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Der Weiden-Joseph lebt mit seiner Frau und zwei Enkelkinder in einer armseligen Hütte. Er verdient mit dem Korbflechten soviel, dass sie gerade noch leben können. Der Vater der Kinder ist nach dem Tod seiner Frau weggelaufen. - In einer alten Kapelle finden die Kinder ein halbverhungertes Schäflein...
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Johanna Spyri
Beim Weiden-Joseph
Erzählung
Basel, 2016
Wo schöne grüne Weidenhügel sich erheben, einer nach dem anderen, und zwischendurch die Taleinschnitte von schimmernden roten und blauen Sommerblumen bedeckt sind, liegt das Dörfchen Altkirch. Das saubere weiße Kirchlein mit dem roten Turm und die hölzernen Häuser ringsherum liegen vor allen Winden geschützt im grünen Grund. Denn hinter dem Dörfchen und von beiden Seiten steigen die Hügel empor, und nur die Vorderseite ist frei und offen. Diese schaut zu der grünen Höhe des Rechbergs hinüber, auf dessen Gipfel, von Wald umgeben, ein anderes Dorf mit seinen weißen, steinernen Häusern weithin schimmert. Wie die Höhe heißt es Rechberg.
Zwischen den Höhen rauscht der wilde Zillerbach dahin und bringt von seiner Fahrt aus den Bergen herunter viel Holz und Steingeröll in den trüben Wellen mit. Von Altkirch zum Rechberg hinüber führt eine Fahrstraße, die einen weiten Weg zu machen hat. Erst führt sie im Zickzack den Berg hinunter bis zum Zillerbach, dann über die alte, gedeckte Brücke und jenseits wieder im Zickzack hinauf bis zum Dorf Rechberg. Im ganzen wohl zwei Stunden lang.
Kürzer und viel lieblicher ist der schmale Fußpfad, der mitten über die Höhe hin zum Zillerbach hinunterführt, gerade auf den schmalen, hölzernen Steg zu, der hier über den reißenden Bach geht. Der Steg ist so schmal, daß nur eine Person auf einmal darüber gehen kann. Und es ist gut, daß auf beiden Seiten Seile gespannt sind, an denen man sich festhalten kann. Denn der leichtgebaute Steg zittert und schwankt bei jedem Schritt so sehr, daß den Wanderer ein ganz unsicheres Gefühl befällt.
Weit und breit ist kein Haus auf all den grünen Hügeln zu sehen. Nur auf dem letzten, von wo der Fußweg steil zum Bach hinuntergeht, steht eine einsame Kapelle. Sie schaut seit uralter Zeit auf das reißende Wasser und den so oft weggeschwemmten und wieder neuerrichteten Steg nieder.
In Altkirch leben viele arme Leute, denn es gibt dort wenig Arbeit. Die meisten Männer gehen als Tagelöhner auf die Bauernhöfe der Nachbarschaft. Einige besitzen selbst ein Fleckchen Erde, das sie bebauen. Nur zwei oder drei Bauern im Dörfchen haben so viel Land, um mehrere Kühe darauf halten zu können,
Eine der ärmsten Familien war die vom Weiden-Joseph in dem abgelegenen alten Häuschen, das am Fußweg zur Kapelle liegt und ganz allein steht. Das Häuschen wird fast ganz von den lang herabhängenden Zweigen eines uralten Weidenbaums zugedeckt. Der hat sich immer mehr ausgebreitet, bis er das Häuschen endlich ganz umschloß. Nach diesem Baum heißt der Besitzer der Weiden-Joseph. Er hatte immer in dem Häuschen gewohnt, denn es war schon seines Vaters Besitz gewesen, der darin uralt geworden war. Jetzt war der Weiden-Joseph selbst ein alter Mann geworden und lebte in dem Häuschen mit seiner alten, seit langer Zeit kranken Frau und seinen zwei Enkelkindern.
Der Weiden-Joseph hatte einen einzigen Sohn, den Sepp, der immer ein gutmütiger, aber ein wenig leichtsinniger und unsteter Mensch gewesen war. Wo er sich jetzt aufhielt, wußten die alten Eltern selbst nicht, schon seit sechs Jahren war er fort von daheim und hatte während der Zeit wenig von sich hören lassen.
Der Sepp hatte sehr früh geheiratet, und die Eltern freuten sich darüber, denn die Frau war die fleißige, brave Konstanze, die von allen Leuten gern gesehen wurde. Sie sah auch gut aus und hielt alles schön in Ordnung im Häuschen ihres Mannes. Der Weiden-Joseph und seine Frau verlebten friedliche Tage, so lange die Tochter Konstanze im Haus war. Sie arbeitete von früh bis spät und ließ es den Eltern an nichts fehlen. Sie sagte, Vater und Mutter müssen nun ausruhen, sie haben genug getan. Sie und ihr Sepp seien nun da, um den Alten noch ein paar geruhsame Tage zu machen.
Der Sepp ging täglich auf die Arbeit zu dem großen Hof jenseits der Ziller hinüber und brachte am Samstag ein schönes Stück Geld heim. Es war alles so zur Zufriedenheit geregelt, daß auch der Sepp ein ausgeglichener Mensch wurde und nichts wünschte, als so weiterzuleben.
Drei Jahre gingen in ungetrübtem Frieden so dahin, und der alte Pater Klemens, der in dem langen, alten Haus hinter Altkirch wohnte und oft ins Häuschen des Weiden-Joseph eintrat, sagte oftmals: »Joseph, bei Euch ist gut wohnen, da hört man kein böses Wort. Haltet Eure Konstanze in Ehren!« Und seine gutmütigen Augen leuchteten vor Freude, wenn die Konstanze, so sauber und ordentlich wie sie immer war, hereintrat und ihn mit ihrer fröhlichen Stimme willkommen hieß. Auch das kleine Stanzeli auf ihrem Arm streckte schon von weitem dem Pater Klemens das Händchen entgegen. Dann sagte er noch einmal: »Ja gewiß, bei Euch ist gut wohnen, Joseph.«
Als das Stanzeli fast zwei Jahre alt war, kam der kleine Seppli auf die Welt. Das war eine große Freude für alle. Aber bald danach geschah das Traurigste, das dem Haus des Weiden-Joseph widerfahren konnte. Die Konstanze starb ganz plötzlich und hinterließ eine Lücke, die nicht mehr auszufüllen war. Von der Zeit an lief der Sepp herum wie einer, der keinen Sinn mehr im Leben sieht. Sein unruhiges Wesen kehrte wieder zurück. Er konnte am Sonntag nicht mehr daheim bleiben, wie er es früher so gern getan hatte. Es trieb ihn immer weiter fort, und zuletzt meinte er, wenn er woanders Arbeit suchen könnte, werde es wieder besser mit ihm werden.
Er versprach, den Eltern von Zeit zu Zeit etwas Geld zu schicken für ihren und der Kinder Unterhalt. Dann ging er fort. Eine Zeitlang hielt er sein Versprechen und schickte seine Beiträge. Dann kam kein Geld mehr, und seit sechs Jahren wußten sie weder, wo er sich aufhielt, noch ob er überhaupt noch lebte. Unterdessen waren die beiden Alten immer gebrechlicher und ärmer geworden.
Der einzige, geringe Erwerb, der ihnen geblieben war, bestand darin, daß der Großvater aus den Weidenzweigen Körbchen flocht. Jeden Freitag gab er sie dem Käsehändler mit, der seine Käse auf den Markt in die Stadt trug. Viel nahm der Großvater nicht ein für seine Arbeiten, und die Großmutter mußte jedes Stückchen Brot genau einteilen, daß man von einem Tag zum anderen leben konnte.
So war das Stanzeli bald neun, der Seppli sieben Jahre alt geworden, und Stanzeli mußte jetzt dem Großvater schon viel bei der Arbeit helfen, denn seit mehr als vier Monaten lag die Großmutter krank darnieder und konnte gar nichts mehr tun. So mußten der Großvater und das Stanzeli zusammen täglich das Kochen besorgen, das zwar nicht sehr viel Zeit beanspruchte, denn es wurde nichts anderes gekocht, als Maisbrei und Kartoffeln. Und dann und wann ein wenig Kaffee. Aber sie mußten gemeinsam das Essen bereiten, denn das Stanzeli war noch zu klein, um die Pfanne hin und her zu heben. Und der Großvater kannte sich nie bei den Zutaten aus, das wußte dann das Stanzeli genau.
So arbeiteten sie immer miteinander in der Küche, und gewöhnlich stand der Seppli dann auch in dem kleinen Raum, wo die zwei sich kaum bewegen konnten. Er war einmal dem einen und einmal dem anderen im Wege, und sperrte ganz weit seine Augen auf in Erwartung der herrlichen Dinge, die da zubereitet wurden. Und weder der Großvater noch das Stanzeli versuchten, den Seppli aus der kleinen Küche zu schicken. Sie wußten genau, daß er zwei Minuten später wieder da war, denn der Seppli hatte in manchen Sachen eine unbeschreibliche Beharrlichkeit.
Eine schöne, warme Septembersonne schimmerte draußen über den grünen Hügeln um Altkirch. Eben fielen einige Strahlen davon durch die trüben Fensterscheiben auf das Bett der Großmutter.
»Ach Gott!« seufzte sie, »scheint auch die Sonne noch? Wenn ich doch auch einmal wieder hinaus könnte. Aber ich wollte ja noch stillhalten, wäre das Bett nur nicht so hart wie H [...]