Der Wilde Freiger (Historischer Roman) - Roland Betsch - E-Book

Der Wilde Freiger (Historischer Roman) E-Book

Roland Betsch

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Beschreibung

In 'Der Wilde Freiger' von Roland Betsch tauchen die Leser ein in das Leben und die Abenteuer des legendären Freiheitskämpfers Freiger, der im 16. Jahrhundert in den Alpen für Gerechtigkeit und Freiheit kämpfte. Der historische Roman bietet nicht nur eine spannende Handlung voller Intrigen und Verrat, sondern auch einen Einblick in die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse der damaligen Zeit. Betschs präziser Schreibstil und seine gründliche Recherche machen das Buch zu einer fesselnden Lektüre, die sowohl Unterhaltung als auch historische Bildung bietet. Dieser Roman wird Liebhaber historischer Literatur sowie Leser, die an packenden Abenteuergeschichten interessiert sind, gleichermaßen begeistern. Roland Betsch, selbst Historiker und Experte für die Alpenregion, bringt sein umfangreiches Wissen und seine Leidenschaft für Geschichte in 'Der Wilde Freiger' ein. Seine akribische Recherche und sein Gespür für die Darstellung historischer Figuren und Ereignisse machen das Buch zu einem authentischen und eindringlichen Werk. Durch die Verbindung von Fakten und Fiktion schafft Betsch eine packende Erzählung, die den Leser in die Welt des Freiheitskampfes im 16. Jahrhundert eintauchen lässt. 'Der Wilde Freiger' ist ein Muss für alle, die historische Romane schätzen und einen faszinierenden Einblick in die Geschichte der Alpenregion erhalten möchten.

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Roland Betsch

Der Wilde Freiger

(Historischer Roman)

Wirren um einen Konstruktionswettbewerb

Books

- Innovative digitale Lösungen & Optimale Formatierung -
2017 OK Publishing
ISBN 978-80-272-2449-4

Inhaltsverzeichnis

Vorspiel
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24

Vorspiel

Inhaltsverzeichnis

In der Septembernummer der Zeitschrift »L'Aërophile« stand eine kurze Notiz über das neue französische Jagdflugzeug, die in der ganzen Fliegerwelt Aufsehen erregte. Sie lautet wörtlich übersetzt:

»Der neue Avion de chasse B 22 mit 280 PS Le-Rhône-Maurice-Motor überbot bei der letzten militärischen Flugwoche den amerikanischen Zeitrekord. Die Maschine leistete zehntausend Meter in 17½ Minuten. Der von Maurice verbesserte 280 PS Rotationsmotor übertraf alle Erwartungen und kann als Vollendung des Explosions-Flugmotors angesehen werden. Er lief eine Dauerleistung von 60 Stunden am Stand unter Kontrolle der commission militaire. Beim Flug in größeren Höhen wies der Tachographenstreifen nur einen minimalen Leistungsabfall auf, der praktisch nicht von Bedeutung ist. Mit diesem Rekord wird die amerikanische Zeit bei zehntausend Metern um 6 Minuten, die englische um 6½ und die deutsche um 16 Minuten überboten.«

Diese Notiz war im Augenblick des Erscheinens bereits wieder überboten, denn das amerikanische Zweisitzer-Jagdflugzeug von Greason mit 8-Zylinder-Whitschall-V-Standmotor von 265 Bremspferden kam dieser Zeit bedenklich nahe. In den »Aëronautics« hieß es:

»Auf dem Flugplatz in Chicago machte das neue Zweisitzer-Jagdflugzeug von Greason mit 265-PS-Whitschall seine erste Höhe. Die Maschine stieg in 16¾ Minuten auf 28 000 Fuß. Die Konstruktion des U. S. Army.-Profils wurde auf Grund eingehender Prüfkanalmessungen im Massachusetts Institute of Technology vorgenommen und bestätigte auch in der Praxis die Tatsache, daß mit dem Zweidecker die prozentual dem Gewicht größten Steig- und Geschwindigkeitsleistungen zu erzielen sind. Die großen Hoffnungen, die man in Deutschland auf den Fünfdecker mit doppelter Höhensteuerung und auf den Federflieger setzte, sind damit illusorisch geworden. Die Whitschall-Greason-Maschine, die ihre Leistungen bei der großen New Yorker Flugwoche beweisen wird, dürfte aus dieser Konkurrenz wohl als Siegerin des modernen Zweisitzer-Jagdtyps hervorgehen.«

Der deutsche Michel hatte im Völkermorden des Weltkrieges das Träumen verlernt. Er stand da, einsam und stark. Trotzig, mit gespreizten Beinen trat er in den Kampf und Wettbewerb des Friedens. Er mußte zurückerobern, was er durch jahrelange, stahlharte Friedensarbeit erreicht und was der Krieg ihm zerstört hatte, wie ein rauher Holzfällerstiefel, der in einen Ameisenhaufen tritt.

Kopf hoch und die Hemdärmel geschürzt! In die schwieligen Hände gespuckt!

Hei! wie die Funken stoben!

Ein ungeahnter internationaler Wettbewerb setzte in der Flugzeugindustrie ein. Ein atemraubendes Rennen und Tasten nach Erfolgen, die sich täglich, ja stündlich überboten. Es war nicht zu leugnen, daß Deutschland hier ins Hintertreffen geraten war. Schon im letzten Drittel des Weltkriegs, vor dem Zusammenbruch, konnte sich die deutsche Militärverwaltung nicht verhehlen, daß die feindliche Fliegerwaffe sowohl an Zahl als auch an Güte der einzelnen Typen der deutschen zeitweise überlegen war. Der Deutsche bei seiner Gründlichkeit und fachwissenschaftlichen Präzision bedurfte einer längeren Zeit der einzelnen Fortentwickelungen, und dazu traten die ungeheuren Schwierigkeiten der Materialbeschaffung, die namentlich für die Motorenlieferung sehr oft unangenehme Ueberraschungen brachten. Nur die erstaunliche Organisation der deutschen Fliegerwaffe, die Tüchtigkeit der Flugzeugbesatzungen und die unglaublichsten Anstrengungen der Industrie vermochten es, im Wettbewerb kraftvoll hervorzutreten. Der Deutsche vollbrachte es, denn er wollte es vollbringen.

Die weitaus größten Anforderungen wurden an die Geschwindigkeit und Steigfähigkeit namentlich der leichteren Typen gestellt. Es galt in kürzester Zeit Höhen zu erreichen, von denen man früher nur geträumt hatte, die aber jetzt mit zwingender Notwendigkeit in die Wirklichkeit traten wie eine lebendig gewordene Sage. Der Traum von Jahrtausenden ging hier in kurzer Zeit schaurig schön und düsterdrohend über die gewaltige Bühne des Welttheaters.

In dieser Zeit verfolgte man in Deutschland mit sorgenvoller Miene die großen Erfolge des Auslandes, und die Meldungen der französischen und amerikanischen Zeitschriften zwangen unerbittlich zu Vergleichen mit den deutschen Leistungen. Hier hatte man die wirtschaftlichen und politischen Folgen des großen Krieges noch nicht überstanden und war nicht in der Lage, mit solch ungebrochener Wucht einzusetzen, wie dies namentlich den Amerikanern möglich war. Die neuen deutschen Flugzeuge, die in einer großen Zahl von Typen erschienen, waren zu gründlich, zu durchdacht und unter Grübeln und Rechnen geboren worden. Die deutschen Konstrukteure waren noch zu gewissenhaft, als daß sie einen gewaltigen Sprung in der Vorwärtsentwickelung ohne langwierige Versuche gewagt hätten. So beanspruchte der Werdegang der Flugzeuge zu viel Zeit und Ueberlegung. Trotz aller Schwierigkeiten war es jedoch nach heißem Ringen gelungen, für mehrere Typen einen Rekord aufzustellen. Vor allem war es das deutsche Zweisitzer-Jagdflugzeug von Hans Welker, das eine Zeitlang an der Spitze stand. Es war ein Fünfdecker ohne Verspannung mit doppelter Höhensteuerung und verstellbarer hinterer Flügelzelle, die mit dem deutschen 260 PS Goero-Umlaufmotor ausgestattet bei 240 Kilometern Geschwindigkeit in 28½ Minuten auf 10 000 Metern stieg. Die Septembernummer von »L'Aërophile« meldete jedoch bald darauf eine gewaltige Ueberbietung dieses Rekordes, und auch die amerikanische Greason-Maschine stellte den Welker-Fünfdecker weit in den Schatten.

Da erschien das große Preisausschreiben des deutschen Reichsluftministeriums in den Tageszeitungen. Fabelhafte Preise wurden ausgesetzt für die besten Leistungen der deutschen Flugzeugindustrie. Die Bedingungen schienen für diese Zeit unerfüllbar und phantastisch. Vor allem wurde auch eine genaue Einteilung der verschiedenen Typen vorgenommen, um eine unnötige Zersplitterung zu vermeiden. Eine Trennung zwischen Motoren und Flugzeugen gab es nicht. Im Falle eines Sieges hatten sich Flugzeug- und Motorenfirma in den Preis zu teilen. Es blieb so jede freie Wahl offen und man beging nicht mehr den großen Fehler, die Motorenleistungen und Einheitsgewichte auf der Erde zu prüfen. Flugzeug und Motor gehören zusammen wie Körper und Seele, denn die beste Maschine ist machtlos, wenn man ihr einen auch nur um weniges minderwertigen Motor einbaut.

Durch dieses Preisausschreiben hoffte die Reichsregierung die Industrie zu einer außerordentlichen Kraftprobe anzuspannen, und das war kein Trugschluß.

Vor einer großen Versammlung der Flugzeugindustriellen sprach der Kommandierende der Luftstreitkräfte. Der Schluß seiner Rede lautete:

»Der Krieg hat uns hart gemacht. Er hat uns gerüttelt wie der Herbststurm einen mächtigen Eichwald. Die Zukunft Deutschlands ist seine Arbeit. Meine Herren, sehen Sie nach Frankreich! Sehen Sie nach Amerika und England! Ueberall hat man erkannt, woher der Wind bläst. Und wir sollten nachhinken wie die Kranken, die Krüppel? Sie haben schon Großes geleistet. Ruhen Sie nicht aus auf diesen Lorbeeren, denn sie sind längst wieder verdorrt. Werfen Sie den Kehricht in die Ecke und peitschen Sie Ihre Konstrukteure! Es gibt kein Feiern! Hier habe ich die ›Aëronautics‹ in der Hand. Soll ich Ihnen diesen Satz ins Gedächtnis zurückrufen: Auf dem Flugplatz in Chicago machte das neue Zweisitzer-Jagdflugzeug von Greason mit 265 PS Whitschall seine erste Höhe. Die Maschine stieg in 16¾ Minuten auf 28 000 Fuß.

Das können wir auch, meine Herren! Warum sollen wir das nicht können! Wir wollen es sogar überbieten, wir müssen es überbieten! Erschrecken Sie nicht vor den Bedingungen, sie sind nicht unerfüllbar. Es heißt nur festgewappnet an sie herantreten. Mit nerviger Faust, wie ein kraftstrotzender Jäger, der einen Wolf erwürgt. Ihnen allen aber, meine Herren, gebe ich mit auf den Weg jenen einfachen Satz aus dem altbekannten Kinder-Struwwelpeter, der sich jetzt zu monumentaler, prophetischer Größe ausgewachsen hat. Und dieser Satz sei Ihr Leitstern und das Grundprinzip Ihres ehrlichen deutschen Schaffens:

Hans, guck' in die Luft!«

So begann die Jagd.

Die große Jagd nach dem Erfolg.

Kapitel 1

Inhaltsverzeichnis

Hans Welker saß auf der Terrasse des Hotels Stefanie in Baden-Baden. Mit zusammengekniffenen Augen schaute er prüfend in den sternübersäten Septemberhimmel. Im Osten stieg der Jupiter über die dunkle Silhouette der Schwarzwaldtannen.

Eine bunte Gesellschaft, in der vornehme Eleganz und aufdringliche Dekadenz sich begegnete, plauderte an den kleinen, runden Marmortischen. Herren im Smoking mit verkalkten Gesichtern und Pomadenfrisuren tranken Pilsner aus lächerlich hohen Stengelgläsern, papageibunte Damen mit halb talentvoller, halb erzwungener Koketterie schlürften Punsch Romain aus Strohhalmen und kosteten phantastische Likörmischungen mit einem überflüssigen Aufwand von Glasgeschirr. Sportleute mit braunen Gesichtern und nervösem Muskelzucken stritten eifrig über ihre Meinungen und zogen den Zigarettenrauch in die Lunge. Offiziere saßen da, mit übergeschlagenen Beinen, und malten Bleistiftskizzen auf den Marmortisch.

Die Musik spielte die große »Leonoren«-Ouvertüre. Etwas eckig und mit fühlbarem Mangel an Streichern.

»Wissen Sie, wer der Schmächtige ist, dort am Tisch?« sagte eine strohblonde Dame mit mächtigem Reiherhut zu ihrem Begleiter und schaute halb über die Achsel. »Dort am dritten Tisch bei der Säule. Im Sportanzug mit den gelben Wickelgamaschen!«

Der Herr strich die Zigarrenasche ab, hob den Blick, musterte, schüttelte den Kopf und rief nach dem Ober.

»Das ist Hans Welker!« Sie betonte es auffallend.

»So! So! Und was weiter?«

»Na, hier lesen Sie, der Gefürchtete!«

Sie reichte ihm das Programm des großen Flugmeetings von Baden-Baden. »Hier, Nummer 13. Der neue Fünfdecker! Er wird morgen fliegen.«

»Was ist das für ein spinnendürres Gestell?«

Die Ouvertüre war zu Ende. Einige klatschten. Das Stimmengewirr wurde deutlicher vernehmbar, Gläser klirrten.

»He, Junge, eine Berliner Zeitung!«

Ein elegantes Paar kam durchs Portal. Sie in gelber Crêpe-de-chine und einer federleichten Pelzstola, er im Frack, mit ausdruckslosem Gesicht. Sie trippelte, er trat zuerst mit den Sohlen auf und ließ die Gummiabsätze nachfolgen. An einem Tisch trafen sie Bekannte.

»Ich finde, daß man heute besondere Leistungen nicht geboten hat.«

»Ich hatte mir eigentlich, hem, hem, etwas mehr Akrobatik vorgestellt. Was kümmern mich die ewigen Höhenrekorde!«

»Purzelbäume ist das Richtige für mich.«

»Man hat, hem, hem, zu stumpfe Nerven!«

»Uebrigens, morgen fliegt Hans Welker!« Das klang doch etwas nach Sensation.

Wieder setzte das Orchester ein. Der »Puppenfee«-Walzer, wiegend in den Geigen und mit übertriebener Rhythmik in den Bässen.

Hans Welker streckte die Beine unter den Tisch und trank Mineralwasser. Er war dünn und schmächtig wie ein Helmreiher. Das hagere Gesicht war bartlos, mit etwas vorstehenden Backenknochen und grob wie aus Holz geschnitzt. Vor sich hatte er eine Anzahl Barogramme auf dem Tisch liegen und studierte die Höhenleistungen. Es waren die Streifen sämtlicher acht Höhenflüge, die heute geflogen waren. Das Material hatte ihm einer seiner Monteure durch Winkelzüge verschafft.

7000 in 19¾ Minuten, das stimmte doch! Er rechnete noch einmal nach. Langsam zog er die Stirn hoch, daß sich zwei Längsfalten bildeten und die beweglichen grauen Augen hervorkamen.

»Gute Leistung,« kaute er vor sich hin, »aber immer noch nichts. Pah! immer noch nichts! Wissen Sie, meine Gipfelhöhe . . .« Er wollte einem Gegenüber eine Rede halten und merkte im Reden, daß er allein war. Hans Welker hatte stets Zuhörer und verlor nie die Pose. Ein einstudiertes Lächeln war auf seinem Gesicht, wobei er den Mund halb öffnete, daß die Zähne des vorstehenden Oberkiefers etwas vor die Lippen traten.

Es war ja lächerlich, rein lächerlich! Was brachte das Ausland für Zeiten! Das mußte in Deutschland doch auch gehen, es mußte gehen! Er rollte die Zunge, daß sie wulstartig sich zwischen seine Lippen schob. Dann nahm er, halb mit Ekel, einen schlürfenden Zug aus dem dünnen Wasserglas und spielte mit den Fingern auf dem Tisch. Seine Hände waren mager und knöchern, die Finger zu lang, und er konnte die vordersten Glieder bewegen, so daß die Hände etwas Krallenähnliches bekamen . . .

Hans Welker flog. In Gedanken saß er in der Maschine und hielt den Steuerknüppel. Leicht und nur mit zwei Fingern. Die Unterarme lagen auf den Knien. Er horchte auf den 220pferdigen überkomprimierten M. S.-Umlauf-Motor, nahm sechs Zähne Gas fort, da der Motor zuviel Touren machte, und spielte mit dem Höhensteuer.

Höher stieg er, von 4000 auf 5000. Auf 8000. Aufmerksam und mit lässiger Ruhe beobachtete er den Tourenzähler. Noch war kein Leistungsabfall festzustellen. Doch! Nun ließ er zwanzig Touren nach. Hans Welker öffnete die Drossel um zwei Zähne . . .

Rauschend setzte das »Carmen«-Vorspiel ein. Der Dirigent bog sich wie eine Silberpappel im Herbstwind. Die Bogenlampen zuckten. Am Nebentisch stießen sie mit den Sektgläsern an. Hans Welker ließ den Kopf hängen und verbog die vorderen Glieder seiner Finger.

In solchen Augenblicken war die interessante Häßlichkeit seiner Züge ganz unverhüllt.

»Sehen Sie doch Hans Welker an!« sprach die strohblonde Dame zu ihrem gelangweilten Begleiter.

»Ja! So lassen Sie ihn doch endlich!«

»Aeh, er ist ein Scheusal!« Sie warf einen begehrlichen Blick nach dem Nebentisch.

»Ein Scheusal?« erwiderte er und zog den Mund schief. »Ein Scheusal? Gnädigste sind doch nicht in den Luftkünstler verschossen?« Er gähnte über diese Erkenntnis der Frauenseele und langte nach seiner Zigarrentasche.

Hans Welker war mittlerweile auf 12 000 gestiegen, nahm das Gas fort und legte sich in eine steile Rechtsspirale. Den Kopf mit dem platten, festgelegten Scheitel hielt er geneigt und blinzelte mit den grauen Augen in das Orchester. Vor ihm ließ ein Kellner eine Eisschokolade fallen. Das Klirren schreckte ihn aus seinen Träumen.

»Sie sind doch ein Idiot!« sprach er bestimmt und rein sachlich zu dem Kellner.

Gegen diesen Tonfall war eine Widerrede nicht möglich. Das war die einfache, nackte Feststellung einer Tatsache. Der Kellner stand immer noch da, grenzenlos verwirrt, als erwarte er etwas, das bestimmt kommen mußte.

»Bringen Sie mir eine Schokolade!« sprach Hans Welker und zeigte die Zähne.

Die strohblonde Dame am Nebentisch lachte ihm verfänglich zu, und er musterte sie mit unruhigen Augen. Diese grauen Augen konnten nie fest auf einer Stelle haften. Es schien, als fürchte er ängstlich, sie könnten etwas von ihm verraten. Die Dame spielte mit der Fußspitze auf dem Asphalt und bohrte den Blick schwärmerisch schräg nach oben. Der Kavalier stieß den Rauch durch die Nase, kratzte sich hastig am Kinn und machte einen gewaltsamen Anlauf, gesprächig zu werden.

Von der Lichtentaler Allee her kamen zwei vornehme Paare. Sie schritten lebhaft plaudernd durch die Anlagen und rauchten unsinnig lange Zigaretten, die sie zum Ueberfluß noch in schlanke Elfenbeinspitzen gesteckt hatten.

Voraus schritt Graf Scanzoni, Hans Welkers Chefpilot, mit einer schlanken, trippelnden Gestalt in orangerotem Seidenmusselin-Kleid und einer leichten polnischen Mütze. Ihr Gesicht war klein und zierlich, bleich und stillos abgerundet. Die hellen Haare hingen in künstlichen Ringellöckchen in die Stirn. So machte sie den Eindruck einer hübsch herausgeputzten Schaufensterpuppe. Sie stelzte in kleinen, gekünstelten Schrittchen und drückte die Knie leicht nach vorn. Scanzoni baumelte neben ihr, weit und krampfhaft ausgreifend, mit schwach nach innen geneigten Beinen. Im linken Auge trug er ein Monokel, weniger aus Bedürfnis und Ueberzeugung, als um sich einen witzigen Anstrich zu geben.

Hinterher folgten Kurt Seeberger im weiten, kastanienbraunen Homespun-Ueberzieher und eine rabenschwarz gekleidete Gestalt mit affektierten Schritten, nach hinten geworfenem Kopf und eifrigen Drehungen in den Hüften. Das Gesicht war durch einen schwarzen Schleier vollkommen verdeckt. Aus einem ganz unverständlichen Grunde hatte der sonst feingewebte Schleier mitten drin einen großen schwarzen Tupfen, der geradezu grotesk unmotiviert wirkte und wie ein Teerpflaster aussah.

»Da oben ist ja der Welker gelandet, hat er nicht wieder sein Selterwasser da stehen?« rief Scanzoni nach rückwärts und zeigte nach der Richtung.

»Der schnüffelt in die Atmosphäre und fürchtet sich vor einer Niederlage,« antwortete Kurt Seeberger von hinten, in einem Tonfall, der wie ein militärisches Kommando klang.

»Ich verstehe so etwas nicht,« meierte Scanzoni, »wenn er sich davor fürchtet, dann verdient er sie ja. Furcht ist Mangel an Größe und Mangel an Weltverachtung. Ich fürchte mich selbst vor Frauen nicht!«

Das sprach er absichtlich und fand es selbst abgeschmackt, weil er es schon öfters gesagt hatte.

»Na, na!« kicherte das Püppchen und wollte ihn am Kinn packen.

»Ich denke aber,« fuhr Seeberger schnarrend wie eine Rohrdommel fort, »wir beenden unsern Passagierflug und suchen uns das gleiche Landungsgelände.« Er warf die Beine nach vorn und sah auf seine weiten, schlotternden Beinkleider.

Die beiden Paare traten grüßend zum Tisch. Kurt Seeberger schwenkte die farbige Sportmütze und machte eine theatralische Verbeugung.

»Darf ich Ihnen unsere neuen Typen vorstellen? Meine Schwarze heißt Milli. Uebrigens bissel abgedroschene Benennung; mein alter Segelkutter hieß auch so. Milli, leichtes Nachtflugzeug mit doppelter Steuerung. Die Strohgelbe ist Scanzonis Fifi, modernes Jagdflugzeug, außerordentlich wendig und leicht transportabel, hä, hä!«

Hans Welker rührte sich nicht von der Stelle. Er sog an der Schokolade und schaute aus den Augenwinkeln. Dachte im gleichen Augenblick an sein neues Maschinengewehr mit fünfundzwanzig Läufen und war halb erstaunt, als die Gesellschaft bei ihm an dem viel zu kleinen Tisch saß.

»Wie interessant, Sie kennen zu lernen, Herr Hans Welker,« zwitscherte Fifi und ordnete mit beiden Händen die koketten Stirnlöckchen. Ihr ganzer Typus hatte etwas Unnötiges, Zweckloses, und das faltenlose, weiche Gesicht strotzte von Langeweile.

»An mir sehen Sie nichts Besonderes. Oder glauben Sie, ich habe andere Stiefel an als die übrige Menschheit? Hier, bitte, sehen Sie!« Er streckte lachend das eine Bein auf den Tisch und fuhr mit der Zunge blitzschnell über Ober- und Unterlippe.

»Ein Original sind Sie!« antwortete Fifi mit erzwungener Heiterkeit, denn sie war etwas verlegen geworden und aus der Fassung gebracht.

»So ist er uns auch immer geschildert worden,« fiel die Schwarze ein und zog den Schleier bis zur Nase hoch.

Hans Welker wandte sich um. Was sollte er denn nur reden! Ihm fiel nicht das Geringste ein.

Fifi schnellte sich herausfordernd zu Seeberger herum und blickte ihm starr ins Gesicht.

»Was machen Sie eigentlich beim Flug-Meeting hier? Fliegen wollen Sie nicht mehr oder können Sie nicht mehr! Einerlei, aber Sie sind doch offiziell in der Begleitung Hans Welkers und als solcher muß . . . muß . . . na, was denn? . .«

Sie wollte eine führende Rolle im Gespräch übernehmen, und das mißlang ihr.

». . . muß er doch einen Zweck erfüllen,« unterbrach Scanzoni, »na natürlich! Was wäre die Welt ohne Kurt Seeberger, den Homespun! Er ist der geborene Impresario für die Fliegerei.«

»Ganz klar!« kollerte Seeberger mit seiner resonanzlosen Stimme, »ganz klar! Ich bin der aeronautische Regisseur. Ich sehe zu, daß gutes Wetter ist und kein Sand im Schmieröl. Ich empfange die Fürstlichkeiten und schreibe die Schecks aus. Denn dafür hat Welker keine Zeit. Ich lanciere schwungvolle Artikel in die Zeitungen und besteche fremde Monteure. Befriedige die Neugier von Frauenzimmern und stehle meinem Chef das Geld aus der Tasche. Ist das keine Beschäftigung? Prost! Trinken wir auf den morgigen Tag. Der Wind springt nach Westen, aber ich wette, er dreht über Nacht wieder rechts bei.«

Seeberger schnüffelte in der Luft. Scanzoni studierte die Barogramme.

»Wenn das nur kein Schwindel ist,« meinte er zu Welker und zeigte auf den Barographenstreifen. »Die Kurve wird mir nach oben verdächtig steil.«

Hans Welker neigte das Kinn auf die Brust.

»Warum soll das Schwindel sein? Es ist keine besondere Leistung. Denke doch an die Franzosen! An die Amerikaner!«

»Vergiß nicht, daß sie mehr Pferde vorspannen!«

»Ganz egal, das Maschinengewicht ist höher als das der Hessenmaschine und höher als meines. Ist ja lächerlich, warum sollt's bei uns nicht gehen?« Er beugte sich zu Scanzoni und zischte ihm ins Ohr: »Wir müssen diese Hessenmaschine morgen schlagen! Es ist eine Leichtigkeit. Nur aufpassen! Du kannst morgen in der Frühe eine Versuchshöhe machen. Achttausend genügt. Aber paß mir genau auf den Motor auf! Er darf nicht mehr als dreißig Touren nachlassen.«

»Was reden die da? Darf man das nicht hören?« Fifi stieß an Scanzonis Bierglas. »He, Ihr seid doch nicht allein hier!«

Milli legte das Kinn auf Seebergers Achsel und blies die runden Backen auf. Mit den Augen schielte sie nach Hans Welker.

»Homespun!« unterbrach sich Scanzoni in einer Erklärung, »unterhalte mal die beiden Damen!«

»Warum sagen Sie Homespun?« fragte Fifi.

»Ich weiß es, hihi! Ich weiß es!« kicherte die schwarze Milli und zog den Schleier nun ganz hoch. Ein leicht geschminktes rassiges Gesicht mit etwas zu starker Nase und nach oben gebogenen Mundwinkeln kam zum Vorschein.

»Das ist weiter nicht schwer zu erraten,« erklärte Seeberger, »einfach, weil meine ganze Bespannung aus Homespun-Stoff besteht. Hier, dieser Anzug, dieser Sommerpaletot, alles echter Homespun . . . Uebrigens, du fängst an, mich zu duzen. Mir auch recht. Ober, füllen Sie mal neuen Betriebsstoff auf!«

Man spielte »Tosca«.

Milli begegnete im Orchester einer bekannten Stelle. Mit Genugtuung und angenehm überrascht, wie wenn man plötzlich einen guten Freund trifft.

»Die Stunde flieht! So sterb' ich in Verzweiflung!« sang sie mit näselnder Stimme.

»Bitte, tu' das aber nachher zu Hause!«

»Darf ich Sie zu einer Flasche Pommery einladen?« sprach plötzlich Hans Welker und schob die Barographenstreifen in die Brusttasche.

»Aber natürlich! Juhuuu!« Fifi hopste auf dem Korbsessel, daß die Löckchen tanzten.

»Nein, lieber Veuve Cliquot!« schlug Milli vor.

»Die Marke ist mir so gleichgültig wie ein umgefallener Laternenpfahl, nur müssen Sie mir gestatten, daß ich bei meinem Mineralwasser bleibe.«

»Welch eine komische Leidenschaft!«

»Sie meinen Mangel an Leidenschaft!«

Scanzoni zündete eine Zigarette an und legte sich weit in den Sessel zurück. Sein Gesicht war interessant und dabei bei weitem nicht hübsch. Die dunkelgelbe Haut verriet eine südländische Abstammung. Sonst waren die Züge mehr rundlich und etwas stumpf, der Mund breit und die Lippen wulstig. Die schwarzen, kugeligen Augen standen nicht vollständig in der Achse, was dem Gesichtsausdruck etwas Zerfahrenes, Unstetes gab.

Der Ober brachte die Sektkübel.

»Das erste Glas wollen wir auf Hans Welker trinken. Er hat's nötig.«

Milli wollte einen Witz machen. Sie suchte krampfhaft danach und fand einen. Harmlos und bescheiden, wie ein verblühtes Gänseblümchen. Alle lachten darüber. Weil der Witz doch so bescheiden war.

»Morgen ist ein Tag, fuhr Seeberger fort, »der für uns alle von Bedeutung ist. Laß das Grinsen, Scanzoni, ist das vielleicht nicht wahr? Morgen wird sich das erfüllen, was ich voraussagte. Wir werden den Franzosen glattweg in die Ecke drücken.«

»Schwätz' doch kein Blech!« unterbrach ihn Welker. »Prooost, Kinder!«

»Da drüben sitzt der krumme Kneisel!« Welker drehte den Kopf über die Achsel. »Der hat die Hessenmaschine hochgehetzt. Heute fühlt er sich noch als Sieger, ha! Heute noch! Ist ja lächerlich. Warum soll das, was bei den Franzosen geht, bei uns . . . ach was!« Er schüttelte energisch den Kopf und kniff die Augen zusammen, das stereotype Lachen breitete sich über das knochige Gesicht, und die beiden Längsfalten erschienen auf der Stirn.

»Was hat er denn eigentlich für eine Zeit geschafft?«

»Zehntausend in 27¾. Hier ist das Barogramm.« Hans Welker wühlte in der Rocktasche. Scanzoni rechnete nach und pfiff nervös durch die Zähne.

»Er sitzt uns verdammt an der Kehle!«

Hans Welker richtete sich ruckartig hoch und riß Scanzoni den Barographenstreifen aus der Hand. »Laß endlich den Kram! Morgen wird sich das übrige zeigen. Ich möchte den sehen, der mir was vormacht. Wie? Den möchte ich sehen!«

Das sprach er mit vollster Ueberzeugung aus und entkräftete so vorweg jeden Einwand. Lauernd schaute er jeden der Reihe nach flüchtig an und lachte ohne irgendwelchen Grund.

Sie bestellten neue Flaschen. Seeberger rührte mit einem Zahnstocher in Scanzonis Sektglas herum.

»Weißt du, mein Lieber, wenn du morgen früh eine Versuchshöhe machen willst, dann pumpe dir nicht soviel Alkohol in den Magen.«

»Ich werde mir überhaupt jetzt den Alkohol verkneifen.«

»Ach, schäme dich!« Fifi hielt ihm kichernd das Glas an den Mund. »Eine Flasche mehr oder weniger, deshalb fliegst du doch nicht in den Mond.« Sie fand das geistreich und lachte ein ganzes Endchen Zeit über ihren Witz.

Scanzoni trank einen dünnen Schluck.

»Da fällt mir übrigens ein, meine liebe Fifi, du kannst ja am Ende mitfliegen. Auf diesem Wege kannst du dich vielleicht auf halbwegs anständige Art aus der Welt schaffen. Jetzt brauchst du nicht gleich blaß zu werden, ist ja nur Spaß, hähä, ist ja nur Spaß, hähä. Ich unternehme mit Frauen grundsätzlich nichts Extravagantes. Die Zeiten liegen bei mir längst im Mülleimer.«

»Auf jeden Fall«, fiel Seeberger ein, »kann ich mir den Alkohol ohne größere Gewissensbisse gestatten. Denn höher als ein Pferdestall gehe ich freiwillig nicht mehr über die Mutter Erde. Ich flog einmal in stark benebeltem Zustande von Hannover nach Köln, na, wißt Ihr . . .«

Scanzoni blinzelte unwillkürlich. Nun fing der Homespun an, zu lügen. Darin bestärkte ihn der Graf, denn er fand die psychologische Zerstückelung fremder Wahnideen unterhaltsam.

»Das mußt du erzählen!« rief er eifrig und aufmunternd. Welker zuckte mit den Achseln.

»Meinetwegen, erzähle doch das Märchen!«

Milli zupfte ihn am Ohr. »Gelt, er schwindelt?«

»Wenn er lügt, gieß' ich ihm den Sekt in die Halbschuhe.« Fifi hob das Glas. Seeberger wandte das zuammengedrückte, glattrasierte Gesicht und knurrte zwischen den Zähnen hervor:

»Ich habe schon öfter den Tod vor Augen gehabt als du deine Puderquaste. Ich flog von Berlin nach Konstantinopel mit dem Gevatter Sensenmann als Passagier. Glaubt ihr, er hat mich klein gekriegt? Quatsch! Ich hatte den ersten Zwölf-Stunden-Tank an Bord. Das war damals ungeheuer. Zwölf Stunden über den Wolken, in der rechten saumäßigen Waschküche mit meinem armseligen siebzigpferdigen Anzani. Damals mußte ich zum Sultan, weil ich im türkischen Heer ein Fliegerkorps organisieren . . .«

Scanzoni schlug ihm auf die Achsel. »Du wolltest doch die Kölner Geschichte erzählen!« Ihn belustigte das ungemein.

Seeberger schaute sich verwundert um. Er war ganz ernst geworden und hatte nachdenklich die Hand am Kinn. Der breite Säbelschmiß, der ihm von der Stirn übers linke Auge in die Nase lief, hatte sich rot gefärbt und gab dem Gesicht etwas Blutrünstiges, Gewalttätiges. Scanzoni faßte mit spitzen Lippen die Zigarette und freute sich, daß er ihn ins rechte Fahrwasser gesteuert hatte. Seeberger zählte zu den Menschen, die in einem Nebel von phantastischen Lügen leben, eingebildete Erlebnisse wie verwelkte Ruhmeskränze mit sich herumschleppen und ihre haarsträubende Unglaubwürdigkeit dazu benutzen, sich mit einem hervorstechenden Nimbus zu umgeben.

»Die Köln-Geschichte, ach so . . . Ja, ja, damals flog ich von Dresden nach . . .«

Fifi lachte klirrend. »Dresden! Dresden! Vor zwei Minuten war es noch Hannover.«

»Rede keinen Unsinn! Also gut, Hannover. Ist doch egal. Auf jeden Fall hatte ich damals den Großherzog von Liechtenstein an Bord. Der bekam schon überm Dom den ersten Schüttelfrost. Ich kann's ihm nicht verdenken. Wir hatten Böen, daß ich mir vorkam wie ein Maulwurf in der Affenschaukel. Aber solche Lüftchen waren mir nichts Neues. Ueberm Rhein kamen wir ins erste Gewitter. Ich roch und schmeckte noch vierzehn Tage den Schwefel.«

»Welchen Schwefel?« lachte Welker, »den du zusammenreimst?«

Scanzoni unterstützte den Erzähler. »Na, von den Blitzen!«

»Ach so!«

»Damals flog mir auch der erste Blitz durchs Tragdeck.«

»Autsch, verflucht!« Hans Welker kratzte sich am Kopf. »Ich dachte die ganze Zeit, das wäre überhaupt nicht möglich.«

»Wird nicht möglich sein! Bei Stubengelehrten vielleicht! Auf jeden Fall hat er mir durch den Flügel gespuckt. Zu Hause über meinem Schreibtisch hängen noch die verbrannten Leinwandfetzen. Die Kiste ging natürlich nicht mehr aufs Steuer. Ist ja klar! Der Großherzog von Liechtenstein war mittlerweile in eine wohltuende Ohnmacht gesunken und schwebte am Gurt wie ein gestürzter Droschkengaul in den Kandaren. Ich schmiß die Jammerkiste in Gleitflug, aber sie hing am linken Flügel wie eine angeschossene Krähe. Da setzte mir auch noch der Motor aus. Also, Matthäi am letzten! ›Herr Großherzog‹, rief ich nach vorn, ›he, Herr Großherzog!‹ Aber der hörte nicht. Beneidenswerter Mensch, dachte ich und starrte wie geistesabwesend nach dem Höhenmesser. Er sank und sank. Dreihundert, zweihundert, hundert Meter, Herrgott! Der Regen klatschte wie ein Besessener auf uns nieder. Eben ist Schluß, denke ich und fasse nach dem Großherzog. Bums!« – Seeberger schlug mit der Faust auf den Tisch – »Perdauz! Krach!« Einen Augenblick hielt er inne und schaute sich verloren im Kreise um. »Ratzkrutzibutzi! Ich lebe. Oder täusche ich mich? Nee, stimmt! ›Herr Großherzog!‹ brülle ich. Ich glaube, der Kerl schläft. Da, ein Brausen, ein Donnern! Etwas Schwarzes, Fauchendes jagt an mir vorbei. Dazwischen noch ein Krachen von zersplitternden Holzteilen. Ich verliere die Besinnung. Tatsache!«

»Gott sei Dank!« rief Scanzoni ganz im Ernst und verzog keine Miene. Milli lächelte ungläubig und drehte die Ringe, die sie an acht Fingern trug. Fifi verhielt sich passiv und schielte nach Hans Welker, was der nun sagen würde. Der lag zurückgelehnt im Stuhl und dachte an etwas ganz anderes. Aber himmelweit entfernt war er vom Marmortisch im Stefanie und vom Großherzog von Liechtenstein.

»Ich muß sagen,« fuhr Scanzoni fort und klemmte das Monokel aus Fensterglas ins Auge, »die Geschichte klingt etwas abenteuerlich, aber ich kann mir denken . . .«

»Ja, und das Schönste,« schnarrte Seeberger, der stier in sein Sektglas blinzelte, »das Schönste, wißt ihr, wo wir landeten?« Seeberger zog die Krawatte fest. Der Säbelschmiß war feuerrot geworden.

»Keine Ahnung!« lachte Fifi, »ganz bestimmt doch auf der Erde.«

»Quatsch' nicht! Auf dem Bahngleise. Und der Kölner D-Zug hatte uns den letzten Schwanzrest der Maschine noch zuschanden georgelt. Den Schwanz radikal abgefahren. Das Rumpfvorderteil lag an der Böschung.«

Alle lachten herzlich und stießen mit den Gläsern an.

»Ich werde jetzt verschwinden!« rief plötzlich Hans Welker und griff nach der Brieftasche.

Er zahlte und ging zwischen den Tischen hindurch. Den Kopf ließ er hängen, wie um sein Gesicht zu verbergen. Der Gang war wiegend und schaukelnd, als träte er auf Spiralfedern.

Die Damen waren beleidigt.

»Was ist das für eine merkwürdig kurze Art, zu verschwinden?« schmollte Fifi.

Scanzoni lachte breit. »Das ist Welkersche Art. Verrät vielleicht eine schlechte Kinderstube? Gewiß! Auch ein Fünkchen Größenwahn! Der Mensch ist noch jung. Aber heute hat er sich noch sehr höflich empfohlen. Sonst läßt er einen einfach sitzen und verduftet.«

Seeberger wurde halb ärgerlich. »Im Innern denkt er auch, er kann sich das leisten.«

Der Graf Scanzoni ließ das Monokel aus dem Auge in die Westentasche fallen und verzog spöttisch den Mund.

Fifi musterte eine pompös gekleidete Dame, die an der nächsten Säule saß. Musterte sie von der Spitze der Pleureuse bis zu den hohen Stiefelabsätzen.

»Im allgemeinen muß ich sagen, daß ihr eine genügend langstielige Gesellschaft seid. Man erlebt ja nichts mit euch. Rein gar nichts! Dabei seid ihr Flieger als die lästerlichste Menschenklasse verschrien.«

Scanzoni darauf:

»Das stimmt nicht mehr. Wir haben uns mit viel Geschick ins Gegenteil gewandelt. Und das ist eine ganz selbstverständliche Metamorphose. Man hat sich daran gewöhnt, jeden Morgen sein Leichenhemd über den Kopf zu stülpen. Früher brauchte man Zerstreuung in den überstiegensten Formen, um das zu vergessen. Aber selbst die Todesnähe wird einem verblüffend rasch zur Gewohnheit. Früher war sie das nicht. Daher die vielen zerschmissenen Flaschen und Gläser, die auf dem Altar der Fliegerzerstreuung geopfert wurden, die demolierten Weinstuben, derangierten Frauenzimmer und die seltsame Liebe, sich mit dem Strafgesetzbuch herumzukampeln. Der tiefere Grund liegt nur in der lächerlichen Furcht vor dem Tode. Vor diesem einfältigen, törichten Tode, den doch jeder so lange wie möglich hinausschieben möchte. Wenn der Mensch im schwülen Halbschlaf sich nur vorstellt, wie ein wunder Vogel aus sonnendurchglühten Wolken zu stürzen, hat er davor ein spießbürgerliches Grauen und schüttelt sich in seiner Gänsehaut. Auf der anderen Seite findet er es aber ganz in der Ordnung, wenn er an Arterienverkalkung oder an einem Leberleiden krepiert. Zu lächerlich!«

Kurt Seeberger fiel ein Erlebnis ein, das in nebelhaften Formen in seiner Phantasie entstand. Er flunkerte mit schnarrender Stimme: »Als ich bei Sofia abstürzte, dachte ich eigentlich nur an meinen neuen Photographenapparat, den ich in der Tasche trug. Daß der nun schon wieder zum Teufel gehen sollte!«

»Das soll dir einer glauben,« warf Milli ein.

»Das Abstürzen«, sagte Scanzoni, »ist etwas, an das man nicht glaubt, selbst wenn man mitten im Ereignis ist. Ich kann mit gutem Gewissen behaupten, daß ich die Furcht vor dem Tode endgültig zu den Akten gelegt habe. Dazu ist mein vergangenes Leben zu tragikomisch und possenhaft. Aber ich habe selbst psychologisch überprüft, was ich dachte und fühlte bei meinem Sturz in Johannisthal. Bitte, ich schwindle nicht. Hier, davon habe ich dieses kostbare Stück silberne Hirnschale, das meinem Korpus doch wenigstens noch einige Taler materiellen Wert verleiht.«

Er nahm den Hut ab und zeigte eine mächtige Narbe, die quer über den Hinterkopf lief. Dabei fiel ihm das Fensterglas-Monokel aus dem Auge. Es sprang über den Tisch, fiel auf die Erde und zersplitterte klirrend. Scanzoni griff nachlässig und ohne Kopfbewegung in die Westentasche und klemmte ein neues Glas ins Auge.

»Nur keine Bange! Ich habe immer ein Dutzend Ersatzgläser. Manchmal geht es eben nicht ohne Pose. Also, der Sturz! Ich kann nur sagen, daß ich in keinem Augenblick dachte, es könnte mir irgend etwas Schlimmes passieren. Das ist doch ganz ausgeschlossen, überlegte ich, während ich stürzte. Sonst dachte ich nichts, nur immer: Vollständig ausgeschlossen, voll . . . ständig ausgeschlos . . . bums! Ich hörte noch das Splittern des Holzes, dann war alles glühendrot um mich. Ich will damit nur sagen . . . Was kneifst du mich Fifi? Willst du von mir hören, daß ich in dich verliebt bin? Du mußt mit raffinierteren Frauenkünsten spielen! Es gibt solche. Nur keinen Dilettantismus!«

»Du bist ein Komödiant! Zeige mir doch noch mal deine silberne Hirnschale.«

Milli zuckte es in den Fingerspitzen. »Mir auch, bitte, bitte! Nööö, wie interessant!«

Seeberger lachte quakend und setzte die Sportmütze tiefer in die Stirn.

Der Graf Scanzoni drehte sich ruckartig um. »Nanu!« Jemand hatte ihm auf die Schulter geklopft. Eine hagere Gestalt im Lederanzug. Hans Welkers erster Monteur. »Hansen, was bringen Sie? Machen Sie bloß kein so nervöses Gesicht!«

»Herr Graf,« keuchte Hansen flüsternd, »wissen Sie, wer heute die Hessenmaschine geflogen hat? Sie wissen es nicht!«

»Na, ich denke doch, der krumme Kneisel.«

»Keine Idee. Paul Welker.«

Scanzoni fuhr erschrocken in die Höhe. Seeberger neigte sich herüber. »Reden Sie keinen Unsinn, wie sollte er zu der Hessen . . .«

»Ich weiß es, Herr Graf! Ich weiß es bestimmt! Es ist seine Maschine.«

»Was soll diese Komödie! Weiß Hans Welker darüber Bescheid?«

Hansen schlenkerte beide Arme. »Ich finde ihn nicht. Er ist auch nicht auf seinem Zimmer.«

Fifi zog den Grafen am Rockärmel. »Nu tu man bloß nicht so geheimnisvoll! Wer ist dieser Paul?!«

Scanzoni wandte den Kopf. »Na, ist schon gut, Hansen.«

»Du sollst uns sagen, wer Paul ist!«

»Neugierige Gänse! Paul ist Hans Welkers Bruder.«

»Na und?«

»Na und?« Scanzoni schüttelte ärgerlich den Kopf. Er dachte über etwas nach.

Kapitel 2

Inhaltsverzeichnis

Ich habe noch nie an einem Erfolg gezweifelt. Wie komme ich dazu, über die Möglichkeit einer falschen Entwicklung überhaupt nachzudenken? Es ist eine Inkonsequenz meiner selbst. Man wäre fast versucht, an ein Fiasko zu glauben. Zum wenigsten habe ich Witterung, daß etwas nicht ganz in der Ordnung ist.«

Hans Welker sprach es laut vor sich hin. Er stand am offenen Fenster seines Hotelzimmers und zählte die Sterne im Bilde der Andromeda. Als er seine eigene Stimme hörte, erschrak er und blickte sich forschend im Zimmer um. Es war doch niemand da, der ihn hören konnte! Dieses Halbdunkel, das die grünbeschirmte Schreibtischlampe in den großen Raum warf, war ihm unangenehm. Er knipste die Deckenbeleuchtung an und lief mit hängendem Kopf über den bunten Smyrnateppich. Die heutige Leistung der Hessenmaschine ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Es war eine elegante Kiste, nicht zu zweifeln. Sehr schnittig und dabei mit primitiven Mitteln gebaut. Ganz seine Manier, und das Luder stieg! Das Luder stieg!

Er setzte sich an den Schreibtisch und stützte den Kopf in die Hände. Irgendein Möbel knackte. Er fuhr in die Höhe. Was war denn? Himmeldonnerwetter! Wieder zog er die Barographenstreifen aus der Tasche.

Stimmengewirr von unten drang bis herauf zu ihm. Vom Büfett hörte man die Teller und Gläser klappern.

Der langgezogene Pfiff einer Lokomotive.

Hans Welker verfolgte genau die Kurven Die ersten viertausend Meter waren nicht zu zählen. Aber bei fünf- bis sechstausend fing die Kurve gewöhnlich an, bucklig zu werden. Hier war nichts davon zu sehen. Sie verlief sauber und gleichmäßig, als wollte der bis in die Sterne steigen.

»Wenn ich nur die Tachographenstreifen hätte! Die Drehzahlen möchte ich wissen! Ich kann Ihnen nur sagen, wenn der Tachograph eine wagerechte Linie . . .«

Hans Welker glaubte schon wieder, ein Gegenüber zu haben, das ihm zuhörte. »Siebentausend, acht-, neuntausend, zehntausend in . . . na . . . fünfzehn, zwanzig, einundzwanzig und . . . zehntausend in siebenundzwanzigdreiviertel Minuten.«

Erregt sprang er auf. Mit eckigen Schritten lief er zum Fenster. »Ich muß doch diese Hessenmaschine schlagen!«

Unten spielten sie die abgedroschenen Walzer aus der »Lustigen Witwe«. Er pfiff mit den Geigen und flocht allerlei trillernde Variationen in die Melodien. War die schwarzgekleidete Milli nicht ungeheuer albern? Oder war sie unterhaltend? Er wußte es selbst nicht. Hatte sie ihm gar gefallen? Was hatte ihm denn an ihr gefallen? Dann dachte er plötzlich an die Dame am Nebentisch. Was wollte die Dame am Nebentisch . . .?

Horch! Eben hatte es geklopft.

Hans Welker schaute nach der Tür.

Unsinn. Nein, es klopfte.

Mit großen Schritten ging er zum Schreibtisch zurück. »Herein!«

Behutsam ging die Tür auf. Unerträglich lange dauerte das, bis sie offen war. Paul Welker trat langsam und schwerfällig ins Zimmer.

»Guten Abend, Hans! Entschuldige, wenn ich dich so spät störe. Ich wollte dir . . . eigentlich . . . nur Guten Tag sagen!«

Das kam langsam heraus, leiernd und im gleichen Tonfall. Es schien, als müsse jedes Wort erst mühsam gebildet werden.

Paul Welker stand mitten im Zimmer. Er war von mehr Ebenmaß in der Gestalt als sein Bruder. Das glattrasierte Gesicht mit der hohen Stirn, der leichtgebogenen Nase und den unmännlich fein geschwungenen Lippen war fast starr und verriet nicht den leisesten Seelenvorgang. Die dunkeln Augen lagen tief und von schwarzen Schatten umhüllt. Die Kleidung war von vornehmer Eleganz. Dunkler Anzug mit niederem Kragen und einer silbergrauen, einfarbigen Krawatte.

Langsam und schlotternd ging er auf den Schreibtisch zu, mit hängenden Armen und etwas eingesunkenen Knien.

»Du bist wohl erstaunt, mich so unverhofft . . .«

»Das bin ich allerdings,« sprach Hans Welker und streckte ihm maschinenmäßig die Hand hin. Dabei schaute er ihn nicht an. Das brachte er nicht über sich. Wie eine Furcht überkam es ihn; Hans Welker konnte niemand längere Zeit ansehen. Vor seines Bruders Augen aber hatte er eine unüberwindliche Scheu, wie vor einem allzu grellen Licht. In diesem Blick lag etwas Fragendes, Forschendes, als wollte er bis ins Innerste dringen.

»Wie kommst du eigentlich nach Baden-Baden? Ich dachte, du bist zu Hause. Wenigstens sagtest du mir nichts.«

»Ich muß dir doch nicht alles verraten, und wenn eine große Flugkonkurrenz ist, wirst du mir wohl erlauben, daß ich mich beteilige.«