er die ganzen letzten fünfundzwanzig Jahre im Krankenhaus war.« Er legte die Hand auf die Sprechmuschel. »Touché«, murmelte er zu seiner Mutter hinüber, und erneut hatte er den Eindruck, Mr Stroll wäre eingenickt.

»Er ist doch nur bis zum Ende des Schuljahres bei Ihnen«, raunte Mr Stroll. »Wenn er Ihnen nicht gefällt, dann werfen Sie ihn eben raus. Sie haben eine Aushilfskraft gewollt, und Sie haben eine Aushilfskraft bekommen. Die Kraft sollte billig sein, und sie ist billig.«

»Das kann ja alles sein«, entgegnete Thursgood mutig. »Aber ich habe Ihnen zwanzig Guineas bezahlt, mein Vater hat viele Jahre mit Ihnen Geschäfte gemacht, und ich habe Anspruch auf eine Absicherung. Sie schreiben – darf ich zitieren? –, Sie schreiben: Vor seiner Verwundung in mehreren Auslandsposten in Handel und Recherche eingesetzt. Das ist ja nun kaum eine nachvollziehbare Beschreibung einer lebenslangen Tätigkeit, finden Sie nicht?«

Seine Mutter nickte über dem Stickzeug. »Wohl kaum«, echote sie laut.

»Das ist der erste Punkt. Lassen Sie mich fortfahren –«

»Nicht zu viel auf einmal, mein Junge«, mahnte sie.

»Zufällig ist mir bekannt, dass er 1938 in Oxford war. Warum hat er die Universität nicht abgeschlossen? Ist etwas schiefgelaufen?«

»Ich meine mich daran zu erinnern, dass es zu der Zeit ein gewisses Intermezzo gegeben hat«, antwortete Mr Stroll nach einer weiteren Ewigkeit. »Sie sind wohl zu jung, um sich daran zu erinnern, nehme ich an.«

»Er kann ja auch nicht die ganze Zeit über im Gefängnis gewesen sein«, sagte seine Mutter nach einer sehr langen Pause, auch diesmal ohne den Blick von ihrem Stickzeug zu nehmen.

»Irgendwo muss er ja gewesen sein«, meinte Thursgood verdrießlich und starrte über die windgepeitschten Gärten hinweg zur Senke.

Während Bill Roach die ganzen Sommerferien über mühsam von mütterlichem Haushalt zu väterlichem Haushalt wechselte, zufrieden oder kreuzunglücklich mit seinem Aufenthaltsort war, machte er sich Sorgen um Jim: ob ihm wohl der Rücken wehtat, was er denn nur unternahm, um Geld zu verdienen, wo er doch keine Schüler und nur ein halbes Schuljahr Gehalt bekommen hatte; doch am meisten sorgte er sich darum, was mit Jim sein würde, wenn das neue Schuljahr begann, denn Bill hatte ein Gefühl, das er nicht recht beschreiben konnte: Er fürchtete, dass Jims Leben auf der Oberfläche dieser Erde so unsicher war, dass er jederzeit in irgendein Loch plumpsen mochte; denn in seiner Vorstellung war Jim so ähnlich wie er selbst und verfügte über keinerlei natürliche Schwerkraft, die ihn festhielt. Immer wieder ging er die Umstände ihrer ersten Begegnung durch, vor allem Jims Frage nach Freundschaften, und dachte voller Schrecken, er könnte Jim schon allein wegen ihres großen Altersunterschiedes enttäuscht haben, so wie Bill seine Eltern enttäuscht hatte. Und dass Jim deshalb weitergezogen sein musste und bereits die Gesellschaft eines anderen suchte, während seine blassen Augen sich an einer fremden Schule umsahen. Er stellte sich auch vor, dass Jim, genau wie er, eine enge Bindung gehabt hatte, in der er enttäuscht worden war, und nun nach einem Ausgleich suchte. Hier allerdings mündeten Bill Roachs Überlegungen in eine Sackgasse: Er hatte nicht die leiseste Ahnung davon, wie Liebe unter Erwachsenen aussah.

Er konnte so gut wie gar nichts Hilfreiches tun. Er schlug in einem medizinischen Ratgeber nach und fragte seine Mutter nach Buckeln, und er hätte am liebsten eine Flasche von dem Wodka seines Vaters geklaut und sie als Köder mit nach Thursgood genommen, doch das traute er sich nicht. Und als ihn der Chauffeur seiner Mutter vor den verhassten Stufen absetzte, verabschiedete er sich nicht mal, sondern rannte, so schnell er nur konnte, zum Rand der Senke, und dort unten stand zu seiner unermesslichen Freude Jims Wohnwagen, eine Spur dreckiger als zuvor, daneben ein frisch umgegrabenes Beet, für irgendein Wintergemüse angelegt, nahm Bill an. Jim saß auf der Stufe von seiner Wohnwagentür und grinste zu ihm hinauf, als hätte er Bill kommen hören und bereits sein Willkommensgesicht aufgesetzt, bevor der Junge an der Kante aufgetaucht war.

In diesem Schuljahr dachte sich Jim einen Spitznamen für Roach aus; er nannte ihn Jumbo. Einen Grund dafür gab er nicht an, und Roach war nicht in der Position, dem zu widersprechen, wie das bei Namensgebungen nun mal in der Regel der Fall ist. Im Gegenzug ernannte Roach sich zu Jims Beschützer; Hüter des Regenten, so verstand er dieses Amt im Geiste; Ersatzmann für Jims verstorbenen Freund, wer immer dieser Freund auch gewesen sein mochte.

2

Anders als Jim Prideaux war Mr George Smiley nicht von Natur aus passend ausgestattet, um durch Regen zu eilen, schon gar nicht mitten in der Nacht. Tatsächlich stellte er wohl die höchste Entwicklungsstufe von Bill Roachs Prototyp dar. Klein, untersetzt und mittleren Alters, sah er ganz wie ein Londoner Vertreter der Sanftmütigen aus, denen nun mal eben nicht die Welt gehörte. Er hatte kurze Beine, sein Gang war alles andere als flink, sein Anzug teuer, aber saß nicht gut und war völlig durchweicht. Sein Mantel, der ein wenig nach Witwerstatus aussah, war aus jenem schwarzen, locker gewebten Stoff, der wie dafür gemacht ist, Feuchtigkeit aufzusaugen. Entweder waren die Ärmel zu lang oder die Arme zu kurz, denn in diesem Regenmantel versteckten sich seine Finger im Ärmel, genau wie bei Roach. Aus reiner Eitelkeit trug er keinen Hut, weil er wohl berechtigtermaßen annahm, dass er mit Hut lächerlich wirkte. »Wie ein Eierwärmer«, hatte seine wunderschöne Frau bemerkt, nicht lange bevor sie ihn das letzte Mal verlassen hatte, und wie so oft hatte er sich ihre Kritik sehr zu Herzen genommen. So hatte sich der Regen in fetten, hartnäckigen Tropfen auf den dicken Gläsern seiner Brille gesammelt und ihn gezwungen, den Kopf abwechselnd zu senken oder in den Nacken zu legen, während er den Bürgersteig entlangeilte, der um die verrußten Arkaden von Victoria Station führte. Er war auf dem Weg westwärts zu seinem Zufluchtsort in Chelsea, wo er wohnte. Aus irgendeinem Grund war sein Gang ein wenig unsicher, und wenn Jim Prideaux plötzlich aus den Schatten getreten wäre und von ihm hätte wissen wollen, ob er irgendwelche Freunde hätte, dann hätte er darauf wahrscheinlich geantwortet, dass er sich auch mit einem Taxi zufriedengeben würde.

»Roddy ist so ein Schwätzer«, murmelte er im Selbstgespräch, als ein weiterer Regenguss gegen seine dicken Wangen schlug und das Wasser ihm ins nasse Hemd lief. »Warum bin ich nicht einfach aufgestanden und verschwunden?«

Voller Reue ging Smiley noch einmal die Gründe für sein aktuelles Elend durch und schloss mit einer Leidenschaftslosigkeit, die untrennbar mit seiner bescheidenen Natur verbunden war, dass er selbst schuld sein musste.

Der Tag war von Anfang an anstrengend gewesen. Er war zu spät aufgestanden, weil er in der Nacht zuvor lange gearbeitet hatte, eine Unart, die sich seit seinem Ausscheiden aus dem Dienst im Vorjahr bei ihm eingeschlichen hatte. Als er bemerkt hatte, dass ihm der Kaffee ausgegangen war, hatte er sich beim Lebensmittelladen angestellt, bis er die Geduld verloren und aus Stolz beschlossen hatte, sich nun um seine persönlichen Angelegenheiten zu kümmern. Der Kontoauszug, der mit der Morgenpost gekommen war, verriet ihm, dass seine Frau den Löwenanteil seiner monatlichen Pension abgehoben hatte: Na gut, beschloss er, dann würde er eben irgendetwas verkaufen müssen. Eine irrationale Reaktion, denn er war relativ gut gestellt, und die obskure Bank in der City, bei der seine Pension einging, zahlte ihm das Geld regelmäßig aus. Trotzdem wickelte er eine frühe Ausgabe von Grimmelshausen in Papier ein, ein kleiner Schatz aus seinen Studententagen in Oxford, und machte sich feierlich auf den Weg zum Antiquariat Heywood Hill in der Curzon Street, wo er gelegentlich freundliche Geschäfte mit dem Eigentümer machte. Unterwegs wurde er allerdings immer gereizter, sodass er von einem Münztelefon aus um einen Termin bei seinem Anwalt für den Nachmittag bat.

»George, wie können Sie so geschmacklos sein? Von Ann lässt man sich nicht scheiden. Schicken Sie ihr Blumen und treffen Sie mich zum Lunch.«

Diese Aussicht munterte ihn auf, und er näherte sich frohen Mutes Heywood Hill, wo er Roddy Martindale in die Arme lief, der gerade nach seinem wöchentlichen Haarschnitt aus Trumper’s Barbershop trat.

Martindale hatte gegenüber Smiley keinerlei Ansprüche, weder in beruflicher noch in gesellschaftlicher Hinsicht. Er arbeitete auf der gemächlicheren Seite des Foreign Office, und seine Aufgabe bestand darin, diverse Würdenträger zum Lunch auszuführen, die kein anderer auch nur in seinem Holzschuppen hätte bewirten wollen. Er war ein umtriebiger Junggeselle mit grauer Mähne und war auf eine Art gewandt, wie man sie nur bei dicken Männern erlebt. Er bevorzugte Blumen im Knopfloch und pastellfarbene Hemden, und er tat auf die fadenscheinigste Weise so, als stünde er auf intimstem Fuß mit den großen Hinterzimmern der Politik. Vor ein paar Jahren hatte er eine Arbeitsgruppe in Whitehall mit seiner Anwesenheit beehrt, die bis zu ihrer Auflösung Geheimdienstaufgaben koordinieren sollte. Während des Krieges war er aufgrund gewisser mathematischer Fähigkeiten in den Randgebieten der Geheimwelt herumgegeistert; einmal hatte er sogar, und er wurde nie müde, davon zu erzählen, mit John Landsbury an einem Kodierungseinsatz des Circus von flüchtiger Raffinesse gearbeitet. Allerdings war der Krieg nun schon dreißig Jahre vorbei, wie Smiley sich manchmal selbst ins Gedächtnis rufen musste.

»Hallo, Roddy«, sagte er. »Schön, Sie zu sehen.«

Martindale sprach im vertrauensselig dröhnenden Ton der Oberschicht, der schon mehrmals dazu geführt hatte, dass Smiley bei Auslandsaufenthalten aus seinem Hotel ausgecheckt und lieber andernorts Schutz gesucht hatte.

»Na, wenn das nicht der Maestro höchstpersönlich ist! Man hat mir gesagt, Sie hätten sich bei den Mönchen in Sankt Gallen oder wo auch immer verkrochen, um über Handschriften zu brüten! Gestehen Sie. Ich will wissen, was Sie angestellt haben, jedes kleinste bisschen. Geht es Ihnen gut? Gilt England noch immer Ihre große Liebe? Wie geht es der bezaubernden Ann?« Sein unruhiger Blick suchte die Straßen hinauf und hinunter ab, dann entdeckte er den Grimmelshausen unter Smileys Arm. »Hundert zu eins, das ist ein Geschenk für Ihre Frau. Gestehen Sie, Sie verwöhnen sie nach Strich und Faden.« Er wurde leiser und raunte aufgeregt: »Hören Sie, Sie sind doch nicht etwa wieder im Dienst, oder? Sagen Sie nur nicht, das Ganze ist eine Tarnung, George, Tarnung?« Seine spitze Zunge fuhr über die feuchten Winkel seines kleinen Mundes und verschwand dann wieder zwischen den Lippen wie eine Schlange.

Etwas unüberlegt entkam Smiley der Situation dadurch, dass er der Einladung zum Dinner in einem Club am Manchester Square zustimmte, dem sie zwar beide angehörten, den Smiley aber für gewöhnlich wie die Pest mied, vor allem, weil Roddy Martindale eben auch Mitglied dort war. Am Abend war er noch immer satt von dem Mittagessen im White Tower, wo sein Anwalt, ein äußerst genussfreudiger Mensch, beschlossen hatte, dass nur eine ausgedehnte Mahlzeit George von seinem Trübsinn befreien könnte. Martindale hatte ganz ähnliche Rückschlüsse gezogen, und vier endlose Stunden lang waren zwischen den beiden, über Essen, das Smiley alles andere als reizte, Namen durch die Luft geflogen wie die von lange vergessenen Fußballern. Jebedee, Smileys alter Tutor: »Ein wahrer Verlust für uns, Gott hab ihn selig«, murmelte Martindale, der Jebedee nie persönlich zu Gesicht bekommen hatte, soweit Smiley wusste. »Ein echtes Händchen für dieses Spiel, hm? Einer der wirklich Großen, sag ich immer.« Dann Fielding, der Mittelalterforscher, Spezialgebiet Frankreich, aus Cambridge: »Und was für einen Humor. Scharfsinnig, wohlgemerkt, scharfsinnig!« Dann Sparke vom Institut für Orientalische Sprachen und schließlich Steed-Asprey, der ebenjenen Club gegründet hatte, um solchen Langweilern wie Roddy Martindale zu entgehen.

»Ich kannte seinen armen Bruder, müssen Sie wissen. Ein Muskelprotz mit Spatzenhirn. So was wie Verstand hat wohl nur einer der beiden abgekriegt.«

Im Dunst des Alkohols hatte Smiley sich diesen Unsinn angehört, hatte »Ja« gesagt und »Nein« und »So ein Jammer« und »Nein, man hat ihn nie gefunden« und dann sogar zu seiner großen Schande: »Hören Sie schon auf, Sie übertreiben«, bis Martindale mit trauriger Unausweichlichkeit auf die jüngeren Entwicklungen zu sprechen kam, den Machtwechsel und Smileys Ausscheiden aus dem Dienst.

Ganz vorhersagbar begann er mit den letzten Tagen von Control: »Ihr alter Boss, Smiley, Gott hab ihn selig, der Einzige, der seinen Namen geheim gehalten hat. Nicht vor Ihnen, natürlich, Ihnen gegenüber hatte er ja nie Geheimnisse, oder, George? Wie Pech und Schwefel, Smiley und Control, bis zum Schluss, sagt man.«

»Sehr schmeichelhaft.«

»Sie brauchen sich jetzt nicht einzuschleimen, George. Ich bin ein alter Kämpfer, haben Sie das vergessen? Control und Sie waren einfach so.« Mit den pummeligen Fingern bildete er zwei verschlungene Ringe. »Deshalb sind Sie ja auch rausgeflogen, machen Sie mir doch nichts vor, aus dem Grund hat Bill Haydon Ihren Job bekommen. Deshalb ist er Percy Allelines Mundschenk und nicht Sie.«

»Wenn Sie es sagen, Roddy.«

»Das tue ich. Ich sage noch ganz andere Dinge. Ganz andere.«

Martindale kam näher, und Smiley erhaschte einen Hauch von einem der gehobensten Duftwässer von Geo. F. Trumper.

»Ich sage noch was ganz anderes: Control ist überhaupt nicht tot. Er wurde gesehen.« Mit einer flattrigen Handbewegung erstickte er Smileys Ansatz zum Protest im Keim. »Lassen Sie mich ausreden. Willy Andrewartha ist ihm am Flughafen von Johannesburg in der Lounge direkt in die Arme gelaufen. Kein Geist. Sondern quicklebendig. Willy war an der Bar und hat sich ein Soda wegen der Hitze geholt, Sie haben Willy in letzter Zeit wohl nicht gesehen, aber er ist ganz aufgedunsen. Jedenfalls dreht er sich um, und da steht Control, gekleidet wie ein verfluchter Bure. Kaum hat er Willy gesehen, ist er auch schon abgehauen. Was sagen Sie dazu? Jetzt wissen wir’s. Control ist nie gestorben. Er ist von Percy Alleline und seinem Drei-Mann-Orchester fortgejagt worden und in Südafrika untergetaucht. Na, wer kann es ihm verdenken, was? Man kann es keinem verdenken, zum Lebensende hin seine Ruhe haben zu wollen. Ich jedenfalls nicht.«

Die schiere Ungeheuerlichkeit dieser Schilderung, die durch eine dicke Wand geistiger Erschöpfung zu Smiley drang, verschlug ihm kurzzeitig die Sprache.

»Das ist doch lächerlich! Das ist der größte Blödsinn, den ich je gehört habe! Control ist tot. Er ist nach langer Krankheit an Herzversagen gestorben. Außerdem hat er Südafrika gehasst. Er hat alles gehasst, bis auf Surrey, den Circus und Lord’s Cricket Ground. Also wirklich, Roddy, Sie sollten nicht solche Geschichten verbreiten.« Er hätte noch hinzufügen können: Ich habe ihn persönlich in einem abscheulichen Krematorium im East End verabschiedet, am letzten Heiligabend, ganz allein. Der Pfarrer hatte einen Sprachfehler.

»Willy Andrewartha war schon immer der schlimmste Lügner von allen«, besann sich Martindale völlig unerschüttert. »Ich meinte selbst zu ihm: ›Der reinste Unsinn, Willy, Sie sollten sich schämen.‹« Und fuhr fort, so als habe er nie im Geringsten an diese dumme Idee geglaubt: »Der letzte Nagel an Controls Sarg war ja wohl dieser tschechische Skandal, nehme ich an. Der arme Kerl, dem sie in den Rücken geschossen haben und der in den Zeitungen landete, der, der immer so dicke mit Bill Haydon war, erzählt man sich. Ellis sollen wir ihn nennen, und das tun wir auch, nicht wahr, auch wenn wir seinen richtigen Namen so gut kennen wie unseren eigenen.«

Hinterlistig wartete Martindale darauf, dass Smiley darauf ansprang, doch der hatte nicht die leiseste Absicht, also versuchte Martindale es ein drittes Mal.

»Irgendwie sehe ich Percy Alleline nicht so recht als Oberboss, Sie etwa? Liegt das an unserem Alter, George, oder ist das nur mein angeborener Zynismus? Sagen Sie es mir, Sie können doch gut mit Menschen. Schätze, die Macht steht den Leuten, mit denen wir groß geworden sind, einfach nicht gut. Wie sehen Sie das? Es gibt nur wenige heutzutage, die so was hinkriegen, und beim armen Percy ist das alles so durchschaubar, finde ich immer, vor allem nach dieser kleinen Schlange Control. Dieses übertriebene Kameradschaftsgetue; wie kann man ihn da noch ernst nehmen? Man muss sich doch nur vorstellen, wie er in den alten Zeiten in der Bar im Travellers Club herumhing, an seiner Pfeife nuckelte und Multimillionären Drinks spendierte; also wirklich, das geht doch auch subtiler, finden Sie nicht? Oder spielt es keine Rolle, solange die Strategie zum Erfolg führt? Was ist sein Trick, George, was ist sein Geheimrezept?« Martindale beugte sich ganz konzentriert vor und schaute gierig und aufgeregt. Sonst war Essen das Einzige, das ihn derart bewegte. »Vom Verstand seiner Untergebenen profitieren; na, vielleicht sieht Menschenführung heutzutage so aus.«

»Wirklich, Roddy, ich kann Ihnen nicht helfen«, sagte Smiley schwach. »Ich habe Percy nie als so mächtig wahrgenommen. Nur als …« Er kam nicht auf das Wort.

»Streber«, schlug Martindale mit glänzenden Augen vor. »Und rund um die Uhr Controls Posten im Visier. Und jetzt hat er die Stellung tatsächlich, und die Meute liebt ihn. Und wer ist sein starker Mann, George? Wer bringt ihm seine Reputation ein? Er schlägt sich blendend, das hören wir von allen Seiten. Kleine Lesesäle im Admiralty House, überall tauchen kleine Komitees mit lustigen Namen auf, in den Fluren in Whitehall wird der rote Teppich für Percy ausgerollt, Staatssekretäre kriegen Belobigungen von ganz oben, und Personen, von denen man noch nie gehört hat, kassieren große Orden, einfach so, für nichts. Alles schon mal da gewesen.«

»Roddy, ich kann dazu nichts sagen«, beharrte Smiley und wollte aufstehen. »Ich habe wirklich keine Ahnung.« Doch Martindale fixierte ihn mit einer feuchten Hand am Tisch und redete immer schneller.

»Also, wer ist der Schlaumeier? Percy selbst ist es nicht, so viel steht fest. Und erzählen Sie mir nur nicht, dass die Amerikaner uns wieder vertrauen würden.« Er packte fester zu. »Der schneidige Bill Haydon, der neue Lawrence von Arabien, Gott schütze ihn; da haben wir es, Bill ist es, Ihr alter Rivale.« Wieder ließ sich Martindales Zungenspitze sehen, schaute sich um, verschwand, und zurück blieb die Spur eines Lächelns. »Man munkelt, dass Bill und Sie früher mal alles miteinander geteilt hätten«, sagte er. »Sonderlich orthodox war er ja nie, richtig? Aber das sind Genies ja generell nicht.«

»Noch einen Wunsch, Mr Smiley?«, fragte der Kellner.

»Und Bland: die leicht angestaubte weiße Hoffnung, der Professor von der Proleten-Uni.« Noch immer ließ Roddy Smiley nicht los. »Und wenn es nicht die beiden sind, die das Tempo vorgeben, dann ist es jemand, der raus ist, richtig? Ich meine jemanden, der so tut, als wäre er raus. Und wenn Control tot ist, wer bleibt dann noch? Von Ihnen mal ganz abgesehen.«

Sie zogen sich die Mäntel über. Da das Garderobenpersonal bereits nach Hause gegangen war, mussten sie ihre Mäntel selbst von den leeren braunen Ständern abnehmen.

»Roy Bland kommt von keiner Proleten-Uni«, bemerkte Smiley lautstark. »Er war am St. Antony’s College in Oxford, wenn Sie es unbedingt wissen wollen.«

Himmel hilf, das war das Beste, was ich tun konnte, dachte er bei sich.

»Seien Sie doch nicht albern, mein Lieber«, fauchte Martindale. Smiley langweilte ihn. Er wirkte eingeschnappt und wie ein Betrogener. Leidvoll nach unten gezogene Falten zeigten sich auf seinen Wangen. »Natürlich ist St. Antony ein reines Proleten-College, tut doch nichts zur Sache, dass es in derselben Straße auch ein paar Sandstein-Colleges gibt, und auch nicht, dass er Ihr Schützling war. Jetzt ist er wohl Bill Haydons Schützling – lassen Sie das Trinkgeld stecken, das war meine Einladung, nicht Ihre. Väterlich zu allen, dieser Bill, war er schon immer. Lockt sie an wie die Fliegen. Nun, er hat diesen gewissen Glanz, nicht wie so manch anderer von uns. Güteklasse eins, würde ich sagen, einer der wenigen. Die Frauenwelt liegt ihm regelrecht zu Füßen, wenn man das so sagen darf.«

»Gute Nacht, Roddy.«

»Und richten Sie Ann liebe Grüße aus.«

»Werde ich tun.«

»Gut.«

Und mittlerweile goss es in Strömen, Smiley war bis auf die Haut durchnässt, und zur Strafe hatte Gott auch noch sämtliche Taxis von den Straßen Londons verschwinden lassen.

3

»Keinerlei Selbstbeherrschung«, schimpfte er sich selbst und wies freundlich die Andeutungen einer Dame in einem Hauseingang von sich. »Es heißt zwar Höflichkeit, aber eigentlich ist das nur ein Ausdruck von Schwäche. Martindale, du Trottel. Du aufgeblasener, scheinheiliger, verweichlichter, nichtsnutziger …« Er trat beiseite, um einem unsichtbaren Hindernis auszuweichen. »Schwäche«, machte er weiter, »und unfähig, ein eigenständiges Leben zu führen, unabhängig von irgendwelchen Institutionen« – das Wasser einer Pfütze schwappte großzügig in seinen Schuh –, »und emotionalen Bindungen, die ihren Zweck schon lange überlebt haben. Und zwar zu meiner Frau, dem Circus, dem Leben in London. Taxi!«

Smiley taumelte nach vorne, war aber bereits zu spät dran. Zwei junge Frauen, die sich kichernd einen Regenschirm teilten, stiegen in einem Durcheinander aus Armen und Beinen ins Taxi. Smiley schlug sinnloserweise den Kragen seines schwarzen Mantels hoch und setzte seinen einsamen Marsch fort. »Leicht angestaubte weiße Hoffnung«, murmelte er wütend. »Ein paar Sandstein-Colleges. Du aufgeblasener, neugieriger, unverschämter …«

Und dann fiel ihm natürlich viel zu spät ein, dass er den Grimmelshausen im Club hatte liegen lassen.

»Ach, verdammt«, stieß er sopra voce aus und blieb abrupt und unter großem Brimborium stehen. »Verdammt, verdammt, verdammt.«

Er wusste es jetzt genau: Er würde sein Londoner Haus verkaufen. Unter einer Markise drückte er sich neben einen Zigarettenautomaten und wartete das Ende des Wolkenbruchs ab, während er diese gewichtige Entscheidung traf. Die Immobilienpreise in London hatten jedes vernünftige Maß überschritten, das hatte er von allen Seiten gehört. Gut. Er würde verkaufen und sich von einem Teil der Summe ein Landhäuschen in den Cotswolds zulegen. Burford? Zu viel Verkehr. Steeple Aston, das war es. Er würde sich als leichter Exzentriker geben, mit abseitigen Interessen und einer zurückgezogenen Art, aber mit ein, zwei liebenswürdigen Gewohnheiten, wie zum Beispiel der Marotte, beim Spazierengehen Selbstgespräche zu führen. Ein wenig aus der Zeit gefallen, aber wer war das heutzutage nicht? Aus der Zeit gefallen, aber gegenüber seiner eigenen Zeit loyal. Irgendwann musste sich ja jeder mal entscheiden: Schaut man nach vorn, oder schaut man zurück? Es hatte nichts Unehrenhaftes, sich nicht von jedem kleinen modernen Windstoß mitreißen zu lassen. Besser, man hatte ein gewisses Werteempfinden, konnte Wurzeln schlagen, wurde zur Eiche der eigenen Generation. Und wenn Ann zu ihm zurückwollen würde, nun, dann würde er ihr zeigen, wo die Tür war.

Oder auch nicht, je nachdem, wie sehr sie es denn wollte.

Smiley, durch diese Überlegungen von einem Gefühl des Trostes erfasst, erreichte King’s Road, wo er einen Augenblick stehen blieb, als wollte er die Straße überqueren. Zu beiden Seiten waren weihnachtlich ausgestattete Boutiquen. Vor ihm lag seine Wohnstraße, die Bywater Street, eine Sackgasse, die genau einhundertsiebzehn seiner Schritte lang war. Als er hergezogen war, da hatten diese georgianischen Häuschen noch einen bescheidenen, leicht verwahrlosten Charme gehabt, es hatte junge Paare gegeben, die sich mit fünfzehn Pfund in der Woche durchschlugen und heimlich einen Untermieter im Souterrain beherbergten, steuerfrei. Jetzt schützten stählerne Schutzgitter die unteren Fenster, und vor jedem Haus parkten drei Autos dicht an dicht am Bordstein. Aus alter Gewohnheit kontrollierte Smiley diese Wagen im Vorübergehen darauf hin, welche ihm bekannt waren und welche nicht; er prüfte, welche von den fremden Fahrzeugen Antennen und zusätzliche Spiegel hatten, ob darunter die von möglichen Observanten bevorzugten geschlossenen Kastenwagen waren. Zum einen diente ihm dieses Vorgehen als Gedächtnistraining, ein kleines Kim-Spiel, um seinen Geist vor altersbedingter Verkümmerung zu bewahren, so wie er zu anderen Zeiten die Namen der Geschäfte entlang seiner Buslinie zum British Museum auswendig gelernt hatte; aus dem gleichen Grund wusste er auch genau, wie viele Stufen die Stockwerke in seinem Haus hatten und in welche Richtung sich jede seiner zwölf Türen öffnete.

Smiley hatte allerdings noch einen anderen Antrieb für seine Vorsicht: Angst, die heimliche Angst, die jeden Profi bis ins Grab verfolgt. Und zwar die Angst davor, dass eines Tages eine Person aus seiner Vergangenheit, die derart vielschichtig war, dass er sich gar nicht mehr an jeden Einzelnen erinnern konnte, den er sich je zum Feind gemacht hatte, auftauchen und ihm eine Rechnung präsentieren könnte.

Am Ende der Straße ging eine Nachbarin gerade mit dem Hund spazieren; als sie ihn sah, hob sie den Kopf, um etwas zu sagen, doch er ignorierte sie, weil ihm klar war, dass es um Ann gehen würde. Er überquerte die Straße. Sein Haus lag in Dunkelheit, die Vorhänge waren so wie beim Verlassen des Hauses. Er ging die sechs Stufen zur Haustür hinauf. Seit Ann weg war, gab es auch die Putzfrau nicht mehr: Außer Ann hatte also niemand einen Schlüssel. Die Tür hatte zwei Schlösser, ein Bantam-Riegelschloss und ein Chubb mit Doppelbartschlüssel, dazu noch zwei selbst angefertigte, daumennagelgroße Eichenspleiße, die in den Türspalten oberhalb und unterhalb des Bantamschlosses steckten. Eine Reminiszenz an seine Tage im Außeneinsatz. Ohne genau zu wissen, warum, hatte er in letzter Zeit angefangen, diese Holzstücke wieder zu benutzen; vielleicht wollte er nicht von Ann überrascht werden. Er ertastete die Hölzer mit den Fingerspitzen. Nachdem er das erledigt hatte, schloss er auf, drückte die Tür nach innen und spürte die Mittagspost über den Teppich rutschen.

Was stand denn an?, fragte er sich. German Life and Letters? Philology? Das musste es sein; die Fachzeitschrift war schon überfällig. Er schaltete das Flurlicht ein, beugte sich vor und ging die Post durch. Eine Rechnung seines Schneiders für einen Anzug, den er nicht in Auftrag gegeben hatte, der aber wohl im Augenblick Anns Liebhaber schmückte; eine Benzinrechnung von einer Tankstelle in Henley (was bitte hatten sie am 9. Oktober ohne Geld in Henley gemacht?); ein Brief von der Bank wegen einer Vollmacht zur Geldabhebung für Lady Ann Smiley in einer Filiale der Midland Bank in Immingham.

Und was zum Teufel, wollte er von diesem Schreiben wissen, machen die beiden denn in Immingham, um alles in der Welt? Wo war Immingham überhaupt?

Er wälzte diese Frage immer noch hin und her, als sein Blick auf einen unbekannten Regenschirm im Ständer fiel, ein Exemplar aus Seide mit Ledergriff und einem Goldring ohne Initialen. Mit einer Geschwindigkeit, die keinerlei Entsprechung in der Zeit findet, ging ihm durch den Kopf, dass der Schirm, der trocken war, dort schon seit mindestens Viertel nach sechs stehen musste, als der Regen eingesetzt hatte, denn auch im Schirmständer sah er kein Wasser, er registrierte, dass es sich um einen eleganten Regenschirm handelte und der Ringbeschlag kaum Kratzer aufwies, obwohl der Schirm nicht neu war. Daher musste er wohl einer Person gehören, die mitten im Leben stand, vielleicht sogar jung war, jemandem wie Anns neuestem Verehrer. Da aber der Schirmbesitzer von den Spleißen gewusst haben musste und auch Ahnung davon hatte, wie man sie wieder anbrachte, wenn man im Haus war, und zudem noch so klug gewesen war, die Post wieder gegen die Tür zu lehnen, nachdem er sie durcheinandergebracht und zweifellos studiert hatte, musste er auch Smiley kennen; es konnte sich also nicht um einen Liebhaber handeln, sondern musste ein Profi sein wie Smiley selbst, einer, der mal eng mit ihm zusammengearbeitet hatte und seine Handschrift kannte, wie es im internen Jargon hieß.

Die Wohnzimmertür stand einen Spaltbreit offen. Smiley drückte sie weiter auf.

»Peter?«, sagte er.

Durch den Spalt sah er im Schein der Straßenbeleuchtung zwei lässig übereinandergeschlagene Füße in Wildlederschuhen, die an einem Ende des Sofas nach vorn ragten.

»Ich an Ihrer Stelle würde den Mantel gleich anlassen, alter Knabe«, sagte eine freundliche Stimme. »Wir haben einen langen Weg vor uns.«

Fünf Minuten später saß George Smiley, nun in einen riesigen braunen Reisemantel gehüllt, ein Geschenk von Ann und der einzige trockene Mantel, den er noch besaß, verärgert auf dem Beifahrersitz von Peter Guillams ungeheuer zugigem Sportwagen. Guillam hatte ihn in einer Seitenstraße geparkt. Das Fahrtziel war Ascot, allgemein berühmt für Frauen und Pferde. Weniger berühmt als Wohnsitz von Mr Oliver Lacon aus dem Cabinet Office, leitender Berater in mehreren Ausschüssen und Wachhund in Geheimdienstfragen. Oder, wie Guillam sich leicht despektierlich ausdrückte, Whitehalls Schülersprecher.

Im Thursgood-Internat lag Bill Roach wach im Bett und grübelte über die neuesten Wunder nach, die ihm im Laufe seiner täglichen Wache über Jims Wohlergehen widerfahren waren. Am Tag zuvor hatte Jim bei Latzy für Verwunderung gesorgt. Und am Donnerstag hatte Jim Miss Aaronsons Post stibitzt. Miss Aaronson gab Geigenunterricht und Bibelstunden, und Roach himmelte sie wegen ihrer Zartheit an. Latzy, der Hilfsgärtner, war eine DP, erklärte die Hausmutter, und DPs sprachen kein Englisch oder nur sehr wenig. DP, das hieß Displaced Person, sagte die Hausmutter, jemand, der wegen des Krieges heimatlos war. Doch gestern hatte sich Jim mit Latzy unterhalten und um seine Hilfe beim Autoclub gebeten, und er hatte ausländisch gesprochen, welche Sprache DPs auch immer sprachen, und Latzy war augenblicklich dreißig Zentimeter größer geworden.

Die Angelegenheit mit Miss Aaronsons Post war etwas komplizierter. Donnerstagvormittag nach dem Gottesdienst, als Roach die Hefte seiner Klasse aus dem Lehrerzimmer holen sollte, hatten dort auf der Anrichte zwei Umschläge gelegen, ein Brief an Jim und einer an Miss Aaronson gerichtet. Jims Brief war getippt. Miss Aaronsons war handgeschrieben, in einer Schrift, die der von Jim ein wenig ähnelte. Als Roach die beiden Umschläge entdeckt hatte, war keiner sonst im Lehrerzimmer gewesen. Er hatte sich die Hefte genommen und gerade gehen wollen, als Jim nach seinem Frühmarsch ganz rot und schnaufend durch die andere Tür eintrat.

»Mach dich auf den Weg, Jumbo, es hat schon geklingelt«, sagte er und beugte sich über die Anrichte.

»Ja. Sir.«

»Ein Sauwetter, hm?«

»Ja, Sir.«

»Also ab mit dir.«

An der Tür sah sich Roach noch einmal um. Jim stand dort, zurückgelehnt, und schlug die Morgenausgabe des Daily Telegraph auf. Die Anrichte war leer. Beide Umschläge waren verschwunden.

Hatte Jim an Miss Aaronson geschrieben und seine Meinung geändert? Wollte er sie vielleicht heiraten? Dann fiel Bill Roach etwas anderes ein. Kürzlich hatte sich Jim eine alte Schreibmaschine angeschafft, eine kaputte Remington, die er eigenhändig repariert hatte. Hatte er den Brief an sich selbst geschrieben? War er so einsam, dass er sich selbst Briefe schrieb und anderer Leute Post auch noch klaute? Roach schlief ein.

4