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Der Wiener Kongress markiert einen Wendepunkt in der Geschichte Europas. Dort gelang es, eine einzigartige dauerhafte Friedensordnung zu stiften, die erst mit dem Ausbruch des 1. Weltkrieges endete. Eberhard Straub zeichnet ein farbiges Sittengemälde einer ganzen Epoche, in der ein politisches Europa Wirklichkeit wurde. Der Wiener Kongress tanzte nicht nur, er arbeitete auch. Nach den Napoleonischen Kriegen, die Europa in vollständige Unordnung gestürzt hatten, bemühten sich Könige und Diplomaten, aus den Trümmern der alten Welt ein neues Europa der Sicherheit und Solidarität zu schaffen. Eberhard Straub porträtiert die großen Akteure (u. a. Metternich, Talleyrand, Hardenberg, Humboldt) und zeigt, wie sie die Grundlagen dafür legten, dass Europa sich noch einmal 100 Jahre souverän als Einheit in der Mannigfaltigkeit behaupten konnte. Anders als nach dem Ersten Weltkrieg erlagen die Siegermächte nicht der Versuchung, den unterlegenen Feind zu dämonisieren und zu bestrafen. Noch einmal siegte die Vernunft der Nationen.
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Seitenzahl: 287
EBERHARD STRAUB
DERWIENERKONGRESS
Das große Fest unddie Neuordnung Europas
In Freundschaft für
Oleg Nikitinski
den Römer aus Moskau
Bisogna vivere questa nostra vita
come se fosse vita vissuta nel mondo di ieri.
Carolus Cergoly
Einführung: Schöpferische Restauration aus dem Geist des alten Europa
1. Die Französische Revolution gegen die Vernunft der Staaten
2. Ein Frieden ohne Sieger und Besiegte für ein neues Sicherheitssystem in Europa
3. Friedensfeste und Aufforderung zum Tanz in das wiedergewonnene Europa
4. Keine Chance für ein Europa der Nationen
5. Legitimität eines Systems kollektiver Sicherheit
6. Von den orientalischen Fragen zur Julikrise 1914
7. Der Große Krieg und die Unfähigkeit zum Frieden
Zeittafel
Ausgewählte Literatur
Bildteil
Abbildungsnachweis
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Umschlag: »Redoute paré während des Wiener Kongresses«,
Johann Nepomuk Hoechle (ÖNB / Wien, Pk 270,8)
Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Printausgabe: ISBN 978-3-608-94847-9
E-Book: ISBN 978-3-608-10690-9
PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20234-2
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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Schöpferische Restauration aus dem Geist des alten Europa
Während der Julikrise 1914 endeten hundert Jahre Frieden in Europa, deren Grundlage auf dem Wiener Kongress 1814/15 gelegt worden war. Damals wurde das Konzert der fünf Großmächte– Russland, Preußen, Österreich, Frankreich und Großbritannien–, das europäische Staatensystem, wie es seit den Friedensschlüssen von Utrecht (1713) und Rastatt (1714) bestand, abermals erneuert, nachdem die Französische Revolution und Napoleon Bonaparte es zerstört hatten. Der Ursprung dieses Staatensystems reicht noch weiter zurück, bis zum Westfälischen Frieden von Münster und Osnabrück 1648, an dem allerdings Russland noch nicht beteiligt war. Dem Wiener Friedenswerk gelang eine schöpferische Restauration, eine neue Ordnung Europas aus dem Geist der alten, vorrevolutionären Welt. Diese Ordnung löste sich im Großen Krieg oder im Ersten Weltkrieg, wie er in Deutschland genannt wird, auf. Europa geriet in seine größte Krise seit der Französischen Revolution. Außerdem konnten die europäischen Staaten 1919 zum ersten Mal in ihrer Geschichte nicht allein über ihre und die Zukunft Europas bestimmen. Unfähig, einen Frieden ohne Sieger und Besiegte zu finden, hatten die ratlosen Europäer die USA um Vermittlung und Hilfe gebeten. Sie zweifelten endgültig an ihrer herkömmlichen, in der Vergangenheit so oft bewährten Staatsvernunft, der sie allerdings schon im Jahrzehnt vor 1914 nicht mehr recht vertrauten hatten.
Das war 1814 noch ganz anders gewesen. Nichts fürchteten die in Wien versammelten Monarchen und Diplomaten so sehr wie die breiten, schwammigen Begriffe– Gerechtigkeit, Freiheit, Menschlichkeit, Selbstbestimmung und Menschenrechte–, in deren Namen französische Revolutionäre ein knappes Vierteljahrhundert zuvor den vollständigen Umsturz in Europa begonnen hatten, den Napoleon vollendete, indem er die Revolution erfolgreich erstickte. Das verschaffte ihm das Ansehen, trotz seiner imperialen Politik, die Europa vollständig veränderte, ein Mann der Ordnung zu sein, der zur Vernunft gebracht werden könne. Das Konzert der Mächte hatte Napoleon beiseite geschoben, aber Österreich gab es trotz vieler Demütigungen noch, Russland konnte er sich ebenso wenig zum Freund machen wie England die Seeherrschaft entreißen. Nach dem Einfall in Russland und der Vernichtung seiner »Großen Armee« 1812 war es zuerst der russische Kaiser AlexanderI., der die Preußen zum Aufstand gegen Napoleon überredete. In Übereinstimmung mit ihm und Friedrich WilhelmIII. organisierte der österreichische Außenminister Klemens Wenzel Lothar von Metternich ohne Überstürzung einen Bund der Staaten und Monarchen, um Napoleons Kaiserreich auf die vernünftigen Grenzen eines französischen Königreichs zurückzustutzen und zu einer neuen Balance der Mächte zurückzufinden. Ohne ein starkes Frankreich konnte Europa, das von einem zu starken Frankreich vollständig durcheinander gebracht worden war, nicht wieder ins Gleichgewicht kommen.
Die Koalition aus den drei Kontinentalmächten Russland, Österreich und Preußen sowie Großbritannien, die sich 1813/14 erst formlos und dann verbindlich bildete, führte keinen Krieg gegen einen »Schurkenstaat«, wie man heute sagt, auch nicht gegen einen Verächter des Völkerrechts, der bestraft werden musste, wenn gar keine weiteren Sanktionen halfen. Vielmehr kämpfte sie gegen den legitimen Kaiser der Franzosen, den Störer der Ruhe Europas, hegte während der Feldzüge aber stets die Hoffnung, sich dennoch mit Napoleon über eine europäische Friedensordnung verständigen zu können, in der auch für ihn Platz wäre. Vor allem der angebliche Reaktionär Metternich, der Napoleon gründlich kannte und ihn mit viel Sympathie zu verstehen suchte, versprach sich von der Zusammenarbeit mit ihm sehr viel und von der Restauration der bourbonischen Könige in einem wünschenswerten neuen Europa sehr wenig. Doch Napoleon, der Sohn des Glücks, wurde zum Kummer Metternichs, aber auch des russischen Kaisers, nicht vernünftig. Dennoch behandelten die Sieger nach der Niederlage Napoleons Frankreich insgesamt glimpflich. Sie dachten nicht an die Vergangenheit mit ihren Schrecknissen, sondern an die Gegenwart und Zukunft. Ein nicht versöhntes Frankreich würde Europa nicht zur Ruhe kommen lassen und die Revision eines Vertrages planen, der seine Ehre und Würde als Großmacht empfindlich verletzte.
Deshalb musste Frankreich geschont werden und Gelegenheit erhalten, als gleichberechtigtes Mitglied im europäischen Konzert eine unentbehrliche Rolle zu spielen. Zaghafte Versuche englischer und preußischer Offiziere, französische Kriegsschuld und Kriegsverbrechen zur Sprache zu bringen, wurden von den andern Mächten abgewiesen, denn souveräne Staaten waren nach europäischen Rechtsvorstellungen niemandem verantwortlich und konnten keine Verbrechen begehen. Außerdem hatten sämtliche Souveräne während der Koalitionskriege in Napoleon den souveränen Herrscher und Repräsentanten seines Staates gesehen und im Umgang mit ihm weiterhin die formale Höflichkeit gewahrt, die er allerdings nicht immer gründlich beachtete. Im Übrigen waren die meisten Herrscher vorübergehend oder längere Zeit seine Verbündeten gewesen, einige gezwungenermaßen, andere freiwillig, und manche verdankten ihm ihre Kronen und Königreiche. Der Kaiser der Franzosen war, trotz allem, in einer Zeit wachsender Unübersichtlichkeit einer der ihren– kein Nero oder Domitian und nur zuweilen unbeherrscht oder schlecht beraten.
Die Geduld oder besser die Vernunft der Sieger wirkt heute nahezu fahrlässig, ungemein zynisch und vollkommen unmoralisch. Schließlich hatten Franzosen von Gibraltar bis Moskau aus der Geschichte eine Geografie in Bewegung gemacht und ganz Europa in Unordnung gebracht. Grenzen und Staaten wurden dauernd verschoben, die französischen Truppen plünderten oder erpressten übertriebene Kriegstribute, Handel und Wandel lagen darnieder, seit dem Dreißigjährigen Krieg hatte es nicht so viele Tote gegeben, vor allem unter der Zivilbevölkerung. Es war kein besonderes Glück, von den Franzosen befreit zu werden, um unter drastischer französischer Fürsorge überhaupt erst Mensch zu werden. Die Kriege ab Frühjahr 1792 wurden von den französischen Revolutionären als totale Kriege geführt, die ersten ihrer Art in der europäischen Geschichte. Die Revolutionäre kämpften nicht gegen einen gleichberechtigten Ehrenmann in einem Ehrenhändel, wie im Duell, zu dem der Krieg seit 1648 in den Kabinettskriegen des 18.Jahrhunderts geworden war. Vielmehr sahen sie in ihrem Feind einen absoluten Feind, der die Freiheit, die Menschlichkeit, die Menschenrechte bedrohte, und stilisierten ihre militarisierte Republik zur humanistischen Wertegemeinschaft, unersetzlich im Krieg gegen den Terror von Fundamentalisten aller Art. Wer Frankreich daran hindern wollte, seine Werte anderen aufzuzwingen, machte sich antifranzösischer Umtriebe verdächtig und bedurfte dringend korrigierender Maßnahmen.
Gegen den absoluten Feind ist alles erlaubt, er vertritt eine böse Macht, er ist ein Ungerechter, der sich gegen den Guten und Gerechten empört und Strafe verdient. Bislang unbekannte Aufgaben wurden mit dem Krieg als Strafaktion verknüpft: vernichten, ausrotten, auslöschen, eliminieren. Die Besiegten folgten zumindest zeitweilig diesem neuen Vorbild im spanischen Guerillakrieg ab 1808 gegen die französische Besatzungsmacht, beim Aufstand der Tiroler 1809 oder im russischen Freiheitskrieg von 1812. Da taten sich tatsächlich Abgründe auf, und die elementarsten Ungeister wurden losgelassen, die Vergils Juno gegen Aeneas und die verhasste Brut der Phryger entfesseln wollte. Wenn nämlich die eigene Macht nicht hinreicht für die gerechte Sache, scheut die rachsüchtige Göttin sich nicht, die Hölle in Aufruhr zu versetzen. Ihr Acheronta movebo aus der Aeneis (VII, 312) wurde seitdem zum schrecklichen geflügelten Wort. Alteuropäische Errungenschaften gerieten in Vergessenheit: den Gegner wie einen Gleichen zu behandeln; in der Tradition des Westfälischen Friedens die Frage nach der Gerechtigkeit nicht weiter zu berühren; sowie streng zu unterscheiden zwischen Kombattanten und Zivilisten. Eine ungemeine Rechtsunsicherheit machte sich breit, mit der wachsenden Moralisierung, die eigene Sache für die gute und gerechte auszugeben, ging die Dämonisierung der Absichten des Feindes einher.
Die Europäer waren schockiert. Als aufgeklärte Humanisten entsetzte sie das Undenkbare, der Kulturbruch, wie es heute heißt. Sie machten die fürchterliche Erfahrung, dass zivilisierte Völker nicht weiter von der Barbarei entfernt sind als das glänzendste Eisen vom Rost, wie der Schriftsteller und Satiriker Antoine de Rivarol schon zu Beginn der Revolution angemerkt hatte. Diese Erfahrung machte die Monarchen und Sieger über Napoleon so klug, sich nicht von Hass oder Vergeltung leiten zu lassen. Auf dem Wiener Kongress enthielten sie sich jedes moralischen Urteils. Nach 23 Jahren Krieg, den bislang widerwärtigsten in der gesamten europäischen Geschichte, griffen sie zurück auf das alte Kriegs- und Völkerrecht, das ius publicum europaeum, das »europäische öffentliche Recht«, das von der Revolution und Napoleon für ungültig erklärt worden war. Diese Restauration reduzierte den absoluten Krieg wieder auf das Duell moralisch und rechtlich Gleicher und Gleichberechtigter. Der Krieg wurde wieder zum letzten Mittel der Politik, ganz gleich, ob es sich um einen Angriffs- oder Verteidigungskrieg handelte. Denn Angriff kann die beste Verteidigung sein, wie es sprichwörtlich heißt. In diesen Kriegen gibt es weder eine Kriegsschuldfrage noch Kriegsverbrecher. Deshalb erübrigt es sich, ja ist ausdrücklich untersagt, nach dem Krieg über das zu reden, was im Kriege geschah, um das Zusammenleben in einer neuen gemeinsamen Ordnung nicht unnötig zu erschweren. Der Wiener Kongress hielt mit seiner Berufung auf die alten Vorstellungen noch einmal Entwicklungen auf, die sich in den Revolutionskriegen zum ersten Mal auf furchtbare Weise bemerkbar gemacht hatten und seit dem Großen Krieg von 1914–18 nicht mehr zu bändigen waren.
Das war eine heilsame Restauration und sittliche Leistung, die den Siegern des Jahres 1814 eine Friedensfähigkeit und Friedensbereitschaft ermöglichte, die den Revolutionären und Napoleon gefehlt hatte.
Die Revolution und Napoleon hatten Europa ins Chaos gestürzt. Die aufgeklärten Staatsmänner des Wiener Kongresses, alle vor 1789 gebildet, erwiesen sich nicht als Reaktionäre, sondern als Realisten. Sie wehrten sich mit der moralisch indifferenten Staatsvernunft gegen revolutionäre Tendenzen, mit Hilfe der Politik radikale Bewegungen zu moralischen Erweckungsgemeinschaften zu überhöhen. Sie wollten Europa endlich wieder zum Gleichgewicht in einer neuen Ordnung verhelfen, gehütet vom Konzert der fünf Großmächte, deren Herrschaftsraum von Gibraltar im Westen bis zum Ural im Osten reichte. Sie versuchten den Zivilisations- und Kulturbruch zu heilen, indem sie keinerlei Rücksicht auf nationale Gefühle, von Moral befeuerte Leidenschaften und zivilreligiöse Stimmungen nahmen. Diese Gleichgültigkeit ermöglichte es den Diplomaten und ihren Monarchen, ein erstes System kollektiver Sicherheit einzurichten, in dem die fünf Großmächte dafür sorgten, dass auf Kongressen und Konferenzen Kriege mit allen möglichen friedlichen Mitteln verhindert oder zumindest lokalisiert wurden. Dieses Konzert der Mächte war manchmal gestört und uneins, aber es fand sich immer wieder zusammen. Es war in der Lage, Verstimmungen zu beseitigen und allen Europäern, gerade den kleinen Staaten, die Gewissheit zu vermitteln, in dieser Gemeinschaft europäischer Staaten nicht übervorteilt zu werden.
Der Nationalismus und das Selbstbestimmungsrecht der Völker galten den Staatsmännern der Wiener Friedensordnung nach den trostlosen Erfahrungen mit der einen und unteilbaren französischen Nation als verwerflich. Diese Erfahrungen hatten Rivarols Prognose drastisch bestätigt, wonach auch gebildete Völker grausam wie Nero, aber nie weise wie Marc Aurel handelten. Die Wiener Ordnung war flexibel, sie wurde später durch die nationale Einigung Italiens (1861) und Deutschlands (1871) nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Denn das Deutsche Reich, Österreich-Ungarn und Italien schlossen sich bald danach zum Dreibund (1882) zusammen und bekräftigten damit abermals die Erwartungen der Friedensstifter von 1814/15, dass Europa eine große, beruhigte Mitte von Kiel bis Palermo brauche, um nicht seine Balance zu verlieren. Diese europäische Ordnung funktionierte bis in die frühen Jahre des 20.Jahrhunderts leidlich. Daher rührte auch die leichtfertige Zuversicht, die Julikrise 1914 meistern zu können. Doch mittlerweile hatte sich das Staatensystem, in dem jeder für jeden koalitionsfähig war, zu einem System zweier Blöcke verändert, die sich um England und das Deutsche Reich gruppierten und sich seit 1907 (Ende der britisch-russischen Rivalität im Abkommen über Persien) ziemlich erstarrt in ihren Bündniszwängen gegenüberstanden.
Der Erste Weltkrieg, dessen Ausbruch die Europäer insgesamt überraschte und erbitterte, wurde zu einem heftig ideologisierten Kampf der Kulturen und politischen Systeme. Die Feinde sprachen sich wechselseitig die Zugehörigkeit zur gleichen europäischen Gemeinschaft ab. In ihren gereizten Polemiken verloren die Begriffe Europa, Europäer und europäisch jeden allgemeinverbindlichen Sinn. Die Europäer bekämpften einander als totale Feinde in einem totalen Krieg, der es ihnen unmöglich machte, zu einem Frieden aufgrund vernünftiger Kompromisse zu finden. Auf der Friedenskonferenz in Paris 1919–20 wurden die Verursacher des Krieges– das Deutsche Reich und seine Verbündeten– rechtlich verantwortlich gemacht für dessen umfassende Folgen. Kaiser WilhelmII. war als Kriegsverbrecher moralisch disqualifiziert und mit ihm das Volk und der Staat, den er repräsentierte, wobei eher Preußen als das Reich gemeint war.
Die Alliierten setzten die Ideologisierung ihres Krieges in der Moralisierung ihres Sieges fort. Sie handelten bewusst ganz anders als die klassischen Diplomaten im Wien des beginnenden 19.Jahrhunderts, allerdings auch unter dem Druck einer Macht, die um 1814 noch keine Großmacht gewesen war, nämlich der öffentlichen Meinung, gegen deren Wünsche oder Befehle nicht mehr regiert werden konnte. Die Friedensverträge von Paris veranschaulichen auf beinahe dramatische Weise, dass zwar das Bedürfnis nach Frieden vorhanden war, nicht aber mehr die Fähigkeit, einen Frieden auszuhandeln. Das Konzert der Mächte ließ sich nicht mehr erneuern. Österreich-Ungarn, das übernationale Reich, existierte nicht mehr, und das andere europäische Reich der vielen Völker, das russische, kämpfte nach der Oktoberrevolution 1917 in Bürgerkriegen, in die sich längst Tschechen, Polen, Deutsche und Franzosen eingemischt hatten, um seine Existenz. Das dritte Großreich, das Osmanische, wurde gerade endgültig von Engländern und Franzosen zerschlagen. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker sollte fortan zum ordnenden Prinzip werden für ein Europa als Völkerbund neuer Art. In diesem Sinne führte der Weltkrieg, der sich an Balkanfragen entzündet hatte, zu keinem Frieden, sondern zur Balkanisierung Europas. Keiner der Staaten, vor allem nicht die neuen, war nach der Pariser Friedenskonferenz mit seinen Grenzen zufrieden. Außerdem waren die meisten keine reinen Nationalstaaten, weil sie Minderheiten besaßen, die überhaupt nicht zu der von ihnen nicht ersehnten Nation gehören wollten. Diese neuen Auseinandersetzungen weckten wenig Zuversicht, dass es sich bei dem vorläufigen Frieden um mehr handelte als eine Abwesenheit des Krieges.
Die Revision der Pariser Verträge begann sofort; sie schien den meisten Europäern die Voraussetzung dafür zu sein, sich im Wettbewerb der Nationen Vorteile zu verschaffen zum Nachteil der Nachbarn. Das war keine beruhigende Vorstellung. Eine Idee von Europa als geistiger, historisch begründeter Gemeinschaft wurde vermisst, doch sie wiederzugewinnen gab es nur halbherzige Bemühungen. Den Vorrang hatten stets die aufgeregten und unbefriedigten Nationen, die zusammen kein in seiner Vielfalt einiges Europa darstellten, sondern, im Gegenteil, die vollständige Unordnung und Abwesenheit übergeordneter Ideen. Deshalb ist und bleibt der Erste Weltkrieg die entscheidende Katastrophe in Europa, von welcher der Kontinent sich nie mehr erholte. Seine Folgen sind bis heute nicht überwunden. Europa ist weiterhin gespalten, weil Russland nicht dazu gehört. Der Balkan hat noch immer nicht zur Ruhe gefunden, und statt der Kriege aus orientalischen Anlässen seit 1821, vom Unabhängigkeitskrieg der Griechen bis zu den Balkankriegen, gibt es nun eine Krise nach der anderen im Nahen Osten und auf der afrikanischen Seite des Mittelmeers. Vor diesem fragwürdigen Hintergrund wirkt das Friedenswerk des Wiener Kongresses um so eindrucksvoller. Es hätte beinahe so etwas wie Glück nach Europa gebracht, wäre dieses Wort nicht, wie Jacob Burckhardt bedauernd feststellte, ein entweihtes, durch gemeinen Gebrauch abgeschliffenes Wort und deshalb unbrauchbar für die Welt als Geschichte geworden.
Die französische Revolution gegen die Vernunft der Staaten
»Was für ein Riesenwerk war (es), diesen unter dem Namen des Westfälischen berühmten, unverletzlichen und heiligen Frieden zu schließen.« Mit diesen Worten leitete Schiller am 21.September 1792 den letzten Absatz seiner Geschichte des Dreißigjährigen Krieges ein. Auf dem im Oktober 1648 abgeschlossenen Friedensvertrag, einem Riesenwerk, beruhten noch immer die Verfassung des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation und dessen Stellung in Europa. Zugleich konstituierte sich seitdem Europa– mit den Worten Schillers in seiner Jenaer Antrittsvorlesung vom 26.Mai 1789– als zusammenhängende Staatengesellschaft. Das Corpus Europaeum, wie die erste europäische Gemeinschaft auf Latein, der Sprache der Diplomaten, genannt wurde, hob den unvermeidlichen Wettbewerb der souveränen Staaten nicht auf. Die Bewegungsfreiheit gehörte weiterhin selbstverständlich zum souveränen Staat. Doch der Egoismus sollte– wie jede Leidenschaft– von nun an nicht übertrieben werden und nicht weiter die Tranquillität, die relative, immer neu zu modifizierende Ruhe und Ordnung Europas, gefährden oder grundsätzlich in Frage stellen. Unter dem Schutz dieser Tranquillität konnte jeder seinen Vorteil finden, vorausgesetzt, er folgte in dieser »großen Familie«, wie die Europäer ihre Gemeinschaft allmählich verstanden, den ungeschriebenen Geboten »allgemeiner Staatensympathie«, von der immer wieder die Rede war und die von den europäischen Staaten verlangte, ihre Interessen nicht rücksichtslos geltend zu machen, sondern auf die Balance, auf das stets labile Gleichgewicht der Kräfte zu achten. Die Tugend stoisch-philosophischer und christlicher Weltvernunft, Maß zu halten, wurde auch zu einer politischen und damit zum Ausdruck der raison d’État, der Staatsräson.
Der Menschenfreund, Europäer und Historiker Schiller sah das europäische Staatensystem, »dieses mühsame, teure und dauernde Werk der Staatskunst«, noch nicht in Gefahr, obschon mittlerweile österreichische und preußische Truppen in Frankreich einmarschiert waren, dessen Regierung Österreich und Preußen am 20.April bzw. 8.Juli 1792 den Krieg erklärt hatte. Goethe begleitete seinen Herzog Karl August von Sachsen-Weimar-Eisenach auf einem kurzen, unentschlossenen Feldzug, der nach der Kanonade bei Valmy am 20.September 1792, einem insgesamt wenig auffälligen Ereignis, überstürzt abgebrochen wurde. Während Schiller letzte Bemerkungen über den großen Krieg am Schreibtisch verfasste, befand sich Goethe, gleichfalls ein Humanist und Weltbürger, inmitten unübersichtlicher Ereignisse, die von der Propaganda des revolutionären Frankreich allerdings sogleich überhöht wurden. Die Kanonade bei Valmy und der Rückzug der deutschen Truppen kamen während des immer heftiger werdenden Bürgerkriegs in Frankreich der Revolutionsregierung ungemein gelegen, um für die Republik zu werben, die am 21.September 1792 ausgerufen worden war. Für die militarisierten Republikaner begann damit eine neue Epoche im Kampf gegen die Despoten und Tyrannen im übrigen Europa, die Feinde der Freiheit und der einzig freien Nation. Zum äußeren Zeichen einer neuen Ordnung der Dinge schaffte das revolutionäre Frankreich am 22.September 1792 den alten Kalender ab. Es begann das Jahr 1 der neuen, revolutionären Zeitrechnung. Jeder konnte sich gratulieren, dabei gewesen zu sein, ob in Paris oder Valmy.
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Für Napoleon begann mit Valmy der unwiderstehliche Siegeszug der französischen Truppen. Er erhob Valmy zum unvergesslichen Gedächtnisort, an dem ein junges Frankreich das alte Europa zum ersten Mal erfolgreich herausgefordert hatte. Dem General Franz Christoph Kellermann, einem adligen Elsässer sächsischer Herkunft, der kaum Gelegenheit gefunden hatte, sich bei diesem fortan unvergesslichen Ereignis auszuzeichnen, verlieh Napoleon als Kaiser den pompösen Titel »Herzog von Valmy«. Den später wieder eingesetzten Bourbonen, die sehr sorgsam mit den neuen nationalen Mythen umgehen mussten, dienten Kellermann und sein Sohn– der zweite Herzog dieses Namens– als nationale Helden. Die feierliche und programmatische Standeserhöhung machte eine historische Bagatelle endgültig zum dauernden Besitz der Grande Nation. Dass die Taten ihrer großen Armee in jenen Tagen des Ruhms Europa allmählich aus dem Gleichgewicht brachten, ahnte 1792 noch niemand. In den folgenden 23 Jahren kam Europa nicht mehr zur Ruhe. Erst der Sieg über Napoleon am 18.Juni 1815 in der Schlacht bei Belle-Alliance– für die Engländer Waterloo– wenige Kilometer südlich von Brüssel beendete die längste Kriegsphase in der europäischen Geschichte nach dem Dreißigjährigen Krieg. Diese neuerliche fast ununterbrochene Folge von Kriegen war noch fürchterlicher als jene zwischen 1618 und 1648, weil sie erstmals den gesamten Kontinent von Gibraltar bis zum Ural erfasste und das alte europäische Staatensystem vollständig vernichtete. Das Riesenwerk des Westfälischen Friedens wurde von Franzosen aller möglichen politischen Richtungen, die sich wie Riesen vorkamen, als kindisches Spielzeug missachtet und zerbrochen. Das war die unmittelbare Wirkung der Revolution auf die Gemeinschaft europäischer Staaten.
***
Diese historische Erfahrung hatte Goethe hinter sich, als er zwischen 1819 und 1822 seine Erinnerungen an die Kampagne in Frankreich 1792 verfasste und dabei sein ironisches Spiel mit der nun abgeschlossenen Mythisierung Valmys treiben konnte. Schließlich war er ebenso dabei gewesen wie der erste Herzog von Valmy, der 1820 gestorben war. Am Abend der Kanonade will Goethe mit einigen Offizieren fröstelnd herumgestanden haben. Nach eigener Aussage erquickte und erheiterte der Minister und Beamte in bürgerlicher Kleidung in der Regel die uniformierten Gefährten mit seinen militärisch knappen Sprüchen, auf die sie immer neugierig waren. Ratlos und unmutig darüber, dass der kommandierende General, Fürst Karl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig-Wolfenbüttel, sich auf keine Schlacht eingelassen hatte und den Feldzug ohnehin als zu riskant einschätzte, baten sie den witzigen Weimarer Hofmann um sein Urteil. Geistreich wiederholte Goethe in seinen Erinnerungen, was revolutionäre Propagandisten und Napoleon– 1792 noch begeisterter Republikaner, weil die Republik kriegerisch gesinnt war– viel früher ähnlich gesagt hatten: »Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen!« Die Republikaner und Napoleon liebten Pathosformeln als Werkzeuge der Macht des Schicksals, das am Tag des Ruhms, der in der Marseillaise beschworen wird, in die Geschichte einbricht und das Hier und Heute dem Alltag entrückt. Goethe hingegen misstraute stets der Berufung auf die Geschichte im unübersichtlichen Durcheinander der rasch wechselnden Zustände. Ihn stimmten die Turbulenzen der sogenannten Geschichte stets verdrießlich.
Die Tage vor und nach Valmy schildert er als Folge widriger Begebenheiten. Es regnet ununterbrochen, alle frieren in ihren nassen Kleidern, im aufgeweichten Boden bleiben die Fuhrwerke stecken, stürzen die Pferde, es gibt wenig zu essen und zu trinken, aber schreckliche Gerüche erinnern an hygienische Trostlosigkeiten, die Krankheiten und Seuchen ankündigen. Was die Leute, auch ein Kaiser, als welthistorisches Ereignis feiern, das schildert der alte Goethe als eine schaurig-banale Farce aus Schmutz, Dreck und Gestank, als nahezu lächerlichen Zustand, von dem nur der Schlaf in rasch ausgehobenen Gräbern befreit: »Der Herzog von Weimar selbst verschmähte nicht eine solche voreilige Bestattung.« Goethe, der Ironiker und Historiker, Augenzeuge eines angeblich historischen, erhabenen Augenblicks, vergegenwärtigt ihn, wie er wirklich war, als »verworrenen Quarck«, mit dem die Geschichte so oft aufwartet und viele verwirrt. Unter solchen Eindrücken schien es ihm– wie übrigens jedem im Hier und Heute beschränkten Menschen– besonders ratsam zu sein, sich nicht historisch zu begreifen, sondern lieber ungewohnte Licht- und Naturphänomene zu beobachten, seine Aufmerksamkeit also den nächstliegenden Erscheinungen zuzuwenden. Der Mensch könne nicht teilnahmslos wie die Natur bleiben, die im revolutionären Schreckensjahr 1794 mit einem vorzüglichen Wein aufwartete, aber er solle doch zusehen, nicht außer sich zu geraten, überwältigt von den ihn bedrängenden Zufällen im Dasein. Vernunft sei überall zugegen, gerade wenn die Geschichte seit 1789 die gebildetste Nation Europas in einen dauernden Taumel versetze, der sie um jede Besinnung und um den Verstand bringe, was Goethe ziemlich irritierte.
Goethe, aus dem Reich stammend, aus Frankfurt am Main, wo die Kaiser gekrönt wurden, lebte in den Vorstellungen der Ordnung, die der Westfälische Friede ermöglicht hatte. Wie Schiller freute er sich daran, dass ein weltbürgerliches Band alle denkenden Köpfe verknüpfte und die Staaten und Nationen aufgehört hatten, sich in feindseligem Egoismus voneinander abzusondern. In solch frohgemuter Einschätzung ihrer Zeit unterschieden sich die beiden Dichter in nichts von den Königen und Staatsmännern Europas. Die Revolution in Frankreich verursachte ihnen keinen Schüttelfrost und raubte ihnen nicht den Schlaf. Kaiser JosephII. und sein Nachfolger LeopoldII., Brüder der französischen Königin Marie Antoinette, begrüßten die dringend notwendigen Reformen im heillos heruntergewirtschafteten Nachbarreich. Mit einer Revolution von oben versuchten sie die Strukturen in ihren Erblanden zu verändern. Kaiser Joseph ungestüm, Leopold als Großherzog der Toscana umsichtiger. Der spätere Kaiser, der mit Benjamin Franklin korrespondierte und die Verfassung der Vereinigten Staaten aufmerksam studiert hatte, war der Überzeugung, dass die traditionellen Monarchien sich überlebt hatten und erheblicher Verfassungsänderung bedurften, um in der Zukunft ihren wachsenden Aufgaben gerecht zu werden.
Für politische Schriftsteller, Beamte, und Offiziere in deutschen Verwaltungsstuben bot die französische Bewegung deshalb wenig Überraschendes. Höchstens die mit ihr verbundenen Tumulte bargen den Reiz des Außergewöhnlichen. Andererseits bestätigten sie nur, dass Franzosen ohnehin leichtsinnig sind und auf grelle Effekte setzen, statt, wie die Deutschen, bedächtig eins aus dem anderen zu entwickeln. Diese fühlten sich den welschen Akteuren und deren wortreichen Auftritten in einer Revolution als großem Welt- oder Schmierentheater unendlich überlegen. In Goethes Dramen-Fragment Die Aufgeregten, 1793 begonnen, beruft sich sein Revoluzzer Breme, ein– allerdings deutscher– Phrasendrescher, der mit chirurgischen Eingriffen ein kleines Fürstentum retten will, auf die Gesinnungen Josephs und des großen Friedrich, »welche alle wahren Demokraten als ihre Helden anbeten sollten«, Gesinnungen, die auch sein aufgeklärter Regent teile. Beide Reformer waren nie und nimmer Demokraten. Darin liegt das Missverständnis des Maulhelden Breme, der im Übrigen gar nicht gebraucht wird, wenn der Fürst schon ein wahrer Demokrat ist. Aber Goethe, jetzt als Minister und Beamter, gedachte an anderer Stelle der Bedeutung Friedrichs des Großen und Kaiser JosephsII. für die Deutschen, die wegen dieser Reformer und Staatsdiener gar nicht auf Frankreich hingewiesen werden müssten, das mit seinen »Aufgeregten« vernünftige Deutsche nur auf Abwege locke. Die Revolution hielten die Brüder und Neffen von Marie Antoinette für eine innere Angelegenheit Frankreichs, die sich des Einspruchs anderer Staaten entziehe, weil es eine Missachtung der französischen Souveränität bedeutete, sich dort einzumischen. Die Verwandtschaft spielte keine Rolle mehr. Auch die Kaiser in Wien waren längst zu Organen des Staates geworden und standen nicht mehr über ihm.
Ihre Staatsvernunft sagte ihnen freilich auch, dass ein durch Unruhen geschwächtes Frankreich für sie nur vorteilhaft sein könne, weil es für einige Zeit nicht in der Lage wäre, österreichischen oder deutschen Interessen in der europäischen Politik zu schaden. Ähnlich dachten die übrigen Höfe und Kabinette. Der britische Premierminister William Pitt der Jüngere versicherte dem Parlament im Februar 1792, dass es niemals in der Geschichte Englands eine solche Zeit gegeben habe, die es vernünftigerweise erlaube, mit wenigstens 15 Jahren allgemeinen Friedens zu rechnen. Pitt bestätigte mit dieser naiven Gewissheit nicht die übliche Ahnungslosigkeit der Briten– of Europe but not in Europe. Er kannte Europa schlecht, aber er sprach dennoch wie die meisten Europäer, die sich von den Ereignissen in Frankreich weder bedroht noch zum Handeln aufgerufen fühlten. Sie lebten in der besten aller Welten, in einer sehr vernünftigen. Einen Kultur- oder Zivilisationsbruch konnten sie sich gar nicht vorstellen. Es konnte immer nur weitergehen, hin zu mehr Licht, das allmählich sämtliche noch verbliebenen Dunkelheiten aufhellte. »Die Strahlen der Sonne vertreiben die Nacht,/Zernichten der Heuchler erschlichene Macht«, wie Sarastro in Mozarts Zauberflöte zum ersten Mal am 30.September 1791 im Wiener Freihaustheater sang, fast ein Jahr vor Valmy und den französischen Bemühungen, die Österreicher als Heuchler und Söhne der Finsternis zu vernichten.
Der preußische Feldmarschall Karl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig-Wolfenbüttel war einem Krieg von vorneherein abgeneigt. Ihm schien es am besten, an der französischen Grenze zu verweilen und abzuwarten, wie die Franzosen sich in ihrem Bürgerkrieg selbst ruinierten und in den Staatsbankrott stürzten. Doch damit konnte er sich bei Preußens König Friedrich WilhelmII. nicht durchsetzen, auch nicht beim neuen Kaiser FranzII., Nachfolger des 1792 nach nur zwei Herrschaftsjahren verstorbenen LeopoldII. Französische Emigranten, die, wie seitdem alle Emigranten verschiedenster Systeme, ihren Einbildungen folgten, versicherten den Monarchen, dass die Franzosen sie als Befreier empfangen und ihnen sofort alle Festungen ausliefern würden. Karl Wilhelm Ferdinand beobachtete die Revolution mit Sympathie und misstraute den Emigranten und ihren Luftschlössern. Die Jakobiner hatten sogar zeitweilig erwogen, ihn als Marschall anzuwerben. Ihm schien Vorsicht geboten. Die beiden Monarchen, zu einem Krieg genötigt, der ihnen lästig war, dachten an einen der üblichen Kabinettskriege, bei denen es bald zu einer Verständigung käme. Franzosen hatten im Elsass und in Lothringen die Rechte deutscher Fürsten verletzt, Abmachungen des Westfälischen Friedens einseitig aufgekündigt, außerdem unbesonnen den Krieg erklärt. Franz wie Friedrich Wilhelm hatten Gründe, sich zu wehren, aber gar kein Grund, einen Feldzug bis zur bedingungslosen Kapitulation eines Volkes zu führen. Das erklärten sie feierlich der französischen Nation und deren Repräsentanten, zu denen bei Kriegsausbruch noch der französische König gehörte. Die Monarchen stritten für das Reichsrecht und die Gültigkeit internationaler Verträge, sie wollten keine Eroberungen machen oder in Frankreich eine Verfassung umstürzen, die LudwigXVI. gebilligt und beschworen hatte. Sie kämpften nicht für das monarchische Prinzip und eine uneingeschränkte Macht der Krone. Ihnen ging es um die Ruhe in Europa, die auf Verträgen beruhte. Die Revolutionäre erkannten freilich Verträge wie den Westfälische Frieden, die nicht vom Volk gebilligt waren, nicht an. Damit entzogen sie dem europäischen Staatensystem, wie es bislang bestand, seine Berechtigung und stellten es grundsätzlich in Frage.
Es waren die Revolutionäre und nicht die Monarchen, die den Krieg von Anfang an ideologisierten und moralisierten, und zwar auf eine für Europa längst ungewohnte Art. Sie führten den Krieg wie einen heiligen Krieg, ähnlich den Konfessionskriegen vor 1648, wobei die innerweltlichen Heilslehren wie religiöse Erlösungs- und Befreiungslehren propagiert wurden. Der Feind ist nicht mehr gleichberechtigt wie der Gegner im Duell. Österreicher haben unreines Blut, sind Tiger ohne Mitleid, wilde Tiere, eine Horde von Sklaven, eben unmenschliche Söldner gemeiner Despoten, die sich verschworen haben, die Franzosen zu knechten und um ihre Freiheit zu bringen, wie es in der Marseillaise heißt. Ein solcher Feind ist der Böse und Ungerechte, der absolute Feind; der Krieg wird darüber zur Strafaktion, zum gerechten Krieg, in dem alles erlaubt ist, um den Bösen und Ungerechten zu vernichten. Der Feind ist ein Verbrecher, ein Krimineller, ein Sozialschädling, ein Unmensch, ein Untermensch gar, wenn er brüllend wie ein wildes Tier ins süße, menschliche Frankreich einbricht. Zum schrecklichsten Kriegsverbrechen– ein völlig neues Delikt– werden unter solchen Voraussetzungen die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, welche erst die Revolutionäre als Straftaten entdecken. Diese kann nur der Ungerechte begehen, weil der Gerechte, der Franzose, selbst wenn er mordet, sengt und brennt, als Rächer der verletzten Menschenrechte und Menschenwürde handelt. Als solcher muss er danach streben, den und das Böse zu vernichten, auszulöschen, zu zermalmen, zu vertilgen oder auszurotten, auf dass der Gute und das Gute, die gerechte Sache triumphiere. Was Gut und Böse ist, bestimmt der Gerechte. Der Krieg des Gerechten als gerechter Krieg hat unter diesen Voraussetzungen unweigerlich eine Tendenz zum totalen Krieg. Gerade um den Krieg zu zähmen und zu rationalisieren, verzichteten die Europäer seit 1648 darauf, sich wechselseitig moralisch in Frage zu stellen. Der Krieg galt als die Ultima Ratio der Politik, wenn alle anderen Mittel erschöpft waren. Es war überhaupt nicht unehrenhaft oder gar ein verbrecherischer Akt, statt der Argumente die Waffen sprechen zu lassen.
Diese für das Zusammenleben der Völker sehr nützliche und bequeme Übereinkunft setzten die Revolutionäre außer Kraft. Könige können nur Tyrannen, ungerecht und unmenschlich sein. Denn die Einzelherrschaft ist ungerecht, weil Herrschaft von Menschen über Menschen überhaupt ungerecht ist und der freien Selbstbestimmung des guten, von Natur aus gerechten Volkes widerspricht. Die Franzosen haben das Glück, als Befreite und Erleuchtete den übrigen Menschen fast zweitausend Jahre voraus zu sein. Davon waren Danton und Robespierre überzeugt. Dieser politisch-moralische Vorsprung ist allerdings kein Privileg. Die Revolution kämpft schließlich gegen Privilegien. Er verpflichtet vielmehr dazu, die befreiende, frohe Botschaft selbstlos, wie einst die christlichen Missionare, allen Völkern mitzuteilen und unter ihnen Kräfte zu wecken, um sich ihrer Fesseln und Ketten kühn zu entledigen. Frankreich wird unter solchen Voraussetzungen zum Erlöser von allem Übel. Unter Umständen muss es– wie Danton 1791 stolz bekannte– im Namen der Freiheit als todbringender Engel auftreten. Denn Frankreichs edelste Aufgabe besteht darin, blutrünstige Wilde und unterentwickelte Barbaren daran zu hindern, gegen die Menschlichkeit und die Menschenrechte zu verstoßen, deren selbstlos-energischer Hüter die französische Republik ist. Aus der kulturellen Hegemonie soll eine sittlich-politische werden. Europa braucht kein Gleichgewicht der Mächte und Kräfte mehr, mit seinen moralischen Unzulänglichkeiten, wenn es sich auf Frankreich verlassen kann, den Schutz und Schirm aller Bedrängten und Verfolgten, den Hort von Freiheit und Mitmenschlichkeit.
Im Frühjahr 1792 warnte Maximilien Robespierre noch davor, den Völkern die Freiheit mit den Waffen zu bringen, schließlich sehne sich niemand danach, von Besatzungsregimen befreit zu werden. Aber schon bald waren sich die Revolutionäre gewiss, dass Frankreich nur Ruhe und Sicherheit finden könne, wenn es umgeben wäre von Nachbarn, die sich in ihrer politischen Organisation nicht grundsätzlich von der französischen unterschieden. Eine Republik kann nur in der Gemeinschaft von Republiken Ruhe finden. Daher also Krieg den Monarchen, den Königen, damit endlich Frieden in den Hütten herrsche, ein letzter Krieg, um den Krieg überhaupt abzuschaffen. Denn freie Menschen in freien Gesellschaften führen keine Kriege mehr. Sie freuen sich als Menschen unter Menschen an ihrer gemeinsamen Menschlichkeit. Eine äußerste Anstrengung ist allerdings notwendig. Das sah zuletzt widerstrebend auch Robespierre ein. In diesem Krieg gegen Österreicher und Preußen, bald gegen alle Deutschen, Belgier oder Holländer, befand sich jeder Franzose im Einsatz, wie es die Nationalversammlung ein Jahr später, am 23. August 1793, mit der »levée en masse« bestimmte. Jeder ist auf seine Art Soldat. Die jungen Männer kämpfen an der Front, die älteren produzieren die Waffen und übernehmen den Transport, die Frauen weben, schneidern und dienen als Krankenschwestern, Kinder verfertigen Mullbinden, und die Greise machen mit Reden allen Mut, indem sie die wehrhafte Demokratie preisen und den Hass auf die Monarchen schüren. Es ist die totale Mobilmachung der gesamten Gesellschaft für einen totalen Krieg, in dem es keinen Unterschied mehr gibt zwischen dem Kombattanten und dem friedlichen Bürger. Wer nicht kämpft oder sich nicht erfassen lässt, gerät in den Verdacht, ein Verräter zu sein.
Erst recht im besetzten Gebiet, wo überall Verrat und Niedertracht lauern, ist jeder ein Feind, außer den beflissenen Kollaborateuren. Die humanitären Freiheitsreden wichen schon in einer Erklärung vom 15.Dezember 1792 der Selbstermächtigung, jeden, der sich gegen die republikanischen Prinzipien Frankreichs wehrte, als Feind und Verräter zu behandeln. Toleranz kann jenen nicht gewährt werden, die keine Toleranz üben. Die Toleranten bestimmen die Grenzen der Toleranz. Besiegte dürfen sich unter solchen Voraussetzungen nicht in freier Selbstbestimmung eine Verfassung geben. Sie müssen sich strikt dem französischen Modell anpassen, wie es ihnen die Vertreter der Besatzungsmacht erläutern. Denn weicht unter Umständen ein Nachbar ab vom Pfad der revolutionären Tugend, wie Franzosen ihn verstehen, dann erlaubt er womöglich giftigen Schlangen freie Bewegung, vor denen sich Franzosen schützen müssen, indem sie diese sofort vernichten, um nicht zu ihrem Opfer zu werden. Brüderliche Nachsicht sei nur Schwäche und Torheit. Das rief unter donnerndem Applaus Henri Jean-Baptiste Grégoire, ein ehemaliger Priester, in der Nationalversammlung. Europa sah sich mit einer völlig neuen Gefahr konfrontiert: der revolutionären Diktatur im Namen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, im Namen der Republik.