Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
In Roland Betsch's novel 'Die Verzauberten', readers are transported to a magical world filled with enchantment and mystery. Through vivid imagery and lyrical prose, the book explores the complexities of human emotions and relationships in a fantastical setting. Betsch's writing style is reminiscent of classic fairy tales, blending elements of fantasy and realism to create a captivating narrative that will leave readers spellbound. The thematic depth of the novel is evident in its exploration of love, loss, and the power of storytelling.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 344
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Books
Es macht den Eindruck, als wollte unser Direktor, der in Leid ergraute Komödiant, die Ritterstiefel anziehen. Aus Spielplanverzweiflung hat er eine alte Posse neu inszeniert und das ist schon fast ein Akt der Notwehr. Sein Theater, bekennen wir es offen, sein alter Musenstall wackelt wie ein fauler Zahn; der Kuckuck geht um, Gott weiß es, daß ich recht habe.
Der Kollege Hurrle, altes Roß und Charakterkomiker, Kreatur unter diesen Sternen, die schon mit allen widrigen Winden gesegelt ist, Kollege Hurrle und ich, ein junger Kerl mit Baßgeigen am Himmel, wir haben die Hauptrollen: zwei Handwerksburschen; zwei Pennbrüder und Kornhasen. Lustige Rollen und immer noch gut hinzulegen, wenn man auch nur ein Stück Leberkäse im Magen hat.
Beim Satan, der Stall ist gut besetzt; es wimmelt nur so in Logen und Rängen. Ich glaube, das Völkchen wittert eine neue Hinrichtung. Wissen sie am Ende, daß wir schon seit Wochen keine Gage mehr gerochen haben, daß der Fundus gepfändet ist und die Vollstreckungszündschnüre überall glimmen? »Es gibt Wunder,« meint treuherzig unsere Naive und heult in die frische Schminke hinein, »glaubt mir, es gibt Wunder. Denkt an die Auferweckung des Lazarus. Und Jesus hat aus Wasser Wein gemacht, und mit einem Brot viele Tausende gespeist. Es gibt Wunder.« Man sieht, unsere Naive ist bibelfest.
Der Direktor ist beachtlich nervös. Er steht in der ersten Gasse und schluckt Aspirin. Er ist sehr nervös, sage ich; seht nur, wie ihm der Schweiß ausbricht. Oh, es ist furchtbar, wenn einem diese Sorte Schweiß ausbricht. Was sind Tod und Untergang, was sind Auflösung und Agonie gegen solche Qualen! Herr Direktor, Kopf hoch, will ich sagen, aber er ist nicht mehr da; er ist hinter einem Prospekt verschwunden.
Ich selbst bin gar nicht so niedergeschlagen und verzagt. Nun ja, ich bin noch jung und kann Püffe vertragen. Ich bin noch nicht wund gerieben und noch nicht so verkommen vor Elend, wie die andern. Nein, ich habe Mut. Hört nur, wie es braust und summt hinterm Jammerfetzen. Das ist Publikum. Das sind die Theaterbesucher; die Premierentiger; die Sensationshungrigen. Schön ist dieses Sausen und Brausen wie von fernen Wasserfällen. Mir wird ganz wohl dabei und ich bin wahrhaftig aufgeräumt und guter Dinge. Zum Beispiel gehe ich mit festen Schritten zum Vorhangauge und schaue hinaus in den Zuschauerraum. Nein, so viele Menschen; überall Menschen, gut angezogen und fröhlich erwartungsvoll. Und satt sehen alle aus; satt und gewaschen und bürgerlich versorgt. Nur still, ich weiß, daß sie ohne Mitleid sind. Menschen im Theater sind mühsam gebändigte Bestien. Sie brechen gerne aus; sie lauern darauf, zerfleischen zu können; sie sind, ich schwöre es, bis in die letzte Seelenfaser erbarmungslos.
Ich widerrufe, was ich gesagt habe; zerknirscht schwöre ich es ab; denn seht nur: da steht jemand aufrecht und schlank in der zweiten Parkettreihe. Da steht jemand und leuchtet fast magisch heraus aus dem brodelnden Brei. Es ist eine junge Dame, ein Mädchen, ein göttliches Geschöpf. Sie steht da, sage ich, und läßt mich plötzlich alles vergessen, was ringsumher lauert. Seht nur, so steht sie da: ein wenig gegen die Rückenlehne des Klappsitzes gebeugt, den Kopf aufrecht, und kindhaft verwundert Umschau haltend. Sie hat strohgelbes Haar und ein lustiges Gesicht mit einer sogenannten Stumpfnase. Ich beteure ausdrücklich, daß ich nie in meinem Leben etwas gegen Stumpfnasen gehabt habe.
Wie mag es kommen, daß diese junge Dame, fremd und Gott weiß, woher, daß diese junge Dame, zufällig hier wie eine ahnungslose Blume mitten in der drohenden Katastrophe blühend, wie mag es kommen, daß sie mich so seltsam bewegt; daß ich plötzlich so dankbar bin, zu leben und Komödiant zu sein und überhaupt hier durch das geheime Vorhangauge schauen zu dürfen?
Jetzt, o Himmel und Hölle, wendet sie den Kopf und ihr forschender Kinderblick trifft das Vorhangauge, hinter dem ich hinausspähe. Unsere Blicke tauchen ineinander, mir geht ein Läuten durch den Kopf, und ich weiß plötzlich, daß ich nicht umsonst gelebt habe. Vielleicht, so denke ich, bin ich geboren worden, um diese Sekunde zu erleben. Ein solcher Tor bin ich und Tollpatsch! Ein Glück, daß jetzt Kollege Hurrle kommt; Hugo Hurrle, altes Roß und Charakterdarsteller; Kreatur, die schon mit allen Winden gesegelt ist.
»Mensch, mach, daß du am Fetzen wegkommst, es geht los.«
»Einen Augenblick, Hurrle,« sage ich, »nur eine Sekunde!«
Schon ruft jemand: Bühne frei!
»Hurrle,« flüstere ich hastig, »schau mal raus! Siehst du das strohgelbe Mädchen?«
Er schaut hinaus und lacht, hat ein Feixen, für das ich ihn ohrfeigen könnte.
»Komm,« sagt er, »komm! Ich glaube, du bist vor Hunger schon sentimental geworden.«
Wir gehen durch die zweite Gasse von der Bühne.
»Du wirst nicht ableugnen wollen, daß sie – –«
»Man muß rauchen; immerfort rauchen.«
»Du sollst mir antworten. Ich meine, es gibt Begegnungen im Strudel des Daseins – –«
»Der Alte gefällt mir nicht. Dieser Abend nimmt ein säuerliches Ende.«
»– – will sagen, manchmal treffen zwei Menschen aufeinander, – – ich meine, unter den Millionen zweibeiniger Wesen, die durch die verlausten Tage stolpern, gehören manche zwangsläufig paarweise zusammen – –«
»Du bist krank. Deine Nerven haben zu wenig Fett. Du mußt wissen, wenn man zu wenig Fett – –«
»Mir steht der Sinn keineswegs nach Fett, mein Ehrenwort.«
Hurrle lehnt sich gegen einen frisch geleimten Apfelbaum. »Das ganze Mädchen mit allen gelben Haaren und Haarwurzeln sei dein, wenn du mir zwei Mark pumpst.«
»Hugo, ich habe nur noch zwanzig Pfennige, schlag mich tot!«
»Sie ist gerichtet!«
»Du sollst jetzt nicht zitieren. Es steht dir schlecht zu Gesicht, in solcher Stunde zu fachsimpeln.«
»Das stinkt hier ordinär nach Leim. Geh mal zum Vorhangzieher, ob er eine Zigarette hat. Jetzt ist schon alles egal.«
»Wir kriegen Gage. Die Zentralstelle hat Tagesinkasso.«
»Schwärmer!«
»Wir kriegen bestimmt Gage, Hurrle.«
»Du bist und bleibst ein Kind. Ich will gehen und dir einen Sandhaufen suchen.«
Er schlurft in seiner Vagabundenmaske im Kreis herum. Dann bleibt er vor mir stehen, schlenkert mit den Armen und setzt seine melancholische Fratze auf.
»Das sind wir. Hier, bitte! Vagabunden. Jawohl, Vagabunden. Und obendrein haben wir noch einen zweifelhaften Charakter. Das Theater verdirbt jeden. Mir steht's manchmal bis da!«
Mit der flachen Hand macht er eine Bewegung quer über den Hals.
Die alte Posse steigt. Nur Mut, Freunde! Habt alle Mut!
Beim ersten Auftritt zittre ich. Nie habe ich so gezittert. Vor mir die schwarze Höhle, der furchtbare Rachen, in dem es leise und untergründig brodelt. Mir tun die Lampen in der Fußrampe weh. Hoppla, die Menschen lachen; der große, gähnende Rachen, der Brei im Rachen kichert und kollert. Mitten im Spiel denke ich an die strohgelbe Dame. Irgendwo sitzt sie in dieser wahnsinnigen Höhle. Vielleicht lacht auch sie. Jetzt bin ich nur noch eine gezogene und gezerrte Marionette.
Da kommt Hurrle; oh, wie ausgekocht er ist, wie abgestumpft! In allen Sätteln gerecht. Da kommt er in die Szene gestolpert und wirkt wie eine Bombe. Es dröhnt im dunkeln Raum draußen. Und im großen Dialog mit mir, während er alle Register seines burlesk komischen Könnens zieht, sagt er zwischendurch leise zu mir: »Bruder in Apoll, das ganze Haus duftet aus allen Löchern nach Pleite.«
Und spielt weiter. Gibt mir ein falsches Stichwort und ich schmeiße um ein Haar die große Szene. Aber er, der routinierte Hund, der durchtriebene Rampenrutscher, er rettet spielend, mit einem satt überlegenen Behagen die Szene und redet mir zwischendurch wieder ins Konzept.
»Bei jedem Satz schlägt mir der Magen gegen's Zwerchfell. In Alaska haben wir Renntieraugen gefressen. Gib mir ein einziges Renntierauge!«
Es gibt viel Beifall nach dem ersten Akt.
»Macht Vorhänge!« ruft jemand von hinten. »Schindet Vorhänge! Fetzen rauf! Runter! Rauf!«
Wenn der Jammerfetzen hochgeht, sehe ich jedesmal die junge Dame in der vorderen Parkettreihe. Sie sitzt fröhlich im Sessel und klatscht in die lieben Hände.
Ich taumle in meine Garderobe und stelle mich vor den Spiegel. Wenn du dich abschminkst, denke ich, bist du ein ausgeschlupfter Landstreicher. An dir ist wahrhaftig nichts Unechtes. Mit diesen Lumpen am Leib, mit diesen Schuhen, mit diesem speckigen Hut könntest du ohne weiters fechten gehen.
Jetzt kommt Hurrle.
»Du,« sage ich und bin frohen Mutes, »es schlägt ein.«
»Was schlägt ein? Der Blitz?«
»Der Mist, den wir spielen.«
»Findest du?«
»Na, wenn die Zuschauer heute auf den Händen sitzen, sind wir verloren.«
»Teile nur bitte vorher kein Gemüse aus.«
Kaum hat er das gesagt, stürzt unser Ohrenbläser in die Garderobe. Er ist hell entsetzt und jammert uns eine Schauernachricht in die Ohren.
»Kinder, Dalles! Der Talentpächter ist mit der Abendkasse auf und davon.«
»Wie bitte?« meint Hurrle und feixt niederträchtig.
»Der Direktor ist durch die Lappen. Ab mit Rückenwind.«
Gleichzeitig geht draußen ein großer Rummel los. Ein bedenklicher Wind fegt zwischen die Kulissen. Wir gehen hinaus und sehen, daß sie wie die Mäuse umherrennen. Ein kleiner Aufstand ist ausgebrochen; die Leute wollen nicht mehr weiterspielen, zeigen hingegen alle Lust, den Herrn Direktor zu verfolgen, ihn zu jagen wie einen Hasen, um ihm die Silberlinge abzunehmen.
Wohin soll das führen! Szenenwechsel zu Ende. Keine Pause vorgesehen. Schon wird es draußen unruhig.
»Wir müssen unter allen Umständen den Schmarren zu Ende spielen!« rufe ich in das Chaos. Da rennen sie durcheinander. Die Naive ist fassungslos und heult nur so drauflos. Der junge, liebliche Busen wackelt unterm Mieder.
»Alles habe ich geopfert für die Kunst,« wehklagt sie. »Das darf nicht sein; das ist unmöglich. Es geschehen Wunder. Denkt doch – –«
»– – an den auferweckten Lazarus,« fällt Hurrle ein und nimmt das kleine, unglückliche Geschöpf in die Arme. »Komm und hör auf zu weinen. Dir läuft die Schminke ins Korsett.«
Der Tumult vor und hinterm Vorhang wird stärker und gefahrdrohender. Feuerwehrleute gehen in eine gewisse Bereitschaftsstellung. Schutzmänner tauchen auf. Draußen scharren sie mit den Füßen.
An ein Weiterspielen ist nicht zu denken. Da geht Hurrle vor den Vorhang und erklärt, durch den Eingriff höherer Macht in die Kassenverhältnisse sei das Spiel nicht weiterzuführen. Karten behielten ihre Gültigkeit und wenn das Publikum wünsche, würde er selbst einige Kouplets und Kalauer ohne Sonderentschädigung zum Besten geben. Auch sei die Jugendlich-Naive bereit, das Lied von der Glocke mit Klavierbegleitung zu rezitieren.
Jetzt bricht das Wetter erst aus. Der Stall wackelt bis in die Schornsteinhypotheken.
Ich stehe wieder in der Garderobe vorm Spiegel. Hurrle kommt. Er ist wundervoll in Stimmung.
»Musenfreund,« sagt er, »das Theater steht mir bis zum Adamsapfel. Komm, laß uns in die böhmischen Wälder gehen!«
Kaum hat er das gesagt, geht auch schon ein Ruck durch seinen Körper. Er kommt nahe an mich heran, stippt mit dem Zeigefinger auf die angstgefeuchtete Stirn und haucht mich mit Windstärke neun an: »Kind Gottes, wird's nicht hell in deinem Busen?«
»Nein.«
»Ein Gedanke, der von Napoleon stammen könnte. Komm mal her vor die alte Scherbe!«
Er zieht mich vor den Garderobespiegel.
»Schau uns beide mal an! Was stellst du fest?«
»Daß wir zwei ausgekochte Landstreicher sind.«
»Zwei Klinkenputzer. Getroffen. Was habe ich dir vor wenigen Wimperschlägen gesagt? Von den böhmischen Wäldern habe ich dir zitiert.«
»Ich verstehe dich nicht.«
»Weil du ein elendes Grünhorn bist. Stelle dich mal aufrecht hin und vernimm meinen Geistesblitz. Wir schminken uns ab, lassen unsere Kluft hier an und gehen auf die Walze.«
»Großartig.«
»Schlechter als hier in diesem Stall kann's uns draußen auch nicht gehen; vermutlich aber besser; denn eine Arbeit finden wir zwischendurch überall.«
Er hat recht. Was für ein Leben ist es schon, in diesem verkrachten Theater zu spielen und dann keine Gage zu bekommen. Und all die Erniedrigungen vor den Direktionstüren und in den Bühnennachweisräumen! Dieses elende schmutzige Dasein, diese zweifelhafte Scheinwelt mit ihrem Kollegenneid, mit ihrem Ränkespiel – pfui Teufel!
»Hurrle, ich habe nie an deiner genialen Ader gezweifelt. Fort auf die Landstraße! Ich rieche schon gegen den Wind das freie Abenteuer. Wir haben Fäuste und guten Willen.«
»Hier meine Hand. Ich bin ein alter Affe, ich kann Fratzen schneiden. Du weißt, mir ist die Landstraße nichts Neues. Ich war ihr schon einmal verfallen. Jetzt schreit sie nach mir. Draußen wird's Sommer. Diese Nacht noch können wir in der freien Landwirtschaft schlafen.«
»Abgeschminkt!«
»Abgeschminkt, Klinkenputzer!«
O meine Freunde, was für ein Rennen und Flennen ist das hier hinter der Szene. Ich schaue mich noch einmal um im Tempel der Kunst. Da klebt der Staub an Kulissen und Leinwandfetzen; das riecht wie in vermoderten Höhlen. Das hängt von der Decke und baumelt an Netzen, ist zusammengenagelt, zusammengekittet und aufeinandergepappt. Mit Farbe beschmiert und mit Latten stabil gemacht. Oh, über diese Welt!
Hurrle haut mir auf die Schulter. Er schaut sich wild im Kreise um, spuckt gegen einen geleimten Felsen und deklamiert: »Nehmt alles nur in allem. Das Theater ist ein Saustall. Sag' an, Stephan, hat der Kollege Hurrle recht?«
Stephan, nämlich ich, antwortet mit tränenerstickter Stimme: »Kollege Hurrle hat recht. Howgh!«
Er geht gravitätisch nach links ab.
Einen Augenblick stehe ich allein, ein schwacher Mensch. Ein Träumer vielleicht, mit kuriosen Flügeln, mit Hoffnungen, mit Bitternis und wirrem Weh.
Noch einmal schaue ich in den Bühnenraum. Ich bin mitten in einer Beerdigung. Verehrte Freunde, gebt mir einen Kranz, damit ich ihn niederlege in dieser Gruft, die so viel gestorbene Hoffnungen birgt.
In die Welt hinausziehen ist auch etwas Schönes. Sommernächte und brausende Wälder. Wogendes Korn und flimmernde Wiesen und wandernde Wolken. Wir haben das alles schon halb vergessen. Sagt, gibt es das überhaupt noch?
Eine ungeheure Klarheit kommt über mich und es trifft mich wie Erleuchtung: unser Leben war fremd und sinnlos; denn wir hatten die Erde verloren. Mensch und Erde aber müssen eins sein. Wer diese Erde verloren hat, der muß sich aufmachen, auf daß er sie wieder finde. Den Asphalt muß er verlassen.
Ich weiß es: wir müssen wandern, um die Erde wieder zu finden. Das Pech hat uns weise gemacht. Wir müssen wandern!
Es war einmal ein Direktor. Hieß Joachim Prottengeier. Nun ist er fort. Hat die Ritterstiefel angezogen. Glück zu auf deiner Fahrt.
Durch eine Hintertür verlasse ich das Gebäude der Tränen. Draußen herrscht noch ein recht erregtes Treiben. Ich gehe um den alten Bau herum zum Portal. Die Lampen brennen; Autos stehen wartend in einer Schlange. Der Brei Publikum, rufend, schimpfend und überhaupt in angeregter Laune wird vom Haus ins Freie gequetscht. Ich stehe mitten unter der unruhigen Masse, habe mir einen alten, aus dem Fundus gestohlenen Lodenmantel umgehängt und schaue mir nun mit satter Befriedigung die kleine Theaterrevolution an. Was habe ich mit all diesen Dingen zu tun? Nichts, der Himmel weiß es, gar nichts. Ich bin ein Vagabund, ein Landstreicher. Fahrender Geselle zwischen Aufgang und Niedergang. Einmal war eine Zeit, da hatte auch ich dunkle Beziehungen zu diesem groben Steinkasten, zu dieser Höhle der Enttäuschungen. Einmal habe auch ich die nimmersatten Träume des Mimenruhmes gesponnen. Das ist lange her; am Ende schon Jahre. Oder erst Minuten? Ich habe den Maßstab verloren. Da stehe ich, ihr alle könnt mich anschauen; ich bin nichts als ein Vagabund mit geflickten Hosen und einem zweifelhaft duftenden Manchesterwams. Meine Stiefel, armselig und verbogen, sind mit Nägeln beschlagen und mein Filzhut hat manchen Sturmwind erlebt. Bitte, schaut mich genau an! Ich bin das Kind der endlosen Landstraße. Ein Bruder durch die Welt. Der liebe Gott ist mein bester Freund.
O wie weit sind jetzt meine Hoffnungen gespannt. Jede Minute schon können sich ungeahnte Wunderdinge ereignen. Das Abenteuer wird mir aus allen sieben Himmeln fallen; ich bin gesegnet von Anbeginn.
Ich will einmal unter die feinen Leute gehen. Mitten unter die noblen Herrschaften will ich mich drängen und meine geniale Bettelhaftigkeit unter sie tragen. Dort ist der Platz, wo die Autos parken; Menschen mit Geld und Besitz und Vermögen; Menschen in guter, gesicherter Stellung, in Gehaltsklassen und mit Versorgungsberechtigung kann man dort treffen. Ein Wagen nach dem andern startet mit blitzenden Scheinwerfern und blauem Gestank.
Ich bin jetzt mitten unter ihnen und denke darüber nach, daß diese Menschen alle im Theater waren und über die albernen Tiraden der Schauspieler gelacht, an munterem Spiel sich toll ergötzt haben. Was wurde doch gleich gespielt? Richtig, ein Vagabundenstück; eine alte, verstaubte, aus Verzweiflung einstudierte Wiener Posse. Der Teufel mag sie holen.
Da will ein schöner Mercedes abfahren; ein blitzblankes, dunkelblaues Sportkabriolet. Am Steuer sitzt eine Dame und ihr zur Seite der Chauffeur.
»Die Motorhaube ist offen, gnädige Frau,« rufe ich bescheiden.
»Wie bitte?«
»Die Motorhaube.«
Der Chauffeur will den Schlag öffnen und aussteigen, da bin ich aber schon dabei, die Haube zu schließen.
Ich will jetzt der Dame sagen, daß alles in Ordnung sei und sie nunmehr getrost in den Lichterglanz der Stadt hineinfahren könne, da schaue ich ihr von ungefähr ins Gesicht und mir wird ein wenig schwindelig vor den Augen. Es ist das strohgelbe junge Fräulein aus der vorderen Parkettreihe. Hier nun wird sie mir plötzlich vor die erstaunten Sinne gezaubert. Eine Weile stehe ich da, als ob man mich verprügelt hätte. Nach einem Wort, nach einem Satz suche ich, aber mir fällt bei Gott und allen Gerechten nichts ein. Meine Kehle ist verschlossen; ich stehe da mit hängenden Armen und fühle, wie ihr Blick auf mir ruht. Oh, wenn nur alle Lichter jetzt verlöschen möchten; Nacht um mich; Dunkel. Eine Höhle, in die ich kriechen könnte!
»Kommen Sie doch mal her!« höre ich sie sagen. Ich kann nicht einmal widerstreben; ich taumle vor sie hin, ich armseliger Tölpel. Ich verbitterter, verkommener Narr.
Sie schaut mich forschend an; ihr Blick dringt tief in mich hinein; ihr Blick brennt wie Feuer. – »Wer sind Sie denn?«
»Oh, nichts,« sage ich, »nur ein armer Handwerksbursche. Bitte tausendmal um Entschuldigung.«
Sie beugt sich aus dem Wagen. Ich fühle, das kann ich beschwören, ich fühle ihren Atem, so nahe bin ich ihr.
»Sie kommen mir so bekannt vor. Nein, wirklich, merkwürdig bekannt sind Sie mir.«
»Nein, nein. Das ist ein Irrtum, mein Fräulein; es ist wirklich nur ein Irrtum.«
»Mir ist aber doch, als ob ich Sie schon irgendwo gesehen hätte.«
»Die Welt ist groß; die Welt ist weit. Man begegnet so vielen Menschen. Denken Sie nicht darüber nach! Da stehe ich vor Ihnen. Bald wird es vorüber sein.«
»Merkwürdiger Mensch.«
Ich will gehen, da hält sie mich zurück, öffnet ihre Handtasche und reicht mir ein Geldstück. – »Da, nehmen Sie!«
Ich bin in einem Nebel. Das Geldstück, was soll mir das Geld! Ich will etwas ganz Unsinniges sagen, da höre ich, wie der Wagen anzieht, und nun rollt er davon. Das Fräulein sehe ich noch am Steuer sitzen; auch die gelben Haare kann ich noch erkennen. Schaut nur hin, wenn sie jetzt davonfährt mit mutigem Gas, sind diese Haare wie kleine Flämmchen.
So stehe ich da und starre dem Wagen nach. Dort fährt er immer noch. Nein, er ist ja schon längst im Trubel der Großstadt verschwunden.
Ich aber stehe im Lichtergewühl und halte das Geldstück in der Hand. Es ist eine Mark. Eine silberne Mark.
Immer halte ich das Silberstück in der Hand. Angenommen, es käme jetzt jemand auf mich zu; ich meine ja nur, angenommen; es wäre durchaus möglich, daß jemand auf mich zukäme, den Hut zöge und zu mir sagte: mein Herr, wollen Sie mir nicht das Silberstück verkaufen? Ich gebe Ihnen zehn Mark dafür. Nein, ich gebe Ihnen hundert Mark.
Ich würde ihm antworten: entschuldigen Sie gütigst, mein Herr; aber ich verkaufe nicht. Nein, ich verkaufe wirklich nicht!
Aus der großen Stadt, aus dem gespenstischen Gefängnis sind wir hinausgewandert. Lange mußten wir gehen, bis wir die letzten schmutzigen Anhängsel dieser Stadt hinter uns gebracht hatten. Das war eine Fahrt mit gutem Wind bei Nacht und Lichterglanz.
Wer um diese Stunden durch die gewundenen Adern einer solchen vielhunderttausendköpfigen Menschensiedlung von dannen zieht, der wirft zum erstenmal einen Blick in den unruhvollen Blutkreislauf des steinernen Organismus. Nie, bei meiner Seligkeit, habe ich gewußt, daß so viele Dinge geschehen zu nachtschlafender Zeit, daß abseits so viel Leben sich regt, und daß eine Unzahl von Funktionen nötig ist, um die steinerne Hölle in Betrieb zu halten.
Da glühen die weißen und roten, die gelben und grünen Lichter auf den Bahnanlagen; Züge fahren aus und ein, darunter sind auch lange Schlangen von D-Zügen, die mit stolzem Donnern in die Ferne streben. Signale gehen auf und nieder, Weichenlichter drehen sich, es ist wahrhaftig ein prächtiges Feuerwerk. Da schwelen auch Pechfackeln und Asphaltöfen glühen. Straßenbahnschienen werden geschweißt. Seht nur die schwitzenden Männer an, die nackt in der roten Glut stehen. Unterirdisch und oberirdisch wird gehämmert und genietet; Kolonnen von Menschen sind mit allen Muskeln beschäftigt. Sie schaufeln auch Erde aus, reißen und sprengen den Asphalt oder hocken hoch oben auf den Leitungsmasten und spannen blitzende Kupferdrähte.
Hurrle stiefelt an meiner Seite mit Mut und Gottvertrauen.
»Du,« sage ich, »wie ist es möglich, daß man so lange gelebt hat und nie wußte, daß die Nacht so maßlos lebendig ist.«
»Da könnte ich dir, mein lieber Anfänger, von ganz andern Dingen berichten. Nämlich von Walfischen bei Vollmond, von Heuschreckenvölkerwanderungen im abnehmenden Viertel. Oder von der Lasterhaftigkeit, die sich in der Nacht auf allen Planeten breitmacht. Ich habe schon Dinge erlebt auf dieser Welt, davon träumst du in deinen glücklichsten Träumen nicht.«
Einmal kommen wir an einem großen Haus vorüber. Es braust und rauscht, es tobt und brandet und hämmert in diesem Haus. Durch ein Fenster schaue ich hinein! Aha! Eine Druckerei. Die Rotationspressen drehen sich; die Morgenausgabe wird in Tausenden von Exemplaren ausgespien. Es riecht nach Schmieröl und Druckerschwärze. Tobend bewegt ist dieser Mechanismus. In einer zugigen Einfahrt stehen Dutzende von Frauen und Männern. Die Träger. Sie warten auf die neuen Wahrheiten.
Der Leib der Presse wälzt sich in den heißen Lagern.
»Hurrle, das alles ist wie eine Röntgenaufnahme.«
»Das ist noch gar nichts. Wenn du Lust hast, will ich dir von New York erzählen oder von Schanghai; dort geht es erst toll zu in den Nächten. Oder wünschst du ein Stimmungsbild aus einem nächtlichen Schlachthaus in Chicago?«
Endlich lassen wir die letzten schwarzen Häuser hinter uns. Wir kommen ins Freie. Da sind schlafende Wiesen und leise singende Getreidefelder. Wir ziehen immer weiter; keine Müdigkeit fühlen wir, nein, eine Lust ist es, zu wandern. Kaum zu glauben, zum erstenmal sehe ich wieder einen weiten Sternenhimmel über mir. Wirklich, es gibt noch einen nächtlichen Himmel mit diesen ungezählten goldenen Funken.
»Hurrle, sag, sind das wirklich alles richtige Sterne da oben? Und ist das hier ein Haferfeld oder Weizenfeld?«
»Ein Kornfeld, Knabe Stephan. Du kennst nicht einmal die Getreidearten. Schande über dich. Du verwechselst die Gelbrübe mit dem Selleriekopf. Warum? Weil du nie hinausgerochen hast ins bunte Leben. Ich aber bin nicht zum ersten Male auf der Walze. Alle Länder der Welt habe ich durchtippelt.«
Er redet weiter und trägt recht dick auf, tut wie der König aller wandernden Galgenvögel und weiß von grausigen Abenteuern zu berichten. Ich habe ihn im Verdacht, daß er manchmal aufschneidet und seine Erlebnisse aufbläst wie die Gummijahrmarktsteufel. Ich glaube, es will schon bald Tag werden. Im Osten ist ein grauer Schimmer. Weiß Gott, ich werde nun doch ein wenig müde, aber ich habe nicht den Mut, es auszusprechen; denn ich will wacker sein im Marschieren und abgestumpft wie ein alter Tippler.
Seht nur hin, jetzt schlüpft die Straße in einen Wald hinein. Wie einen Tunnel sehe ich den schwarzen Eingang. Hurrle ist ganz schweigsam geworden und läßt ein wenig den Kopf hängen. Am Ende ist auch er müde und will es nicht sagen. Der Wald nimmt uns auf und er wird immer stiller und tiefer, dieser schlafsüchtige Wald mit den Buchen und Tannen.
Wir gehen von der Straße ab zwischen den Stämmen hindurch und finden einen geschützten Platz, wo das lange, dünne Waldgras wächst. Dort wickeln wir uns in die Pferdedecken und legen uns auf den Rücken. Eine tiefe Ruhe ist um uns, und mir ist mit einemmal, ich müßte die Melodie der Erde klingen hören. Was ich aber höre, ist Hurrles schläfrig meditierende Stimme.
»Da liegen wir und haben Frieden. Komödianten oder Vagabunden; sag, wo ist da der Unterschied? Mit der Lupe nicht herauszufinden. Der Teufel soll mich holen, wenn ich jemals wieder vor die Rampe und vor die Hunde gehe. Laß mich mal gähnen.«
Er gähnt wirklich und wälzt sich auf die andere Seite. Und noch einmal, zwischen Schlafsucht und Gähnkrampf, muckt der Komödiant in ihm auf.
»Ich bin jetzt fünfzig Jahre alt geworden, laß dir's gesagt sein. Alle widrigen Winde der Welt sind mir um die Hakennase geweht. Ich kann dir mit einem kapriziösen Schicksal aufwarten, mein Getreuer. Sieh mal, ich könnte mich jetzt vor dich hinstellen – –«
»Du sollst schlafen, Hurrle.«
»Halt's Maul – –, vor dich hinstellen, sage ich, und dir den Kesselflicker aus der Widerspenstigen Zähmung als extravagantes Kunstwerk hier bieten – –«
»Um Gottes willen!«
»Ich tue es nicht, oder ich will das Bauchdonnern kriegen. Aber sag' doch, Mensch, gestehe es doch: ist es nicht eine herrliche Rolle? Wie gerne habe ich diesen verluderten Saufbold gespielt, dieses gefüllte Faß, diesen randalierenden Weinschlauch, diesen – –«
»Schlafen, Hurrle, schlafen.«
»Schon recht! Die Pest übers ganze Theater! Ich liege hier und habe einen leeren Magen und mir fehlt der Nikotingeschmack im Hals. Das erste, was morgen her muß, ist eine Pfeife, ein richtiger Gurkenwärmer, und wenn ich ihn stehlen muß. Störe mich nicht mehr, ich will schlafen.«
Er rollt sich zusammen wie ein Igel und brummt in sich hinein. Ich liege auf dem Rücken und sehe zwischen den belaubten Ästen in den Himmel hinauf, an dem die vielen wandernden Augen der Welt schon langsam verblassen. Und die Stimme Hurrle's will nicht verstummen.
»Tausende habe ich begeistert; Tausende haben gelacht über meine Torheiten. Meine große Begabung hat günstig auf ihre Verdauung gewirkt. Was war ich denn; was bin ich denn? Ach, Bruder an meiner Seite, ein großer Mime geht in die Wälder; ein Menschendarsteller, ein Charakterkomiker von Format meidet das Bett und pennt zwischen Buchenbäumen. Oh, über uns Narren!«
Sein Denken zerbröckelt, seine Logik züngelt in die Baumäste. Der Schlaf besiegt ihn. Der Schlaf ist ein Riese. Da liegt der große Mime und schnarcht. Es ist ein tiefes, sattes Schnarchen und klingt kurz und rechthaberisch wie ein Hobel, der über sprödes Holz fährt. Ist es nicht zum Lachen: hier liegt in einer alten, gestohlenen Pferdedecke ein Charakterkomiker und sägt sein Winterholz. Ich beuge mich nahe zu ihm; der Mund steht ein wenig offen, das Pumpwerk der Lunge arbeitet mit Macht. Das Gesicht ist wirklich nicht geistreich.
Altes Roß, denke ich. Altes Roß!
Ich liege in der Wäldernacht und stelle fest, daß ich zufrieden bin. Ich bin frei von Wünschen in diesem Augenblick. Glaubt mir, ich suche nach einem Wunsch und kann keinen finden. Ich will einschlafen. Erde rieche ich und Laub und Farnkraut. Und schmecke bittere Baumrinde.
Keinen Wunsch, meine Freunde. Auf dieser großen Erde keinen Wunsch.
Da habe ich ein großartiges Erlebnis.
Ich liege mit geschlossenen Augen und höre auf das feine Sausen, das zwischen den Stämmen hindurchzieht; deutlich fühle ich, wie ich hinüberschlafen will in die unerforschte Welt, da spüre ich halb benommen, daß etwas Fremdartiges an meiner Seite ist, daß sich etwas nähert mit vorsichtigem Tasten. Ich habe nicht die Kraft, die Augen zu öffnen. Nun kommt deutlich ein heißer Atem in mein Gesicht; es bläst mich an und hat tierische Witterung. Mein Herz klopft hörbar in der Brust, aber ich bin wehrlos und halb gelähmt. Etwas Kaltes berührt mich mit ungeheurer Vorsicht, und dann fühle ich ganz deutlich, wie eine warme, weiche Zunge mein Gesicht beleckt.
Vielleicht, daß es Bären gibt in diesen Wäldern, wer will es wissen. In diesem Fall muß man ruhig liegenbleiben und sich tot stellen; denn der Bär greift etwas leblos Daliegendes nicht an, das hat mir einmal der Wärter in einer Menagerie gesagt.
Hurrle schnarcht wie ein Vollgatter, ich werde keine Hilfe an ihm haben. Es gelingt mir jetzt, langsam den Kopf zu wenden und die Augen plienend zu öffnen. Im gleichen Augenblick höre ich leises, klagendes Winseln.
Das ist kein Bär, denke ich; denn Bären winseln nicht so; Bären können weinen wie kleine Kinder, aber sie winseln nicht.
Nein, es ist ein Hund. Ich erkenne ihn, wie er schattenhaft vor mir steht. Da richte ich mich auf.
Der Hund wird freudig bewegt; er wedelt mit dem kurzen Stummelschwanz und freut sich nach Hundeart. Es ist ein drahthaariger Jagdhund, mager und verkommen. Nun ich über sein Fell streiche, fühle ich die Rippen und die eingefallenen Flanken.
Welch ein Zusammentreffen in der Wäldernacht. Tiere begegnen sich; auch ich bin nichts als eine streifende Kreatur, von Hunger und Weh geplagt und ewig auf der Suche. Der Hund duckt sich an meiner Seite nieder und legt den Kopf auf meinen Schoß. Alles ist schwarz und schattengespenstisch, nur seine Augen werfen einen milden Glanz aus. Die Wunder der Welt wollen aus diesen Hundeaugen treten.
Schau mich an, sage ich leise und wühle die Hände in sein struppiges Fell, schau mich an, ich bin dein Bruder. Wir alle, die wir umherstreifen, suchend ein unbekanntes Ziel, wir alle, die wir dem großen Rätsel gegenüberstehen, sind Brüder. Alle fahrenden, streifenden, wandernden Kreaturen sind Brüder. Komm und lege dich an meine Seite. Ich weiß nicht, wer du bist und woher du kommst, du Bruder Fremdling, du Ausgeburt der dunklen Wälder.
Der Hund liegt still, und nun senkt er die Lider über den Glanz seiner Augenschächte. Einmal hebt er den Kopf und windet in die aufdämmernde Nacht.
Es ist nichts, Freund! sage ich. An meiner Seite liegt noch ein Kumpan. Ein altes Roß. Ein Weltenbummler. Ein Charakterkomiker. Er hat vielen Menschen das Zwerchfell erschüttert; er hat fremdes Wesen gespielt, fremde Bosheit und Verschlagenheit. Hundert Menschen hat er dargestellt; oder waren es tausend. Er war der Narr der Massen. Ein Rampenschwein. Dort liegt er, sein Mund steht offen, und er schnarcht in die sausende Sommernacht. Laß ihn schlafen.
Der Hund wird immer unruhiger; ein warnender Laut, ein vergrabener Hundelaut kommt aus seiner Kehle. Von mir ist alle Schlafsucht gewichen. Ich bin wach; man soll sie nicht verschlafen, diese beweglichen, klingenden Nächte. In den Nächten leben wir unser zweites Leben; wahrhaftig, es gibt Nächte, die man nicht verschlafen soll. Leise erhebe ich mich, um den träumenden Narren nicht aufzuwecken. Der Hund und ich, wir wandern zwischen den Stämmen dahin. Das Grau des Morgens flutet milchig in den Wald. Die Sterne sind versunken; es raucht in Strauch und Buschwerk; der Odem des Tages kommt auf; schon höre ich den Ruf der Vögel.
Der Hund geht an meiner Seite, aufmerksam lauschend und mit unablässig beschäftigter Nase. Nun bleibt er stehen, starr und steif; der Schwanzstummel steht nach oben. Oh, wie wach sind seine Sinne.
Nach einer Weile kommt es die Landstraße daher. Ein Wagen fahrender Leute, ein Zigeunerwagen vielleicht oder ein Schirmflickerwagen. Das Gefährt bewegt sich schleierhaft im Grau des Morgens, von einem dürren Gaul mühsam gezogen. Der Hund steht nahe bei mir und gibt keinen Laut; mit scharfen Augen voll ungeheurer Spannung verfolgt er das Gefährt, das wie auf einem müden Filmband vorüberzieht.
Wir zwei aber sind verborgene Zuschauer, dem Wald und den Farnkräutern verbunden. Die Hand habe ich auf den Kopf des Tieres gelegt, und so stehen wir und schauen dem wandernden Wagen nach, bis er zwischen den Stämmen verschwindet.
Ich sehe mich selbst und den Hund in fremder Szene stehend. Weitab bin ich von dem, was gewesen ist. Auf der andern Seite des Lebens stehe ich. Unsichtbarer Odem hat mich verwandelt. Ich bin ein Verzauberter. Ich knie nieder und schlinge beide Arme um das Tier. Und fühle das fremde, unruhige Hundeherz schlagen.
Dann gehen wir zurück und legen uns beim Kameraden Hurrle nieder. Seite an Seite, eine wunderliche Dreieinigkeit, schlafen wir in den aufbrechenden Tag hinein.
Hurrle geht mit dem Hund zum Wiesenbach, schöpft eine Handvoll Wasser, spritzt sie über ihn und deklamiert mit verkitschtem Pathos: »Wir wissen nicht, von wannen du kommst und wissen nicht, wie du heißest. Du bist ein fahrender Ritter ohne Nam' und Art und zu uns gekommen in der Nacht; ein haariger Wanderer aus dem Nichts. Ich taufe dich Lohengrin!«
Schüttet eine zweite Handvoll Wasser über ihn und gibt ihm einen verschrumpften Leberdärmling, den er bei einem Bauernmetzger zusammengebettelt hat. Der Hund macht eine einzige schnappende Bewegung und die Wurst ist gewesen. Er schüttelt das Wasser aus dem Fell und wedelt vergnügt mit dem struppigen Stummel; ich nehme an, er freut sich über seinen romantischen Namen.
Dann liegen wir zusammen auf der Wiese und faulenzen in den blauen Himmel hinein. Es ist ein Tag nach dem Herzen der ganzen Welt. Gott ist besonders freundlich gestimmt heute; man spürt, wie er mit unsichtbarer Hand durch die Millionen Gräser fährt.
Ein zufriedenes Glück summt in den Wiesen.
Lohengrin hat keine rechte Ruhe. Er geht jetzt ein wenig in den Wiesenbach und schlappt Wasser. Dann kommt er, setzt sich an meine Seite und schaut in die Luft, als ob er über etwas nachphilosophieren wollte. Er ist mit einem Male ganz melancholisch geworden.
»In Alaska,« sagt Hurrle, »habe ich mal ein zahmes Stinktier gehabt.«
»Stinktier?«
»Jawohl, Stinktier. Das war so zahm und so zutraulich; ich sage, das war so rücksichtsvoll und wohlerzogen, daß es nie in meiner Gegenwart gestunken hat.«
»Hurrle, das lügst du.«
»Ich lüge nicht, aber ich habe viel erlebt, und du bist und bleibst ein Linkmichel.«
»Und überhaupt, gibt's denn in Alaska Stinktiere?«
Hurrle gibt keine Antwort mehr; er wälzt sich auf die andere Seite. Er ist imstande und pennt hier in den goldenen Mittag hinein. Ich will ihn versöhnen und versuche es noch einmal.
»Du, Hurrle, wenn ich deine Pfeife rieche, muß ich an Alaska denken.«
»Wieso Alaska?«
»Na, weil dort die Stinktiere leben.«
Jetzt hat er genug. Er steht auf und streckt sich. Wühlt beide Hände in die Hosentaschen.
»Siehst du dort über dem Kornfeld den Kirchturm? Dorthin lenke ich jetzt meine Schritte und fechte uns was zum Abendbrot zusammen. Du kommst in zwei Stunden nach und schaust zu, daß du einen Schlummerkies zusammenkriegst. Ich glaube, wir haben Glück; ich habe vorhin von einem Schleusendeckel geträumt.«
»Schleusendeckel?«
»Schleusendeckel ist ein Fünfmarkstück. Du lernst es nie. Zwei Tage allein gelassen, bist du schon auf dem Drallewatsch. Du Muttersöhnchen.«
Er stapft durch die Wiese davon. Ich sehe ihn mitten in den rieselnden Gräsern. Einmal bleibt er stehen und wirkt wie eine spaßhafte Vogelscheuche. Ein warmer Wind ist aufgekommen und kämmt das Gras und die Kornfelder.
Dort geht Hurrle durch den blühenden Nachmittag. Über ihm segeln die weißen Wolken.
»Schau dir nur die Wolken an,« sage ich zu Lohengrin, »sie sind Wanderer wie wir.« Er hebt den Kopf und winselt einen leisen Ton. Ich weiß, er hat mich nicht recht verstanden und möchte, daß ich ihm alles genau erkläre. Er hebt eine Pfote hoch und schlägt nach mir, und wird dann plötzlich toll ausgelassen; als ob der Teufel in ihn gefahren wäre.
In jagenden Kurven, meteorähnlich, jagt er über die Wiese, beschreibt rasende Spiralen, duckt sich und schnellt mit allen Vieren in die Luft. Duckt sich wieder, aber so, daß jetzt das Hinterteil in die Luft steht, bellt in einer wilden, unbändigen Freude und wirft sich dann auf den Rücken, wo er sich brummend und behaglich jaulend wälzt.
Manchmal, wenn man über das Leben nachdenkt, findet man weder Weg noch Steg.
Ich will mit Lohengrin durch die webenden Wiesen nach dem Dorf gehen. In mir ist ein frohes Gefühl; so, als ob ich heute noch etwas Besonderes erleben müßte.
Im Dorf hat Hurrle wieder ein Ding gedreht. Auf dem Marktplatz finde ich ihn und das halbe Dorf ist um ihn versammelt.
Mitten auf dem Platz steht der Wagen mit dem dürren Gaul; das melancholische Gefährt, das in jener Morgendämmerung im Walde an uns vorübergezogen ist. Ein Geschirrwagen, ein fliegender Händler in Tassen und Tellern, Schüsseln, Töpfen und Blumenvasen. In der Tat, ein wandernder Porzellan- und Steingutladen. Was macht denn Hurrle bei dem Wagen? Ich sehe doch Hurrle dort stehen und in die gaffende Menge hineinreden. Um ihn zu überrumpeln, nähere ich mich von hinten ganz vorsichtig und stelle fest, daß Lohengrin plötzlich all seine Munterkeit eingebüßt hat und mit eingezogenem Schwanzstummel wie ein Bösewicht an meiner Seite schleicht. Was hat denn Lohengrin?
»Hallo, Harras!« höre ich eine Stimme.
Der Hund duckt sich und ich sehe ihn mit schwachem Wedeln, ein lebendiges böses Gewissen, auf ein schwarzhaariges Mädel zuschleichen.
»Harras, du Satan!«
»Der Hund heißt Lohengrin, mein Fräulein.«
Da lacht sie wild hinaus, wirft die Zottelhaare zurück und blitzt mich aus ihren kaffeebraunen Augen an. Ich kann in diesem Augenblick nichts erwidern, denn ich muß das Mädel anstarren, als ob es eine Erscheinung wäre. Meine Gedanken jagen durcheinander und finden den Ausgang nicht. Wo und wann habe ich dieses Mädel gesehen? Unheimlich bekannt ist mir der freche Straßenwisch.
»Halt mal die Luft an, du: woher kenne ich dich denn?«
»Ich kenne dich nicht!«
»Ganz genau kenne ich dich. Du bist mir geradezu unheimlich bekannt.«
Immer noch grüble ich darüber nach. Ist es am Ende nur eine Ähnlichkeit, eine ganz unheimliche Ähnlichkeit?
»Harras, du kommst mit mir,« sagt sie und packt den Hund am Halsband.
»Ich behaupte, er heißt Lohengrin.«
»Bei dir piept's. Das ist unser Harras; der Lumpenkerl läuft uns immer davon.«
»Schnickschnack! Wer bist du denn?«
»Die Porzellanbrigitte.«
»Wer?!«
»Die Porzellanbrigitte. Dort steht unser Wagen.«
»Ach sooo!«
»Ja, ach sooo; du Mondkalb.«
Es ist nicht recht, daß sie ein solches Wort zu mir sagt; frech ist sie und lausbübisch, ich hätte Lust, sie an den Haaren zu ziehen, die appetitliche Schlampe. Sie lacht und kriegt Falten in die Nase.
»Du mußt wissen,« sagt sie jetzt und ist viel sittsamer geworden, »wir haben Harras selbst erst acht Tage. Ein Förster hat uns das Vieh geschenkt. Aber er läuft immer davon. Komm, Harras. Komm!«
»Du solltest mir den Hund lassen,« wage ich zu bitten.
»Von mir aus schon. Aber der Alte räsonniert.«
»Wer räsonniert?«
»Der Alte. Mein Vater.«
Solche Ausdrücke hat sie am Leib. Und außerdem hat sie ein gelbes Sommerkleid an. Der Fetzen ist verwaschen und verschossen, aber man kann einer solchen Hexe anziehen, was man will, sie behält immer den Teufel im Leib. Schaut sie euch nur an, wie sie jetzt davontänzelt im gelben Flitsch und mit einem wehenden bunten Seidentuch um den Henkershals. Schaut sie euch nur genau an und stimmt mir zu, wenn ich sage, daß sie vom lieben Gott geschaffen wurde, um uns den Kopf zu verdrehen.
Übrigens fällt es Lohengrin gar nicht ein, mit ihr zu gehen. Er bleibt bei mir stehen und schaut mich mit einem unsagbar tiefen Hundeblick an. Und dieser rätselhafte Hundeblick ist voll dumpfer Ratlosigkeit.
»Lohengrin, du bleibst bei mir. Laß die schwarze Kanaille laufen.« Das hat er verstanden; er wird freudig bewegt; nicht nur der Schwanz, nein, der ganze Körper wedelt und krümmt sich. Er leckt meine Hand und dann stößt er einen kurzen, scharfen, sieghaften Bellton aus.
Da stehen wir auf dem belebten Platz, zwei Einsame, vom Wunder überfallen.
Die Porzellanbrigitte. Hol' sie der Teufel, sie kommt mir nicht mehr aus dem Sinn.
Einmal leuchtet es auf in mir; ich bin auf einer verwischten und verwaschenen Spur. Die Spur verliert sich.
So muß es mir ergehen. Ein freches Gewächs mit einem gelben Kleiderfähnlein, eine Porzellanbrigitte muß mir in den Weg laufen und meine Gedanken verwirren.
Wo ist sie denn eigentlich? Vor fünf Minuten noch hat sie hier vor mir gestanden und jetzt ist sie fort.
Bitte, wo ist sie? Es muß sich herausstellen, woher ich sie kenne. Ich vernehme das geschraubte Organ des alten Schauspielers, des Charakterkomikers, des Weltenbummlers Hurrle.
Hurrle hatte ich ganz vergessen. Hugo Hurrle.
Ach so, Hurrle!
Ach so, Hurrle! Richtig, Hurrle. Ich sehe ihn nicht, aber ich höre seine Komödiantenstimme mit pathetischen Steigerungen über den Marktplatz schallen. Beim Wagen angekommen, muß ich ihn erblicken, wie er auf einer Bretterkiste steht, um sich viel gaffendes Volk versammelt hat und Porzellanwaren anbietet, als ob er Zeit seines Lebens als Wahrer Jakob durch die Weltgeschichte gezogen wäre.
Er hat die letzten Haare zu einem verwilderten Schopf geschwungen, die Augen rollen, und mit den Armen fuchtelt er in der Luft herum. Man erkennt sofort, daß er im Augenblick einen Suppenteller in der Hand hat, diesen Gebrauchsgegenstand nach allen Seiten dreht und wendet und den andächtigen Zuhörern begreiflich macht, dieser schöne Suppenteller sei nur fabriziert worden, um hier im Dorfe Freude und Heil und verstärkten Appetit zu zaubern.
»Meine verehrten Bauern,« brüllt Hurrle, »ihr alle kennt den Bibelspruch: Glück und Glas, wie leicht bricht das. Stimmt, sage ich, stimmt. Aus diesem Grunde auch führen wir kein Glas – sondern nur Porzellanwaren. Haben Sie aber jemals irgendwo gelesen, daß geschrieben stünde: Glück und Porzellan sind übel dran? Einen Schleusendeckel einem jeden, der mir das nachweist. Dieser Suppenteller kann uralt werden; nichts steht im Wege, daß er sich noch auf die fernsten Generationen ohne Sprünge vererbt. Es gibt sagenhaft alte Porzellanteller. Ich habe einen im Auge aus der Zeit 3000 vor Christi, und man könnte, wenn er nicht in einem Museum stünde, immer noch eine Erbsensuppe mit Schweinsohren aus ihm löffeln.«
Jetzt lachen die Bauern und freuen sich, stoßen sich gegenseitig an und zeigen ein aufgeräumtes und kauflustiges Wesen, weil der Hansnarr da oben eine solche Gaudi um einen läppischen Suppenteller macht.
»Hinwiederum stehet in der Schrift: sammelt euch keine irdischen Güter; nie aber wird einer, und sei er der größte Schriftgelehrte der Welt, im Buch der Bücher die Mahnung finden, man solle keine irdenen Güter sammeln. Irdene Güter sind des Segens voll und fallen nirgends unter das göttliche Verbot. Wenn sie fallen, sind sie meistens, und nicht mal immer, kapores, und auch in diesem geteilten Zustand wohnt ihnen noch eine gewisse Sendung inne; denn Scherben bringen Glück. Freunde, zerschlagt viele Teller, auf daß es viele Scherben und viel Glück gibt.«
Sie kollern und pruschen und kreischen los; ein lustiger Aufruhr bildet sich und lockt immer neue Zuschauer herbei.
Sie fangen schon an zu kaufen, drängen sich zum Wagen und nehmen die vielerlei porzellanenen Wunderdinge in Augenschein. Ein Mann, dick und fett; ein Mann, schwitzend und mit Speckfalten im Genick; ein Mann, mit einem roten Gesicht und einem prachtvollen Seehundsschnauzbart; ein solcher geschäftstüchtiger Klumpen Mensch packt Geschirrwaren aus dem Heu und bietet sie zum Verkauf an. Er ist Besitzer des Wagens und heißt Xaver Schluckebier. Woher ich das weiß? Weil am Wagen ein Schild hängt mit der Aufschrift: Xaver Schluckebier, Porzellan- und Steingutwaren, Erlenbach.
Hurrle läuft das Mundwerk davon; er hat Einfälle wie ein alter Backofen und trommelt immer mehr Neugierige zusammen. Der Porzellanverkauf geht schon flott vonstatten.
»Über einen solchen Teller,« flunkert Hurrle fort, »könnte ich tagelang reden, aber ich will euch nicht von der Arbeit abhalten. Einem solchen Teller, wie ihn hier meine Pfoten halten, habe ich mein Leben zu verdanken. Ihr wollt natürlich schon wieder die Geschichte hören? Na ja, ich will sie euch nicht vorenthalten. Ich gehe einmal in Pernambuco durch die Straßen der Stadt, da fällt ein solcher Teller, nicht größer und nicht kleiner als dieser hier, fällt, sage ich euch, aus dem vierten Stockwerk herunter auf die Straße. Fällt mir nicht auf den Kopf, sondern zerspringt vor meinen Füßen. Was glaubt ihr, wenn er mir auf den Kopf gefallen wäre; ich hätte das Zeitliche gesegnet in einem heißen Erdteil, der nicht meine Heimat ist.«
Man sollte es nicht glauben, aber das Geschwätz Hurrles regt das Geschäft mächtig an; die meisten Menschen stellen fest, daß sie Teller benötigen. Andere kaufen Schüsseln, Tassen und Kannen; ja sogar unaussprechliche Töpfe, mit Blumen verziert, finden Absatz. Schluckebier, der nur immer auspackt und einkassiert, läuft der salzige Schweiß herab. Sein Jägerhemd klatscht vor Nässe.
»Brigitte!« ruft er mit heiserem Organ, »willst du Flitscherl vielleicht kommen und mir helfen!«
Brigitte ist gar nicht da; weiß der Teufel, wo die steckt, das Lumpenstück mit dem bunten Seidentuch.
Hurrle, das Geschäft verschlagen witternd, bleibt mit vollen Segeln im Kurs.