Der Welt- & Zeitumfassende ein-Satz - Madame Nielsen - E-Book

Der Welt- & Zeitumfassende ein-Satz E-Book

Madame Nielsen

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Beschreibung

Sich der Fremde aussetzen. Wagen, die und das Fremde zu werden. Und damit sich selber fremd. Riskieren, nie wieder man selbst zu werden. Das zu riskieren, erfordert nicht nur Einsatz – es verlangt auch, sich den ewig misslingenden Versuch einzugestehen, die Form eines Lebens zu wahren, und einen mutigen Satz aus dem eigenen Körper hinaus in das alles umfassende Werk zu unternehmen. Einen Satz, wie ihn der dänische Schriftsteller Claus Beck-Nielsen tat, als er Wohnung, Frau und Kind verließ, ohne Dokumente auf den Straßen Kopenhagens lebte, »namenlose Versuchsperson« der Agentur Beckwerk wurde, sich zu Grabe trug und schließlich als Madame Nielsen wiederauferstand. Aber ob damit ein Endpunkt gesetzt war, ist oder sein wird? »Ich bin nicht Madame Nielsen«, schickt sie ihrer Zürcher Poetikvorlesung prompt voraus und demonstriert damit, dass in einer fortlaufend im Werden begriffenen Existenz immer alles auf dem Spiel steht: Springt man aus sich, aus seinem Sein, muss stets ein ganz neuer, nie gehörter Satz zur Welt kommen und mit ihm und in ihm eine neue, andere Welt in all ihrer Potenzialität und welt- sowie daseinsumfassenden Poetik.

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Der Welt- und Zeitumfassende ein-Satz

Fröhliche Wissenschaft 199

Madame Nielsen

Der Welt- und Zeitumfassende ein-Satz

Inhalt

Der Welt- und Zeitumfassende ein-Satz

Zürcher Poetikvorlesung

I Das Leben als Schrift und die Schrift als Lebensform

Das Leben als Werk und das Werk als gelebtes Lebenswerk

II Der Satz als utopischer, allesumgreifender Allerweltinnenraum, als körperliche Bewegung und Atemzug, als Zeitdelta und Stimmentanz, also: Musik

III Die Fremdsprache als Heim-kehr und Ur-Sprung

Die Zürcher Wanderung

Der Welt- und Zeitumfassende ein-Satz

Zürcher Poetikvorlesung

I

Das Leben als Schrift und die Schrift als Lebensform

Das Leben als Werk und das Werk als gelebtes Lebenswerk

Ouvertüre

Meine Poetik ist die Lehre von einem Leben als Schrift und eine Schrift, die das ganze Leben formuliert, weil die Schrift nie aufhört; die Schrift ist mein Leben, das Leben oder meine Lebensform ist meine Schrift, das eine geht in das andere über, bei mir – in meinem Leben und Werk – ist alles Übergang, Grauzone, Kippbild, Verwandlung, ständiges Wandern und Wandeln, nomadisch und nie mit sich selbst identisch, immer wieder sein eigener Anderer.

Und so bin ich nur Schriftstellerin, wenn ich schreibe, nur in dem Moment, wo ich restlos ins Schreiben übergehe und verschwinde und also nicht mehr da bin, bin ich abwesend Schriftstellerin, und so bin ich auch nicht nur Schriftstellerin, ich bin auch Sängerin, Pianistin, Flötistin, Gitarristin, Fotografin, Performerin, Dramatikerin, Haute-Couture-Model, Catwalkerin und Tänzerin, Komponistin, bildende Künstlerin, ästhetisch-politische Aktivistin, Revolutionärin, Verführerin, Film- und Video- und Bühnenregisseurin, aber auch Wanderin, Nonne und Priesterin, Verliebte, Liebende und ab und zu auch Geliebte, Rhetorikerin, Köchin und Wutbürgerin, Mutter und Vater, Schwester und Bruder, lamentierender, weinender, lachender, lächelnder, zweifelnder und verzweifelnder Mensch und Weltbürger und Europäer und Tier und Wesen und Unwesen, Zombie und reiner Geist und vor allem: plötzlich nicht mehr da. Ich bin nicht irgendetwas Bestimmtes, sondern immer etwas Unbestimmtes, ich bin Potenzial, das Mögliche und noch mehr das Unmögliche und der ständige Versuch, meine Potenziale zu entdecken, zu entwerfen und zu realisieren, und das alles ist meine Poetik.

Für mich ist das Leben Werk. Von dem Moment an, als ich das erkannte, und wahrscheinlich schon Jahre vorher, war mir bewusst, dass es für mich, in meinem Leben als erweitertem Dasein – das heißt nicht nur als heideggerscher Mensch, sondern erweitertes Dasein als alles Wesendes potenziell Umfassendes und Einschließendes, Säugetier, Vogel, Fisch, Pflanze, atmender Stein –, keinen Ort, kein Wort und keinen Gedanke, keinen einzigen Moment und keine plötzliche Abwesenheit gibt, die, das oder der außerhalb des Werks ist, keine Pause, keine Bewegung, die privater ist als alle anderen, die Gnade ist, dass es in meinem Lebenswerk und Werkleben keine Gnade gibt, nur diesen unablässigen Trieb zu formulieren, ich muss mich ständig, pausenlos, in Form setzen, mich – Leib, Leben, Blut, Knochen und Geist – und alles, was ich erlebe, träume, höre, sehe, spüre und nur vage ahne, in Form setzen und in Form halten und formulieren und dann wieder um- oder ganz neu formulieren, denn nur die formulierte Welt ist sicht- und wahrnehmbar. Ich bin dazu (von was, von wem, von welcher Göttin?) berufen, pausenlos die Welt zu formulieren: die Welt nicht (nur) als Wille und Vorstellung, sondern: die Welt als formulierte Form.

Akt I – »Der Tod des Autors« oder Biografie eines Toten

Eines Tages im Dezember 2000 nahm der Schriftsteller Claus Beck-Nielsen das charakteristische »Beck-« aus seinem Namen, er verließ Wohnung, Frau und Kind und ging auf die Straße als Claus Nielsen, der Mann ohne Personenkennziffer. Das war der Beginn einer Tragödie.

Ich. Wer ist »Ich«?

1963

Vielleicht wurde ich am 6. Mai 1963 namenlos in der Geburtsanstalt Aarhus in Dänemark geboren und zwei Monate später in der Christkirche in der kleinen Grenzstadt Tønder auf den Namen Claus Beck-Nielsen getauft. Laut offizieller Quellen, die sich in öffentlichen staatlichen Archiven in Dänemark befinden, sind das Wahrheiten, ich aber habe keine Erinnerungen daran.

2000

Entscheidender für mein Werkleben und Lebenswerk ist vielmehr – ich zitiere nochmals aus dem Klappentext der Biografie Claus Beck-Nielsen (1963–2001), die 2003 im Gyldendal-Verlag in Dänemark erschien und die skandinavische Literatur mit einem Schlag veränderte, eine Welle von mehr oder weniger autobiografischen Romanen und anderen Prosaformen in Bewegung setzte und zu ganz neuen Literaturbegriffen in Skandinavien führte, etwa »Doppelvertrag«, »Performativer Biografismus« oder »Skandinavische Autofiktion«:

Eines Tages im Dezember 2000 nahm der Schriftsteller Claus Beck-Nielsen das charakteristische »Beck-« aus seinem Namen, er verließ Wohnung, Frau und Kind und ging auf die Straße als Claus Nielsen, der Mann ohne Personenkennziffer. Das war der Beginn einer Tragödie.

Im Winter 2000–2001 lebte ich zwei Monate obdachlos auf den Straßen Kopenhagens, ohne Dokumente, Geld, Personenkennziffer, als ein dem System und auch mir selbst völlig Unbekannter, der aber aus Elementen meines Lebens – meinem Körper, meinen Kleidern, Gedanken, Bewegungen, Träumen etc. – bestand. Indem ich ganz formal mich selbst, meine Erinnerungen und meine Sachen beschnitt und reduzierte und nach einigen ganz einfachen Lebensregeln lebte, wurde ich mein eigener Doppelgänger und Fremder.

Schon in dieser ersten Geste, diesem Entwurf, ja, Ich-aus-mir-Wurf, steckt meine ganze Poetik, die Poetik, die mein ganzes darauf folgendes und jetzt fast zwanzig Jahre altes Werkleben und Lebenswerk vorausgesagt hat.

2001

Irgendwann im Herbst 2001 habe ich dann Claus Beck-Nielsen für tot erklärt. Anfangs dachten nicht nur die Medien, sondern auch ich, dass auch ich somit tot sei, was zu einer ganzen Reihe von paradoxen und komischen Situationen führte, unter anderem, wie es im Klappentext des dicken Literaturwerks Dobbeltkontrakten (»Der Doppelvertrag«) des dänischen Literaturdoktor-doktor-doktors Poul Behrendt steht:

Es passierte nichts, und genau das war das Ereignis. Es war in derselben Woche, in der das Buch ohne Autor erschienen war. Oder das Buch ohne Titel, sollte man vielleicht sagen, es sei denn, der Titel ist die Parenthese mit den beiden Jahreszahlen. Die Sendung Deadline des staatlichen dänischen Fernsehen DR2 hatte am Samstag, den 1. November 2003, die ganze Sendung diesem Ereignis gewidmet und hatte Claus Beck-Nielsen in die Sendung eingeladen, um mit ihm darüber zu sprechen, unter der Voraussetzung, dass er am Leben war. Claus Beck-Nielsen wollte aber nur unter der Voraussetzung, dass er tot war, in die Sendung kommen.

Irgendwann wurde es mir zu mystisch, der Ich-Körper war ja nicht tot, er war und ist, jetzt, zwanzig Jahre später, immer noch seltsam lebendig. Also beschloss ich, dass mit der Todeserklärung nicht der Körper mit seinem Bewusstsein, seinen Erinnerungen und seiner Sprache, sondern nur die Identität »Claus Beck-Nielsen« sowie die Identität überhaupt für tot erklärt war.

2002–2011

Danach lebte ich fast zehn Jahre als Namenloser und Versuchsperson in dem auch rechtlich realen Unternehmen S/I Das Beckwerk, und zwar unter rechtswidrigen Bedingungen: Laut Vertrag war ich 114 Stunden pro Woche, aber praktisch pausenlos, im Dienst des Unternehmens und konnte von dem Unternehmen völlig rücksichtslos benutzt werden, aber nur für Zwecke und auf Missionen, die die Utopien und Visionen des Vorstands verwirklichen und ins Werk setzen würden.

2003–04

wurde ich gemeinsam mit einem Das-Beckwerk-Mitarbeiter namens Rasmussen unbewaffnet, völlig ungeschützt und als exemplarischer Europäer in Anzug, Hemd und Krawatte auf den Spuren der US-Armee zu Fuß über Kuwait durch die Niemandszone in den Irak und also in den Krieg geschickt, um dort, mit europäischen Mitteln, die Demokratie einzuführen und zu implementieren, und zwar eine Demokratie, die sich im Irak als der neuen Wiege der Zivilisation, ja als eine ganz neue und ideale Form der Weltdemokratie entfalten sollte, eine topische Weltdemokratie, die als Vorbild für den Rest der Welt und ihre bald in einen einzigen Weltstaat oder eine Weltgemeinschaft verschwindenden Nationalstaaten dienen sollte.

Im Herbst 2004

wurden wir dann während der letzten Wochen des Präsidentschaftswahlkampfs in die USA geschickt, um dort – im Dialog mit den Amerikanern – die amerikanische Demokratie mit ihren »universalen Werten« »upzudaten«, weil die Invasion der »Coalition of The Willing« im Irak und die daraus entstandenen Bilder von Folterungen im Abu-Ghraib-Gefängnis die amerikanische Demokratie als vielleicht noch nicht ganz so optimal entblößt hatten.

In den Jahren 2005–06

wurden wir zuerst mehrmals nach Washington, D. C., geschickt, um in der Grauzone zwischen Realität und Fiktion als Repräsentanten einer Organisation von jungen »pro-active« Europäern, »The European Initiative«, neokonservative Thinktanks wie Project for a New American Century, Middle East Council, American Enterprise Institute oder Cato Institute zu infiltrieren und dann, im Herbst 2006, mithilfe der iranischen Exilgemeinschaften im sogenannten »Tehrangeles« in L. A. und in Dubai, als zivile Agenten des US-amerikanischen Außenministeriums und des Nationalen Sicherheitsrats NSC in den Iran, um dort das amerikanische »script« für eine zweite und bessere, also amerikanisch gesinnte und auf Freiheit und Demokratie zielende Revolution vorzubereiten und in Bewegung zu setzen.

Die großpolitische Romantrilogie

Diese drei Missionen wurden später in einer großpolitischen Romantrilogie, bestehend aus Selvmordsaktionen (»Die Selbstmordaktion«, 2005), Suverænen (»Der Souverän«, 2008) und Store Satans Fald (»Der Fall des Großen Satans«, 2012), umgesetzt – ein, laut den skandinavischen Kritikern, Meilenstein des politischen Erzählens in der Grauzone zwischen realer und inszenierter Wirklichkeit.

2010

hat Das Beckwerk schließlich in Zusammenarbeit mit dem dänischen Museum für klassische – ägyptische, assyrische, griechische, römische – Kunst in Kopenhagen das siebentägige Sterbelager