Ballade am Strom (Historischer Roman) - Roland Betsch - E-Book

Ballade am Strom (Historischer Roman) E-Book

Roland Betsch

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Beschreibung

Dieses eBook: "Ballade am Strom (Historischer Roman)" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Aus dem Buch: "Wie tief es mich nun bewegt, da ich mich anschicke, dir zu schreiben. Mir ist, ich dürfe nicht viele Worte machen, um dir einleitend zu erklären, warum ich hier im Rheinwald hause, einsam geworden aus der Erkenntnis heraus, ich bedürfe jetzt keiner Menschen, sondern nur des wandernden Stromes, der rauschenden Bäume, der Winde und Wolken und des wilden Getiers, das mich umgibt; ich bedürfe nur dieser Wesen und Dinge und des Alleinseins, um das vollenden zu können, was mich erfüllt und was für dich ein Wegweiser sein soll in die Heimat, die du im Groll verlassen hast, aus Überdruß an den Menschen und aus Abscheu vor Lüge und Verrat. Ein Versuch, aus Zeitenwandel und Schicksal eines unglückseligen Landes heraus das Wesen und die dunklen Regungen der Menschenbrust, ja selbst das Verbrechen und den Wankelmut des Herzens zu erklären und mit seinen trüben Folgen milde zu verzeihen, wissend um alle Nöte und um die Zerrissenheit der menschlichen Kreatur, ein solcher Versuch, unternommen aus schlummernder Liebe zu allem, was lebt und atmet, sich ängstigt und freut, auftaucht ins Licht und versinkt in die Schwärze, soll für dich zur Geste des Mitleidens werden und dir die innere Größe geben, mit lächelndem Schauen über Menschen und Ereignissen zu stehen und deine Heimat, gerade wegen ihres zertretenen und geschändeten Schicksals, ihrer Menschenmischung aus Gut und Böse, um so stärker zu lieben. Roland Betsch (1888-1945) war ein deutscher Ingenieur, Schriftsteller, Erzähler und Dramatiker.

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Roland Betsch

Ballade am Strom (Historischer Roman)

e-artnow, 2017 Kontakt: [email protected]
ISBN 978-80-268-7391-4

Inhaltsverzeichnis

Erstes Buch
Notland
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Zweites Buch
Schwärmer / Schwindler
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Drittes Buch
Die schwarzen Raben
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19

Erstes Buch

Inhaltsverzeichnis

Peter Aust, fünfunddreißig Jahre alt, einsam hausend in einer Entenfängerhütte am Rhein, schreibt an Klaus Ringeis, sechsunddreißig Jahre alt, Farmer in Sorocaba Sao Paulo.

Wie tief es mich nun bewegt, da ich mich anschicke, dir zu schreiben. Mir ist, ich dürfe nicht viele Worte machen, um dir einleitend zu erklären, warum ich hier im Rheinwald hause, einsam geworden aus der Erkenntnis heraus, ich bedürfe jetzt keiner Menschen, sondern nur des wandernden Stromes, der rauschenden Bäume, der Winde und Wolken und des wilden Getiers, das mich umgibt; ich bedürfe nur dieser Wesen und Dinge und des Alleinseins, um das vollenden zu können, was mich erfüllt und was für dich ein Wegweiser sein soll in die Heimat, die du im Groll verlassen hast, aus Überdruß an den Menschen und aus Abscheu vor Lüge und Verrat.

Ein Versuch, aus Zeitenwandel und Schicksal eines unglückseligen Landes heraus das Wesen und die dunklen Regungen der Menschenbrust, ja selbst das Verbrechen und den Wankelmut des Herzens zu erklären und mit seinen trüben Folgen milde zu verzeihen, wissend um alle Nöte und um die Zerrissenheit der menschlichen Kreatur, ein solcher Versuch, unternommen aus schlummernder Liebe zu allem, was lebt und atmet, sich ängstigt und freut, auftaucht ins Licht und versinkt in die Schwärze, soll für dich zur Geste des Mitleidens werden und dir die innere Größe geben, mit lächelndem Schauen über Menschen und Ereignissen zu stehen und deine Heimat, gerade wegen ihres zertretenen und geschändeten Schicksals, ihrer Menschenmischung aus Gut und Böse, um so stärker zu lieben.

Dich hat in jener unglückseligen Zeit der Separatisten die Schändlichkeit einer einzigen Gesinnung, die nämlich deines einstigen Freundes, der Erde und Menschen an die Fremden verriet, wieder in die Ferne getrieben, weil du wähntest, diese einzige Gesinnung, verächtlich in ihrer Kleinheit, müsse dich am Ganzen verzweifeln lassen und gebe dir keinerlei Möglichkeit mehr, den Glauben zurückzugewinnen an die Lauterkeit einer Zeit, die, selber krank und abscheulich, auch Krankheit und Abscheulichkeit gebären müßte. Welch eine Torheit, zu glauben, das Gute hätte alle Kraft verloren, nur weil es sich oft verborgen hält und langsam aufblüht aus der rätselhaften Größe des Menschenherzens.

Gott und Teufel, sie wohnen nahe beisammen, Kammer an Kammer, in der Brust eines jeden Menschen, wer weiß um ihre Hausrechte und wer will verdammen, der nicht schon selbst zu verdammen gewesen wäre!

Siehst du, ich bin in die Einsamkeit gegangen, um in das Herz eines Landes horchen zu können, das eine so verwegene Vergangenheit hat, daß aus dieser Vergangenheit, aus diesem blutigen Abenteuerdasein, aus dieser Häufung von Menschenleid, aus diesem Urwald wilder und gesetzloser Triebe heraus sich alles erklären lassen muß, was uns ungeheuerlich scheint und woran wir in schweren Zeiten verzagen wollten.

Jetzt, da ich dieses schreibe, sitze ich vor der alten Entenfängerhütte, draußen wandert der Rhein vorüber, die Dämmerung fällt über Wälder und Schilf, die Stille ist wie fernes Brausen, ich bin glücklich und froh, weil es weht und braust überall wohin ich schaue und in mir selbst, in allen Fasern meines Lebens.

Alles ist Schattenspiel, alles ist Wiederholung. Was heute vor sich geht, ist schon einmal gewesen, alle Möglichkeiten der Weltgesetze sind schon einmal abgerollt, das Genie der Schöpfung hat sich erfüllt und kreist nun unaufhörlich um seinen glühenden Pol. O mein Freund, der du jetzt fern bist und über dem weiten Meer, vielleicht tauchst du auf aus dem Gesenke des blühenden Altwassers, vielleicht trittst du aus Schilf und Busch, schweigsam sinnend und aus dem Traum gerufen. Da bist du, willkommen in meiner brausenden Einsamkeit.

Höre mir noch eine kurze Weile zu, ich will dir erklären, warum ich getrieben werde, den Stapel dieser unbeschriebenen Blätter jetzt im Laufe der kommenden Monate zu füllen: du sollst am Schicksal Einzelner das Schicksal des Ganzen begreifen, denn in diesem Grenzland, das unverkennbar die Züge des Märtyrers trägt, mündet die Lebenskurve jeder einzelnen Familie in das unentwirrbare Gespinst des Landes selbst und ist wie ein phantastisches Ornament im großen Gewebe der Geschichte.

Im Kleinen also soll sich dir das Große spiegeln!

Es gibt Menschen, die müssen in der Heimat bleiben, sie sind Bestandteil ihrer Erde, nichts kann sie bewegen, diesen Bezirk zu verlassen. Kein Elend und keine Greuel des Krieges, selbst nicht Hunger und Verkommenheit vermögen sie zu verpflanzen und sei ihnen das Paradies verhießen. Sie gleichen dem Wald, der ewig ragt und ein ungeheures Maß von Frevel ertragen kann, ohne zu verlöschen. Wiederum gibt es Menschen, die müssen wandern, und während sie wandern, tragen sie ihre Heimat wie ein Bündel mit sich durch die Zonen der Erde und über alle Meere und Berge. Und auf diesem Bündel Heimat schlafen sie des Nachts wie auf einem unsichtbaren Kissen. Sie müssen immer wandern, bis sie sich zu Tode gewandert haben, und erst wenn sie hinübermünden, sind sie wieder zu Hause. Sie gleichen dem Strom, der ohne Stillstand ist, ein Wanderer durch Zeit und Schicksal.

Ich will dir von Wäldern erzählen und vom Strom.

Und von Wäldermenschen und Strommenschen.

Und wir werden in diesen Erzählungen uns selber begegnen, einmal zwischen Zeit und Wind, zwischen Nacht und Licht, zwischen Wald und Strom, zwischen Tod und Auferstehung. Alles aber ist Ruf und Stimme, gerichtet an dich und gerichtet an Viele, die den Glauben verloren haben.

Hör zu, wie es kam, daß ich nun einsam schreiben und Vergangenes beschwören will, daß ich die Toten suche, um die Lebendigen nicht zu verlieren, daß ich so tief in mich selber hineinschweige, um desto vernehmlicher rufen zu können.

Es ist nicht lange her, da kam ich hier an den Rhein und fand diese alte Jägerhütte, sie war offen und lud mich ein, zu bleiben. Es war Ende April, die Wasser blühten und der Rheinwald flammte im jungen Grün. Ich gedachte hier die Nacht zu bleiben, nirgends konnte es schöner sein, als in dieser verlassenen Behausung, die nichts enthielt, als einen groben Holztisch und zwei Hocker, eine Matratze mit Decken und einen rostigen Kanonenofen. An den Wänden hing allerlei abenteuerliches Gerät, Angeln, Flinten und Pistolen, verstaubte Entenfittiche und ein Rehgehörn. Holzkäfige, Pfannen, Schüsseln und Töpfe. Und ganz hinten stand eine alte Truhe mit einem Vorhängeschloß.

Ja, die Hütte war offen, es zwang mich etwas, sie zu betreten, sie war wie eine Seelenfalle, voll des tiefen Schweigens und doch von gespenstischem Leben erfüllt. Ich kannte diese Hütte gut.

Wenn jetzt, so dachte ich, der Mensch aus den Rheinwäldern auftaucht, dem diese Hütte gehört, wenn er jetzt durch die niedere Tür tritt, dann wird er mein Freund sein und ein Kamerad in der Wildnis der Wasser. Wir werden uns anschauen und wissen, daß wir gemeinsame Urwaldpfade gehen.

Ich setzte mich an das offene Fenster, bis die Dämmerung in das scheidende Licht hineinschwamm und die Rabenschwärme kamen. Jetzt stieg Dunst aus den Wassern, ich hörte Wildgeflügel rufen, der Tag ging still nach Hause, es war zu sehen, wie er mit gesenktem Haupt das Tor hinter sich schloß.

Dann war es mit einem Male Nacht.

Ich ging zum Strom hinüber und sah, daß draußen ein Schiff festgemacht hatte, ein großer Lastkahn, mit geschnittenem Holz beladen. Er schaukelte vor Anker in der unruhigen Strömung, nichts als ein schwarzer Schatten, ein bedrohliches Tier, still, schlafend und unheimlich verschlossen.

Die Nacht blies über dieses Schiff, es war lautlos gekommen, da lag es nun und schlief, aber der Rhein war wach und lebendig. Ich ging die Böschung bei den alten Weiden hinunter, setzte mich auf die Ufersteine und hielt eine Hand in das strömende Wasser.

Und das Wasser, unaufhörlich von Eile getrieben, schwatzte zwischen meinen Fingern, seltsames Geplauder, das sofort verstummte, wenn ich die Hand aus dem Wasser nahm.

Es ist wie die Zeit, dachte ich für mich, auch die Zeit, die noch keines Menschen Hirn begriffen hat, die voll des Grauens ist, wenn man über sie nachdenkt, auch diese Zeit strömt unaufhörlich und lautlos vorüber wie das gleißende Gewässer. Vielleicht, wenn ich meine Hand hineinhalte in die strömende Zeit, wird sie anfangen zu plaudern. Wer will es wissen, es ist allzuvieles gespenstisch, was uns umgibt.

Ich hielt meine Hand hoch, töricht hoffend, die Zeit müßte plötzlich Stimme bekommen und heimlichen Laut. Ganz hoch hielt ich die Hand und horchte in die Höhle der Nacht hinein.

Da sang das Schiff.

So und nicht anders erschien es mir. Das Schiff sang, mit einer Stimme, die mich rührte und bewegte, die irgendeine verborgene Saite in mir mitschwingen ließ. Das Lied des Schiffes, obwohl ich es nicht kannte, war mir innerlich vertraut, ich mußte dieses Lied schon einmal gehört haben, wer will es wissen, vielleicht in einem Traum, vielleicht vor hundert und soviel Jahren. Das Schiff, vor Anker sich wiegend im treibenden Gewässer, vordem von Schlaf und toter Schwärze umfangen, war mit einem Male aufgewacht, wie man überraschend aufwacht mitten in der Nacht und um eine Begegnung weiß, die man in jenen fremden Bezirken hatte, die man wachen Sinnes niemals betreten hat und die dennoch vorhanden und von vielfältigem Leben erfüllt sind.

So und nicht anders war es: das Schiff sang eine Ballade, eine alte Bänkelsängerweise aus versunkener Zeit, handelnd vom großen Kaiser Napoleon.

In einer Nacht unter Weidengebüsch am Strom sitzend, hörte ich die Ballade.

Und in diesen Augenblicken schien es mir, als müßte eine einfache Volksweise die Jahrhunderte überbrücken. Ich war so merkwürdig ergriffen, weil das Lied plötzlich solche Schleier von mir nahm und weil mir so unheimlich klar die Erkenntnis aufkam, ein Mensch, nur wenige Herzschläge lang lebend, dürfe sich nicht zum unüberlegten Richter aufwerfen über Geschehnisse und Menschencharaktere, die durch Jahrhunderte bedingt sind. Und wiederum sind diese Jahrhunderte, für unsere Zeitbegriffe schon ungeheuerlich, nur kurze Pendelschläge im Uhrwerk der Zeiten, mithin also ein einzelner Mensch nur zu atmen hat zwischen unmeßbar kleinen Zeitintervallen der Schöpfungsepochen.

Um wieviel mehr also muß er diese Zeit nützen, um nicht vergebens das uralte Leben der Jahrmillionen blitzhaft belichtet zu haben.

Sei milde, mein Freund, denn die Schatten wandern mit dem Licht, wir wissen nicht um unsern Haß und wissen nicht um unsere Liebe.

Aber die Liebe erweckt, was der Haß getötet hat.

Höre die Ballade am Strom.

Höre das Lied, das mich bestimmte, die Vergangenheit aufzurollen und das Schicksal einer Grenzmark durch einzelnes Menschenschicksal und Verkettung von Ereignissen begreiflich zu finden.

Mögen andere richten, ich aber sage dir und allen, die mir zuhören: es gibt eine Untat, die keiner Richter bedarf, denn sie richtet sich von selbst!

Ein Lied wurde gesungen unter den Sternen, und öffnete einen Schacht, aus dem ein Glühen und Funkeln brach.

Höre die Ballade vom Kaiser Napoleon:

Ballade vom Mann mit dem kleinen Hut.

Wer war es, der aus nied'rem StandeDie Krone pflanzte auf sein Haupt?Der aus dem fernen KorsenlandeMit Lorbeer sich die Stirn umlaubt?Der in Gefahren stand voll Mut?Das war der Mann mit dem kleinen Hut.
Ja, gegen wen in Sturm und WetterZog seiner Feinde zahllos' Heer?Wer stand zuletzt als Held und Retter,Weil niemand ihn besiegte mehr? Wer trug in Ruh der Stürme Wut?Das war der Mann mit dem kleinen Hut,Ja, das war der Mann mit dem kleinen Hut.
Doch eines schlug den Kaiser nieder,Erfüllte ihn mit bitterm Schmerz,Ach! Seinen Sohn sah er nicht wieder,Da blutete sein Vaterherz.Der nicht beim Sohn im Grabe ruht,Das war der Mann mit dem kleinen Hut,Ja, das war der Mann mit dem kleinen Hut.
Wenn wir mit Ruhe auch betrachten,Wie schnell des Menschen Macht vergeht,Wir dürfen nur das Große achten,Daß in dem Wechsel nichts besteht,Und sprechen dann mit kaltem Blut:Groß war der Mann mit dem kleinen Hut.Ja, groß war der Mann mit dem kleinen Hut.

Das Lied war längst zu Ende, ich saß immer noch unter der alten Weide, da sah ich, wie sich ein Nachen vom großen Schiffskörper loslöste und wie eine Gestalt mit kräftigen Ruderschlägen das Fahrzeug gegen die Strömung dem Ufer zulenkte.

Die Gestalt kam den Damm herauf, langsam, mit gesenktem Kopf und so, als ob sie etwas suchte.

Eine junge Frau, gewiß eine Schiffersfrau, sie war es wohl auch, die gesungen hatte.

Sie ging stromaufwärts, kam an meinem Weidengebüsch vorüber und sah mich nicht.

Sie war ein Schatten, ein Gebilde dieser Stromnacht, die so tief vom Erlebnis erfüllt war.

Der Schatten strich vorüber und verschwand.

Auch die Zeit strich vorüber, ich hörte sie summen und sausen, und der Rhein glänzte aus der Tiefe heraus. Es war eine große Stunde in der Landschaft, die Pappeln wehten im aufkommenden Wind.

Als ich die Hütte betrat, sah ich die Frau im Innern am offenen Fenster stehen und hinausschauen.

Sie erschrak nicht, als ich so plötzlich vor ihr stand, nein, sie wendete sich nur langsam in das Dunkel der Hütte zurück und schaute mich an, als ob sie mich erwartet hätte.

Ich zündete die Kerze an und nun wurde es dämmerig hell um uns. Da war mir, ich müßte die Frau schon einmal gesehen haben. Sie hatte dunkle Augen und beinahe schwarzes Haar, ein rundes Gesicht und einen üppigen Mund.

»Du hast aus dem Schiff gesungen«, sagte ich.

»Ja, ich habe gesungen, möglich, daß ich gesungen habe.«

»Ich muß dir schon einmal begegnet sein.«

»Das gleiche könnte ich zu dir sagen. Laß mich jetzt gehen.«

»Warum willst du gehen?«

»Weil hier ein anderer ist. Ich schlafe manchmal, wenn wir hier ankern, in der Hütte.«

»Ich will dir nicht im Wege stehen, nein, ich will die Hütte verlassen, ich kann die Nacht im Walde verbringen, es ist warm und die Nacht ist schön am Strom. Warum schläfst du in der Hütte und nicht auf dem Schiff?«

»Weil ich hier in der Nähe geboren bin.«

»Da könntest du doch auch nach Hause gehen.«

»Ein Zuhause habe ich hier nicht mehr; darum schlafe ich manchmal in der Hütte und bilde mir ein, ich bin daheim.«

»Und dein Mann ist Rheinschiffer?«

»Ich habe keinen Mann, ich bin auf dem Schiff in Dienst. Ein Partikulier, er stammt vom Niederrhein . . .«

»Wie heißt euer Schiff?«

»Magdalena. Wir haben Rundholz für ein westfälisches Zellulosewerk. Wir löschen in Ruhrort und gehen dann mit Koks zu Berg. Man hat viel Zeit zum denken auf den Bergfahrten.«

»Wo sind deine Eltern?«

»Tot.«

Sie reckte den Körper, als ob sie wachsen wollte.

»Ach Gott, zu wem rede ich das? Zu einem Fremden oder zu einem, der mich an schwere Zeiten erinnert? Es ist wie ein Rätsel.«

»Ja, durch jedes Menschen Leben geht ein Rätsel. Es wandert mit uns bis ans Ende.«

»Und darüber hinaus.«

Sie ging zum Tisch und stützte dort, aufrecht stehenbleibend, den Körper auf, indem sie die Tischplatte nur mit den Fingerspitzen berührte.

So stand sie mit gesenktem Kopf, ich aber sah, vom gelben Kerzenlicht mit einem Male funkelnd beleuchtet, ein Amulett, das sie an einer Kette um den Hals trug.

»Du trägst hier einen alten Schmuck«, sagte ich und kam auf sie zu, um den Gegenstand mir näher anzuschauen.

»Das ist weiter nichts«, sagte sie und spielte mit der Kette. Das Schmuckstück war ein münzenähnliches Amulett aus mattem Gold, auf der Vorderseite war das russische Georgskreuz, um dieses Kreuz herum stand, nur noch undeutlich erkennbar, ein russischer Spruch.

»Woher stammt dieses Amulett?«

»Du scheinst mir voller Neugierde, aber man möchte dir alles erzählen. Wer bist du und warum treibst du dich hier in den verlassenen Rheinwäldern herum? Du siehst jemand ähnlich.«

»Ich muß manchmal allein sein, um mir Klarheiten zu schaffen, um nicht irre zu werden an der wunderlichen Ordnung der Dinge. Ich weiß nicht, ob du das verstehst.«

»Ich glaube, ja.«

»Man hat Erlebnisse und Begegnungen, wenn man allein ist. Die Erkenntnis ist nicht im Lärm zu finden.«

»Aber der Lärm ist überall, wohin man kommt.«

»Der Lärm regiert die Welt.«

»Schreibst du Bücher? Du redest mir so daher.«

Ich war betroffen, weil sie das plötzlich sagte und mich dabei anlächelte.

»Vielleicht.«

»Suchst du jemand?«

»Ich suche viele. Sieh mal, ich habe einen Freund in Brasilien, der kam 1923 nach Deutschland und brachte noch einen Pfälzer aus Brasilien mit. Seine Vorfahren sind ausgewandert, damals in jener verwilderten Zeit, als dieses Land hier département du Mont Tonnèrre hieß, gegen Ende des 18. Jahrhunderts, du wirst das nicht wissen?«

»O doch, ich weiß es genau.«

»Du weißt es genau?!«

»Ja, frage mich nicht danach. Erzähle weiter.«

»Damals sind Tausende von Pfälzern ausgewandert, viele haben auch unter fremden Fahnen gefochten und geblutet in allen Ländern der Welt. Die Urahnen meines Freundes Klaus Ringeis – –«

»Klaus Ringeis sagst du?!« Sie erschrak vor dem Namen.

»Ja, Klaus Ringeis. Seine Urahnen sind nach Südamerika ausgewandert und dort zu Farmern geworden. Sie haben es zu ansehnlichen Kaffee- und Baumwollplantagen gebracht. Die Nachkommen, drüben geboren, haben ein schönes Erbe angetreten. Einer von ihnen wollte in seine Heimat. Ewig rätselhaft, er hatte diese Heimat nie gesehen, er wußte nur, daß sie zertreten war und voller Not, er hatte keine Vorstellung von den Wäldern und Bergen, von den Weinbergen und vom Rhein, es trieb ihn, nach Hause zu gehen. Nach mehr als hundert Jahren wurde etwas wach in seinem Blut und das rief ihn.«

Die Frau hatte sich gesetzt, stützte die Ellbogen auf den Tisch und barg den Kopf in den gewölbten Händen.

»Sie sagen aber doch, daß alle, die von drüben kommen, wieder übers Wasser zurückgehen und nicht in der Heimat bleiben.«

»Nicht weil sie fremd geworden sind, sondern weil sie aus ihrer schlafenden Liebe heraus ein ungeheures Maß von Heimat um sich her aufgerichtet haben. Denn glaube mir, keiner kann sich seine Herkunft aus dem Herzen reißen.«

»Du magst recht haben.«

»Genug, er kam über das große Wasser an den Strom zurück, den seine Ahnen vor Menschenaltern verlassen hatten. Er befaßte sich mit dem Gedanken, seinen fremden Besitz zu verkaufen, um hier in der Pfalz eine moderne Bodenkultur zu betreiben. Gemeinsam mit einem gewissen Bastian Berghaus wollte er Versuche machen mit Obstplantagen und Seidenraupenzucht, wie es ihn überhaupt drängte, durch seiner Hände Arbeit dem gedemütigten Lande Segen zu bringen. Es war aber das Jahr 1923 mit dem Separatistenabenteuer. In dieser schwarzen Zeit zerstörte der Verrat seinen Glauben an die Heimat, er ging über das Wasser zurück nach Südamerika, innerlich zerbrochen und verwundet, weil Menschen auf geschändeter Erde selber schändlich waren, weil sie die Ohnmacht eines unseligen Landstriches benützt hatten, um dieses Land, aus dem sie selbst die Nahrung ihres Daseins zogen, zu verkaufen und zu verschachern.«

Da sprach die Frau, einfach und doch prophetisch fast, und so, als ob ein Wissender durch sie hindurch und aus ihr heraus sich offenbarte, da sprach diese schöne dunkle Frau, die wie ein nächtlicher Vogel in meine stille Stunde gekommen war, diesen bedeutungsvollen Satz: »Du sprichst, als ob du mir dein und mein Schicksal und das des ganzen Landes erzähltest.«

Ich fand keine Antwort, ich schaute sie an, unsere Blicke begegneten sich, wir waren uns unheimlich nahe, ich senkte dann die Augen, wie um ihr recht zu geben mit einer stummen Gebärde. Und in diesem Augenblick erkannte ich sie.

Es ging wie ein Rauschen durch den nächtlichen Hüttenraum, draußen rief ein Vogel, und dann hörte ich den Wind in den hohen Pappeln.

»Nun will ich gehen«, sagte ich, »es ist spät in der Nacht und du mußt schlafen.«

»Ich schlafe nicht, es ist zuviel wach geworden in mir. Es ist kaum zu begreifen, daß du hier vor mir stehst. Manchmal kommt ein Mensch, er ist so stark, daß er alle Türen öffnet.«

Wieder spielte sie mit unruhigen Händen an dem alten Goldschmuck, dann nahm sie, immer noch im nachdenklichen Spiel, die Kette zwischen die Lippen, und jetzt waren ihre Augen groß und weit geöffnet, als sie sagte: »Ich möchte dir wohl aus meinem Leben erzählen, das alles reicht aber weit zurück. Und was ich weiß, das hat mir ein alter Fischer erzählt, der noch lebt wie ein letztes Überbleibsel aus jener Zeit, er ist über hundert Jahre alt und wohnt in einem Altersheim in Speyer. Und was ich ferner weiß, das steht in einer alten Chronik, die ein Fischer hier in der Nähe besitzt, sie reicht bis in die Zeit Napoleons zurück. Den Rest haben wir Beide selbst erlebt.«

»Und woher kennst du die Ballade vom Mann mit dem kleinen Hut?«

»Von meinem Urgroßvater. Ich will dir davon erzählen.«

»Erzähle mir, ich will mich ans offene Fenster setzen, so, daß ich den Rhein fühle, der vorüberwandert. Vielleicht wird das, was du mir zu sagen hast, nichts anderes sein, als eine Ballade, gesungen am Strom, in einer Nacht, in einer seltenen Stunde, wo sich die Jahrhunderte lautlos und unsichtbar begegnen. Und woher hast du dieses Amulett?«

»Mit ihm hat es eine sonderbare Bewandtnis. Ich war vor drei Jahren einige Zeit bei den Goldwäschern, du weißt doch, daß im Rhein viel Gold liegt, die Goldwäschereien, die früher schon hier waren, sind wieder neu aufgelebt. Ich war vier Monate bei den Goldwäschern, im Rheinkies habe ich beim Waschen den goldenen Schmuck gefunden.«

»Er hat im Rhein gelegen?«

»Ja, es klingt wie ein Märchen, denn dieser Talisman wird auch in meiner Geschichte eine Rolle spielen, wie durch ein Wunder ist er in meine Hände gekommen. Er gehörte einem russischen Offizier von einem Kosakenkorps, das um Neujahr 1814 hier über den Rhein ging. Draußen in der Niederung soll er begraben liegen, dort steht eine große Pappel, man nennt sie die Russenpappel. Ich kann das alles nur mit einfachen Worten sagen, vielleicht, daß du es in eine größere Form bringen kannst.«

»Nie habe ich eine so verwegene Nacht erlebt. Ich weiß, wo sich unsere Wege kreuzen.«

»Menschen im Grenzland gehören alle zusammen.«

»Und sind wie Schatten.« – –

Als die junge Frau die Hütte verließ, kam mit grauem Schein der neue Tag. Wir waren beide wachen Sinnes, denn die Vergangenheit, heraufbeschworen aus verschütteten Schächten, war stärker als die Schwere der Augenlider. Sie ging allein, langsam und nachdenklich, ich blieb in der Hütte zurück, aber ich hörte, am offenen Fenster stehend, die fernen Ruderschläge.

Du und ich, wir kennen diese Frau, sie ging durch unser Leben, vielleicht hat sie dich einmal geliebt. Ich will dir ihren Namen nicht nennen, du sollst ihn aus meiner Erzählung erfahren.

Es war unsagbar feierlich um mich und in mir selbst. Die Silberweiden glänzten im Morgenwind, die Pappeln waren wehende Flammen und aus den Altwässern stiegen golden und berauschend die ersten Farben des Tages.

Ich war wie auf einer unendlichen Reise begriffen; ich trieb dahin durch die Räume und Zeiten mit brausendem Gesang. Alles, was mich umgab, wurde mit mir getragen, schwamm mit mir dahin, selig und stürmisch bewegt, in einem Taumel und Wirrsal und dennoch gesteuert durch ein unbekanntes Gesetz. Und Gott war mit auf meiner Zauberfahrt, er hielt sich verborgen irgendwo hinter Gewölk und Himmelsbläue und so jagten wir dahin durch die Jahrhunderte.

O mein Freund, was sind Jahrhunderte für einen, den wir Gott nennen! Manchmal, wenn er Zeit findet und wir ihm ins Gedächtnis kommen, taucht er auf zwischen Geburt und Tod der Welten, und ein Widerschein seines Auges streift die Erde, ein Blitz im Unwetter der Gestirne.

So also stand ich am Fenster meiner Entenfängerhütte wie im Navigationsraum eines Schiffes, so also segelte ich dahin, ein rechtes Vollschiff mit allen Masten und Rahen und mit glücklichem Wind in meinen Segeln.

Als die ungeheure Blüte der Sonne aufbrach, verließ ich die Hütte und ging hinüber zum Strom, der maßlos übergossen war von Licht und wachsender Helle und voll Unruhe vorüberstürmte.

Das nächtliche Schiff war fort.

Ich setzte mich ans Ufer und sann. Was mich umgab, sann mit mir und wurde nachdenklich gestimmt.

Und so kam es, daß ich beschloß, den vergangenen Ereignissen nachzugehen, daß es mich drängte, die verwachsenen und verschütteten Pfade meines eigenen Lebens und auch die Lebenspfade anderer Menschen zurückzugehen, um mir aus dem, was gewesen, eine Erkenntnis zu holen, die mich milde und demütig stimmen sollte.

Die Demut allein ist es, die uns aufrichtet und zu reinen Menschen macht. –

Was ich schreiben werde in den nächsten Monaten hier in meiner glückseligen Einsamkeit, das werde ich für dich schreiben, wundersam Menschliches hat sich mir aufgetan, seit die junge Frau vom schlafenden Schiff herüberkam und eine Nacht verzauberte mit den Trabanten und Schatten ihres farbigen Schicksals.

Ich werde es für dich schreiben, denn ich will dich rufen. Du und ich, wir sind zwei Kameraden, deren Pfade sich immer wieder kreuzen werden. Du bist ein Strommensch, ich aber bin ein Wäldermensch.

Deine Vorfahren sind gewandert, es trieb sie in die Ferne, über die Meere, durch Urwälder und Steppen. Menschen, die dem Strom gehören.

Du gehörst dem Strom.

Meine Vorfahren lebten in Wäldern, sie verließen nicht die Kargheit ihres Bodens, die Not ließ sie noch tiefere Wurzeln schlagen. Die Wälder der Heimat, unzählige Male freventlich geschändet, waren Bestandteil ihres Lebens. Menschen, die den Wäldern gehören.

Ich gehöre den Wäldern.

Ich rufe dich zur Heimkehr und Umkehr.

Noch ist der Franzos im Land, aber ich sehe schon das Frührot leuchten.

Wir werden bald frei sein.

Notland

Inhaltsverzeichnis

Um die Jahreswende 1813/1814

Gegen Ende des Jahres1813 fluteten in ungeordneten Haufen beträchtliche Truppenverbände der in Rußland geschlagenen großen Armee durch die Pfalz, die damals französisch war und zum département du Mont-Tonnère gehörte, nach Frankreich zurück.

Es war den Verbündeten nicht gelungen, nach der Schlacht bei Leipzig Napoleon den Weg abzuschneiden, der große Stratege verstand es, noch etwa 70 000 Mann über den Rhein in Sicherheit zu bringen.

Diese Truppen aber, zusammengewürfelt aus Söldnern und Konskribierten aller Länder, hatten die Gloriole des Namens Bonaparte längst verloren, es waren chaotische Soldatenhaufen der Verwirrung und Zerrüttung, halb erfroren und verhungert, vom Nervenfieber und anderen Seuchen niedergedrückt, eine Armee in Lumpen, die sich mehr und mehr lichtete, weil Tausende von den Seuchen gefressen wurden und Tausende, namentlich Konskribierte der östlichen Departements und Angehörige der früheren Rheinbundstaaten, desertierten und nun in den verelendeten und verwüsteten Ländern links des Rheines plündernd umherirrten.

Das schreckhafte Finale eines Genies, das ganze Völker mit sich riß im Untergang, brauste auch über die Gefilde der Rheinpfalz.

Im Strom der Zurückflutenden befanden sich nicht nur Soldaten, sondern auch viele Angehörige der französischen Nation, die im Donnersbergdepartement in warmen Ämtern gesessen hatten als Douaniers und Grenzwächter, Staatsbeamte und städtische Beamte, Kommissäre, Präfekten und Unterpräfekten mit dem Troß ihrer Angehörigen, mit geraubtem Gut aus geplünderten Städten und Dörfern, schwimmend und treibend in einem Abschaum verkommenen Menschenmaterials, in brandenden Wogen fiebergeschüttelter Soldatenhaufen, denen die Uniformen am Leib verfaulten, die zerfetzt und zerschunden, ausgebrannt und hohlgefroren in die furchtbare Höhle der großen Flucht gespült wurden.

Von Osten drängten die Verbündeten nach, allen voran die Schlesische Armee unter Blücher-Gneisenau mit dem russischen Korps. Im Süden hatte schon die Hauptarmee unter Schwarzenberg am 21. Dezember den Rhein überschritten, im Norden rückte Bülow vor, die verzögerten Rheinübergänge gaben Napoleon Zeit, Teile seiner Divisionen zu sammeln, um den Feind auszuhalten. Die Scheinverteidigung der Rheingrenze gelang, der geschlagene Riese fand einige Herzschläge lang Zeit, um Atem zu holen und sich umzuschauen aus der grausigen Walstatt seiner gestürzten Genialität.

Das französische Korps Marmont, im Rückzug durch die Senke nach Kaiserslautern begriffen, sammelte sich auf der Linie Dürkheim–Neustadt–Landau.

Das ewige Gespensterschicksal der westlichen Grenzmark schwebte über dem Getrümmer von Mensch und Getier und Landschaft.

Die Zeit stand nicht still, Gott schwebte unendlich hoch über seinem Völkerschauspiel. Die Erde rollte durch die Äonen, durchmaß ihre Bahnkurve, erhellt und umnachtet, bewegtes Spiel nur im Schauer des großen Rätsels. –

Kapitel 1

Inhaltsverzeichnis

In einer Gemarkung der Haingeraide, dem Eschkopf vorgelagert, brannte der Wald. Zersprengte, flüchtende Truppen hatten eine flammende Barrikade aufgerichtet. Das Feuer entfaltete seine schaurigen Fahnen.

Ein Fanal des Menschenaberwitzes flackerte zum Himmel. Das winterliche Land war frei von Schnee, trockener Frost würgte die geschändete Erde, in den Bäumen war der Saft gesunken, es brach mörderisch über den Schlaf der Wälder herein.

Das Feuer schlug die uralten Eichen, die Buchen-Kiefern-Mischbestände, die wertvollen Kiefernstarkhölzer und den Jungwald; aus Bäumen wurden lodernde Fackeln, die zügellos zum Himmel qualmten.

Der Wald, ewig in seiner Herkunft und Wiederkehr, brannte zuschanden, ein Aufmarsch des Todes in der Nacht, Bäume stürzten in den Aufruhr, aus brennenden Nadelwipfeln prasselte der Funkenregen. Eine glühende rote Wand, in sich selber wallend und wogend, wanderte mit dem Wind, Schwärme von aufgejagten Vögeln stürzten in die Flammen, geblendet vom glühenden Tod. Was noch lebte inmitten dieses Grauens, war auf zielloser Flucht und kam im brennenden Unheil um. Der Wald, immer wieder aus der Not und Qual der Jahrhunderte neu erstanden, der Wald brannte und sein Tod war ohne Beispiel, ein Untergang von heldischer Größe, singend und brausend und orgelnd noch im Hinübersterben.

Und da die Elemente ein Schauspiel nach ihrem Geschmack wollten, schickten sie Möglichkeiten von verwegener Schau ins Treffen. In der Nacht noch raumte der Wind nach Südwesten, Wolken drängten in dumpfen Kolonnen heran, sie ballten sich über dem roten Fackelzug, dumpf lauernd und schwer von Kälte und triefender Nässe. Mit einem Male, als ob es nun Zeit sei, einen Wäldertod mit Gepränge zu umgeben, sanken sie wie Vorhänge mitten in den roten Hexenkessel.

Aus dem Himmel über dem brennenden Wald fiel das dichte Wirbelspiel des Schnees. Vom Winde gepeitscht, flimmernd und glitzernd in der Höhe unter dem Feuerschein der brennenden Bäume, fuhr das weiße Gestöber in die rote Brandung, im Niedersinken zerfließend und verlöschend im Übermaß der Hitze.

Und ganz oben in der Höhe, vom böigen Winde gezaubert, ein Wechselspiel zwischen roten Funken und weißen Flocken, in das mit kurzen Unterbrechungen die Explosionen der Kiefern- und Tannennadeln wie Feuerfontänen stießen, ein Wirbeltanz von Kälte und Hitze, ein wilder Farbenreigen über Tod und Vernichtung und ein Untergang voll hinreißender Größe.

Drei Tage schon brannte das Gebäude des Waldes, nun sanken die letzten Pfeiler, kalte Regengüsse stürzten auf verkohlte Trümmer, Rauch und Brodem stiegen aus dem schwarzen Ödland auf, der Tod blies über die qualmende Walstatt.

Bei einer Lichtung, die am Hang eines Wälderberges lag, hatte der Brand Halt gemacht.

Dort stand ein Haus, dort war kümmerliches Ackerland, leergeraubt und brach in der Trostlosigkeit des Wintermorgens liegend.

Auf diesem Schauplatz ein Mensch.

Ungeheuer allein, rätselhaftes Überbleibsel, ein Mensch. Er trug Rock und Hut eines Försters, hohe Stiefel und eine graue Hose.

Sein Gesicht, blutig zerrissen, durch Bartstoppeln verwildert, war starr und ohne Regungen, wie es das Gesicht eines Menschen ist, der nach einer Kette von Schrecken nun ausruht und in eine Art Versteinerung sinkt.

Der Mann schaufelte Erde in ein Grab. Am Rande des verkohlten Waldes stand er und warf die Schollen klumpenweise in die nasse Grube.

Ein müder Anblick.

Als er fertig war, legte er verkohltes Getrümmer von Ästen über die frische Erde, aus zwei Stämmen schlug er ein Kreuz und stieß es in den Boden.

Dann ging er in das Haus, langsam und erstaunt über alle Dinge, die er wahrnahm.

Er kam in die Küche und schaute sich um in dem leergeplünderten Raum. Die Schranktüren standen offen, Schüsseln und Pfannen, zerbrochene Steinguttöpfe lagen trostlos durcheinander.

Der Küchenherd war kalt und beschmutzt, ein Holztisch zertrümmert. In der Ecke beim Schrank lag ein Käfig mit einer toten Singdrossel.

Der Mann, ohne Mienenspiel, stand reglos und drehte nur den Kopf, wie ein Vogel, der Umschau hält in einem Bezirk, der sich mit einem Male seltsam verändert hat. Er ging dann durch die Zimmer. Zuerst durch das Getrümmer des Wohnzimmers, dann in das angrenzende Schlafzimmer. Überall standen Schub und Kasten offen, die Bilder waren von den Wänden gerissen, Vorhänge lagen zertreten am Boden, ein Tisch war umgestürzt, die Scherben einer Lampe lagen zerstreut, Öl kroch umher.

Es roch nach Tod und Auflösung, die Kälte lagerte in den verlassenen Räumen, ein Hauch von Erstarrung blies durch Spalten und zersplitterte Fensterscheiben.

›In allen Winkeln nistet der Tod‹, dachte der Mann und vernahm plötzlich ein Geräusch, das er, unerklärlich fast, bisher überhört hatte. Wie war es möglich, kein Ohr zu haben für diese lebendige Stimme.

Eine Uhr tickte.

In dieser grauen Verlassenheit tickte eine Uhr.

Der Mann suchte die Uhr.

Richtig, natürlich war dort die Uhr. Eine Schwarzwälder Bauernuhr mit schweren Gewichten, die fast am Boden hingen.

Tack tack tack, ging die Uhr, das Perpendickel schwang aufgeregt hin und her.

Eine Zauberei in dieser Gruft.

Tack tack.

Wunderlicher Anblick, der Mann trat auf die Uhr zu wie auf ein lebendes Wesen.

Er griff nach den Schnüren und zog die Gewichte hoch, erschreckend vor dem knarrenden Geräusch.

Lange blieb er vor der Uhr stehen.

Tack tack tack.

Zehn Uhr zwanzig.

Zehn Uhr zwanzig, überlegte der Mann, was hieß das, welchen Sinn, welche Bedeutung hatte es?

Ihn fror bis in die Eingeweide, er ging zum Fenster und schaute hinaus in den Wintermorgen.

Immer noch stieg Rauch aus den verkohlten Wäldern.

Alle Dinge waren fremd, verändert und wie ausgeblasene Lichter.

Unbegreiflich, daß eine Uhr dieses Grauen überstanden hatte.

Der Mann ging zu einem Sekretär, dessen Schubladen auf dem Boden lagen. Er wühlte in Papieren, griff in Bündel von Akten und Schriften.

Er las; was las er denn, der Narr? Was, zum Teufel, gab es zu lesen hier, wo nichts mehr atmete und nirgends ein Funken Wärme einem entgegenschlug?!

Lieber Gott, da lag auch eine alte Bibel, zerrissen und elend geschändet.

Tack tack tack.

Er schlug die Bibel auf, sie enthielt auf den ersten Seiten Familieneintragungen, Geburt und Taufe, Hochzeit und Tod. Den Teufel auch, da stand es als letztes Dokument, da war es zu lesen, die Schrift war nicht gemordet, die Zahlen und Zeichen waren nicht geplündert.

Peter Aust, Revierförster, geb. 1779, verheiratet mit Anna Aust, geborene Ruster, am 15. Mai 1806. Ein Sohn mit Namen Andreas, geboren am 21. April 1807.

Der Mann starrte auf die Schriftzeichen und dann drehte er wieder den Vogelkopf.

Tack tack tack.

Richtig, Peter Aust, Revierförster, geboren 1779. Eine Frau mit Namen Anna, ein Sohn mit Namen Andreas.

Tack tack.

Er griff sich an die Stirn. Sollte es nicht schon Leute gegeben haben, die ihr Gedächtnis verloren hatten! Richtig, ein Sohn mit Namen Andreas. Richtig, der Kaiser geschlagen, Bonaparte am Ende. Die große Armee bei Mainz über den Rhein. Typhus. Barbarei. Rückzug und Flucht. Flucht im ganzen Departement. Flucht am Rhein nach Frankreich, Zöllner und alle Beamte mit Frauen und Kindern, durch die Wälder nach Westen, ungeordneter Troß.

Soldaten in Lumpen, erfroren und schwarz im Gesicht vor Hunger, furchtbarer Anblick. Raub und Mord und Wahnsinn. Nur noch Zerrbilder von Menschen, nur noch Kreaturen, die nach dem Leben schrien, das ihnen so sonderbar mitspielte.

Richtig, Peter Aust.

Tack tack.

Am Boden dort ein häßlicher Fleck. Blut. Es kroch aus Winkeln und Ecken, es wand sich hinter Möbeln und Öfen hervor, alle Räume füllten sich mit Grauen, es war kein Halten mehr, eine Unflat von Schrecknis überschwemmte das einsame Gehöft.

Der Mann kletterte durch das offene Fenster ins Freie. Da stieg mit einemmal, mächtiger als der Tod und wie ein Augenaufschlag Gottes, die Sonne hoch. Über den Kalmitberg herauf hob sich das feurige Gestirn, Garben von Licht aussendend, aber mit Wärme eigensinnig geizend.

Der einsame Mensch, übriggeblieben und vergessen, stand in der Kaskade des Lichtes, ein Rest von Leben in einer Wildnis und Einöde, zusammenlebend mit einer Uhr, die noch nicht verhungert und erfroren war.

Tack tack. Durch das offene Fenster kamen die Herzschläge der Uhr.

Die Sonne stieg immer höher, das Brausen und Tönen, das von ihr ausging, wurde immer gewaltiger, sie schien zu dröhnen im Übermaß ihres Feuers, es war nicht zu ergründen, wie weit jenseits sie stand und unerreichbar jeder menschlichen Sehnsucht.

Der übriggebliebene Mensch hatte noch einen Rest von Glück, im hintersten Winkel der Scheune fand er verschrumpfte Viehkartoffeln. Er verzehrte von den rohen Knollen; wie sie dalagen, staubig und erdbeschmutzt, so nahm er sie und biß voll Gier hinein, das zermahlende Geräusch des Kauens war in der Stille des Raumes zu hören.

Er nahm den Rest der Kartoffeln, um ihn ins Haus zu tragen. Immer noch kauend, verließ er die Scheune. Als er ins Freie trat, sah er eine Frau über die Waldlichtung kommen. Merkwürdig hell hob sie sich von der Düsternis ihrer Umgebung ab.

Es war kein Traum, eine junge Frau kam mit zaghaften Schritten über die nasse, halb schneebedeckte Lichtung. Sie blieb einen Augenblick stehen, leicht vorgebeugt und wie ein Tier des Waldes, das vor einer Gefahr verhofft.

Dann standen sie sich gegenüber, der Mann in der Kleidung des Försters, verwilderten Gesichtes und blutzerschunden, und die Frau, frierend und schön in ihrer verbettelten Hagerkeit, ein wenig gebeugt, aber mit einem hohen Glanz in den hellen Augen.

»Ich weiß, was du willst«, sprach sie und schaute ihn voll an, »du willst mich jetzt – – – und dann willst du mich töten. So ist das der Brauch. Bist du ein Franzos?«

Der Mann schüttelte den Kopf, sein Gesicht veränderte sich, es war nicht frei von Begierde, vielleicht waren die Kälte schuld und die Schwere seines Daseins, daß er so ruhig stehenblieb und nur den Kopf schüttelte.

»Ich wehre mich nicht mehr«, fuhr die Frau fort, »ich bin ganz am Ende. Du kannst mich hier erschlagen. Sag, ob du ein Franzos bist? Dann ist es Zeit, daß du dich davon machst, die Russen mit den Gänseaugen kommen.«

»Ich bin kein Franzos!«

»Auch kein Franzosenkopf? Oder ein Rundschädel?«

»Nein.«

»Wohnst du am Ende hier?«

»Ja, ich wohne hier.«

»Du redest so sonderbar, ich weiß es selber nicht. Ich bin müde, ich will schlafen.«

Sie ging schleppenden Schrittes auf das Haus zu, der Mann folgte hinterher. An der Tür blieb sie stehen und deutete nach den Brandstätten.

»Hat der Kaiser den Wald niederbrennen lassen?«

»Wo ist der Kaiser?« sprach der Mann und sprach es wie im Traum. »Einmal wird er kommen, plötzlich wird er dastehen und alles wird wieder gut sein.«

»Du redest wie ein Klubist. Wer bist du, daß dir der Kaiser noch so großartig ist?«

»Peter Aust.«

»Ich kenne dich nicht. Haben sie dich hier ausgeleert? Das sieht aus, als ob die Commission de grippe einen harmlosen Besuch gemacht hätte.«

»Die kaiserliche Garde.«

»Von der Garde? Sind es noch Soldaten, oder sind es schon Gespenster? Überall liegen sie herum und verpesten die Luft. Gut, daß es kalt ist, sie sterben tausendweis. Der Hunger und das Nervenfieber. Und barfuß im Schnee. Mir wird übel, ich lebe schon tagelang auf der Flucht.«

»Woher kommst du denn?«

»Aus Sandheim am Rhein drüben. Dort ist es schon immer heiß hergegangen, weil die Landauer in der Nähe sind. Landau ou la mort. Ich war ein Kind, aber ich weiß noch, wie ein Hesse den Franzosengeneral Hiller erschossen hat. Er liegt dort begraben, manchmal in bösen Nächten reitet er mit dem Hans Trapp den Rhein entlang. Es geht schon immer zu bei uns wie im Dreißigjährigen. Aber die Franzmänner haben ausgespielt, wie die Ratten laufen sie durcheinander und suchen Löcher. Der General Marmont, der hat bloß noch ein paar elende Haufen in der Nachhut, aber so verhungert sind sie noch nicht, daß sie nicht die Fässer leersaufen und die Frauen auf den Rücken zwingen könnten.«

»Du redest daher, als ob du selber im Troß geritten wärst. Bist doch kein Soldat?«

»Ich sage dir, in diesem Land sind wir alle Soldaten.«

»Auch die Frauenzimmer?«

»Auch die Frauenzimmer; sie müssen sich zu oft ihrer Haut wehren.«

»Sind nicht Zucht und Ordnung in der Arrieregarde vom Marmont?«

»Wenn man die Großen reden hört, ja. In Wahrheit aber wird geschändet, wo es geht.«

»Der Marmont ist mit der Hauptmacht seines Korps schon hier durch die Wälder und durch die Senke nach Kaiserslautern retirieret.«

»Waren sie's, die den Wald – –?«

»Keine andern.«

»Und alles zuschanden geschlagen?«

»Alles.«

»Komm ins Haus, ich zerbreche vor Kälte.«

Sie gingen in die Küche, der Mann fand Stahl und Schwamm. Er schnitzte Späne, stopfte zerschlagene Möbelstücke in den Ofen und brannte ein Feuer an.

Sie stand gegen die Wand gelehnt, die Arme hingen schlaff, der Kopf sank nach vorn, sie strich die nassen Haare aus der Stirn.

Dann legte sie sich vorm Herd auf den Boden und schlief ein. Der Mann setzte sich auf einen Küchenstuhl und starrte die schlafende Frau an.

Es wurde warm in dem jämmerlichen Raum.

Er saß viele Stunden hier, schürte ab und zu das Feuer nach und lauerte auf den Schlaf der Frau. Seine Züge waren häßlich entstellt, Falten zogen sich um die schmalen Augen, das ovale Gesicht mit der bräunlich getönten Haut wurde gemein im niedrigen Mienenspiel.

Was lag hinter ihm, was alles mochte er erlebt haben in den letzten Tagen?! Die Ordnung und das Gesetz waren tot, eine Wildnis wuchs aus der Sinnlosigkeit dieser Zeit.

Der Mann kauerte sich auf die Erde, ganz dicht kam er an die Frau heran. Beide Arme aufgestützt, lauerte er in die Stille hinein. ›Jetzt leben vier im Haus‹, dachte er, ›die Frau und ich, das Feuer und die Uhr.‹ Er beugte sich über das Gesicht der Fremden, spürte die Hitze des Atems und roch die verrückte Ausdünstung ihres Körpers.

Da fiel er über sie und fühlte auch schon die schreckliche Glut ihres Mundes. Er schloß die Augen vor der Verräterei des Lichtes.

Sie blieb eine Weile unbeweglich, als bedürfte es einer gewissen Zeit, um aus dem Rätselschacht aufzutauchen; vielleicht auch fühlte sie eine knappe Weile diese Umschlingung wie Schutz und Ausruhen. Vielleicht trug dieser Frevel einen Herzschlag lang die Maske des Geborgenseins.

Dann stieß sie ihn von sich und richtete sich halb auf. »Teufel!« flüsterte sie erregt, ihr Mund war feucht, das Haar hing wirr in die Stirn. Sie hatte blaue Augen, angstvoll geöffnet. Was für Wunderaugen!

»Teufel, müßt Ihr immer nur das eine – –wer bist du denn? Ich bin ganz wirr – – schaust jetzt aus wie einer von den Speckreitern von der Hackmesserseite drüben. Richtig, Peter Aust, hast du nicht Peter Aust gesagt?«

Sie sah ihn dicht vor sich, seine Augen brannten, er zitterte am ganzen Körper, ein Beben rann durch die aufgestützten Arme. Er öffnete den Mund, aber er sprach nicht, eine Hand fuhr nach ihrer Schulter.

»Du Tier, du! Weißt du, wo der liebe Herrgott ist? Weit fort, auf ferner Reise, alle Tore zu ihm sind zu. Kein Weg zu ihm. Laß mich los!«

Der Mann ließ ab von ihr, er ging zum Feuer und schürte. Er starrte in die Flammen und hatte schändliche Gedanken.

Es wurde Abend, die frühe Winternacht kam über die Haingeraidewälder, düstere Wolken schwammen vom Westen herüber, es roch nach Schnee.

Sie erhob sich vom Boden und stand aufrecht mitten im Raum. Und sie sprach es mehr zu sich und in die Leere hinein.

»Mal in Frieden leben und wissen, ob man deutsch ist oder welsch. Verstehst du das, wissen, ob man deutsch ist oder welsch!?«

Sie breitete die Arme und starrte eine Weile nach der Decke, von dort sank die Trauer auf sie nieder, ihr verkommenes Dasein schwoll über sie herein, sie wurde niedergedrückt von ihrer Ausweglosigkeit.

Mit den flachen Händen fuhr sie über die Wangen nach den Schläfen und dort preßte sie die Hände fest, als wollte sie ungeheuerlichen Gedanken wehren, auszubrechen und Unheil zu verbreiten.

»Meinst vielleicht, ich bin irgendeine Hergelaufene, hee, oder ein Wildfang, sag's?! Bildest dir ein, brauchst nur den Finger krumm zu machen. Wo sind denn deine Leute? Hast du keine Frau und Kinder hier auf dem Wälderhof?«

»Tot!«

»Erschlagen, gelt? Dein Kaiser hat für sie gesorgt. Das kann man nicht zu Ende denken. Bei uns zu Hause ist deutsch und welsch in der gleichen Familie, aus dem gleichen Leib geboren, im gleichen Zimmer großgezogen. Paß auf, jetzt müssen wir noch russisch lernen.«

»Meinst du die Kosaken?«

»Die Russen kommen, sie stehen schon am Rhein. Die Kalmücken mit den Gänseaugen, ich kann dir ein Lied singen.«

»Was weißt du von den Russen?«

»Ho hoo! Soll ich dir etwas verraten? Mein Bruder ist Kosak beim Karpow. Als junger Deutscher ist er schon zum Condé und wollte den Napoleon in die Pfanne hauen. Dieweil vorher mein anderer Bruder als Patriot unterm Freiheitsbaum für die Jakobiner gebrüllt hat, und dann ist er zu den Schmugglern an den Rhein, als Franzosenkopf steckt er mit den Douaniers unter einer Decke. Er ist schuld, daß ich wie ein Tier durch die Wälder laufe.«

»Dann hältst du es mit den Russen! Sind dir die Gänseaugen lieber?«

»Nicht mit den Russen – – aber mit den Deutschen.«

»Deutsche?! Qu'est que ça?«

»Einmal werdet ihr es alle wissen!«

Wieder lehnte sie sich gegen die Wand, mit gebreiteten Armen sich stützend, schaute sie nach dem Fenster, wo das Grau der Dämmerung schwamm. Ihr Kopf war zurückgeschoben, man hörte das Feuer in die Stille hineinknistern.

»Einmal werdet ihr es alle wissen«, sprach sie wiederum, dann tauchte es vor ihr auf und war wie eine trostvolle Spiegelung.

»Vielleicht, daß wir soviel Schweres tragen müssen, daß einmal unsere Kinder ruhig schlafen können. Ich habe ein Kind, o Gott, zu Hause habe ich ein Kind. Vielleicht leben wir nur für die Kommenden.«

Sie weinte, nun sie an das Kind dachte, unbeweglich stand sie gegen die Wand gepreßt, ihre Tränen, alle Umgebung verklärend, rannen in die Stille.

›Madonna‹, dachte der Mann, dem die letzte Menschenregung aus dem Herzen brach. ›Madonna‹, dachte er. –

Sie verließ die Küche und schaffte Ordnung im Wohn- und Schlafzimmer. Was noch übriggeblieben war an Möbelstücken, richtete sie auf, auch ein Bett brachte sie in Ordnung und trug das zerschlagene Gerümpel beiseite. Die Nacht kam tief und ohne Mitleid.

Gott mochte wissen, welche Stunde es war. Der Mann hatte Kartoffeln in die heiße Asche geworfen, aber die Frau aß nicht, von plötzlicher Schwäche gepackt, warf sie sich in den Kleidern auf das Bett und sank in einen tosenden Abgrund.

Der Frost griff mit hageren Händen durch die zerbrochenen Scheiben, Fetzen von Vorhängen wehten, es fiel weiß vom Himmel in schwermütigem Gestöber.

Als sie in der Nacht aufwachte, saß der Mann vor ihrem Bett. Er wühlte in ihren Kleidern, sie sah ihn nicht, sie fühlte nur, wie seine Hände ihren Körper betasteten.

»Was willst du von mir?«

Gott im Himmel will ich danken, ging es durch ihren Sinn, Gott im Himmel, wenn er nicht so weit fort ist, will ich danken, weil ein lebendes Wesen in meiner Nähe ist. Nur nicht so ganz allein unter toten Soldaten.

Sie fühlte, wie der Mensch am ganzen Körper zitterte, sie hatte Mitleid mit ihm, sie waren Menschen unter einem Himmel. Zwei Zugtiere, ihrem verwegenen Schicksal vorgespannt.

Mit Kleidern und Stiefeln sank er auf das Bett, sie wehrte ihm nicht, daß er an ihrer Seite lag. Es ist sein Haus, dachte sie, sein Zimmer, sein Bett, er ist ein Mensch wie ich.

So lagen sie Seite an Seite, in einem verödeten Haus zwischen abgebrannten Wäldern, abseits, unvorstellbar ausgeschaltet und übriggeblieben.

»Warum bist du davongelaufen?«

»Weil sie mich sonst gehenkt hätten. Die colonne mobile war hinter mir her.«

»Was hast du denn getan?«

»Das will ich dir sagen: ich habe russische Parteigänger, ein Dutzend Jäger vom Wittgenstein hinter die französischen Linien geführt. Mein Bruder, Robert Seffrin, hat mich verraten, damit du seinen Namen weißt. Mein Mann liegt erschlagen in Rußland, mein Kind ist zu Hause, und ich muß in die Wälder – – –«

»Sind die Russen schon da?«

»Hinter Mainz und im Elsaß sind sie über den Rhein.«

»Woher weißt du das alles?«

»Wir haben die Ohren und Augen auf in unserm Land. Wir sind immer wach.«

»Spion bist du? Aber der Kaiser ist noch nicht am Ende.«

»Narr, der Kaiser fährt in die Hölle! Laß mich schlafen.«

»Der Kaiser ist noch nicht am Ende. Er hat Flügel und er kann zaubern. Er kommt auf einem weißen Pferd und Gott ist sein bester Kamerad.«

»Du redest im Fieber.«

»Der Kaiser – – der – – Kaiser!« –

Über die Wälder sank der Schnee. Das Land schlief, die Erde, unwandelbar treu, voll tiefen Sinnes und voll verborgener Kräfte, verbarg sich unter dem weißen Wunder. Zeitlos und vom Ewigen angehaucht, stand sie außerhalb aller Verworrenheit und verharrte ungeheuerlich in ihrer Beständigkeit.

Durch Wälder und Täler, durch Schluchten und Senken flüchteten Menschen.

Soldaten, Soldaten, Soldaten.

Sie starben im Schnee, im Frost, in der Schwärze der Nacht, sie sanken in das Bett der Erde, verröchelten am Weg, zwischen Bäumen und Felsen.

Schnee bedeckte ihre verkrampften Körper.

Sie schliefen.

Viele Soldaten, Freunde und Feinde, Menschen und Menschenbrüder, viele Soldaten schliefen im Schnee.

Nie, seit Monden, hatten sie so tief geschlafen.

Und so sauber, und traumlos, und ohne Hunger, und ganz im blühenden Weiß.

Noch einmal in der Nacht richtete die Frau sich im Bett auf und starrte nach dem Fenster, das mit grauem Glanz in die Schwärze leuchtete.

»Heute ist ja Weihnacht«, sprach sie still. »Weihnacht ist heute.«

Von einem wehmütigen Gefühl getrieben, faltete sie die Hände, Tränen rannen aus den Augen, sie weinte stumm und verborgen und bewegte kaum merklich die Lippen. Lieber Gott, wenn du dich abgewandt hast von uns, verlasse uns nicht ganz. Halte deine Hände über meinem Kind und über allen Bedrängten, die in der Heimat sind und draußen im fernen Land. Sind nicht viele übriggeblieben von uns; sind dir nachgewandert in die Ferne, nach Amerika, und über alle Meere, vielleicht, daß du ihnen näher bist in der Ferne. Wir am Strom wandern leicht, das rauscht und fließt immer an uns vorüber, und wir müssen mit, weil wir die Not nicht mehr tragen können.

Sie ließ die Arme sinken, saß immer noch aufrecht und sah weißes Geflimmer gegen das Fenster schweben. Die Atemzüge des Schlafenden schreckten sie auf, sie wandte sich und sah, nur undeutlich und von Schwärze überdeckt, den fremden Menschen in ihrer Nähe liegen, den Förster Peter Aust aus den Haingeraidewäldern. Und die Erinnerung an etwas Furchtbares tauchte auf.

»O Gott, was habe ich getan!« hauchte sie.

Leise stahl sie sich aus dem Bett und trat ans Fenster. Die Stirn drückte sie gegen die kalten Scheiben, ganz nahe war sie dem sinkenden Schnee.

»Weihnacht ist heute«, sprach die Frau.

Kapitel 2

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Zwei Tage später kam im Galopp ein Reiter über die Ebene bei Neustadt. Er ritt einen prachtvollen Fuchs, trug einen grauen Soldatenmantel ohne Achselstücke und eine Fuchspelzmütze, die tief in die Stirn gezogen war. Als der Reiter zwischen die Weinberge kam, zügelte er das Pferd, denn die schmalen Wege waren schlecht und holperig, und Schneeverwehungen verwischten oft die Grenze zwischen Weg und Wingertzeilen.

Es schneite in einem dichten, wirbelnden Gestöber, das Gebirge war verhängt, schon die nächste Umgebung lag im Grau des winterlichen Wetters.

Zwischen Neustadt und Landau befand sich an einer Straßenkreuzung ein kleines Weinwirtshaus, dort stieg der Reiter ab und band das Pferd an einen Eisenring, der in die Wand eingelassen war.

Es wurde auch schon die Tür geöffnet und heraus kam stürmisch und froh bewegt ein junger Mensch, ein Knabe fast. Er war siebzehn Jahre alt, seine Augen glühten, als er auf den Reiter zutrat und beide Hände ausstreckte.

»Ihr seid halb eingeschneit; kommt herein, ich will Euer Pferd so lange in den Stall bringen.«

»Du weißt, daß ich nicht lange bleiben darf, es ist auch zu gefährlich und es darf mich niemand sehen. Ist der Vater zu Hause?«

»Ja, und Mutter auch; aber kommt nur rasch herein.«

Der Reiter schüttelte den Schnee ab, während der junge Mensch das Pferd in den Hof führte.

Es fing zu wehen an, der Schnee fiel immer dichter, der Wind fuhr pfeifend um das Haus.

Der Reiter trat in die kleine Gaststube. Als er die Fuchspelzmütze vom Kopf nahm, quoll blondes Haar in herrlicher Fülle hervor, ein Gesicht voll Liebreiz und Anmut offenbarte sich, ein Paar leuchtende blaue Augen hielten Umschau und ein weicher, blühender Mund lächelte den Wirt an, der aus der hinteren Tür hervortrat.

Jetzt erst zeigte sich, daß der Reiter eine Frau war, jung und voll temperamentvoller Schönheit, selbst die rauhe Soldatenkleidung vermochte nichts von der Jugendfrische ihres weiblichen Wesens zu tilgen.

»Gnädige Frau«, sprach der Wirt, »Ihr seid wieder geritten? Will die Unruhe kein Ende nehmen?«

»Wir werden noch lange reiten müssen. Und ich glaube, wir werden immer wieder reiten müssen, auch unsere Kinder und Kindeskinder.«

»Gott helfe Euch, gnädige Frau.«

Der Sohn kam zur Tür herein, er trat auf die junge Frau zu und schaute sie glücklich an.

»Ich freue mich, daß Ihr gekommen seid.«

»Du freust dich?«

»Ja, ich habe auf Euch gewartet. Tag und Nacht habe ich gewartet.«

»Es bedeutet nichts Leichtes für dich, wenn ich komme.«

»Nichts ist mir schwer genug, wenn ich es für Euch tun darf.«

»Du sollst es aber nicht für mich tun, du sollst es für alle tun.«

Er schwieg und senkte den Kopf.

»Wenn Ihr es wünscht, dann will ich es auch für alle tun.«

»Du sollst nach Landau hinein. Wirst du das fertig bringen?«

»Ich habe es schon einmal fertig gebracht.«

»Er bringt sich noch um Kopf und Kragen«, sprach der Vater besorgt und legte die Hand ums Kinn. »Wollt Ihr einen Tee, gnädige Frau?«

»Bringt etwas Warmes, es kann auch eine Suppe sein.«

Der Wirt ging in den niederen Küchenraum, an der Tür blieb er noch einmal stehen, schaute seinen Sohn an und schüttelte den Kopf.

»Ich habe drei verloren, gnädige Frau, er ist der Letzte.«

Er schloß die Tür.

»Du hast gehört, was der Vater gesagt hat. Willst du es diesmal wieder tun?«

»Wie könnt Ihr fragen!«

»Es ist gefährlich.«

»Was wäre ich vor Euch, wenn Jeder es fertig brächte.«

Die Frau knöpfte den grauen Mantel auf und brachte ein Paket zum Vorschein.

»Dies sind tausend Flugblätter, die vom Sturz Napoleons berichten, ich habe sie in Speyer geholt, du sollst sie nach Landau hineinschmuggeln. Was sagst du dazu?«

»Gebt her.«

»Wird es nicht zu gefahrvoll für dich sein?«

»Habt keine Sorge. Gott ist mit mir und – der Gedanke an Euch.«

»Knabe.« Sie lächelte ihn an.

»Ich bin kein Knabe mehr.«

»Du weißt nicht einmal, wer ich bin.«

»Danach frage ich nicht. Gebt mir das Paket.«

»Es ist viel, was du tust.«

»Es ist nichts.«

»Du wirfst dein Leben fort?«

»Ich werde nicht sterben, das weiß ich. Sind die Russen schon überm Rhein?«

»Ich habe von einzelnen Streifen gehört. Kosakenregimenter sind auf der badischen Rheinseite.«

»Die Franzosen sind überall auf dem Rückzug, durch die Wälder flüchten sie nach Frankreich. Wir haben hier vor acht Tagen die letzten Franzmänner gesehen, aber in Neustadt sollen sie noch sein.«

Er schaute die Frau fragend an, ein seltsamer Zweifel lag in seinen Augen.

»Glaubt Ihr, daß Napoleon untergehen kann?«

»Auch der Größte kann stürzen über Nacht.«

»Aber Napoleon?!«

»Auch Napoleon.«

Er spielte unruhig mit den Händen, etwas schien ihn noch zu bedrücken, er quälte sich damit herum.

»Jetzt werden die Russen ins Land kommen?« fragte er zögernd und kaute auf den Lippen.

»Als unsere Befreier.«

Er schaute sie an und antwortete nicht, er drehte unruhig den Kopf und zog die Schultern hoch.

»Warum fragst du nach den Russen?«

»Ich habe Furcht«, erwiderte er.

»Furcht hast du?!«

»Nicht für mich, oh, ich fürchte mich nicht vor den Gänseaugen.«

»Nicht für dich? Für wen denn sonst?«

»Für Euch, gnädige Frau.«

Er senkte den Kopf, eine leichte Röte schwamm in sein Gesicht, er wurde verlegen und wandte sich unwillig ab.

»Du brauchst dich nicht um mich zu sorgen.«

Er sprach es leise und mehr zu sich selbst: »Nachts ist mir das schon so erschienen, ich weiß selbst nicht, wie. Als ob eine Gefahr für Euch – nichts davon, nichts. Gebt mir das Paket!«

Sie gab ihm das Paket mit den Flugblättern.

Der Wirt brachte den Tee.

Sie tranken beide, die junge Frau und der Knabe.

Sie saßen schweigend alle drei, einmal kam die Frau des Wirtes herein und setzte sich zu ihnen an den Tisch.

»Kommt jetzt wirklich die Freiheit?« fragte sie.

»Freiheit«, sprach die Frau im grauen Soldatenmantel, »Freiheit, was ist das? Ich glaube, wir wissen es alle nicht.«

Nach einer halben Stunde brachen sie auf.

Der junge Mensch zog einen schweren Mantel an und stülpte eine Mütze über Kopf und Ohren.

Er verbarg das Paket unterm Mantel und ging wortlos hinaus.

»Er ist der Letzte«, sprach wiederum der Wirt, die Mutter stand starr, aber gläubig. Ohne Tränen stand sie, denn sie hatte, wie viele in diesem Land, das Weinen verlernt.

Draußen brachte der junge Mensch das gesattelte Pferd. Sie trat vor ihn hin.

»Gott sei mit dir«, sprach sie still und lächelte ihn an. Er nahm ihre Hand und kniete vor ihr nieder in den Schnee, ganz gefangen von seiner Jugend und von der Unbändigkeit seines Herzens.

»Was tust du, stehe auf. Du bist noch ein Knabe.«

Er stand vor ihr und schaute sie an, sie sah die Tränen in seinen Augen glänzen.

Da nahm sie seinen Kopf in beide Hände und küßte ihn auf den Mund.

Er stand verwirrt und blutübergossen, er zitterte und bebte, er schämte sich seiner Tränen.

»Ich könnte sterben für Euch«, sprach er.

Sie legte den Arm um ihn und schaute ihn noch einmal an.

»Nicht für mich, für etwas Großes mußt du sterben können. Leb wohl.«

Sie stieg in den Sattel und ritt in das Schneetreiben hinein. Er schaute ihr nach, sie versank wie ein Schatten in der grauen Wand.

Kapitel 3

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Am Tage vor dem geplanten Rheinübergang des russischen Korps Sacken, am 31. Dezember 1813, sollten überraschend und unter dem Schutz des dichten Nebels einige Regimenter des Kosakenkorps Karpow in der Nähe von Germersheim über den Rhein gehen, um auf vorgeschobene Abteilungen der abziehenden Armee Marmont zu stoßen und die Rheinübergänge Sackens und Langerons zu sichern.

Am Spätnachmittag dieses Tages kamen auf der badischen Seite drei Berittene rheinaufwärts. Voraus ritten der Husarenoberleutnant Bastian Berghaus vom Streifkorps des Prinzen Biron von Kurland und der Wachtmeister Peter Seffrin von den Garde-Volontärkosaken. Beide waren als Ortskundige vorübergehend dem Kosakenregiment Sementschenko attachiert. Ihnen folgte der russische Leutnant von Litinow vom gleichen Regiment. Er war als Sprachkundiger der Streife zugeteilt. Alle drei trugen Pelzmützen, Berghaus eine Tatarenpelzmütze mit Totenkopf, graue Russenmäntel und lange Überknöpfhosen aus russischem Tuch. An den Sätteln hingen bepackte Dachsranzen.

Sie sollten eine für den Übergang geeignete Stelle finden und das Gelände im Umkreis erkunden, eine schwere Aufgabe, denn der Rhein führte Eis.

Undurchdringlicher Nebel lagerte über dem Strom, über Altwässern und Niederung. Das Poltern der Eisschollen drang aus der grauen Nebelflut.

Oberleutnant Berghaus kannte den russischen Kameraden erst wenige Tage, sie waren einander fremd, Peter Seffrin aber war hier zu Hause, er stammte aus dem Dorfe Sandheim am Rhein, wo sein Vater Schulmeister war, wo auch seine Frau lebte, die Tochter vom Fischer Ringeis, wo seine Schwester lebte und sein unseliger Bruder, der es mit den Jakobinern hatte. Keine halbe Stunde von hier entfernt war seine Heimat, er kam aus Rußland und war mit den Kosaken hinter dem Napoleon her. Aber eine Stunde Zeit würde man schon finden, um zu Hause Umschau zu halten nach so vielen Jahren.

Die Reiter sprachen wenig, alle drei hatten die Gewißheit, daß eine große Aufgabe zu erfüllen war.

»Kamerad, Ihr kennt den Strom?« fragte der Russe.

»Ja, wir kennen ihn genau.«

»Wo sind wir, es ist wie im Nichts.«

Die Deutschen zügelten ihre Pferde, von Litinow kam an ihre Seite. Nebel dampfte über sie hinweg, sie standen auf einem alten Damm, nicht weit von hier war wegen der Überschwemmungsgefahren ein Durchstich gemacht worden. Die Pferde drängten zueinander, weiß strömte es aus ihren Nüstern.

Und ganz verhalten, kaum vernehmbar, sprach der Kosak: »Ich glaube, wir reiten in den Tod.«

Berghaus schaute ihn an, er sah das slawische Gesicht grau vor sich und von Nebeln verhängt.

»Man muß wissen, warum man reitet«, antwortete er.

Der Kosak erwiderte: »Für eine große Sache muß man reiten, dann ist der Tod nichts mehr. Wir reiten für Rußland.«

»Und für Deutschland.«

»Deutschland, ja, aber wo ist Deutschland?!«

»Hier ist Deutschland, Kamerad, und überm Rhein ist Deutschland, und das Land, durch das wir Wochen lang geritten sind, das alles ist Deutschland. Und hier drinnen ist Deutschland, hier!« Er schlug sich auf die Brust.

»Es muß sein, wie Ihr sagt, Kamerad.«