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Wegen einer Erbschaft kehrt der Amerika-Auswanderer Jens Nieder für kurze Zeit in sein westfälisches Kindheitsdorf Thönnigsen zurück. Die Stippvisite wird zu einer Reise in die Vergangenheit. Die Erinnerungen der Dorfbewohner kreisen um den Malermeister Hendryk Wilten, der erst als Bumerangwerfer und dann als preisgekrönter Bogenschütze ihren Alltag in Abenteuer verwandelt. Mit der Geschichte eines dörflichen Mikrokosmos hat Elmar Schenkel seiner Soester Heimat ein liebevoll-ironisches Denkmal gesetzt. Zugleich ist dieses Buch ein fortlaufender Kommentar über den Sinn und die Kunst des Bogenschießens, das nichts anderes ist als ein Versuch, das Leben zu verstehen. Vergnüglicher Lesespaß - nicht nur für Bogenschützen!
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Seitenzahl: 255
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Elmar Schenkel
Der westfälische Bogenschütze
Roman
Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit noch lebenden Personen sind rein zufällig.
Der westfälische Bogenschütze
Als Printausgabe © 1999 bei Edition Isele, Eggingen.
ISBN 3-925286-24-1
Als E-Book © 2013 bei Verlag Angelika Hörnig
www.bogenschiessen.de
ISBN 978-3-938921-32-6
Saiten und Sehnen aus Därmen. Die Sehne tönt.
(H. W., Traktat über den Pfeil)
Wir standen vor Wäldern, die sich wie Wälle vor uns ausdehnten, immer neue Wälle, hinter denen sich weitere Wälle verbargen, finstere blauschwarze, schwarzgrüne Wälder, die den Geruch von Harzen und Ölen verströmten. Alles, was bisher geschehen war, war ein Vorspiel gewesen. Wir hatten haltgemacht in einer großen Lichtung, und immer mehr von uns stürzten in diese Lichtung. Irgend etwas – und es war nicht die Angst vor dem Unbekannten, die war uns fremd – zwang uns anzuhalten und uns zu versammeln. Wir warteten auf etwas, das in der Luft lag, und Reiterscharen von entfernten Horden stießen zu uns. Der Weg nach Westen endet hier, so flüsterte es in unseren Knochen und Haaren, das Leder kräuselte sich. Es erstaunte uns nicht, als die Schnellreiter des Khans eintrafen: stumm und ernst.
Der Zauberer war ein Rechenmeister. In seinem schweren Gewand mit dem Geweih und den Fransen und Glocken schüttelte er sich von Sonnenuntergang bis zum Sonnenaufgang, drei mußten ihn immer wieder halten, er wand sich, Schaum um Augen und Mund, er bäumte sich. Er hatte alles errechnet: Entfernung vom Khan, Größe der Lichtung, Entfernung vom Ursprung der Zeit, zukünftige Siedlung, zukünftige Bahnen, zukünftige Bauern, Handwerker, Wanderer, Schreiber, Kriege, Vogelflug, Flug von Wurfgeschossen, das Ende einer Zeit. Die Boten sprachen drei Tage lang nichts. Dann sprach der Zauberer: »Dichte Wolken, kein Regen von unserem westlichen Gebiet. Der Wind fährt über den Himmel hin: Das Bild der Zähmungskraft des Kleinen. Wiederkehr auf den Weg.«
Der Khan hatte geträumt. Zum ersten Mal war der Traum kein Gesicht gewesen. Gesichter hatte er zu Tausenden gehabt, von Hirschrudeln und Kaiserpalästen, von Feinden, denen er stundenlang in die Augen sah. Dazu brauchte er keine Deuter. Aber diesmal hatte er nichts gesehen, sondern nur einen Geruch wahrgenommen. Er lud die Deuter zu sich. Sie fragten nach der Art des Geruchs: süßlich, wie verfaulende Früchte des Südens. Sie sagten, das Ende einer Welt. Mach dich fertig. Lass den Süden fallen, lass den Westen fallen. Er hatte seine Scharen nach Osten zurückgerufen. Er hatte den Flüssen geboten, zurück ins Meer zu strömen.
Der Zauberer befahl seinem Sohn, aus dem Kreis in die Mitte zu treten. Der Lehrer wollte ihn daran hindern. In jeder Schar gab es einen Lehrer und einen Zauberer. Sie waren keine Freunde. Der Lehrer machte sich mit der Welt vertraut, durch die sie zogen. Er schrieb, sammelte, hob alles auf, was am Wegesrand lag, für die Großen Schulen des Khan: Sprachen, Bergwerke, Tiere und Chroniken. Der Zauberer hatte für etwas anderes, für den Zusammenhalt zu sorgen.
Er gab seinem Sohn einen besonderen Pfeil, der sich abhob von den anderen. Kein Jagdpfeil, kein Kriegspfeil. Ein sinnloser Pfeil, aus der Sicht des Lehrers. Ein Pfeil, der keine Beute brachte, kein Wissen, keine Ländereien. Sprachloser Pfeil. Notfalls würde der Lehrer weite Strecken wandern, auch Jahre, um den Pfeil zu entschärfen, zur Sprache zu bringen.
Der Pfeil glänzte und schien frisch geölt mit Stutenbutter. Die Lenkfedern waren ungewöhnlich lang und leuchteten – Pfauenfedern. Der Nocken war aus feinem Elfenbein geschnitzt. Das Holz war nicht von dieser Welt. Es war einer der Heerespfeile, wohl gehütet oder verworfen, wer wusste es, ein Himmelspfeil, ein Pfeil, der Geschichten besiegelt. Er sagte zu seinem Sohn: »Bist du wahrhaftig, so schwindet Blut und weicht Angst.«
Dann befahl er ihm zu schießen.
Vor jeder Schlacht machten die Skythen Musik mit ihren Bögen.
(Traktat über den Pfeil)
Kurz bevor man an den Ursprung zurückkehrt, merkt man die Beschleunigung. Das Leben mag einen ganz schön gebremst haben mit seinen Schlingungen und Windungen, den Faltungen, die so überflüssig erscheinen wie Weisheitszähne, für die im modernen Kiefer kein Platz mehr vorgesehen ist. Nach all diesen mehr oder weniger sinnlosen Zickzackbewegungen, Zirkeln und Ausbuchtungen, Spiralen, Rückläufen und Vorsprüngen merkt man plötzlich, dass die Geschwindigkeit zunimmt. Ach ja, sagt man, die Zeit vergeht schneller, je älter man wird. In Wirklichkeit hat man ein neues Schwerefeld erreicht, über dem die Objekte zu fallen beginnen. Als ich mich vom Haarstrang herab dem alten Bördedorf näherte, in einem Omnibus so gelb, dass man ihn hätte lutschen mögen, da fielen die Felder fluchtartig zur Seite, segelnde Schachbretter, das Fachwerk begann zu flimmern, und ich sah mich wie einen Pfeil auf das Dorf zuschnellen, für das ich die Welt umrundet hatte. Am Abend, sommerluftig, kam ich in Thönnigsen an, im Kindheitsdorf. Ein Maler rollte seine Tapeten ein. Zwei Hunde trödelten unter der Brücke. Herbstgeruch schon jetzt über den Feldern, vom brennenden Kartoffellaub.
Es war nicht mein Kindheitsdorf. Ich bin zwar in Thönnigsen geboren, nach zwei Jahren aber sind meine Eltern fort ins Teutoburgische gezogen. Nie mehr sind wir in Thönnigsen gewesen, und ich weiß nicht, warum. Es lag da wie die verlorene Linke eines Handschuhpaars. Den einen davon hatte ich bewohnt, besessen, und der erinnerte mich fortwährend an den anderen, verlorenen. Es war ein grob gestrickter Handschuh mit viel Luft, die die Wärme hielt, gestrickt von der Großmutter aus dem Ruhrgebiet.
Du kehrst an einen Ursprung zurück, sagte ich mir, der keinen festen Ort hat. Er zieht in der Ferne vorbei wie die Schiffe am Puget Sound. Den anderen, das teutoburgische Dorf, habe ich oft besucht. Heute Abend stellte ich fest, wie wenig es mir bedeutete, eine pure Erfindung meiner Eltern. Dieses Thönnigsen aber war nicht erfunden worden. Es roch und dämmerte vor sich hin wie ein Tier.
Ich stellte mein Gepäck in der Bahnhofskneipe ab, deren Bahnhof längst verschwunden war, und ging in der fallenden Dunkelheit durch das Dorf: eine erste Berührung. Ein warmer Wind strich durch die Gassen, die wie alte Luftröhren raschelten. Kayserstraße, nach dem Richter, der so hieß, Palmbrink, nach dem Baum, der dort nicht wuchs, Wurstekessel, nach dem Metzger, der schon lange tot war, hundert Jahre, zweihundert Jahre? Friedhofsgasse, das Judenhaus, der große Kasten, aus dem die Familien nach und nach verschwunden sind, keiner wollte viel dazu sagen, nur dass sie wohlgelitten waren im Dorf; das Schwesternheim, aus dem Schwester Brunata immer mit ihrem Motorfahrrad herausgedüst war auf dem Weg zu Kranken und Sterbenden. Das Haus der beiden Sonderlinge, die täglich ihre Perücken gewechselt hatten, aber jede Woche immer aufs Neue. Hackes Haus, Hunolds Eck, Herbstlinde und Ahsenpatt, der Weg der Liebespärchen und anderer Vereinsamter. Woher ich dies jetzt alles wusste. Es konnte unmöglich von den zwei Jahren Kindheit in Thönnigsen stammen. Erzählungen der Eltern oder der Verwandten, Tante und Onkel Grewe, die uns ja öfter im Teutoburgischen besucht hatten, einmal auch das Fest in Gütersloh, wo ich das erste Kaugummi bekommen hatte, von der Sportlerin aus Düsseldorf, die so gut roch. Oder war das die Erinnerung eines ganz anderen Menschen? All das würde nicht ausreichen, dieses plötzlich aus dem Nichts auftauchende Wissen über Thönnigsen zu erklären. Ich strebte auf das Dorf zu wie ein Geschoß. Mit vielen Informationen um die Welt geschossen. Etwas, das immerzu als Linie erschien, stellte sich nun als Kreis heraus. Thönnigsen: wo die Schlange sich in den Schwanz beißt. Ich näherte mich dem Haus meines Onkels, es stand vor dem Verkauf. Seine Schwester, Tante Gertrud, war angereist, um mir die Erbschaft zu übergeben: Romberger Straße 18. An der zerfallenen Treppe hing eine Strohpuppe. Das Fenster stand bläulich hell in der Nacht, vom Fernsehen erleuchtet; eine graue Grabplatte, die in der Luft schwebte.
Es hatte ja eine Zeitlang Briefe gegeben. Nach Indien hatten sie mir hin und wieder geschrieben, das ist dreißig Jahre her. Später, als ich in Amerika lebte, kam keine Post mehr von den Grewes. Nur einmal von deren Sohn, Vetter Klaus, der sich irgendwo in Portugal herumtrieb und von mir wissen wollte, wie ein gelungenes Leben aussah. Ich schrieb ihm nach Portugal zurück, dass ich keine Patentrezepte hätte, trotz Indien, trotz Puget Sound Community. Nur dies: aufpassen, denn viele Köche verdürben den Brei. Seither herrschte Funkstille. Bei dem Spaziergang durchs Dorf erinnerte ich mich an den Brief von Onkel Franz, in dem er über die Veränderungen in Thönnigsen geschrieben hatte. Ich werde alt, schrieb er, doch das Dorf wollen sie immer jünger machen. Unser Dorf soll schöner werden, unser Dorf soll größer werden. Unser Dorf geht auf die Beauty Farm. Damit unser Dorf auch schneller würde, hatte man damals die klobigen Platten vom Kirchplatz entfernt, die großen Grabplatten. Sie wurden mit mehreren Lastern in die Grube am Romberg gefahren, wie hieß sie noch, die Müllgrube, die Müllgrube, auf der die Kinder im Winter Schlitten fuhren?
Eine erstklassige Asphaltdecke erlaubte es nun, die Kirche schneller zu umrunden, schneller rein, schneller raus, ohne Vorspiel, ohne Nachspiel, in der Mitte grad ein bisschen Orgelspiel. Am liebsten hätten sie noch eine Tiefgarage reingezogen. Die schattigen Kastanien hatten sie gleich mit verschwinden lassen: keine herabfallenden Äste mehr bei Prozessionen im Sturm. Ich erinnerte mich so genau an diesen Brief, weil die Vorstellung eines geglätteten Dorfes mir so schmerzvoll gewesen war. Ich sah die Autos und andere Geschosse durch mein Inneres rasen, als sei es der Kirchplatz.
Mergelkuhle hieß die Ablade, Mergelkuhle.
»Wie war das eigentlich«, fragte ich Tante Gertrud, als wir abends beim Tee saßen, in einem Haus, in dem wir beide fremd waren. »Wie war das, als sie die Platten weggemacht haben?«
»Wir fanden das eigentlich gut, Jens. Endlich blieben einem die Schuhe mal heil, wenn man in die Kirche ging. Kein Stolpern oder so. Aber den Parkplatz vor dem Frisörsalon Schenkel, den hätten sie damals nicht so groß machen brauchen. Ich weiß noch, wie Franz damals sagte: Der ist jetzt so groß, dass deine Haare wieder lang sind, bis dass du in deinem Wagen sitzt.«
»Und mit den Platten, da waren wohl alle froh drüber, dass die weg waren?«
»Ja, die meisten. Aber nicht alle. Da war noch Wilten Hendryk. Das war aber wohl der einzige.«
»Wilten Hendryk? Sagt mir jetzt nichts.«
»Dem Wilten Fritz sein Sohn, aus Meltrop. Der Maler. Haben sie dir nie von dem erzählt oder geschrieben? Onkel Franz und Tante Veronika waren doch ganz dicke mit dem.«
»Wieso denn?«
»Na wegen dem Schießen. Verein. Schützenverein. Bogenschießen, oder wie das hieß.«
»Und wieso war der jetzt gegen diese Asphaltgeschichte?«
»Der Wilte sagte zum Beispiel so was: ›Wenn ihr die Grabplatten rausreißt, dann könnt ihr gleich die ganze Kirche mit abreißen. Die Kirche ist dafür da, dass sie die Toten schützt. Sonst habt ihr ganz schnell was am Hals.‹ Der Hendryk, der hatte immer komische Sprüche auf Lager. Ich weiß auch nicht, wo er die herhatte. Manchmal denk ich, das war ein alter Chinese. Wie der auch schon aussah: breite Backenknochen, fast so was wie Schlitzaugen. Und blond. Irgendwie von hier aus der Gegend und doch nicht. Vielleicht so ein oller Hunne oder so. Übriggeblieben.«
»Was macht eigentlich euer Klaus?«, fragte ich. »Ist der noch in Portugal zugange? Ich hab’ lange nichts mehr von ihm gehört.«
»Ja, der Klaus«, sagte Tante Gertrud. »Kaum, dass der hörte, dass die Berliner Mauer gefallen ist, ist der aus seinem Portugal herausgekrochen, mit Kind und Kegel. Obwohl er sich früher für Deutschland nicht die Bohne interessiert hat. Und hat dann da in Thüringen ein Dorfkino übernommen oder renoviert oder was weiß ich. Wir haben ihn einmal besucht. Die wohnen direkt im Kino drin, und das heißt Karl-Marx-Lichtspiele oder Karl-Marx-Freilichtbühne oder so. Er hatte gedacht, die kennen drüben so was wie Kino nicht, aber da hat er sich wohl getäuscht. Ich glaube, die halten jetzt Schafe im Kino. Es gibt ja 365 Mark pro Stück von Brüssel.«
Nachts wurde es stickig in dem Zimmer, in dem wohl lange keiner mehr übernachtet hatte. Ich öffnete das Fenster und atmete die durch die umstehenden Zypressen strömende klare Nachtluft ein. Ich strengte mich an, einen Geruch wahrzunehmen, eine Spur, mit der alles angefangen hatte, aber er bewohnte nur die weiten Felder, von denen ich als Kind gedacht hatte, sie würden sich ohne Unterbrechung bis Russland hinziehen und nach und nach in Steppe übergehen. Das Dorf stand dunkel, woher sollte auch Licht kommen in dieser gottverlassenen Gegend. Onkel Franz und Tante Veronika. Ich erinnere mich an ihr glattes, faltenfreies Gesicht, die milde Stirn. Seither achtete ich bei jeder Veronika auf die Stirn. Nie dachte ich, dass die beiden jemals sterben könnten. Lebten genügsam am Rande einer unauffälligen Existenz, der Zimmermann im Ruhestand, die gelernte Sparkassenangestellte. Aßen Knäckebrot und tranken Tee, eine Apfelsine am Tag. Onkel führte noch einen Harzer Kräuterlikör im Schrank, das war auch schon alles. Aber dann starben sie beide innerhalb weniger Wochen, der eine von einem blutigen Husten, die andere nächtlich im Traum, Herzschlag. Ich hatte mir damals vorzustellen versucht, wie ein Traum aussieht, dass man von ihm stirbt. Bilder, die das Herz zum Stillstand zwingen. Ich stellte mir eine Wüstenlandschaft vor, in der unversehens eine Brücke auftaucht, vielleicht das Rauschen von Wasser. Also vielleicht ein schöner Tod. Von den Verwandten war außer mir nur noch Gertrud übriggeblieben, die an der Möhne wohnte und jetzt ab und zu nach dem Rechten schaute. Der größte Gräuel wäre ihr gewesen, wenn ein Nachlassverwerter das Haus nach Wertsachen und anderem durchsucht hätte, der Aasgeier, der von dem Tod der Einsamen profitierte.
Verwandtschaft, welch eine merkwürdige Erfindung. Sie hängen an dir, sie hassen dich, sie kommentieren endlos. Irgendwie aber müssen sie alle zusammenhalten bei Angriffen von außen. Eine Art Sternbild, bei dem keiner die Position verlassen darf. Ich lag im Bett – einem großen weichen Federhaufen – wie ein Schinken lag ich, Jens Nieder, da in dem Haus, zu dem ich gekommen war, um ein kleines Erbstück von einem Onkel abzuholen. Eine Kiste, nichts weiter, hatte Gertrud nach Amerika geschrieben. »Überleg dir, ob sich das lohnt. Ich habe nichts Interessantes darin gefunden. Aber wer weiß. Der Onkel wird sich was dabei gedacht haben, als er das festgelegt hat.«
Morgen früh würde ich mal hineinschauen. Das Ding stand im Arbeitszimmer des Onkels. Ein willkommener, wenn auch ansonsten völlig nutzloser Anlass, nach Thönnigsen zurückzukehren, Abstand zu gewinnen von den kompliziert gewordenen Verhältnissen zwischen mir, Katherine, den Kindern und dem Meister. Eine Kiste voll Vergangenheit.
Ich döste vor mich hin. Erst die Jahre in Indien. Ich weiß noch, wie ich die Lehren des Meisters vervielfältigte und sie an meine Schulkameraden und Freunde verschickte, in der Hoffnung, sie würden meine Faszination teilen. War er nicht ein neuer Jesus gewesen, an dessen Händen sich Dinge materialisierten, Ohrringe, Eingeweide, Korallen, Insekten und Sterne? Daß meine Klassenkameraden und ich dieselben Lebensziele hätten, war mir damals noch selbstverständlich. Ich wollte ihnen erzählen über die Art, wie man diese Ziele erreichen konnte. Wenn ihr nicht werdet wie die Inder! Einem, der antwortete, schrieb ich ausführlich, wie wir die große Kuppel bauten, hier in Radschastan, eine Arbeit, die zehn Jahre in Anspruch nahm. Einen Traum wollten wir umsetzen und in Beton gießen. Die Kuppel sollte die Welt zur Resonanz bringen, es war die heilige Geometrie. Aus Afghanistan flogen wir Rutengänger ein, sie liefen verzückt durch die Baustelle. Daraufhin schrieb auch dieser Klassenkamerad keine Briefe mehr.
Es war vielleicht besser so. Denn die indische Kuppel war groß und heilig, aber wir hatten sie an der Realität vorbeigebaut. Wenn du das Höchste willst, musst du das Niedrigste beherrschen. Wir hatten sie zweischalig gegossen, mit wunderbaren Farbfenstern wie Blüten versehen. Aber wir hatten die Bienen vergessen, die Termiten, die Feuchtigkeit. Wir waren an Indien gescheitert. Der Meister zeigte nach Westen. So zogen wir nach Washington State. Danach rissen sämtliche Kontakte in die Heimat ab. Es begann die amerikanische Zeit für mich, die Zeit des Bauens und Pflanzens in Washington, am Puget Sound. Erst der Brief von Tante Gertrud vom Möhnesee brachte diese Dinge, diese längst verloren geglaubten Welten wieder zurück.
Wie sie meine Adresse am Puget Sound herausgefunden hat, mögen die Totempfähle wissen. Eigentlich hatte ich ja keine Adresse mehr, und in Indien hatten sich sämtliche Spuren im Sand verwischt. Die Kuppel war meine letzte Adresse gewesen, aber deren Postleitzahl war in deutschen Landen unbekannt. Ich hatte mich unerkannt über die Jahrtausendschwelle gemacht, es war mir damals sogar gelungen, die Feierlichkeiten zu ignorieren. Als ich am Haus Romberg 18 vor der blauen Tür mit dem Löwenkopf stand und an der altmodischen Klingel zog, ging mir noch dies durch den Kopf: ich bin ein Niemand und komme aus dem Nichts zurück. Ich muss einmal hier gewesen sein. Ich träumte in dieser Nacht von der Kiste, die da unten im Arbeitszimmer stand und vor sich hindämmerte.
Nach dem Frühstück schaute ich mir die sogenannte Erbschaft an. Außer der Kiste ein paar Habseligkeiten, eine Perücke aus Rosshaar, ein Kasperletheater mit zwölf handgeschnitzten Holzfiguren, ein Morsegerät Eigenbau, wie man sie nach dem Krieg gebastelt hatte. Außerdem ein Schaubild der deutschen Ostbesitzungen – Ostpreußen, Marienburg, Thorn, Königsberg, Kurische Nehrung – herausgegeben von einer längst versunkenen Firma namens Kuratorium Unheilbares Deutschland. Das war auch schon alles.
Ach ja, und ein Lederteil, das man an den Arm band, ein weiteres kleines Lederteil für den Finger oder ein anderes Glied am Körper. »Suchst du vielleicht eine Müllkippe?« fragte Tante Gertrud, die mich ratlos in diesen Dingen herumwühlen sah. »Ich möchte heute noch zurück nach Körbecke. Ich fühl mich hier nicht mehr heimisch. Kannst gern ein paar Tage bei mir wohnen.«
»Du sagtest, Onkel hätte was mit dem Schützenverein zu tun gehabt.«
»Ja, über den Wilte. Der hat ihn da hineingezogen. Die waren zusammen auf der Schule, beim Lehrer Kleffner. Die waren immer schon Kumpels.«
Und Gertrud begann zu erzählen – vom Bogenschießen in Thönnigsen, das wenige, was sie davon wusste. Es war das erste Mal, dass ich davon hörte, von diesem Dorf, das wohl von einem Wahn ergriffen worden war. Welcher Wahn? Welcher Gott? Welcher Dämon? Am Ende waren sie Deutscher Meister.
Und mittendrin dieser Hendryk Wilte, seines Zeichens Anstreicher, Kriegsheimkehrer, Autodidakt ohne zivilen Führerschein. Der hatte alles angezettelt.
»Ach ja«, sagte Gertrud, »ich glaube, ein paar von den Sachen in der Kiste stammen aus der Zeit.«
Ich beschloss dann, die Erbschaft meines Onkels Franz Grewe doch noch aufzubewahren. Es gab in dieser Woche ein weiteres Ereignis, das mich dazu bewog. Ich stieß bei meinen Spaziergängen am Rand des Dorfes auf diesen Holzstand. Es war kein Hochstand für Jäger. Da kannte ich mich aus, denn eine Zeitlang hatte ich selbst für meinen Deutschlehrer welche bauen müssen im Teutoburger Wald, um meine Zensuren aufzubessern. Brinkendorf war ein passionierter Jäger gewesen. Den ganzen Landkreis hatte ich vollgebaut mit Anständen. Wer kann sich schon noch an all die Holztransporte erinnern, und am Ende gab’s trotzdem nur ein Ausreichend. Ich glaube, so mühsam ist noch nie eine schlechte Note erkämpft worden.
Lehrer Brinkendorf sagte damals: »Sei froh, dass du versetzt wirst. Was glaubst du, was ich mit den Jägern für einen Ärger habe wegen deinen Gestellen. Drei haben sich ein Bein gebrochen, der vierte hat sich ins Ohr geschossen, und fünfzehn haben ihre Treffsicherheit wegen Zitteranfällen verloren. Alles, weil sie auf deinen wackligen Anständen waren. Da kannst du für die Vier dankbar sein und Gott Tag und Nacht danken, mein Sohn. Guck mal hier, die Leserbriefe in der Jägerzeitung. Die solltest du mal durchlesen. Außerdem kannst du die Grammatik der Jagdfreunde korrigieren, das war noch nie ihre Stärke. Eine Übung, die dir gut tun wird.«
Das Gebilde hier ragte wie ein brauner Zahnstumpf heraus an der kleinen Ahsebrücke hinter Grewes Haus. Die Stelle erkannte ich gut, denn hier irgendwo war mein geliebter Tomahawk versenkt worden. Ich war ja nicht oft in Thönnigsen gewesen, von Körbecke nach Thönnigsen war vor fünfzig Jahren ein verdammt langer Weg. Aber ich erinnere mich nur zu ungern an diesen Besuch bei meinen Vettern Grewe, als ich dummerweise meinen Tomahawk mitgebracht hatte. So was hatten die noch nie gesehen, so ein blitzendes Ding, das wie ein aufgerissenes Auge in der Luft schwang. Ein Freund meines Vaters aus Ostberlin hatte ihn mir geschenkt. Im Lauf der Jahre hatte ich echten Federschmuck, eine Keule und einen gestickten Gürtel aus hellbraunem Leder und mit weißem Fell bekommen. Er schien da in der DDR so eine kleine, versteckte Indianerwerkstatt zu betreiben, wo natürlich nur Echtes produziert wurde.
Jedenfalls war der Neid groß, und Uli schwang die Streitaxt wie wild am Ufer der Ahse herum, bis sie sich plötzlich aus seinen Händen löste und auf eine große Reise ging, durch die Luft und schließlich im schlammigsten und tiefsten Teil des Thönnigser Flüßchens verschwand, heim in die Ewigen Jagdgründe Westfalens. Wie hasste ich die glatte Hand meines Vetters, die so durchsichtig war, dass man die blauen Adern sehen konnte, diese weißen Fingerknöchel, die wie Beamte ihrer dummen Arbeit nachgingen und meinen einzigen Reichtum verschleuderten.
Hier also jener stumpfe Rest eines hölzernen Turmes, der Brandspuren aufwies. Bei meinen Streifzügen stieß ich auf weitere solche Reste: Am Felter Berg fand ich Holzbohlen mit rostigen Nägeln, am Balkser Busenteich, hinter Witwe Busens Haus, eine Brücke, die wie mit einer Wachhüttte bebaut war. Richtung Brockhausen, wo man schon evangelisch sprach, noch ein weiterer verfallener Turm. Im Norden bei Packes Ecke, nicht weit von der Keßlermühle entfernt, stand das letzte Fort – oder was auch immer es war – diesmal wie der Wachtposten zum Römerweg, der sich nördlich von Thönnigsen durch Sanders Heide zog. Die Landschaft war mit hölzernen Zeichen übersät, doch keiner konnte sich einen Reim darauf machen. Die meisten waren ja auch zur Zeit der Epidemie weggezogen. Die wenigen Alten, die ich traf, schienen kein Interesse an der Sache zu haben: das ist was für Antiquitätenhändler, nix für unsereins, hieß es. Oder: Misch du dich man nicht in diese alten Sachen ein.
Bei der Keßlermühle, an der lauten Wasserschleuse, sprach mich aber ein Rentner an. Er stellte sich als Bohnert vor:
»Ich habe gehört, du bist der Jens Nieder, vom Grewen Franz der Neffe?«
»Ja, der bin ich.«
»In Amerika, da gibt’s wohl Leute, die sammeln alte Burgen?«
»Gibt’s bestimmt.«
»Und Sie sind auch so einer, hab ich mir sagen lassen.«
»Kann man so nicht sagen. Ich bin rein zufällig in die Gegend hier geraten. Ich bin hier zwar geboren, aber erinnern kann ich mich an nichts, jedenfalls nicht von damals her. Wir haben hier nur ein paar Jahre gewohnt. Sind dann Richtung Teutoburger Wald abgezogen.«
»Und jetzt mal wieder im Lande, was? Urlaub oder so?«
»Sie kennen vielleicht meinen Onkel Grewe. Nach seinem Tod soll ich hier ein paar Habseligkeiten abholen.«
»Na, wird wohl nicht viel gewesen sein«; sagte er, halb neugierig.
»Nicht dass ich wüsste, `ne Kiste und, na ja – eher nutzlose Sachen.«
»Er hat ja auch viel verpulvert, der alte Grewe, für diese Geschichte damals –«
»Was für eine Geschichte denn?«
»Na ja, als er mit dem Bogenschießen angefangen hat. Mit dem Pfeil, dem Bogen, durch Gebirg und Tal! Die ganze Ausrüstung, teure Bögen waren das, tausend Mark das Stück, das war damals ne ganze Menge. Und das andere Zeug. Westfälischer Mannschaftsmeister und Deutscher Einzelmeister ist er immerhin geworden, der alte Grewe mit den anderen. Aber dann später – ich habe ja von Anfang an nichts davon gehalten, von dieser Herumballerei ohne Knall und Pfeffer. Entweder man nimmt `ne Flinte und ballert den Hasen ab oder man lässt es lieber gleich. Zeit für einen Schritt in die Keßlerkneipe?«
Die Lippe rauschte gefällig durch die Schleuse an der Terrasse vorbei, auf der ein letzter Sommertisch stand wie eine Fliegenleiche. Ich erzählte Bohnert von Indien und Amerika. Die Augen starrten trübe ins Bier.
»Und was haben Sie persönlich gegen die Schießkunst?« fragte ich.
»Ich persönlich,« fuhr er fort, »wenn du als Halbamerikaner das einem mal erlaubst, der ein Hiergebliebener ist, aber kein Zurückgebliebener, bitteschön, ich persönlich weiß nur, dass der Fußball der edlere Sport ist: wo alles aufeinander abgestimmt ist, wo einer zum anderen hält und wo eine gewisse Aktion stattfindet. Verstehste? Eine Aktion, die man, wie soll ich sagen, sieht, nicht eine unsichtbare, die man nicht sieht, wie das die Definition schon sagt. Ich stand dementsprechend immer auf Seiten der Fußballer, auch wenn sie keine Meister wurden, aber immerhin Schwarzgelb, wie die Borussia. Fußball ist das Volk. Darauf kommt es an. Nicht auf diese abgehobenen Meister, die da mit ihren langen Bögen und den teuren Pfeilen machen. Und dabei noch so tief die Luft durch die Nase ziehen, als würden sie gerade in die Kirche gehen. Bei den Streitigkeiten, als es zum großen Knall kam auf dem Sportplatz hier, ganz klar, stand ich auf der Seite vom Fußball.«
»Was für ein Knall denn?«
»Na zwischen die Ballermänner und die Schießer. Da war ich eindeutig auf Seiten der Ballermänner, das sag ich dir, Bonzo haben sie mich übrigens damals genannt. Und der spätere Lauf der Dinge hat mich nur bestätigt.«
»Waren Sie denn selbst auch Fußballer?«
»Schon, das Spiel gehörte mir quasi damals. Verteidigung bis aufs letzte. Die Regeln stören ja bloß nur, wie überhaupt im Leben.«
Dann versank der einstige Bonzo in saumselige Erinnerung, dieser Mann aus Packes Ecke oder Pockes Ecke. Es gab Namen hier in der Gegend, die lösten sich auf, wenn man zu genau hinschaute. Er sagte nur noch, ich solle lieber die Finger davon lassen, von diesen Bogenschützen nämlich und diesen Holztürmen. Damit habe das Ende vom Lied doch angefangen. Sagte es und versank noch tiefer, in einen bodenlosen Bierschlaf nämlich.
Über die Bauwerke fand ich nichts mehr heraus, außer dass mein Onkel seine Finger bei dem an der Ahse im Spiel gehabt hatte. Von einem Feuer wollte auch noch jemand etwas wissen, aber es soll bei einer anderen Konstruktion ausgebrochen sein, auf dem Sportplatz. Doch wozu diese Dinger gebaut wurden, wusste keiner mehr. Sie standen in der Landschaft wie die Reste einer unsichtbaren Straße, wie die Auswüchse einer erfundenen Landkarte, aus der die Ruinen in die Landschaft hineinwuchsen. Soviel war zu erkennen: Das Holz war von weither gekommen. Andererseits ergaben meine ersten genauen Untersuchungen auch, dass hier Teile von Möbeln, Tischen, Betten, Stühlen und Lampen verarbeitet worden waren, so als habe man in Panik alles gerade Verfügbare zusammengezimmert.
Franz Grewes Frau Veronika, meine Tante, war übrigens eine besonders gute Schützin gewesen, und ihr war es überhaupt zu verdanken, dass Franz Mitglied im Verein geworden war. Bei der Sparkasse hatte sie das Zielen gelernt – die Geduld, die Hartnäckigkeit, den Gleichmut.
Als ich für ein paar Tage mit Tante Gertrud nach Körbecke an den Möhnesee fuhr, stellte sich mir nur eine Frage: Wo waren die Bögen, die Pfeile, die ganze Ausrüstung geblieben? Warum waren nur Armschutz und Fingertabs übriggeblieben?
Von der Haarhöhe schaute ich aus dem Bus zurück auf dieses Thönnigsen und sein herbstliches Umland, und durch das offene Busfenster stieg mir wieder der Geruch in die Nase, wie von verfaulenden Früchten.
»So bohrten sie ihm jeden Tag eine Öffnung. Am siebten Tag, da war der Unbewusste tot.«
(Abreibungen, S. 12)
Das Lied ist ein Pfeil. (H. W., Traktat)
»Ja, ich habe gehört, dass der Amerikaner da war«, sagte die Frau und richtete sich auf. »Der vom Grewen einer, ein Neffe, war ein halbes Leben in Indien und jetzt ist er `ne Art Amerikaner. Sag mal, Lieschen, weißt du, was der da noch geerbt hat?« Lieschen wusste es nicht, dachte aber: nicht viel.
Lieschen Burmann rannte hin und her. Zwanzig, dreißig, fünfunddreißig Jahre war das nun schon so. Ohne Lieschen wäre Hanna Schrater verloren gewesen. Wahrscheinlich wäre sie damals verhungert, weil es keiner gemerkt hätte. Sie hatte oft gehört, dass das Leben mit dem Alter immer schneller wird. Die Zeit: wie ein Pfeil, der durch die Anziehungskraft des Planeten, auf den er zufliegt, immer schneller wird. Aber bei ihr war es anders. Der Pfeil wurde in ihrem Leben immer langsamer, und manchmal dachte sie beklommen, etwa beim lästigen Wachwerden, der Pfeil sei jetzt stehengeblieben. Er stak gleichsam in der immer dichter werdenden Luft. Die Zeit hatte ihre Flüssigkeit verloren, sie war träge und zäh geworden, sie floss nicht, sie stand still und brach stückweise ab wie morsches Holz. Das flüssige Obst verwandelte sich zurück in Früchte, die am Baum zitterten. Nichts mehr vom Saft drin. Das Zimmer war ergraut, hier hatte die Zeit gewusst, was zu tun war: den Lack aufsprengen, in die Risse eindringen und das Ganze hineintragen: Staub, Haare, abgeriebene Haut. Sie konnte sich noch an den frischen Lackgeruch erinnern, den das Zimmer verströmte, als Hendryk es gestrichen hatte.
Wie er aus dem Krieg gekommen war, mit nichts in den Händen, aber an die Briefe wollte er sich nicht erinnern, nicht an die Zeit vor dem Krieg, als sie zusammen auf dem Schützenfest waren und miteinander getanzt hatten. 38 war es, oder 37? Nein, 38 gab es gar kein Schützenfest mehr. Als ob schon was in der Luft gelegen hätte, keine Feierstimmung mehr, als ob es langsam ernst geworden wäre. Feldwebel war Wilhelm Burmann gewesen, Lieschens Vater, aber der war es die ganze Zeit gewesen, von cirka 1900 bis Ende der sechziger. Der langlebigste Feldwebel aller Schützenfeste seit 1800! Das war Lieschens Ausspruch, tagaus tagein, damit musste Hanna leben. Seine größte Kunst – dafür war er über die Grenzen des Dorfes, ja des Kreises hinaus bekannt – war, die Schützen am Montagmorgen antreten zu lassen. Er hatte dann für jede einzelne Bierseele einen guten Spruch parat. Er war ein wahrer Bocksbeutel gewesen. Er hatte sogar Hendryk und seine Leute mit dem Bogen in den Schützenverein aufgenommen. Eigentlich ein komisches Völkchen, diese Bogenschützen, aber immer den richtigen Riecher, und hinter allem war der Hendryk gewesen. Aber erst nach dem Krieg ist der Hendryk auf die Idee gekommen, als er sie nicht mehr kennen wollte, sie: Hanna. Erst hatte sie gedacht, es wäre eine Art Verachtung gewesen für sie, weil sie höher hinauswollte in diesem Dorf, aber später schien es ihr etwas mit dem Krieg gewesen zu sein. Der Krieg frisst Gefühle, hatte sie sich immer wieder eingeredet. Und die Hanna und den Hendryk hatte es auch erwischt. Er zog dann später zu dieser anderen Frau, zugezogene Flüchtlinge waren das, aus Ostpreußen, aus dem Russenteil, aus den bombardierten Städten, eine Flüchtlingsblase, die zu acht in der Wohnung über dem Friseur Schenkel wohnte, da hat er sich schließlich eingenistet, als ob er’s nicht besser hätte haben können, hier auf ihrem Anwesen, einem schmucken Häuschen, mit dem Teich nebenan, den herrlich schmachtenden Fröschen, die die Sommernächte lang nach ihm riefen. Ja, das war der Lackgeruch. Damals hatte sie ihm den Auftrag erteilt in der Hoffnung, dass alles noch einmal anfangen könnte, zwischen ihr und dem Hendryk.