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Feiern Sie Weihnachten in Lütteby: »Der Winter zaubert Träume am Meer« von Bestseller-Autorin Gabriella Engelmann ist der 4. Wohlfühlroman um die märchenhaft schöne Kleinstadt an der Nordseeküste. Wenn Schnee die Dächer von Lüttebys Giebelhäuschen ziert, ähnelt der Küstenort an der Nordsee einem nostalgischen Adventskalender. Doch hinter den heimelig leuchtenden Fenstern wartet so manches Geheimnis darauf, gelüftet zu werden: Lina und Jonas sind frischverheiratet, doch Lina sorgt sich um die Verwirklichung ihres Kinderwunsches. Wird der Fluch, der auf allen Frauen der Familie Hansen lastet, auch sie ereilen? Wie soll Pastorin Sinje damit umgehen, dass die Tochter von Sven ihrem Glück im Weg steht? Und warum taucht die verloren geglaubte Liebe von Amelie plötzlich in ihrem französischen Café auf? Zu allem Übel zieht an Weihnachten ein gefährlicher Sturm auf und bedroht das zauberhafte Lütteby, so wie es die Sage einst prophezeit hat … Ein Winterroman für Frauen, der Herz und Seele wärmt. Einfühlsam und mit warmherzigem Humor erzählt Gabriella Engelmann, wie die liebenswerten Bewohner Lüttebys einander beistehen und gemeinsam jede Herausforderung meistern. Der 4. Liebesroman der Reihe »Zauberhaftes Lütteby« ist liebevoll ausgestattet mit winterlichen Rezepten aus Norddeutschland. »Der Winter zaubert Träume am Meer« kann unabhängig von dem Rest der Reihe gelesen werden. Die Bestseller-Liebesromane zum Wohlfühlen sind in folgender Reihenfolge erschienen: - Die Liebe tanzt barfuß am Strand - Das Glück kommt in Wellen - Das Wunder küsst uns bei Nacht - Der Winter zaubert Träume am Meer
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Seitenzahl: 311
Gabriella Engelmann
Roman
Knaur eBooks
Wenn Schnee die Dächer von Lüttebys Giebelhäuschen ziert, ähnelt der Küstenort an der Nordsee einem nostalgischen Adventskalender. Doch hinter den heimelig leuchtenden Fenstern wartet so manches Geheimnis darauf, gelüftet zu werden: Lina und Jonas sind frischverheiratet, doch Lina sorgt sich um die Verwirklichung ihres Kinderwunsches. Wird der Fluch, der auf allen Frauen der Familie Hansen lastet, auch sie ereilen? Wie soll Pastorin Sinje damit umgehen, dass die Tochter von Sven ihrem Glück im Weg steht? Und warum taucht die verloren geglaubte Liebe von Amelie plötzlich in ihrem französischen Café auf? Zu allem Übel zieht an Weihnachten ein gefährlicher Sturm auf und bedroht das zauberhafte Lütteby, so wie es die Sage einst prophezeit hat …
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Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
Nachwort
Süßes
Früchtekuchen (Dreckskuchen)
Klöben
Honigkuchen
Futjes (Käthe)
Schnee-Omelett
Storm’sche Reisspeise (von Lucie Storm, geb. Woldsen)
Rumpudding
Deftiges
Grünkohlsuppe
Fischfrikadellen (sehr gut mit Kapernsoße)
Kapernsoße
Frische Suppe mit Fleisch- und Mehlklößchen, dazu Reis und Rosinen
Weitere Rezepte für die Vorweihnachtszeit von den zauberhaften Lüttebyer Freundinnen
Lüttebyer Punschtee
Linas Apfel-Zimt-Muffins
Sinjes Apple Pie mit Sternen
Amelies geeiste Bratäpfel mit Walnuss-Marzipan-Füllung
Danksagung
Epilog
Der Ausblick vom Kirchturm auf einen malerischen Ort irgendwo in der Nähe der Nordsee war der schönste, den Lina Hansen kannte. Als sie von der umlaufenden Galerie auf den Platz inmitten des Städtchens Lütteby hinabschaute, den alle den Marktplatz am Meer nannten, wurde ihr Herz für gewöhnlich warm vor Freude und Glück. Diesen Platz umsäumten hübsche, teils windschiefe Giebelhäuschen, einige von ihnen hellgelb getüncht, andere blassrosa, weiß oder hellblau. Im Winter, wenn der Schnee auf den Dächern lag wie Schlagsahne auf der Friesentorte, ähnelte die Szenerie einem Adventskalender.
Doch der Schnee war nicht immer willkommen und – wie zur Weihnachtszeit – herbeigesehnt.
Nordfriesland kannte Zeiten, in denen die weiße Pracht sich meterhoch türmte, Zufahrtstraßen unpassierbar machte, Autos und Häuser unter sich begrub, Menschenleben forderte und Dörfer von der Außenwelt abschnitt.
Und es kannte Zeiten, in denen heftige Orkane wüteten und schwere Sturmfluten das Land verwüsteten.
Eine ebenso große Katastrophe, so munkelten die Altvorderen, stand erneut bevor und würde den Ort Lütteby besonders hart treffen.
Wann dies genau geschehen würde, wusste keiner.
Doch wenn die Nymphen, Kobolde, die Unterirdischen und Puke sich in langen Winternächten auf dem spiegelblanken Eis des Sees auf der Waldanhöhe gemeinsam vergnügten … Wenn das fahle Mondlicht auf sie schien und der raue Wind ihr Kichern weit hinaus über die Nordsee trug und die Kirchenglocken nicht mehr läuteten, dann gab es kein Entrinnen …
Lina
Ein wenig müde blinzelte Lina Hansen an einem Morgen Anfang November in Richtung des Schlafzimmerfensters, durch dessen naturfarbene Leinengardinen Licht schimmerte. Laut Vorhersage würde es heute windig, aber sonnig werden. Dieses schöne Wetter wollte sie für einen ausgiebigen Spaziergang mit ihrem Ehemann Jonas nutzen, denn sie liebte es, Hand in Hand mit ihm umherzuflanieren, in Ruhe zu reden oder die Schönheit der Natur zu bestaunen.
Der Status Ehefrau fühlte sich für sie immer noch so aufregend an wie am Tag der Trauung. Aber waren wirklich schon mehrere Monate seit ihrer Traumhochzeit am Strand von Lütteby vergangen? In Linas Bauch tanzten die Schmetterlinge nach wie vor einen gefühlvollen Pas de deux, wenn sie Jonas anschaute, sein Duft sie wohlig umhüllte, er sie im Arm hielt oder küsste. Er war das Wunder, auf das sie schon immer gewartet hatte, seit sie den Traum von der großen Liebe träumte. Und so zählten die vergangenen Wochen zu den schönsten ihres Lebens. Alles, was noch fehlte, um das Glück zu krönen, waren Kinder, die sie sich beide von Herzen wünschten. Dennoch hatten sie gemeinsam vor der Hochzeit beschlossen, sich damit noch ein wenig Zeit zu lassen. Doch beim Anblick von Jonas wurde Lina von einer Welle der Zärtlichkeit erfasst, und sie hatte plötzlich das Gefühl, nicht mehr eine Sekunde länger warten zu wollen. Das Leben war zu kurz für irgendwann, und sie konnte sich ihn so gut als Vater vorstellen. Wäre da nur nicht das leidige Problem ihrer Fernbeziehung …
»Guten Morgen, meine Liebste«, murmelte Jonas, der in diesem Moment erwachte und mit halb geschlossenen Augenlidern nach ihrer Hand tastete. »Ich bin noch total müde. Wieso schläfst du nicht auch noch ein bisschen weiter? Heute ist Samstag, und wir haben nichts weiter vor, also kuschle dich einfach bei mir an. Wir verbringen ohnehin viel zu wenig Zeit gemeinsam in einem Bett.«
Auch wenn Lina eigentlich geplant hatte, Kaffee und Tee für sie beide zu kochen, ließ sie sich von Jonas’ Worten verlocken und schmiegte sich an seinen bettwarmen Körper. »Wie lange wird das noch so gehen?«, murmelte sie, in Gedanken bei ihrem Kinderwunsch.
»Was genau meinst du?«, fragte Jonas und drehte sich mit dem Gesicht zu ihr. »Das mit uns im Allgemeinen? Keine schöne Frage so kurz nach der Hochzeit.« Sein Tonfall war neckend, umso schwerer fiel es Lina, zu sagen, was sie unbedingt loswerden wollte, seit Jonas in der vergangenen Woche mal wieder länger als geplant auf Geschäftsreise gewesen war.
»Ich meine unsere Fernbeziehung«, erwiderte sie seufzend. »Ich will mich nicht beschweren, aber ich denke schon seit einer Weile darüber nach, wie das alles laufen soll, wenn wir Kinder haben. Ich bin sechsunddreißig, also nicht mehr die Allerjüngste, was die Familienplanung betrifft.«
Jonas seufzte tief, schlug die Bettdecke beiseite und stand unvermittelt auf. »Ich hole uns was zu trinken, dann reden wir weiter«, erklärte er und ließ Lina ein wenig verdutzt zurück. Kurz darauf kam er mit einem Tablett in der Hand wieder. »Wollen wir uns ans Erkerfenster setzen?«
»Können wir gern machen«, erwiderte Lina, zog den flauschigen Bademantel an, der am Fußende des Bettes lag, und nahm Jonas gegenüber am runden Tischchen mit der Marmorplatte Platz. »Danke fürs Teekochen. Sag mal, habe ich dich irgendwie verärgert? Wir waren uns doch einig, dass wir uns eine Familie wünschen und dass diese große Villa förmlich dazu einlädt, mit Kinderlachen gefüllt zu werden, oder hat sich daran etwas geändert?«
Jonas schüttelte den Kopf, das Sonnenlicht tanzte auf seinen dunkelblonden Haaren. »Ich bin so ernst, weil mich dieses Thema genauso sehr beschäftigt wie dich, ich aber leider gerade keine Lösung parat habe. Die Reisebranche stürzt von einer Krise in die nächste, und ich weiß nicht, wie und wo ich so gut verdienen könnte wie in meinem jetzigen Job. Wir haben doch schon gemeinsam alle beruflichen Optionen in der Gegend ausgelotet, aber es gibt leider keine adäquaten.«
»Und es ist vermutlich nach wie vor keine Option, nahezu ausschließlich von Lütteby aus für deine Firma zu arbeiten?«
»Das war noch anders, als Glampingreisen heiß begehrt waren«, entgegnete Jonas kopfschüttelnd. »Doch zurzeit sitzt das Geld für Urlaub nicht mehr so locker. Deshalb muss ich leider nach wie vor weiter um die halbe Welt jetten, Werbepartner und Sponsoren finden und Kooperationen vereinbaren, was nun mal am besten funktioniert, wenn man persönlich vor Ort ist.«
»Lütteby könnte auch einen gut geführten Campingplatz gebrauchen«, murmelte Lina, die sich als Leiterin der Touristeninformation beruflich mit solchen Themen beschäftigte.
»Das stimmt«, erwiderte Jonas. »Aber ich wäre nicht der Typ, der einen Campingplatz führt. Nein, nein, ich muss mir etwas anderes ausdenken. Vielleicht fällt uns bei einem Spaziergang am Meer etwas ein. Nordseeluft pustet ja bekanntlich den Kopf frei und vertreibt gelegentlich auch Sorgenwolken.«
»Ist das nicht herrlich?«, sagte Lina, als sie später am Hafen von Lütteby standen, in dem zu dieser Jahreszeit nur wenige Boote festgemacht waren. Das grünliche Wasser kräuselte sich im Hafenbecken, die Stege waren verwaist, über allem lag eine himmlische Ruhe. Nur der Wind verfing sich in den Masten eines Fischkutters und sang seine harfenähnliche Melodie, die sich mit dem Gesang der Austernfischer und der Sandregenpfeifer mischte.
»Die Sonne tut so gut, ich spüre richtig, wie sich jede Zelle meines inneren Akkus auflädt, auch wenn es ganz schön eisig ist«, sagte Lina versonnen und träumte schon von einem sommerlichen Ausflug mit kleinen Kindern an Bord der Florence. Dieses Boot, das auch auf raueren Gewässern und bei Wellengang fahrtauglich war, gehörte ihr, seit ihre Großmutter Henrikje sich zu alt zum Rudern fühlte. Jonas legte den Arm um sie, und so standen beide eine Weile eng umschlungen da und hielten das Gesicht in die wohltuende Mittagssonne. Das sanfte Plätschern der Nordsee im Hafenbecken hatte etwas Beruhigendes, genau wie der Anblick der Seevögel am weiten Himmel. Doch irgendwann wurde es zu kalt, um unbeweglich an einem Fleck zu stehen, außerdem war Lina neugierig. »Lass uns zum Leuchtturm gehen und schauen, wie weit die Bauarbeiten fortgeschritten sind«, schlug sie vor und wackelte mit den Zehen, damit ihre Füße in den gefütterten Stiefeln nicht auskühlten.
»Gute Idee«, stimmte Jonas zu, der seit Beginn der Umbaumaßnahmen ebenso begeistert verfolgte, wie sich das Wahrzeichen Lüttebys – und der Ort, an dem sie sich zum ersten Mal geliebt hatten – nach und nach in ein schnuckeliges Romantikhotel verwandelte. »Wollen wir rein?«, fragte er, als sie vor dem Bau standen, und Lina bekam sofort Gänsehaut. An diesem Ort war ihr im vergangenen Jahr klar geworden, dass sie sich unsterblich in ihn verliebt hatte.
»Was für eine Frage«, erwiderte sie und zückte den Schlüssel, den ihr Vater Falk ihr gegeben hatte, damit sie die Arbeiten gelegentlich selbst in Augenschein nehmen konnte. Es dauerte einen Moment, bis sich ihre Augen an die diffusen Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, doch schon bald erkannte sie, wie viel die Handwerker in den vergangenen drei Wochen geschafft hatten. Es gab insgesamt vier Ebenen, zwei zum Schlafen und Wohnen, eine zum Kochen und eine für das Badezimmer mit angrenzender Sauna. Wer sich nach dem Saunieren abkühlen wollte, sprang unter die Regenwalddusche oder in die Nordsee, die den Fuß des Leuchtturms bei Flut umspülte.
Ein Badesteg befand sich ebenfalls in Bau, genau wie ein kleiner Balkon auf der obersten Etage des Turms, von dem man künftig einen gigantischen Blick auf das Wattenmeer haben würde.
»Das wird großartig«, befand Jonas. »Wenn der Preis halbwegs stimmt, werdet ihr euch vor Buchungen kaum retten können.«
»Ich finde aber, dass hier ein Ort fehlt, an dem man etwas essen und trinken kann«, entgegnete Lina, die sich gerade ausmalte, dass sie morgens im Turm erwachte, jedoch keine Lust hatte, selbst ein Frühstück zuzubereiten, weil sie ja im Urlaub war oder sich nicht aus der Umarmung ihres geliebten Mannes lösen wollte. Bis zum Marktplatz waren es fast zwanzig Minuten Fußweg …
Jonas nickte und fuhr sich mit den Fingern über die Stoppeln seines Dreitagebarts. »Es wäre mega, wenn man am Steg einen alten Kutter festmachen könnte, in dem man ein schönes Bistro unterbringt«, fuhr Lina fort, während ihre Fantasie Purzelbäume schlug. »Restaurantschiffe sind gerade angesagt, besonders wenn sie charmant und urig sind. Aber man müsste jemanden finden, der mit Herzblut und Leidenschaft für so etwas brennt.«
»Hey, du bist ja heute richtig in Fahrt«, erwiderte Jonas lachend und gab Lina einen Kuss. »Erst die Idee mit dem Campingplatz und jetzt das. Kann es sein, dass du beruflich gerade nicht ganz ausgelastet bist?«
»Das nicht, denn wir müssen unbedingt noch Geld für die Reparatur des Glockenspiels zusammenbekommen. Aber ich kann einfach nicht anders, als mir neue attraktive Anziehungspunkte für Urlauber zu überlegen, wann immer sich die Gelegenheit dafür bietet.«
»Was hältst du davon, wenn wir trotz deiner tollen Ideen für den Hafen das Thema wechseln und bei einem Strandspaziergang weiter über die Familienplanung sprechen, denn ich möchte, ehrlich gesagt, auch nicht mehr lange warten. Schließlich haben wir ein mehr als großes Dach über dem Kopf, genug Liebe für eine halbe Fußballmannschaft, Familie und Freunde, die uns unterstützen, sollte mal Not am Mann sein, sowie Ersparnisse. Notfalls nehme ich eben einen Job an, der nicht so viel einbringt, die Hauptsache ist doch, dass wir uns lieben und zusammen sind, nicht wahr?«
»Das klingt großartig«, erwiderte Lina strahlend und ergriff Jonas’ Hand. Die Aussicht auf die gemeinsame Zukunft mit ihrem Mann und Kindern erfüllte sie mit tiefer Freude.
Und sie war fest entschlossen, alle etwaigen Hindernisse aus dem Weg zu räumen, die sich womöglich zwischen sie und ihr Glück stellen würden.
Sinje
An diesem grauen Novembertag ließ sich die Sonne bedauerlicherweise nicht blicken, weshalb Pastorin Sinjes Laune auf dem Nullpunkt war.
»Hey, wir müssen bald los, sonst kommst du zu spät zum Gottesdienst«, sagte Lina, als die beiden vom Turm aus auf den kleinen Marktplatz schauten, wie sie es häufig vor dem Beginn des sonntäglichen Gottesdienstes taten. In den majestätischen Kastanienbäumen hingen glitzernde Lichterketten, die Schaufenster waren mit hübschen Geschenkkartons dekoriert, in den Fenstern der windschiefen Giebelhäuser standen Lichterpyramiden und erhellten mit ihrem Glanz jeden noch so dunklen Spätherbsttag. Die Adventszeit ließ Lütteby strahlen und funkeln, als wäre das Städtchen extra für die Weihnachtszeit erbaut worden. Selbst die größten Weihnachtsmuffel drückten sich die Nase am Schaufenster von Amelies Café platt, in dem Lebkuchenhäuser mit pinkfarbenen Streuseln und silbernen Kugeln auf einem Boden von Kunstschnee dekoriert und gläserne Bonbonnieren randvoll mit französischem Gebäck und selbst gemachten Pralinen waren. Nur bei Sinje wollte keine rechte Stimmung aufkommen, denn sie fühlte sich in diesen Tagen so einsam wie noch nie zuvor in ihrem Leben.
»Ich weiß«, erwiderte sie seufzend, und ihr Atem bildete kleine Wölkchen, während ein eisiger Wind um die Kirchturmspitze pfiff und mit dem Gesang der Krähen wetteiferte. »Aber was soll ich der Gemeinde sagen, wenn ich selbst gerade total down bin und knietief im Novemberblues stecke? Ganz ehrlich: Heute würde ich liebend gern schwänzen und mir die Decke über den Kopf ziehen, statt gute Laune und Optimismus zu heucheln.«
»Wie wär’s, wenn du einfach die Wahrheit sagen und deine eigene Stimmung zum Thema machen würdest?« Lina dachte nicht im Traum daran, zuzulassen, dass ihre Freundin in Trübsinn verfiel, denn die stand auch ihr stets liebevoll zur Seite, wenn sie traurig oder ratlos war.
Sinje strich ihren schwarzen Talar glatt und zwirbelte die Strähnen ihres blonden Pferdeschwanzes zusammen. »Du meinst, ich sollte eine Art Workshop aus dem Gottesdienst machen?« Ein Hoffnungsschimmer blitzte in den großen himmelblauen Augen der Pastorin auf, und sie ähnelte endlich wieder der schönen und lebendigen Frau, als die alle Gemeindemitglieder sie kannten. Lina nickte zustimmend, Sinje lächelte zuversichtlich, und so betraten die Freundinnen schließlich die Kirche, die heute bis auf den letzten Platz gefüllt war – offensichtlich sehnten sich gerade alle nach menschlicher Nähe und seelischem Trost. Lina gesellte sich in die erste Reihe zu ihrer Großmutter Henrikje und deren Freundin Anka, dann begann Sinje von der Kanzel aus zu ihrer Gemeinde zu sprechen, und die Besucher aus Lütteby und Umgebung hingen – wie immer – gebannt an ihren Lippen.
Eine Stunde später war der Gottesdienst zu Ende und der Sturm ein wenig abgeflaut. Dichter Nebel hing wie ein Seidenschleier über dem Fluss Lillebek, der sich durch das malerische Städtchen schlängelte. Die silbergrauen Schwaden verhüllten die Sicht auf die Bäume, die das Ufer säumten und nur noch wenige Blätter trugen. Feuchte Kriechkälte ließ die Freundinnen frösteln, Sinje klapperte demonstrativ mit den Zähnen und summte die Melodie des Songs Baby, It’s Cold Outside.
»Hoffe, du hast auch Lust auf einen Besuch bei Amelie, vielleicht hat sie ja schon Weihnachtsmacarons gemacht«, sagte Lina, zog die blaugraue Strickmütze tief ins Gesicht und hakte sich dann bei Sinje ein.
»Sie muss uns unbedingt noch das Rezept verraten. Waren die Macarons letztes Jahr nicht mit weißer Schokolade und Zimtsternteig gefüllt?« Sinje beschleunigte ihren Schritt.
»Nein, mit Spekulatius, du Nase«, korrigierte Lina sie schmunzelnd, und schon schlugen die beiden den Weg zu Chez Amelie ein. Dort ging immer die Sonne auf, egal wie grau und trüb der Tag auch sein mochte. Die Stammkunden der Französin kamen nicht nur ins Café, um Köstlichkeiten zu naschen und Chansons zu hören. Am allerliebsten wärmten sie sich an Amelies Herzensgüte und ihrem Charme und würden gern den ganzen Tag bleiben, gerade wenn draußen der Nordwind um die Häuser pfiff.
»Habt ihr Lust, etwas Neues zu probieren?« Ein schelmisches Lächeln lag auf den Lippen der elfengleichen Amelie. »Es gibt heute Dreckskuchen und Klöben.«
»Bitte was?«, fragte Lina verdutzt. »Hast du eben Dreckskuchen gesagt?«
»Oui, hat sie«, mischte sich Sommelier Pascal Durand ein und verdrehte die Augen. »Ich finde, es ist keine gute Idee, plötzlich Spezialitäten aus der Region anzubieten. Wir sind ein französisches Café und keine Backstube für … Fuddschess und Friesenkekse, mais non?«
»Du meinst Futjes«, korrigierte Sinje den gebürtigen Pariser, wohl wissend, dass der exzentrische Pascal nichts mehr hasste, als geduzt zu werden.
»Beruhigt euch bitte, ich mache nur Spaß«, erklärte Amelie schmunzelnd. »Dreckskuchen ist die umgangssprachliche Bezeichnung für den berühmten Lüttebyer Früchtekuchen, der meiner Meinung nach hervorragend zum Advent passt.«
»Was haben die Leute nur immer mit dieser kitschigen Vorweihnachtszeit?«, fragte Pascal augenrollend, doch niemand antwortete ihm. Sinje sinnierte lautstark darüber, ob sie lieber einen Pharisäer oder einen Eiergrog trinken sollte, und Lina schielte verstohlen auf ihr Handy. Pascal schnaubte verächtlich und verzog sich dann in das winzige Büro neben der Küche, wo er eine neue Weinbestellung in Frankreich aufgab oder – viel wahrscheinlicher – Katzenvideos schaute.
»Hast du eine Nachricht von Jonas aus London?«, fragte Sinje.
»Ja«, erwiderte Lina strahlend. »Er hofft, dass wir bald gemeinsam zum Christmas-Shopping dort sind. Ist das nicht romantisch?« Kaum hatte sie dies gesagt, schlug sie sich erschrocken auf den Mund.
»Hey, es ist absolut okay, wenn du dich freust, Süße. Glaub mir, ich bin über Sven hinweg und glücklicher Single. Auch wenn ich es nie für möglich gehalten hätte, aber Liebeskummer vergeht wohl doch mit der Zeit. Außerdem bin ich nicht einsam, weil ich ja dich und unsere tolle WG habe.« Nun hielt Sinje einen Moment inne, weil sie plötzlich tief in ihrem Inneren ein unangenehmes Ziehen verspürte, das sie daran erinnerte, wie schmerzhaft der Moment gewesen war, als Sven und sie sich eingestehen mussten, dass ihre Liebe unter einem schlechten Stern stand. »Ich genieße jede Minute außer denen, in denen du zur strengen Schlossherrin mutierst und mir vorwirfst, unordentlich zu sein.«
»Aber du bist unordentlich«, protestierte Lina. Bevor ein spielerischer Streit entbrennen konnte, servierte Amelie die Teller mit dem Gebäck und die Heißgetränke. »Was du in deinen Zimmern machst, ist mir ja egal, aber in den Gemeinschaftsräumen …«
»Keinen Zank bitte«, kommentierte Amelie die Kabbelei mit einem Augenzwinkern und begrüßte dann ein offenbar schwer verliebtes Pärchen, das sich kaum voneinander lösen mochte, als es an einem der runden Holztische Platz nahm. Sinje starrte auf die beiden Turteltauben und wurde von nostalgischen Gedanken heimgesucht, die ihr schier das Herz zerrissen: der Moment, als sie den sympathischen und äußerst attraktiven Restaurator Sven Kroogmann zum ersten Mal gesehen und sich auf der Stelle in ihn verliebt hatte. Das erste Date mit ihm, bei dem es genauso knisterte wie von der ersten Sekunde an, als sie sich im Pastorat kennengelernt und kopfüber in diese Liebesgeschichte gestürzt hatten. Zarte Küsse, Nächte voller Erotik und Leidenschaft. Träume und Wünsche, von denen sie sich unter Schmerzen hatte verabschieden müssen.
»Willst du dich nicht doch bei Sven melden und ihn fragen, wie es ihm geht?«, schlug Lina vor, die mal wieder Sinjes Gedanken lesen konnte. »Eure Trennung ist schon eine Weile her und Carla ein wenig älter, vielleicht …«
»Auf gar keinen Fall!« Sinje schrie die vier Worte beinahe heraus. »Dieses Kapitel ist ein für alle Mal vorbei, und damit basta. Lass uns lieber mal überlegen, wie wir genug Geld für die Reparatur der Kirchturmglocken zusammenbekommen, damit sie an Heiligabend endlich wieder läuten können. Uns fehlen noch zehntausend Euro, und in fünf Wochen ist Weihnachten. Hast du eine Idee, wie wir diese Kuh vom Eis kriegen?«
»Wir müssten anlässlich des Winter-Grachtenzaubers ein Event veranstalten, dessen Einnahmen zu hundert Prozent der Reparatur des Lüttebyer Glockenspiels zugutekommen. Andernfalls könnte ich noch …«
»Nein, das ist keine Lösung«, protestierte Sinje, ohne Lina ausreden zu lassen. »Never ever nehme ich eine weitere Spende von deinem Vater an. Du kennst ihn, später verlangt er dafür eine Gegenleistung, die sich gewaschen hat. Falk van Hove bleibt der ehrgeizige Bürgermeister und Geschäftsmann, der er immer war, egal wie sehr dein Verhältnis zu ihm sich gebessert hat. Und ich habe nicht vor, mich in seine Abhängigkeit zu begeben.«
Viele, viele Jahre nach dem gewaltsamen Flammentod der jungen Algea Ketelsen glich die altehrwürdige Kapitänsvilla auf der Waldanhöhe Lüttebys immer noch einem Geisterschloss. Die Fenster waren blind geworden vom Leid, das über die Familie hereingebrochen war, und verschlossen nach wie vor die Augen vor dem Unglück, das wie ein Fluch seit jeher auf den Ketelsens zu lasten schien.
Nach dem Brand im Dachgeschoss wohnte keiner mehr dort außer den Käuzchen, die ihre wehklagenden Rufe in die Nacht sandten, und den Eichhörnchen, die von Sims zu Sims jagten und dann zu einem beherzten Sprung auf einen der vielen Bäume ansetzten, sobald die Walnüsse an ihren Ästen gereift waren.
Allmählich wurde es Winter in Nordfriesland, eine lange, kalte und dunkle Jahreszeit, in der man sich gerne die Zeit mit Geschichten vertrieb – ob sie nun wahr waren oder nicht. Döntjes wurden diese Erzählungen genannt oder auch Spökenkiekerei. Da war von der verheerenden Weihnachtsflut die Rede, welche 1717 über die Lüttebyer und Grotersumer gekommen war wie ein Fluch des Teufels. Nebelfeuchte Dämmerung hatte in der Nacht vor Heiligabend schwer und grau über dem Land gelegen, der Mond stand im letzten Viertel, und die Abendflut war bereits aufgelaufen, der tagsüber wütende Sturm abgeflaut.
Die Küstenbewohner, so erzählte man sich mit Schaudern, hatten nichts ahnend den Gottesdienst besucht und mit ihren Familien den Heiligen Abend gefeiert, während der Wind auf Nordwest gedreht und sich im Laufe der Nacht zu einem Orkan gesteigert hatte.
Nur die junge Maren Riewerts hatte schon weit vor Mitternacht lamentiert und war so voller Angst und Bange gewesen, dass es den Eltern kaum gelungen war, sie zu beruhigen. »Mutter, es weht und stürmt so stark, es wird großes Unglück über uns hereinbrechen. Wir ertrinken alle heute Nacht und werden das neue Jahr nicht mehr erleben«, hatte sie unter Tränen und lauten Schluchzern gesagt.
Vater und Mutter hatten Maren ersucht, endlich Ruhe zu geben, nur die alte Ibke, Marens Amme, hatte dem Mädchen geglaubt. Flugs hatte sie die Nachbarschaft informiert, und auch die Riewerts hatten irgendwann nachgegeben und sich samt allem, was ihnen lieb und teuer war, auf den Dachboden geflüchtet.
In jener Nacht war es an fast allen Küsten der Nordsee zu Deichbrüchen und Überschwemmungen gekommen – von Dänemark bis zu den Niederlanden blieb kein Landstrich verschont.
Auch Lütteby und Grotersum hatten zahllose Opfer zu beklagen, doch die Riewerts und diejenigen, die auf Ibke und Maren gehört hatten, waren am Leben geblieben.
Beim Gottesdienst viele Wochen später war vom göttlichen Strafgericht für all diejenigen die Rede gewesen, die ihr Leben ruchlos verbrachten. Habgier, Zwietracht, Neid, Missgunst, all dies waren frevelhafte Gefühle, denen zuweilen Taten folgten, die fortan keinen Platz mehr im Leben der Menschen haben sollten.
Doch es war nicht leicht, sich zu ändern, denn diese Verhaltensweisen waren tief im Wesen der Menschen verankert. Derart niedere Gedanken und daraus resultierende Taten künftig zu bekämpfen, das nahm sich ein jeder vor, der die Weihnachtsflut überlebt hatte und dem Schicksal zutiefst dankbar dafür war.
Ebenso erging es denjenigen, die sich am warmen Kachelofen auch heute noch die Geschichte aus einer scheinbar weit zurückliegenden Zeit erzählten, die jedoch gar nicht so alt war, wie man glaubte. Und auch heute immer noch von großer Bedeutung, denn Menschen waren immer noch Menschen und somit nicht unfehlbar …
Lina
Die neue Woche begrüßte Lütteby mit einem strahlend blauen Himmel und eisigem Wind, der die weißen Wattewolken so schnell über den Horizont trieb, als wollte er ein Wettrennen veranstalten. Weil Lina nach ihrem Gespräch mit Jonas so viel im Kopf herumging, beschloss sie, an diesem Montagmorgen einen Abstecher ans Meer zu machen, bevor sie in die Touristeninformation ging. Sie war froh über die dicken Fäustlinge mit Fleece-Innenfutter, die Oma Henrikje für sie gefertigt hatte, und überlegte, ob Jonas sich über ein ähnliches Geschenk freuen würde, wenn er zurück aus London war. Das Stricken ging relativ schnell, sie musste sich also nur ein wenig beeilen. Beim Gedanken an den Mann, den sie so sehr liebte, hüpfte ihr Herz freudig, denn seit gestern war klar: Sie wünschten sich beide sehnlichst ein Baby und würden die Erfüllung dieses Wunsches nicht mehr länger aufschieben, nur weil die Umstände nicht ganz optimal waren. Sie waren noch recht jung, liebten einander, und letztlich fand sich immer für alles eine Lösung, wenn man nur wollte.
Als Lina am Naturstrand von Lütteby angekommen war, lauschte sie dem Gesang der Seeschwalben, der sich mit den Lauten der Rotschenkel, Austernfischer und dem Raunen des Windes vermischte. Der Wind trieb ihr Tränen in die Augen, und ihre Nase lief, doch Lina genoss den Spaziergang in vollen Zügen. Das Knacken von Muscheln unter ihren Schuhsohlen klang wunderschön, beinahe so traumhaft wie das Knirschen frisch gefallenen Schnees. Da gerade Ebbe war, lag Stille über dem Wattenmeer, doch wenn man die Ohren spitzte, konnte man das Tosen der Brandung in der Ferne hören, noch ehe die Flut auflief. Das Meer hatte Treibgut an Land gespült und trieb kleine und große Schaumwolken über die Rippelmarken aus Sand, die aussahen, als hätte jemand Seifenblasen über das Meer gepustet. Lina suchte den Ufersaum nach Bastel- und Dekomaterialien ab. Für diese Zwecke trug sie stets eine zusammenfaltbare Tasche bei sich, in die alles kam, was Lina verwendete: Muscheln, Hölzer, besondere Steine, Gehäuse von Wellhornschnecken, Austernschalen.
Vielleicht finde ich ja etwas, woraus ich später mal ein Mobile fürs Baby basteln kann, dachte sie und verspürte ein so großes Glücksgefühl, dass sie ihre Freude am liebsten laut herausgeschrien hätte.
»Moin, alles gut?«, begrüßte ihr Mitarbeiter Lars Baumann Lina, als diese nach dem erfrischenden Spaziergang die Tür zum Büro am Marktplatz öffnete. In Norddeutschland standen Moin und die Frage Alles gut? für so vieles, was keiner weiteren Worte bedurfte. Es bedeutete zugleich »Wie war dein Wochenende?«, »Bist du glücklich?«, aber auch »Hast du deinen Schmerz überwunden?«, wenn der- oder diejenige etwas Trauriges erlebt hatte.
Nun gesellte sich die zweite Mitarbeiterin, Brigitte, zu den beiden, und schon konnte das Morgenmeeting, in Kombination mit einem Frühstück, beginnen.
»Schmecken euch die Zimtschnecken? Ich habe sie gestern Abend extra für uns gebacken«, sagte Brigitte und spitzte ihre von zarten Fältchen umrahmten Lippen. Mit Mitte sechzig arbeitete sie voller Begeisterung als Teilzeitkraft im Gästeservice.
»Köstlich wie immer«, erwiderte Lars. Er hatte seinen Männerdutt im Laufe des Herbstes gegen einen kürzeren Haarschnitt getauscht, der ihm nicht mehr das Aussehen eines Surferboys verlieh. »Allerdings muss ich beim nächsten Mal passen, denn ich will mir nicht schon vor Weihnachten überflüssige Pfunde anfuttern.«
»Sag bloß, du kannst wirklich widerstehen, wenn ich am Mittwoch Schmalznüsse und Nusskugeln mitbringe?« In Brigittes Augen glitzerte eine diebische Freude darüber, Lars in Versuchung zu führen, der ihrer Ansicht nach ein Spargel auf Stelzen war und keinen harten Winter in Lütteby überleben würde, wenn er nicht ordentlich was auf die Rippen bekam.
»Ich glaube, ich habe am Mittwoch Urlaub«, konterte Lars schmunzelnd. »Also, was ist? Wollen wir mal loslegen?«
Binnen Sekunden waren die drei hoch konzentriert bei der Planung des weihnachtlichen Grachtenzaubers, der traditionell am ersten Adventswochenende stattfand und neben zahllosen Touristen auch die Bewohner aus der Umgebung anlockte.
»Die Uhrzeiten für den Auftritt der Trachtentanzgruppe stehen, auch die für den Chor. Alle Verkaufsstände sind vermietet, zudem bieten wir in diesem Jahr erstmalig weihnachtliche Rikschafahrten und zusätzliche Stadtführungen an. Sieht so aus, als sei alles bestens organisiert«, fasste Lina schließlich zufrieden zusammen, nachdem die drei zur Sicherheit nochmals alle Fakten gecheckt hatten. »Fehlt nur noch eine zündende Idee für die Spendensammlung für die Reparatur des Glockenspiels.«
»Wie wäre es mit einem Wettbewerb am dritten Adventswochenende?«, sagte Lars und strich sich mit der Hand über seinen rotblonden Bart. »Es müsste irgendetwas sein, woran alle Spaß haben, was wir unabhängig von der Witterung machen können und was sich schnell organisieren lässt.«
»Vielleicht starten wir einen Backwettbewerb? Oder wir könnten das Musical wieder aufführen, das wir vor drei Jahren anlässlich des Stadtjubiläums von Lütteby einstudiert haben«, warf Brigitte ein, doch Lars wirkte genauso wenig überzeugt wie Lina. Nachdem keiner der darauffolgenden Vorschläge so richtig zündete, vertagte sie die Besprechung. Vielleicht hatten ja ihre Mutter oder Henrikje eine brauchbare Idee.
»Ihr habt es wirklich wunderschön hier«, lobte Linas Mutter Florence, als sie Lina am frühen Nachmittag in der Villa zu einem Spaziergang abholte. Im November wurde es schon früh dunkel, wie gut, dass Lina heute zeitig im Büro Schluss machen konnte. »Allein der Weg hier hinauf ist schon ein Genuss. Es duftet nach frischem Tannengrün, Moos und Winter.« Die Kälte hatte Florence rote Apfelbäckchen gezaubert, die ihr ausnehmend gut standen.
Nachdem die beiden in Richtung Waldsee losgegangen waren, lauschten sie verzückt den eifrigen Tick-ick-ick-Lauten der Rotkehlchen, dem melodischen Gesang des kleinen Zaunkönigs und den Balzgeräuschen der Kleibermännchen. Drosseln waren lautstark auf der Suche nach Erlen- und Birkensamen, andere Wintervögel pickten hungrig die Beerenfrüchte des Waldes, selbst wenn diese vereist waren.
»Der Wald lebt, auch im Spätherbst und Winter«, sagte Florence und stapfte energisch voran. »Ich mache nächste Woche Vogelfutter, möchtest du auch welches? Du könntest es im Garten der Villa verteilen oder an Stellen anbringen, wo die Vögel sich geschützt fühlen.«
»Wollen wir das nicht lieber gemeinsam tun?«, fragte Lina. Da beide erst Ende des vergangenen Jahres wieder zueinandergefunden hatten, gab es viel verlorene Mutter-Tochter-Zeit nachzuholen.
»Gute Idee, lass uns das machen, wenn wir die Weihnachtskekse backen«, stimmte Florence zu.
»Ich habe allerdings keine Ahnung, womit man die Körner vermengt, damit man sie zu Kugeln formen kann. Mit Talg?«
»Mein Favorit zum Binden ist Kokosfett. Im Übrigen kann man aus Erdnüssen wunderschöne Herzen basteln. Vögel lieben das, und es sieht zudem entzückend aus.« Florence bückte sich und las verschiedene Zapfensorten vom Waldboden auf, die sie anschließend in einen Leinenbeutel tat. In diesem Moment ähnelte sie Linas Großmutter Henrikje, die bei Spaziergängen auch immer etwas sammelte: frische Tannenwipfel für Hustentee, Bärlauch für aromatisches Pesto, Waldmeister für Maibowle oder Pilze, Walderdbeeren und Wildblumen.
»Vielleicht könnte man das dekorative Vogelfutter in größeren Mengen herstellen und auf einem Basar verkaufen«, sinnierte Lina. »Ich zerbreche mir seit Tagen den Kopf darüber, wie man schnellstmöglich Geld für das Glockenspiel zusammenbekommt, ohne Falk um eine Spende bitten zu müssen.« Bei der Erwähnung des Namens ihres Vaters versuchte Lina eine Reaktion im Gesicht ihrer Mutter abzulesen, doch es gelang ihr nicht. Florence war es seit der Kindheit gewohnt, mit ihren wahren Gefühlen hinter dem Berg zu halten und fast alles mit sich allein auszumachen, so auch die komplizierte Beziehung zu dem nicht minder komplizierten Bürgermeister der Städtchen Lütteby und Grotersum. Falk van Hove war ein geschätzter Geschäftsmann, aber nicht besonders beliebt.
Dass die schwangere Florence ihn als Achtzehnjährige einfach hatte sitzen lassen und daraufhin über dreißig Jahre spurlos verschwunden gewesen war, hatte er noch nicht verwunden, egal wie sehr er Lina gegenüber das Gegenteil beteuerte.
»Ich würde mich an deiner Stelle von deinem Vater unabhängig machen«, riet Florence und zog fröstelnd die Schultern hoch. »Allerdings befürchte ich, dass ihr diese hohe Summe nicht allein durch den Verkauf von Basteleien und Backwaren zusammenbekommt. Da brauchte es schon etwas Größeres, Attraktiveres. Wie wäre es mit der Versteigerung von Picknickkorb-Dates wie in deiner Lieblingsserie Gilmore Girls?«
»Hm«, erwiderte Lina, die den Vorschlag äußerst reizvoll fand, sich aber nicht vorstellen konnte, wie man ein solches Event in die Tat umsetzen sollte. Dennoch schossen ihr Bilder potenzieller Liebender in Lütteby durch den Kopf, die sie für ihr Leben gern verkuppelt hätte, damit auch sie so glücklich sein konnten wie Jonas und sie. Da waren vor allem ihre Mutter und ihr Vater, Großmutter Henrikje und deren Jugendliebe Thorsten, aber auch die Singles Lars Baumann aus der Touristeninformation, Sinje und Amelie. Je länger Lina über die Möglichkeit nachdachte, schüchternen Herzen ein wenig auf die Sprünge zu helfen, desto mehr verliebte sie sich in diesen Gedanken, doch das behielt sie erst einmal für sich. Stattdessen fragte sie: »Hast du schon konkrete Pläne für Weihnachten?«
Florence schüttelte den Kopf und legte den Arm um ihre Tochter. »Ich weiß, wie sehr du dir ein Fest im großen Kreis wünschst, aber ich fürchte, dass daraus nichts wird. Wenn dein Vater und ich es nicht schaffen, uns vernünftig zu unterhalten, wird es nicht das Fest, das du dir wünschst und mehr als verdient hast.«
»Könnt ihr es denn nicht noch mal versuchen?« Lina verstand nicht, wieso es ihren Eltern so schwerfiel, auch nur eine Minute gemeinsam in einem Raum zu verbringen. Sie konnte von Glück sagen, dass beide wenigstens anlässlich der Hochzeit über ihren Schatten gesprungen waren. Doch danach musste irgendetwas zwischen ihnen vorgefallen sein, worüber sich beide beharrlich ausschwiegen. Ich habe diese ewigen Familiengeheimnisse und Animositäten satt, dachte Lina und kämpfte mit den Tränen.
Auch Florence sah mit einem Mal tieftraurig aus …
Amelie
Am Dienstagnachmittag gönnte sich Amelie einen Abstecher in ihre Wohnung und ließ sich erschöpft auf das Bett fallen. Nur ein paar Minuten schlafen, dieser trübe Tag macht michfertig, dachte sie gähnend und kuschelte sich unter die wärmenden Daunen. Sie war gerade sanft ins Reich der Träume hinübergeglitten, als sich ein großer, dunkler Schatten über das Bett beugte und ihr zuflüsterte: »Du wirst niemals glücklich werden, wenn du dich nicht endlich mit deiner Vergangenheit aussöhnst.« Verwirrt und noch reichlich verschlafen setzte sie sich auf, doch in diesem Moment klingelte zum Glück auch schon ihr Wecker und brachte sie endgültig in die Realität zurück.
Es fiel ihr nicht leicht, den Schlaf und die mysteriöse Ankündigung abzuschütteln, doch sie stand auf und wusch ihr Gesicht mit eiskaltem Wasser. Sie musste dringend los, denn es gab an diesem Sonntag noch einiges zu erledigen. Das Café machte zwar große Freude, aber auch reichlich Arbeit. Amelie ging im Geiste die To-do-Liste durch und begab sich auf den Weg zum Marktplatz. Sie freute sich wie ein kleines Kind auf die Vorweihnachtszeit, auch wenn es in diesen Wochen extrem viel zu tun gab. Doch Backen, Dekorieren, Geschenkeeinpacken und dafür zu sorgen, dass sich die Gäste in ihrem Café wohlfühlten, erfüllten sie mit tiefster Zufriedenheit und einem prickelnden Glücksgefühl.
Mittlerweile waren auch in den Straßen, die zum Herzstück Lüttebys führten, und an den Brückengeländern der Lillebek Lichterketten angebracht, die bis auf das Kopfsteinpflaster herabhingen und in der Dunkelheit zu einem wahren Glitzerteppich verschmolzen. Manche Lämpchen waren sternförmig, andere sahen aus wie Weihnachtskugeln, die nächsten wie blinkende Herzen. Als sie die Tür zu ihrem kleinen Reich öffnete, ertönte eine sanfte Melodie, die sie pünktlich zum ersten Advent durch die Klänge eines französischen Weihnachtslieds ersetzen würde.
Während Amelie in der Küche konzentriert Teig für Brioches zubereitete, hörte sie Pascal mit den Gästen kokettieren oder sie harsch zurechtweisen. »Cabernet Sauvignon und Merlot sind so was von passé, wieso probieren Sie nicht etwas Neues?«, war noch eine der harmloseren Fragen, die sich Besucher gefallen lassen mussten, wenn sich das Café abends in ein Bistro verwandelte. Dennoch respektierten die meisten Gäste ihn und kamen regelmäßig wieder. Als sie die Schüssel mit dem Teig in den Kühlschrank stellte, ahnte Amelie noch nicht, dass sich in dieser Sekunde ihr Leben verändern würde. Doch wie sollte sie auch? In Lütteby passierte nur selten etwas Überraschendes und Ungewöhnliches, genau deshalb lebte sie so gern hier. Lütteby war verlässlich. Und sie brauchte Verlässlichkeit wie die Luft zum Atmen.
»Amelie«, sagte plötzlich eine männliche Stimme, die der ihres Ex-Freunds Jules aus Frankreich ähnelte.
»Es ist so schön, dich nach all der Zeit endlich wiederzusehen«, ertönte die warme, vertraute Stimme erneut. »Drehst du dich bitte mal um, denn ich würde gern dein hübsches Gesicht anschauen und nicht nur deinen zauberhaften Rücken.«
Amelie bekam augenblicklich Gänsehaut, jede Nervenzelle ihres Körpers vibrierte, ihr Mund war staubtrocken.
Um sich zu vergewissern, dass sie nur träumte oder fantasierte, schloss sie die Kühlschranktür, atmete einmal tief durch und drehte eine kleine Pirouette in die Richtung, aus der die Stimme kam.
»Immer noch grazil wie eine Ballerina«, sagte der Mann, der ihr das Herz zerfetzt hatte wie ein wilder Tiger seine wehrlose Beute. War er tatsächlich real oder nur eine Fata Morgana, das Resultat ihres seltsamen Traums vorhin?
»Was machst du denn hier?«, hörte sie sich wie durch eine Nebelwand fragen.
»Ich wollte dich sehen«, erwiderte Jules so ungerührt, als hätte er ihr nicht vor drei Jahren den goldenen Ehering präsentiert, den er einer anderen Frau an den Finger gesteckt hatte, und als hätten sie sich gestern zuletzt gesehen. »Da du offenbar deiner französischen Heimat auf Dauer den Rücken gekehrt hast, komme ich nun eben zu dir. Wie geht es dir, Chérie? Es ist lange her. Viel zu lange …«
Amelie lehnte sich zuerst Halt suchend an die Wand und rutschte dann im Zeitlupentempo an ebendieser hinunter.