Der Wittenberger Homer - Bernd Schneider - E-Book

Der Wittenberger Homer E-Book

Bernd Schneider

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Beschreibung

Johann Stigel (1515–1562), der bei Philipp Melanchthon an der Wittenberger Universität studierte und dort 1542 die Terenzprofessur erhielt, war ein zu seiner Zeit gefeierter neulateinischer Dichter, den Kaiser Karl V. 1541 zum poeta laureatus krönte. Unter Stigels zahlreichen Gedichten befindet sich auch eine Übertragung des elften Buches der homerischen Odyssee, die er mit den sprachlichen Mitteln der klassischen römischen Epik gestaltete. In einem langen Einleitungsgedicht widmete er das Werk dem österreichischen Adligen Ferdinand a Maugis, einem der Tischgenossen Martin Luthers. Darin wird die Vorbildfunktion des Odysseus als vir perfectus für einen in der Öffentlichkeit wirkenden Menschen herausgestellt. Beide Texte werden nach der Wittenberger Erstausgabe von 1545 ediert, mit einer Einleitung versehen, übersetzt und ausführlich kommentiert. [Homer in Wittenberg. Johann Stigel and His Latin Translation of the Eleventh Odyssee Book] Johann Stigel (1515–1562) studied with Philipp Melanchthon in Wittenberg and received the Terence professorship at the same university in 1542. He was a celebrated Neo-Latin poet of his day and was crowned poet laureate by Emperor Charles V in 1541. Stigel's numerous works include a translation of the eleventh book of Homer's Odyssey, which he cast in the form of a classical Roman epic. In a long introductory poem, he dedicates the work to Austrian nobleman Ferdinand a Maugis, a table companion of Martin Luther, and develops the figure of Odysseus as vir perfectus and exemplar for a person active in public affairs. The present critical edition of both texts is based on the first Wittenberg edition of 1545 and includes an introduction, translation, and extensive commentary.

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Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie (LStRLO)

Herausgegeben von

Irene Dingel, Armin Kohnle und Udo Sträter

Band28

Christina Meckelnborg / Bernd Schneider

DER WITTENBERGER HOMER

JOHANN STIGEL UND SEINE LATEINISCHE ÜBERSETZUNG DES ELFTEN ODYSSEE-BUCHES

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2015 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Cover: Kai-Michael Gustmann, Leipzig

Satz: Steffi Glauche, Leipzig

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017

ISBN 978-3-374-04504-4

www.eva-leipzig.de

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

EINLEITUNG

Johann Stigel – ein biographischer Abriss

Stigels Odyssee-Übersetzung

Die Widmungsepistel an Ferdinand a Maugis

Stigels Sprache, Stil und Metrik

Druckgeschichte

Editionsgrundsätze

TEXT UND ÜBERSETZUNG

Epigramma in Homerum

Ad Ferdinandum a Maugis Carmen

In tumulum Ulyssis

Liber undecimus Odysseæ Homeri

KOMMENTAR

Epigramma in Homerum

Ad Ferdinandum a Maugis Carmen

In tumulum Ulyssis

Liber undecimus Odysseæ Homeri

ANHANG

Hiob Fincels Rede über Leben und Tod des Dichters Johann Stigel

LITERATUR

INDEX VERBORUM

Weitere Bücher

Anmerkungen

VORWORT

Sachsen-Anhalt erinnert mit der Landesausstellung 2015 und vielen Veranstaltungen an den 500. Geburtstag des Malers Lucas Cranach d. J., der über Jahrzehnte in Wittenberg gearbeitet hat. Gänzlich unbemerkt ist dagegen geblieben, dass sich 2015 auch der Geburtstag eines anderen mit Wittenberg eng verbundenen Mannes zum 500. Mal jährt, der des Johann Stigel.

Nach einem Studium in Wittenberg wurde Stigel dort in jungen Jahren auf eine der beiden Lateinprofessuren, die sogenannte Terenzprofessur, berufen. Dies hatte er vor allem seinem Wittenberger Lehrer und Freund Philipp Melanchthon zu verdanken, der ihn bei Kurfürst Johann FriedrichI. für die Stelle empfahl. Stigel war neben seiner akademischen Tätigkeit ein von seinen Zeitgenossen hoch geschätzter neulateinischer Dichter, der allerdings weitgehend in Vergessenheit geraten ist, obwohl seine dichterische Tätigkeit bis heute Spuren in der Öffentlichkeit hinterlassen hat: Betritt man etwa die Evangelische Schlosskirche auf Schloss Hartenfels in Torgau, trifft man rechts vom Eingang auf eine Bronzetafel mit einem Gedicht, in dem Stigel den ersten protestantischen Kirchenneubau anlässlich dessen Weihe 1544 feiert. Verse von Stigel finden sich auch in der Altenburger Bartholomäikirche auf dem bronzenen Epitaph für den langjährigen Altenburger Pfarrer und Superintendenten Georg Spalatin, der 1545 verstorben war.

Epitaphien und andere Gelegenheitsgedichte für hochstehende Persönlichkeiten, darunter für Kurfürst Friedrich den Weisen und Angehörige des kursächsischen Hauses, sind in großer Zahl aus Stigels Wittenberger Zeit bezeugt, daneben schrieb er aber auch große Gedichte. Eine Sonderstellung nimmt unter diesen Gedichten die lateinische Übertragung des elften Buches der homerischen Odyssee ein, die Stigel 1545 in Wittenberg drucken ließ und die er in einer längeren Widmungsepistel dem österreichischen Adligen Ferdinand a Maugis, einem der Tischgenossen Martin Luthers, widmete. Da Stigel seine Aufgabe als Übersetzer nicht darin sah, alle Einzelheiten und sprachlich-stilistischen Besonderheiten seiner Vorlage genauestens wiederzugeben, wie es die mittelalterlichen Übersetzer mit ihrer Methode verbum de verbo versucht haben, sondern eine relativ freie Nachdichtung des Homertextes in der Sprache des klassischen lateinischen Epos schuf, vermittelt seine Homer-Übertragung zusammen mit der Widmungsepistel ein lebendiges Bild von seinen dichterischen Qualitäten. Sie ist zugleich ein wichtiges Zeugnis für die Homer-Rezeption im deutschen Humanismus. Beide Texte, Widmungsepistel und Homer-Übertragung, werden in der vorliegenden Ausgabe ediert, übersetzt und durch einen ausführlichen Kommentar erläutert.

Bei der Vorbereitung der Ausgabe konnten wir auf das Material zu Johann Stigel zurückgreifen, das Georg Nikolaus Knauer über Jahrzehnte gesammelt hat. Dafür sind wir ihm zu großem Dank verpflichtet. Unser Dank gilt auch den Bibliotheken, die uns vor Ort die Benutzung der in ihrem Besitz befindlichen alten Drucke gestatteten, der Staatsbibliothek zu Berlin, der Forschungsbibliothek Gotha, der Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt in Halle, der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena und der Landesbibliothek Mecklenburg-Vorpommern in Schwerin. Für Auskünfte und Hinweise zu Stigel danken wir Daniel Gehrt, Volker Graupner und Christine Mundhenk. Armin Kohnle, Irene Dingel und Udo Sträter danken wir für die Aufnahme des Bandes in die Leucorea-Studien, Steffi Glauche und Jürgen Farnach für die Erstellung der Druckvorlage und Annette Weidhas für die verlegerische Betreuung. Ein besonderer Dank geht an die Stiftung Leucorea, die einen großzügigen Druckkostenzuschuss gewährt hat.

Berlin, im August 2015

Christina Meckelnborg

Bernd Schneider

EINLEITUNG

JOHANN STIGEL – EIN BIOGRAPHISCHER ABRISS

Über das Leben des neulateinischen Dichters und langjährigen Wittenberger und Jenaer Professors Johann Stigel gibt es mehrere umfangreiche Arbeiten,1 so dass die folgende Darstellung kurz gehalten werden kann. Sie konzentriert sich außerdem auf Stigels Wittenberger Zeit bis zum Druck seiner Übersetzung des elften Buches der Odyssee im Jahr 1545, das heißt auf die Zeit vor der Schlacht bei Mühlberg 1547, die einen Wendepunkt in Stigels Leben bedeutete und dazu führte, dass er Wittenberg verließ und den Rest seines Lebens in Jena verbrachte.

Quellen für Stigels Leben sind in erster Linie seine eigenen Gedichte2 und die Briefe von ihm und an ihn, aber auch die Oratio de vita et obitu clarissimi et præstantissimi poëtæ Ioannis Stigelii, die Hiob Fincel3 (1526/30 – nach 1582) 1563 im Jahr nach Stigels Tod hielt und drucken ließ.4 Fincel, der von 1558 bis 1563 Professor an der Philosophischen Fakultät in Jena war, gehörte durch seine Heirat mit Stigels Nichte Susanna im weiteren Sinne zur Familie.5 Er verehrte Stigel sowohl als Dichter als auch als Gelehrten außerordentlich, wie er in der Oratio mehrfach betont.6 Von ihm stammt auch die erste Ausgabe aller Gedichte Stigels oder vielmehr aller Gedichte, von denen er Kenntnis hatte.7

Fincel zufolge wurde Stigel 1516 geboren.8 Dagegen findet sich im Calendarium historicum Paul Ebers (1511–1569) von 1564 das Jahr 1515 als Stigels Geburtsjahr,9 ebenso in den beiden Inschriften auf dem Porträt Johann Stigels, das Peter Gottland, gen. Roddelstedt (†1569), zugeschrieben wird.10 Spätere übernehmen ausnahmslos das Jahr 1515.11 Stigel selbst erwähnt das Jahr seiner Geburt nicht,12 wohl aber seinen Geburtstag, den 13. Mai. Er umschreibt ihn nach Humanistenart in einer Elegie des Jahres 1556:

Exoriare dies auram spirante serenam,

Qui prima est omnis lucis origo, Deo.

Haec est prima dies decimam quae tertia Maii

Pone sequens cunis fulsit oborta meis.13

Zu Stigels Geburtsort berichtet Fincel in der Oratio, er sei in vrbe Thuringorum celebri Gotha14 geboren. Dies bestätigen auch drei Stellen in Stigels Gedichten, darunter ein Vers in einer Elegie aus dem Jahr 1557, in dem er in Anspielung auf einen berühmten Vers seines Vorbilds Ovid schreibt: Gottha mihi patria est, flauis vberrima campis.15 Weiter berichtet Stigel in dieser Elegie, dass er in Gotha auch seine Kindheit verbrachte:

Illic et repsi puer, et puerilia vixi

Otia quae curis et grauitate vacant.16

Trotz dieser eindeutigen Worte wird in den Darstellungen von Stigels Leben immer wieder der Ort Friemar bei Gotha als sein Geburtsort ins Spiel gebracht, meist mit dem Hinweis, dass sein Vater Nikolaus Stigel »das [!] Schuldienst etliche Jar allhie trewlich versehen«.17 Man würde jedoch in Stigels Werk zumindest eine Anspielung auf Friemar erwarten, wenn er dort geboren wäre. Denn immerhin war der Ort mit den beiden bekannten Scholastikern Heinrich von Friemar dem Älteren (um 1245–1340) und dem Jüngeren (um 1285–1354) verbunden. Auch Fincels großer Exkurs zu Gotha18 spricht wohl dafür, dass Stigel tatsächlich aus Gotha selbst stammte.19

Fincel berichtet weiter, dass Nikolaus Stigel seinen Sohn schon früh auf die Lateinschule in Gotha schickte, wo Basilius Monner (um 1500–1566), Doktor beider Rechte, sein Lehrer war.20 Bisweilen wird in der Forschungsliteratur ein weiterer Lehrer namens Johannes Fries genannt, der seine Existenz aber lediglich einem Abschreibfehler verdankt21 und daher aus Stigels Vita getilgt werden muss. Genaue Daten zu Stigels tyrocinia22 gibt Fincel nicht an. Auch im Folgenden heißt es nur allgemein: Deinde cum natura capax esset doctrinarum scientiae, Witebergam mittitur ad florentissimam Academiam.23 Durch die Wittenberger Matrikel lässt sich dies jedoch präzisieren: Stigel wurde am 15. Oktober 1531 unter dem Rektor Christoph Blanck (um 1480–1541) an der Wittenberger Universität eingeschrieben.24 Hier studierte er zunächst vor allem die alten Sprachen bei Franz Burchard (1503–1560),25 der damals die Griechischprofessur innehatte.26 Fincel erzählt, dass Burchard den jungen Stigel innerhalb kurzer Zeit in die Kunst des Dichtens einführte.27 Er empfahl ihn seinem Wittenberger Kollegen Philipp Melanchthon (1497–1560), der ihn ermunterte, auf diesem Weg fortzufahren. Mit Melanchthons Hilfe brachte Stigel es zu großer Vollkommenheit.28 Stigel begeisterte sich jedoch, so Fincel weiter, nicht nur für die Dichtkunst, sondern gleichermaßen für Theologie, Recht, Medizin und Philosophie und war in der Lage, über alle Themen brillant zu disputieren.29 Die nötige finanzielle Grundlage für sein Studium verschaffte ihm Melanchthon, indem er ihn bei Kurfürst Johann von Sachsen (1468–1532) 1532 für ein Stipendium vorschlug,30 woraufhin der Kurfürst ihm eine Präbende im Marienstift in Gotha verlieh, die 1535 unter Johanns Sohn und Nachfolger Kurfürst Johann FriedrichI. (1503–1554) für drei Jahre verlängert wurde.31

Als die Wittenberger Universität im Juli 1535 wegen der dort grassierenden Pest vorübergehend nach Jena verlegt wurde,32 zog auch Stigel dorthin. In Jena gefiel es ihm so gut, dass er im Jahr darauf nur schwer Abschied von der Stadt nahm, in quibus [sc. sedibus] aeternum vivere dulce foret33. Von Jena aus besuchte Stigel in Erfurt den Dichter Helius Eobanus Hessus (1488–1540), wie aus einem an Hessus adressierten Epigramm hervorgeht.34 Dies war jedoch nicht die erste Begegnung mit dem älteren Dichter, denn Stigel hatte Hessus schon im Herbst 1534 aufgesucht.35

In den darauffolgenden Jahren findet man Stigel einige Male als Hofhistoriograph und Hofdichter auf diplomatischen Reisen im Gefolge seines Lehrers Franz Burchard, der 1535 Vizekanzler von Kurfürst Johann FriedrichI. von Sachsen geworden war.36 Stigel reiste mit ihm im Februar 1537 zum Schmalkaldener Konvent.37 Im Dezember 1539 gehörte er zu den Teilnehmern der sächsischen Gesandtschaft, die in England die Verhandlungen über die Eheschließung Annas von Cleve (1515–1557), der Schwägerin Kurfürst Johann FriedrichsI., mit König HeinrichVIII. (1491–1547) führte.38 Im Frühjahr 1541 begleitete er Burchard und Melanchthon zum Regensburger Religionsgespräch,39 das Kaiser KarlV. (1500–1558) einberufen hatte und das vom 5. April bis zum 22. Mai stattfand. Wie Fincel berichtet, erhielt Stigel dort von den Hofräten das Angebot, ihn wegen seiner juristischen Kenntnisse für ein hohes Gehalt in den Dienst im Archiv zu übernehmen, was er jedoch ablehnte.40 Dies tat aber seiner Wertschätzung bei Hofe keinen Abbruch, im Gegenteil, Stigel wurde gebeten, ein Gedicht auf Kaiser KarlV. zu schreiben.41 Karl Göttling (1793–1869), einer der Biographen Stigels, bezweifelt allerdings diese Version Fincels und ist der Meinung, dass Stigel schon vorher von Burchard zu einem Gedicht auf den Kaiser ermuntert worden war.42 Das dürfte zutreffend sein, denn Stigel schrieb das Gedicht – ein stattliches Werk von 648 Versen – zur Begrüßung KarlsV., der erstmals seit langer Zeit wieder nach Deutschland zurückkehrte. Es trägt den Titel Ad invictissimum ac potentissimum imperatorem Carolum Quintum, Augustum etc. Germaniæ Epistola gratulatoria, complectens breuem historiam rerum præclare et fœliciter ab eo gestarum und erschien am 6. Juli 1541 bei Johannes Petreius in Nürnberg.43 Nach Humanistenart nutzt Stigel die eigentliche Begrüßungselegie für einen Panegyricus auf KarlV., in dem er in Gestalt der personifizierten Germania dessen Tugenden und Taten, insbesondere den Tunisfeldzug des Jahres 1535,44 preist und nicht versäumt, den Kaiser gegen Ende des Gedichts dafür zu loben, dass er sich intensiv darum kümmere, Vt tollas cæcas e relligione tenebras,45 wobei natürlich die Bitte mitschwingt, dies in der aktuellen Situation in Regensburg auch weiterhin zu tun. Fincel zufolge war KarlV. von diesem Gedicht so begeistert, dass er Stigel zum Poeta laureatus krönte, ihn in den Adelsstand erhob und ihm ein Wappen verlieh.46 Der kaiserliche Vizekanzler Johann de Naves (†1547) soll sich folgendermaßen über das Werk geäußert haben: Carmen placet imperatori; poeta petat, quid velit, habebit; si voluerit esse nobilis, erit; si poeta laureatus, erit id quoque, sed pecuniam non petat; pecuniam non habebit.47 Ob Stigel allerdings wirklich die Dichterkrönung erhielt, ist umstritten; es gibt weder einen Eintrag in den Reichstagsakten noch ein Dichterdiplom.48 Stigel wird zwar von Melanchthon als Poeta laureatus angeredet,49er selbst gebraucht diesen Titel jedoch nirgends.50 Auf jeden Fall erhöhte die Epistola gratulatoria aber Stigels Ansehen am kursächsischen Hof, was sich bald darauf förderlich auf seine Karriere auswirkte.51

Außer den Reisen im Gefolge Burchards soll Stigel nach Aussage Fincels in größerem Umfang Bildungsreisen unternommen haben: Cum certum sit peregrinationes multum conferre studio poëtico, Stigelius quoque multa regna et ducatus perlustrauit, cum vt antiqua monumenta inspiceret, quorum vidit plurima, tum vt cognoscendis multarum nationum moribus et actionibus rerum prudentia cresceret.52 Über diese Reisen ist jedoch nichts Näheres bekannt, und auch in Stigels Gedichten werden sie nicht erwähnt, so dass zu vermuten ist, dass Fincel sie erfunden hat, damit seine Darstellung Stigels der Idealvorstellung eines humanistisch gebildeten Menschen entspricht. Dazu passt auch die deutliche Anspielung auf das Proöm der Odyssee,53 mit der er Stigel in Parallele zu Odysseus setzt.

Anfang 1542 bewarb sich Stigel bei Kurfürst Johann FriedrichI. auf die Terenzprofessur der Wittenberger Universität, die durch den Tod ihres Amtsinhabers Ambrosius Berndt54 vakant geworden war. Diese Professur war 1535 als zweite Lateinprofessur neben der Poetikprofessur geschaffen und in der Fundationsurkunde für die Universität vom 5. Mai 1536 von Johann FriedrichI. bestätigt worden.55 Stigel war zum Zeitpunkt seiner Bewerbung zwar schon ein gefeierter Dichter, aber Editionen oder Kommentare von Werken klassischer lateinischer Autoren hatte er nicht vorzuweisen.56 Auch den Magistergrad besaß er noch nicht. Trotz heftigen Widerstands seitens der Universität erhielt er die Stelle auf Anordnung des Kurfürsten, nachdem sich auch Melanchthon für Stigel eingesetzt hatte.57 Es wurde ihm allerdings zur Auflage gemacht, vor Antritt der Professur den Magister abzulegen, was am 20. April 1542 auch geschah.58 Dennoch dauerte es noch bis zum 27. August 1543, bis Stigel von der Fakultät tatsächlich aufgenommen wurde.59 Als Autoren und Themen seiner Vorlesungen nennt er selbst in seinen Gedichten Ovids Fasti, Terenz, Homer und Hesiod.60

Zu dieser wichtigen beruflichen Etappe in Stigels Karriere findet sich merkwürdigerweise bei Fincel gar nichts. Er erwähnt die Wittenberger Terenzprofessur nur ein einziges Mal summarisch zusammen mit der Professur in Jena.61 Ebenso wenig erfährt man etwas über Stigels Eheschließung, die in seine Wittenberger Zeit fällt und durch die Korrespondenz Stigels und Melanchthons gut bezeugt ist: Nachdem nämlich Stigels finanzielle Verhältnisse durch die Wittenberger Terenzprofessur auf eine solide Grundlage gestellt waren – er bezog ein Anfangsgehalt von 80 Gulden jährlich62 –, heiratete er Ende Mai oder Anfang Juni 1544 Barbara Kunholt, die Tochter des Weimarer Rentmeisters Johannes Kunholt.63 Das Paar wohnte möglicherweise zunächst im Hause der Schwiegereltern in Weimar, wie Melanchthon empfohlen hatte,64 ist aber im November 1544 in Wittenberg anzutreffen, wo der novus maritus und seine Frau Barbara, die er scherzhaft als mea barbaries suavis, »meine süße Barbarei«, bezeichnet, eine Einladung an Melanchthon aussprechen.65

Das darauffolgende Jahr 1545 ist das Jahr, in dem in Wittenberg bei Veit Kreutzer Stigels Übersetzung des elften Buches der Odyssee erschien.66 Wann Stigel die Übersetzung anfertigte und wann genau in diesem Jahr der Druck erfolgte, lässt sich nicht feststellen.67 Im privaten Bereich brachte dieses Jahr für Stigel einige Unruhen mit sich. Spätestens im August erkrankte sein Vater so schwer, dass er zu ihm in die Nähe von Weimar, wohl in das väterliche Gut nach Tiefurt, reiste.68 Dies geht aus zwei Briefen hervor, die Melanchthon aus Wittenberg an Stigel schickte, und zwar aus einem Brief vom 26. August 1545, in dem er zu Gott betet, ut … patri tuo vires corporis restituat,69 und aus einem Brief vom 4. September, in dem er Verständnis dafür äußert, dass Stigel seine Rückkehr διὰ τὴν φιλοστοργίαν erga patrem70 aufschiebt. Auch im Oktober desselben Jahres verließ Stigel nochmals Wittenberg, wie Melanchthon in einem Brief an Joachim Camerarius vom 24. Oktober schreibt: Stigelius graves causas habet, cur domum se aliquantisper conferat. Quem tamen spero post aliquot menses pacata re publica ad nos rediturum esse.71 Was mit den »schwerwiegenden Gründen« gemeint ist, derentwegen sich Stigel »nach Hause«, also wohl nach Tiefurt,72 begab, ist nicht eindeutig. Zunächst ist man geneigt, dies wieder auf die Krankheit des Vaters zu beziehen, pacata re publica im zweiten Satz lässt aber auch an die kriegerischen Auseinandersetzungen in dieser Zeit, nämlich an den zweiten Braunschweigischen Krieg, denken, über den Melanchthon schon zu Beginn des Briefes ausführlich gehandelt hatte.73 Allerdings hatte dieser Krieg auf das Leben in Wittenberg wohl keinen Einfluss, so dass pacata re publica sich nicht auf Stigels persönliche Verhältnisse, sondern allgemein auf die politische Situation beziehen dürfte. Unklarheit herrscht auch über die Gründe für Stigels Abwesenheit von Wittenberg in der ersten Jahreshälfte 1546. In den Briefen, die Melanchthon am 23. Februar, 5. April und 1. Mai 1546 an Stigel schreibt,74 findet sich dazu nichts. Sicher ist nur, dass sich Stigel im Februar in Tiefurt aufhielt, denn er schickt von dort am 24. Februar einen Brief an Johannes Lang (um 1487–1548).75 Darin schreibt er: Ego cum hoc tempore absim, honestissimis quidem de caussis, non tamen citra desiderium ac dolorem, quasi commune piorum omnium judicium, summam doctrinae tanti viri [sc. Martini Lutheri] brevissime complexus, in carmen conieci.76 Ob die Formulierung »aus höchst ehrenwerten Gründen« bedeutet, dass sich Stigel in Tiefurt aufhielt, um ein Gedicht auf den kurz zuvor verstorbenen Martin Luther zu schreiben,77 oder ob die Krankheit seines Vaters der Grund für seinen Aufenthalt in Tiefurt war und er die Zeit dort nutzte, um das Gedicht auf Luther zu schreiben, wird nicht deutlich.78

Während seiner Abwesenheit wurde Stigel am 1. Mai 1546 in Wittenberg zum Dekan der Philosophischen Fakultät gewählt. Melanchthon, der Stigel am selben Tag darüber informiert, berichtet, dass es eine offene Abstimmung gegeben habe und die Wahl damit begründet worden sei te [sc. Stigelium] non tantum huius academiolae, sed etiam huius totius aetatis ornamentum esse.79 Stigel bekleidete das Dekanat bis Mitte Oktober und wurde von Melanchthon darin abgelöst.80 Bald darauf, Anfang November 1546, als der Schmalkaldische Krieg Kursachsen erreichte und zu erwarten stand, dass Herzog Moritz von Sachsen mit einem Heer auf Wittenberg vorrücken würde, verfügte der Rektor Caspar Cruciger die Einstellung des Lehrbetriebs.81 Spätestens zu diesem Zeitpunkt wird auch Stigel Wittenberg verlassen haben. Er zog nach Weimar, wie aus einem Brief Melanchthons an ihn vom 13. Januar 1547 hervorgeht82 und wie er auch einige Jahre später in einem Brief an die Söhne Johann FriedrichsI. berichtet83. Als weitere Stationen nach seinem Weggang aus Wittenberg nennt er in diesem Brief Tiefurt und Königsee bei Saalfeld.84

Einen Einschnitt in Stigels Leben bedeutete die Niederlage Kurfürst Johann FriedrichsI. in der Schlacht bei Mühlberg am 24. April 1547, in deren Folge der Ernestiner nicht nur die Kurfürstenwürde an die Albertiner abgeben musste, sondern auch weite Teile seines Territoriums, darunter die Residenzstadt Wittenberg und damit zugleich die Universität, an die Albertiner verlor. Obwohl Cruciger die Professoren am 8. Juni 1547 aufforderte, nach Wittenberg zurückzukehren,85 folgte Stigel diesem Aufruf nicht.86 Er blieb seinem ernestinischen Dienstherrn treu, der sich aus der Gefangenschaft in Augsburg heraus um die Gründung einer Nachfolgeinstitution kümmerte, die schließlich auf Empfehlung Melanchthons87 in Jena eingerichtet wurde. In Jena, wohin Stigel im Januar oder Februar 1548 kam,88 erhielt er eine neue Aufgabe als Gründungsrektor. Als am 19. März 1548 das Gymnasium academicum, die Hohe Schule, als Vorstufe zu einer Jenaer Universität feierlich eröffnet wurde, hielt Stigel die Oratio de utilitate studiorum eloquentiæ89. Mit ihm als Magister artium und mit dem Doktor der Theologie Viktorin Strigel (1524–1569)90 begann 1548 der Lehrbetrieb. Beide wechselten sich bis 1556 halbjährlich im Rektorat ab.91 Stigels erste Vorlesungen hatten Ciceros Werk De oratore und Vergils Georgica zum Thema.92 Auch an der Feier anlässlich der Privilegierung des Gymnasium academicum als Volluniversität am 2. Februar 1558 war Stigel maßgeblich beteiligt und hielt die Festrede De causis, quare constituantur Academiae.93

In diese Zeit fällt Stigels zweite Eheschließung. Nachdem seine erste Frau Barbara im April 1556 gestorben war,94 heiratete er am 7. Dezember desselben Jahres Katharina Kirsten.95 Melanchthon, der selbst nicht zur Hochzeit kommen konnte, schickte dem Freund am 1. Dezember einen Brief mit dem Wunsch, ut coniugium tuum sit faustum et felix, und der Braut ein γαμήλιον, ein Hochzeitsgeschenk.96

In seinen letzten Lebensjahren wurde Stigel in die Auseinandersetzungen mit den Melanchthon gegenüber feindlich eingestellten Flacianern, den Anhängern des Matthias Flacius Illyricus (1520–1575), hineingezogen. Flacius lehrte ab 1557 in Jena. Stigel hielt in dieser schweren Zeit zu seinem einstigen Wittenberger Lehrer und Freund Melanchthon, doch der Konflikt, der erst durch die Absetzung des Flacius am 25. November 1561 beendet wurde, zehrte an seinen Kräften und mag mit dazu beigetragen haben, dass er nicht lange danach, am 11. Februar 1562,97 in Jena starb.

Schon bald nach Stigels Tod begann man, seine Gedichte für eine Gesamtausgabe zusammenzustellen. Dies war allerdings keine neue Idee. Vielmehr hatte bereits Melanchthon im Jahr 1551, das heißt noch zu Stigels Lebzeiten, den Wunsch nach einer solchen Ausgabe geäußert und sogar versprochen, sich selbst darum zu kümmern.98 Aus der Feder Stigels liest sich das einige Jahre später jedoch so, dass Melanchthon und mittlerweile auch Paul Eber ihn drängten, vt meorum Carminum dispersas Syluulas in ordinem redigam, et in vnum corpus redacta editioni permittam.99 Dies schreibt Stigel am 1. März 1558 an den Basler Drucker Johann Oporinus (1507–1568), dem er in diesem Brief zugleich mitteilt, dass er es am liebsten sähe, wenn dieser den Druck seiner Gedichte übernähme.100

Das Vorhaben einer Gesamtausgabe der Gedichte Stigels wurde jedoch erst nach dessen Tod in die Tat umgesetzt, und zwar von Hiob Fincel, der 1562 gemeinsam mit Friedrich Widebram (1532–1585) die Gedichte zu sammeln begann.101 Widebram war in der zweiten Hälfte des Jahres 1562 auf die Professur für Poesie, Dialektik und Grammatik in Jena berufen worden, war aber nicht nur Stigels Nachfolger in der Professur, sondern bezog auch dessen Haus und hatte nach seinem eigenen Zeugnis Zugang zu Stigels Bibliothek102, vermutlich auch zu dessen Nachlass. Von der Zusammenarbeit Fincels und Widebrams bei der Sammlung der Gedichte zeugt ein Brief Fincels an Eber vom 31. Oktober 1562, in dem Fincel schreibt: Cum autem Widebrandus et ego decreuerimus Cl(arissimi) Stigelij poëmata propter communem rei literariæ vtilitatem collecta in certos libellos conijcere, visum fuit ea de re scribendum esse ad te atque obnixe orandum, vt ea, que habes tecum asseruata de poëmatis Stigelianis, nobis non grauatim communices. Scimus enim te non tantum honestissima semper Stigelio tribuisse, verumetiam ipsius versus cum admiratione studioque precipuo conseruasse. Eaque in re, que ad communem vtilitatem antecellit, vt te nobis des sinasque nos hæc a te impetrare, maiorem in modum petimus. Nos que hic partim habemus, partim inuenimus in Bibliotheca Stigeliana fideliter omnia communicabimus.103 Eber scheint auf Fincels Bitte allerdings zunächst nicht reagiert zu haben, denn Widebram erinnert ihn in einem Brief vom 13. Dezember desselben Jahres an die Angelegenheit: Cœterum scripsimus ego et M. Fincelius Stigelii affinis et rogauimus, vt si quid Poëmatum Stigelianorum apud te aut alios Dominos Professores extaret, id conquisitum dignareris nobis mittere, quod meditaremur ea cum aliis, quae nondum prodierunt in publicum, distribuere in certa opuscula et in commodum haeredum publicare. Quia autem nihil ea de re scripsisti, dubitaui, redditaene tibi sint nostrae litterae. Non autem dubito, quin in memoriam tanti viri hoc nobis etiam tu sis praestiturus.104 Daraufhin hat Eber wohl seine Mithilfe bei der Sammlung von Stigels Gedichten versprochen, denn Widebram bedankt sich am 27. Januar 1563 in einem Brief an ihn: Pro beneuolentia tua, quam declaraturum te … in … conquirendis Poëmatis Stigelianis promittis, magnas ago gratias relaturus suo tempore, quamprimum dabitur occasio et facultas.105 Widebrams Mitarbeit scheint sich allerdings nur auf die Sammlung der Gedichte beschränkt zu haben, denn in der Gesamtausgabe der Stigelschen Gedichte, die ab 1566 sukzessive in acht Bänden erschien,106 begegnet sein Name nirgends. Auch die Widmungstexte in den einzelnen Bänden sind nur von Fincel unterzeichnet.107 Als Herausgeber der ersten Gedichtsammlung Stigels kann daher einzig Fincel gelten.

STIGELS ODYSSEE-ÜBERSETZUNG

Wie bereits mehrfach erwähnt, wurde Stigels Übersetzung des elften Buches der homerischen Odyssee 1545 in Wittenberg bei Veit Kreutzer gedruckt, entstanden ist die Übersetzung möglicherweise aber schon einige Jahre vorher. Der Herausgeber der 1600–1601 erschienenen dritten Ausgabe von Stigels Gedichten, Georg Monethius, der nach eigenem Zeugnis bei Stigel studiert und einige Jahre persönlichen Umgang mit ihm gepflegt hat,108 schreibt nämlich in der Vorrede an seine Leser: Meminit et ipse D. Stigelius in Epistola quadam ad D. Stephanum Riccium Anno 40 scripta quatuor librorum ex Odyssea Homerica a se traductorum, cum tamen præter vndecimum reliquos desideremus.109 Demnach hat also Stigel im Jahr 1540 in einem Brief an den evangelischen Theologen und Lehrer Stephan Reich (1512–1588) erwähnt, dass er vier Bücher der homerischen Odyssee übersetzt habe. Leider ist aber die abschließende Bemerkung des Monethius, dass man außer dem elften Buch die übrigen Bücher vermisse, nicht eindeutig. Monethius scheint zwar der Ansicht gewesen zu sein, dass das elfte Buch zu den von Stigel im Jahr 1540 erwähnten vier Büchern gehörte, dass also mit reliquos die übrigen drei dieser vier Bücher gemeint wären, nicht ganz auszuschließen ist aber auch, dass Monethius sagen wollte, dass ihm zwar das elfte Buch, das er in seiner Stigel-Ausgabe ja auch abdruckt, vorliege, alle übrigen Bücher, nämlich die vier in Stigels Brief vom Jahr 1540 erwähnten, aber verloren seien. Da Monethius offensichtlich nicht wusste, um welche Odyssee-Bücher es sich bei den in dem Brief an Stephan Reich erwähnten handelte, und auch heute noch jegliches Zeugnis über diese Bücher fehlt, lässt sich nicht klären, ob Stigel für den Druck von 1545 auf einen bereits seit längerer Zeit vorliegenden Text zurückgriff oder das elfte Buch erst für diesen Druck übersetzte.

Stigel hat für seine Übertragung des elften Buches der Odyssee das epische Versmaß Homers beibehalten und den Text in lateinische Hexameter gebracht. Dieser Umstand bringt es mit sich, dass er sich unter den metrischen Zwängen größere Freiheiten gegenüber seiner Vorlage erlauben musste, als es bei einer Prosa-Übersetzung der Fall gewesen wäre, doch seine Freiheiten im Umgang mit der Vorlage sind wesentlich größer, als dass sie sich allein durch die Wahl des Hexameters für die Übertragung erklären ließen. Dabei scheint Stigel sich allerdings am Beginn seiner Arbeit noch um einen engeren Anschluss an Homer bemüht zu haben, wie ein Vergleich des Anfangs seiner Version mit Homers Text110 zeigt:

Αὐτὰρ ἐπεί ῥ᾽ ἐπὶ νῆα κατήλθομεν ἠδὲ θάλασσαν,

νῆα μὲν ἂρ πάμπρωτον ἐρύσσαμεν εἰς ἅλα δῖαν,

ἐν δ᾽ ἱστὸν τιθέμεσθα καὶ ἱστία νηῒ μελαίνῃ,

ἐν δὲ τὰ μῆλα λαβόντες ἐβήσαμεν, ἂν δὲ καὶ αὐτοὶ

5

βαίνομεν ἀχνύμενοι, θαλερὸν κατὰ δάκρυ χέοντες.

ἡμῖν δ᾽ αὖ κατόπισθε νεὸς κυανοπρῴροιο

ἴκμενον οὖρον ἵει πλησίστιον, ἐσθλὸν ἑταῖρον,

Κίρκη ἐϋπλόκαμος, δεινὴ θεὸς αὐδήεσσα.

ἡμεῖς δ᾽ ὅπλα ἕκαστα πονησάμενοι κατὰ νῆα

10

ἥμεθα· τὴν δ᾽ ἄνεμός τε κυβερνήτης τ᾽ ἴθυνε.

At postquam ad littus descendimus æquoris alti,

In mare soluentes curuam deducimus alnum

Velaque laxamus uentis malumque locamus.

Tum pecore accepto ferimus nos intro dolentes

5

Fundentesque oculis largos stillantibus imbres.

Mitior at nobis a tergo nauis euntis

Immisit placide pandentem lintea uentum

Facunda et pulchris Circe ueneranda capillis.

Sistimur in transtris forti sua quisque tenentes

10

Arma manu, rapidi spumosa per æquora ponti

Carbasa propicio propellit nauita uento.

Die ersten drei Verse der Stigelschen Übertragung geben relativ genau die ersten drei Homerverse wieder. Stigel hat gegenüber seiner Vorlage nur leichte Veränderungen vorgenommen. Im ersten Vers wird aus ἐπὶ νῆα … ἠδὲ θάλασσαν bei Stigel ad littus … æquoris alti. Im zweiten Vers ersetzt Stigel das sachliche νῆα Homers durch die poetische Metonymie curuam … alnum, andererseits aber Homers epische Verbindung ἅλα δῖαν durch schlichtes mare. Homers πάμπρωτον hat bei Stigel keine Entsprechung. Im dritten Vers interpretiert Stigel Homers ἐν δ᾽ ἱστὸν τιθέμεσθα καὶ ἱστία νηῒ μελαίνῃ. Während Homer nur sagt »wir legten Mast und Segel in das schwarze Schiff« und das Aufrichten des Mastes und das Setzen der Segel der Phantasie des Hörers bzw. Lesers überlässt, schildert Stigel gerade diese Tätigkeiten: Velaque laxamus uentis malumque locamus.

Stigels Verse 4 und 5 entsprechen inhaltlich den homerischen Versen, in der sprachlichen Realisierung zeigen sich allerdings Unterschiede. Dabei fällt weniger ins Gewicht, dass Stigel aus dem Participium coniunctum τὰ μῆλα λαβόντες den Ablativus absolutus pecore accepto macht, als dass er das homerische θαλερὸν κατὰ δάκρυ χέοντες in epischer Breite zu fundentes … oculis largos stillantibus imbres erweitert. Ebenso entsprechen die Verse 6–8 inhaltlich dem homerischen Vorbild, in der sprachlichen Ausformung weicht Stigel aber leicht von Homer ab: Nicht der Fahrtwind ist bei ihm günstig (ἴκμενον οὖρον), sondern Kirke, die den Fahrtwind schickt, wird als mitior bezeichnet, und ἐσθλὸν ἑταῖρον, bei Homer Apposition zu οὖρον, wird durch das Adverb placide ersetzt, das nun pandentem lintea (πλησίστιον) näher erläutert. Außerdem wird aus dem Schiff mit dem schwarzen Bug (νεὸς κυανοπρῴροιο) bei Stigel das fahrende Schiff (nauis euntis), und δεινὴ θεὸς wird zu ueneranda verkürzt.

Eine deutliche Erweiterung gegenüber Homer zeigt sich in Stigels Versen 10–11: Während Homer Od. 11, 10 sachlich feststellt τὴν δ᾽ ἄνεμός τε κυβερνήτης τ᾽ ἴθυνε (»das Schiff lenkten Wind und Steuermann«), findet sich dafür bei Stigel rapidi spumosa per æquora ponti / Carbasa propicio propellit nauita uento. Stigels Version ist also deutlich länger als Homers Text. Damit wird schon zu Beginn der Stigelschen Übertragung eine Tendenz deutlich, die sich durch das ganze Werk zieht und letztlich auch dazu geführt hat, dass aus Homers 640 griechischen Hexametern bei Stigel 807 lateinische Hexameter geworden sind. Immer wieder nämlich erweitert Stigel Homers Darstellung um Details, die bei Homer keine Entsprechung haben, und erreicht mit derartigen Textüberschüssen eine noch stärkere epische Färbung. Nur wenige Verse nach der besprochenen Eingangspartie findet sich eine solche Erweiterung. Homer stellt Od. 11, 12 fest δύσετό τ᾽ ἠέλιος, σκιόωντό τε πᾶσαι ἀγυιαί (»und die Sonne ging unter, und alle Straßen wurden überschattet«). Stigel formt Homers Parataxe in eine Hypotaxe um und wählt für die inhaltliche Aussage zwei poetische Bilder Cum nox somniferis frontem redimita tenebris / Ingruit et nigris terram complectitur alis (V. 14f.), zu denen ihn wohl die klassische lateinische Dichtung inspiriert hat.111

Kurz darauf findet sich eine ähnliche Erweiterung in Stigels Version. Bei Homer Od. 11, 14f. heißt es ἔνθα δὲ Κιμμερίων ἀνδρῶν δῆμός τε πόλις τε / ἠέρι καὶ νεφέλῃ κεκαλυμμένοι (»dort aber sind Volk und Stadt der kimmerischen Männer, eingehüllt in Dunst und Wolken«). Bei Stigel (V. 17–19) wird daraus Est locus obscuro densi sub climate cœli / Vmbrarum nebula et caligine semper opacus. / Cimmerii arua tenent. Dabei hat Stigels Vers 17 bei Homer keinerlei Entsprechung, vielmehr hat Stigel Homers ἔνθα zum Anlass genommen, eine mit dem typischen Est locus eingeleitete epische Ekphrasis topou einzufügen. Um diese Ekphrasis noch weiter auszugestalten, hat er aus ἠέρι καὶ νεφέλῃ κεκαλυμμένοι, das sich bei Homer auf »Volk und Stadt der kimmerischen Männer« bezieht, eine nähere Bestimmung zu locus gemacht und mit Vmbrarum nebula et caligine semper opacus wiedergegeben. Stigel hat sich bei seiner Formulierung wohl von Ovid met. 10, 53f. trames / arduus, obscurus, caligine densus opaca inspirieren lassen. Man gewinnt hier den Eindruck, dass sich Stigel an den Stellen, die ihn an lateinische epische Vorbilder erinnern, stärker vom Text Homers löst, um seiner Übersetzung das Kolorit lateinischer Epik zu geben.

Dieser Eindruck wird durch eine Anzahl weiterer Stellen in Stigels Übertragung bestätigt, an denen sich größere Divergenzen zum Homertext ergeben, weil Stigel einen Gedanken bei Homer mit Sprachmaterial der klassischen lateinischen Epik, insbesondere Vergils wiedergibt, wie zum Beispiel der Vergleich von Stigels Versen 50–53 mit der Vorlage bei Homer Od. 11, 44–46 zeigt:

44

δὴ τότ᾽ ἔπειθ᾽ ἑτάροισιν ἐποτρύνας ἐκέλευσα

μῆλα, τὰ δὴ κατέκειτ᾽ ἐσφαγμένα νηλέϊ χαλκῷ,

δείραντας κατακῆαι, ἐπεύξασθαι δὲ θεοῖσιν.

50

Mando tamen sociis, pecora ut iugulata secantes

Tergora diripiant costis et corpora nudent

Pinguiaque accensis imponant uiscera flammis,

Tum sacra supplicibus uenerentur numina uotis,

Hier stehen den zwei Wörtern δείραντας κατακῆαι mit secantes – flammis bei Stigel mehr als zwei lateinische Hexameter gegenüber. Vergleicht man Stigels Version mit Vergil Aen. 1, 211f. tergora diripiunt costis et viscera nudant, / pars in frusta secant und Aen. 6, 253f. et solida imponit taurorum viscera flammis, / pingue superque oleum fundens ardentibus extis, wird klar, dass Stigel die homerische Opferszene durch Imitation der viel breiter angelegten Opferszenen bei Vergil ersetzt hat. Ähnliches gilt für Homers ἐπεύξασθαι δὲ θεοῖσιν in Vers 46, das Stigel – sicherlich unter dem Einfluss von Vergil Aen. 8, 61 supplicibus supera votis – zu Tum sacra supplicibus uenerentur numina uotis erweitert hat112.

Noch deutlicher wird Stigels Arbeitsweise an der Übertragung der Rede der Phäakenkönigin Arete (Hom. Od. 11, 336–338):

336

Φαίηκες, πῶς ὔμμιν ἀνὴρ ὅδε φαίνεται εἶναι

εἶδός τε μέγεθός τε ἰδὲ φρένας ἔνδον ἐΐσας;

ξεῖνος δ᾽ αὖτ᾽ ἐμός ἐστιν, ἕκαστος δ᾽ ἔμμορε τιμῆς.

425

Quis nouus hic hospes, ciues, quantusque uidetur,

Quem sese ore ferens, quam pulchro corpore et armis

Ingreditur, quæ uis animi, quæ gratia linguæ.

Credo equidem: Vobis hic omnibus unus honori est.

Stigels Abweichungen von der homerischen Vorlage sind erheblich. Sie erklären sich vor allem dadurch, dass er seinen Text zu großen Teilen der Aeneis des Vergil entnimmt, der am Anfang des vierten Buches Dido innerhalb der berühmten Rede an ihre Schwester Anna Folgendes über Aeneas sagen lässt (Aen. 4, 10–12):

quis novus hic nostris successit sedibus hospes,

quem sese ore ferens, quam forti pectore et armis!

credo equidem, nec vana fides, genus esse deorum.

Die Parallelen sind überdeutlich, auch wenn Stigel es vermeidet, ganze Verse aus Vergil wörtlich zu zitieren. So übernimmt er nostris successit sedibus aus dem Vergiltext nicht, das hier auch unpassend wäre, da Odysseus schon längere Zeit am Hof des Alkinoos weilt, und ändert Vergils forti pectore (Aen. 4, 11) zu pulchro corpore. Dadurch wird allerdings armis (»Schultern«) bei Stigel problematisch, da man es im neuen Kontext – zumindest beim ersten Lesen – als »Waffen« versteht (»Körper und Waffen«).113 Tatsächlich hat Odysseus aber keine Waffen, da er nackt bei den Phäaken an Land gegangen ist. Unpassend erscheint bei Stigel im Gegensatz zur Rede der Dido außerdem das emphatische Credo equidem, das dadurch noch stärkeres Gewicht bekommt, dass bei ihm nicht wie bei Vergil auf credo equidem ein AcI, sondern der unabhängige Hauptsatz Vobis hic omnibus unus honori est folgt.114

Innerhalb dieser Übernahmen aus Vergils Dido-Rede hat Stigel außerdem Homers Text noch dadurch verändert, dass er dessen φρένας ἔνδον ἐΐσας zu quæ uis animi, quæ gratia linguæ mit Anklängen an die klassische lateinische Poesie115 erweitert hat.

Sehr deutlich sind die Anklänge an Vergil wie an vielen anderen Stellen auch in Stigels Übertragung von Homer Od. 11, 373 f.:

373

οὐδέ πω ὥρη

εὕδειν ἐν μεγάρῳ· σὺ δέ μοι λέγε θέσκελα ἔργα.

471

Et nondum inuitant suadentia sydera somnum.

Admiranda refer, iuuat omnem audire laborem.

Nur Admiranda refer entspricht der homerischen Vorlage (Od. 11, 374b), ansonsten aber imitiert Stigel Vergil, und zwar Aen. 2, 8–11:

iam nox umida caelo

praecipitat suadentque cadentia sidera somnos.

sed si tantus amor casus cognoscere nostros

et breviter Troiae supremum audire laborem.

Dabei hat sich Stigel bemüht, Aen. 2, 9 zu variieren, indem er cadentia durch suadentia ersetzte, was allerdings zu dem ungeschickten Pleonasmus inuitant suadentia geführt hat.

Wie an den hier angeführten Stellen wird immer wieder deutlich, dass Stigel nicht im Geringsten das Ziel verfolgte, Homers charakteristische Ausdrucksformen möglichst adäquat im Lateinischen wiederzugeben, sondern dass er vielmehr Homers Text in eine lateinische Form bringen wollte, die es mit der klassischen lateinischen Epik aufnehmen sollte. Dabei ergibt sich das erstaunliche Phänomen, dass Stigels Text oft epischer wirkt als Homer selbst, wie zum Beispiel die folgenden Stellen belegen:

80

ταῦτά τοι, ὦ δύστηνε, τελευτήσω τε καὶ ἔρξω

93

Ne te hæc age cura fatiget.

Omnia præstabo, pietas quæ poscit amici.117

86

ἰὼν ἐς Ἴλιον ἱρήν

102

Vindice cum Phrygias peteremus milite terras

93

τίπτ᾽ αὖτ᾽, ὦ δύστηνε, λιπὼν φάος ἠελίοιο

ἤλυθες, ὄφρα ἴδῃ νέκυας καὶ ἀτερπέα χῶρον;

110

Ergo adeo, infœlix, superis digressus ab auris,

Vt uideas manes Erebique inamabile regnum,

Splendida liquisti formosi lumina solis?

96

νημερτέα εἴπω

114

ordine pandam

Præscia quem vitæ texant tibi fata tenorem.

121

ἔρχεσθαι δὴ ἔπειτα, λαβὼν εὐῆρες ἐρετμόν,

εἰς ὅ κε τοὺς ἀφίκηαι

149

En iterum spaciosa leges per marmora pontum,

Donec ad extremas traduces carbasa gentes

148

αἵματος ἆσσον

176

Ad tepidam propius sacrati sanguinis undam

Fast überall hat Stigel sich hier durch die klassische lateinische Poesie anregen lassen. Auch bei den Einleitungen und Beendigungen der wörtlichen Reden zeigt sich der Einfluss der klassischen lateinischen Poesie. Stigel versucht nämlich nicht einmal im Ansatz, die entsprechenden homerischen Formelverse im Lateinischen wiederzugeben, sondern bedient sich der Sprache des römischen Epos. So wird zum Beispiel in Vers 63 Homers καί μιν φωνήσας ἔπεα πτερόεντα προσηύδων (Od. 11, 56) zu uerbis affabar amicis verkürzt, was durch Vergils verbis compellat amicis (Aen. 2, 372) inspiriert ist. In Vers 184 ersetzt Stigel Homers formelhaftes ἔπεα πτερόεντα προσηύδα (Od. 11, 154) durch sic … ora resoluit, womit er eine vergilische Formulierung (georg. 4, 452 sic fatis ora resolvit) imitiert, die bereits in der klassischen lateinischen Poesie ihre Nachahmer gefunden hat.118 In Vers 455 reduziert er Homers Redeeinleitung Тὸν δ᾽ αὖτ᾽ ᾽Αλκίνοος ἀπαμείβετο φώνησέν τε (Od. 11, 362) auf schlichtes Rex contra, was ebenfalls auf den Einfluss Vergils119 zurückzuführen ist. In Vers 167 lässt Stigel Homers Formel αὐτὰρ ἐγώ μιν ἀμειβόμενος προσέειπον (Od. 11, 138) sogar ganz aus.

Homers griechische Personen- und Ortsnamen behandelt Stigel unterschiedlich. Sie werden teils durch die entsprechenden römischen Namensformen ersetzt, wie zum Beispiel Ποσειδάωνι (Od. 11, 130) durch Neptuno (V. 158), teils durch Antonomasie wiedergegeben, wie zum Beispiel Ποσειδάων (Od. 11, 399) durch rex pelagi (V. 500), Περσεφόνεια (Od. 11, 386) durch coniunx Plutonia (V. 485), Ἑρμείας (Od. 11, 626) durch interpres iuuenis diuorum (V. 786) oder Ἰθάκην (Od. 11, 111) durch patriam … oram (V. 135). In Vers 605f. umschreibt Stigel Homers Ἰθάκην (Od. 11, 480) mit patriam … / Eminet aeriis qua Neritos ardua saxis, wobei er Neritos ardua saxis Vergil Aen. 3, 271 entnommen hat. Auffallend ist der Ersatz von homerischem Περσεφονείῃ (Od. 11, 47) bzw. Περσεφόνεια (Od. 11, 213 und 226) durch Hecatem … triformem (V. 54) bzw. Hecate (V. 269 und 285). Stigel spielt hier mit seinen mythologischen Kenntnissen und bedient sich einer entlegenen Sagenversion, nach der Hekate außer als Selene (Luna) und Artemis (Diana) auch als Persephone (Proserpina) verehrt wurde.120

Bei der Behandlung der Epitheta ornantia, also jener Attribute, mit denen Homer in festen Verbindungen mit dem Namen das Aussehen oder die Funktionen von Personen und Sachen bezeichnet, ohne dass an der konkreten Einzelstelle diesem Attribut eine Bedeutung zukommen muss, zeigt sich ebenfalls Stigels Tendenz, die charakteristischen Ausdrucksformen Homers zu eliminieren. Er übernimmt diese formelhaften Epitheta nämlich in der Regel nicht, sondern lässt sie entweder aus, wie zum Beispiel das Epitheton δῖαν zu ἅλα (Od. 11, 2), εὐρυοδείης zu χθονὸς (Od. 11, 52), τανηλεγέος zu θανάτοιο (Od. 11, 171), ἰοχέαιρα zu ῎Αρτεμις (Od. 11, 172), ἕλικας … εὐρυμετώπους zu βόας (Od. 11, 289), ἐϋκνήμιδας zu ᾽Αχαιούς (Od. 11, 509) oder χρυσοπεδίλου zu Ἥρης (Od. 11, 604), oder er ersetzt sie durch andere Attribute, die an der betreffenden Stelle ihre volle Bedeutung haben. So wird zum Beispiel aus νεὸς κυανοπρῴροιο (Od. 11, 6) bei ihm navis euntis (V. 6), aus ᾽Αρήτη λευκώλενος (Od. 11, 335) regina potens Arete (V. 424), aus Πήλιον εἰνοσίφυλλον (Od. 11, 316) sublimem … Pelion (V. 402), aus ποδώκεος Αἰακίδαο (Od. 11, 538) ingentis Achillis (V. 675) oder aus Γαίης ἐρικυδέος (Od. 11, 576) Terræ omniparentis (V. 721). Insgesamt zeigt sich auch bei der Wahl der Epitheta der Einfluss der klassischen lateinischen Poesie, wie die Verbindungen fessam … nauem (V. 194) für homerisches νηt (Od. 11, 161) und ore canem triplici latrantem et dira sonantem (V. 782) für Homers κύν᾽ (Od. 11, 623)121 besonders deutlich zeigen.

An einigen Stellen lässt Stigel seine Kenntnis der gesamten Odyssee in die Übertragung des elften Buches einfließen. Er fügt nämlich mehrfach sachliche Details hinzu, die sich dem Text des elften Buches bei Homer nicht entnehmen lassen. So sagt Homer Od. 11, 103 nur, dass Poseidon dem Odysseus zürnt, weil er seinen Sohn geblendet hat (ὅτι οἱj υἱὸν φίλον ἐξαλάωσας). Dem entspricht bei Stigel aber:

123

sæuo quod clausus in antro

Illius ingenti priuaris lumine natum.

Dass der Sohn des Poseidon, Polyphem, nur ein großes Auge hatte und Odysseus bei dessen Blendung in der Höhle eingeschlossen war, wusste Stigel natürlich aus dem Kyklopenabenteuer in Buch 9 der Odyssee.122

In Vers 143–146 malt Stigel das üble Treiben der Freier im Haus des Odysseus aus:

Deglutiunt auido tua qui patrimonia luxu,

Dum rapti insano diuinæ uxoris amore

145

Indulgent epulis choreasque et gaudia tractant

Et uario illicitas adfectant crimine tædas.

Bei Homer Od. 11, 116f. heißt es dagegen nur:

οἵ τοι βίοτον κατέδουσι

μνώμενοι ἀντιθέην ἄλοχον καὶ ἕδνα διδόντες.

Von Tänzen und anderen Vergnügungen der Freier ist an dieser Stelle bei Homer gar nicht die Rede, aber Stigel kannte selbstverständlich die entsprechenden Schilderungen Homers an anderen Stellen der Odyssee123 und bezog sie in seine Übertragung ein.

Nicht allein durch Kenntnis der gesamten Odyssee lässt sich die folgende Erweiterung des Homertextes in Stigels Übertragung erklären: Bei Homer erzählt Odysseus 11, 288–291, dass Neleus seine Tochter Pero nur demjenigen zur Frau geben wolle, der ihm die Rinder des Iphiklos brächte, und fährt dann fort (Od. 11, 291f.): τὰς δ᾽ οἶος ὑπέσχετο μάντις ἀμύμων / ἐξελάαν. Für μάντις ἀμύμων liest man bei Stigel (V. 377) Insignis uates pro fratre Biante Melampus, der damit gegenüber Homer einen erheblichen Textüberschuss hat. Dabei konnte Stigel den Namen des Sehers, nämlich Melampus, sowie die Tatsache, dass dieser Pero für seinen Bruder gewann, der Erzählung bei Homer Od. 15, 225ff. entnehmen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass Stigels Verse 378f. eher den Versen Od. 15, 231f. entsprechen als den Versen Od. 11, 292f., wobei insbesondere auffällt, dass der von Stigel Od. 379 erwähnte König Phylakos auch Homer Od. 15, 232, nicht aber im elften Buch genannt wird:

378

Dum prædam aggreditur, uigili custode prehensus

Aspera conicitur Phylacei in uincula regis.

5, 231

ὁ δ᾽ τῆος ἐνί μεγάροις Φυλάκοιο

δεσμῷ ἐν ἀργαλέῳ δέδετο.

11, 292

χαλεπὴ δὲ θεοῦ κατὰ μοῖρα πέδησε.

δεσμοί τ᾽ ἀργαλέοι καὶ βουκόλοι ἀγροιῶται.

Weder im 11. noch im 15. Buch nennt Homer allerdings den Namen des Bruders des Melampus, Bias. Es ist kaum anzunehmen, dass Stigel für dieses Detail auf seine eigenen mythologischen Kenntnisse zurückgreifen konnte, da es sich bei der Erzählung von Melampus und seinem Bruder Bias um einen sehr entlegenen Mythos handelt.124 Offenbar hat sich Stigel aber bei seiner Arbeit einer kommentierten griechischen Odyssee-Ausgabe bedient. Eine solche Ausgabe war bereits 1535 in Basel bei Johannes Herwagen erschienen.125 Der zweite Band dieser Ausgabe bietet als erster Druck die Odyssee zusammen mit den sog. Didymos-Scholien am Rand. In diesen Scholien finden sich unter anderem die folgenden Informationen zu den von Homer Od. 11, 287ff. geschilderten Ereignissen126:

Νηλεὺς ὁ Ποσειδῶνος ἔχων θυγατέρα Πηρῶ [!] τοὔνομα … οὐδενί ταύτην ἐξεδίδου πρὸς γάμον, εἰ μὴ πρότερον ἐκ Φυλάκης τὰς τῆς μητρὸς Τυροὺς [!] ἐλάσειεν τίς βοῦς παρ᾽ Ἰφίκλου. πάντων δὲ ἀπορουμένων Βίας ὁ Ταλαοῦ μόνος ὑπέσχετο δράσειν τοῦτο. καὶ πείθει τὸν ὰδελφὸν Μελάμποδα ῥέξαι τὸ ἔργον.127

Es dürfte daher kaum ein Zweifel bestehen, dass Stigel entweder diese Odyssee-Ausgabe oder ihre Wiederholung von 1541128 bei seiner Arbeit benutzt und ihr die Angaben in Vers 377 entnommen hat.

Aus all diesen Beobachtungen ergibt sich folgendes Bild: Stigel hat das elfte Buch der homerischen Odyssee nicht im eigentlichen Sinn übersetzt, sondern eine Nachdichtung geschaffen, in der zwar das rein Faktische der homerischen Erzählung erhalten bleibt – gelegentlich noch um Informationen aus anderen Quellen ergänzt –, in der aber die charakteristischen Ausdrucksformen Homers kaum mehr zu erkennen sind. Vielmehr orientiert sich Stigel an der Sprache des klassischen römischen Epos, insbesondere der Sprache Vergils, entnimmt ihr nach den Prinzipien von imitatio und aemulatio129 viele Wendungen und größere Versteile und gibt seinem Werk dadurch das Kolorit römischer Epik.

DIE WIDMUNGSEPISTEL AN FERDINAND A MAUGIS

In einem langen, 244 Distichen umfassenden Einleitungsgedicht, das der Homer-Übersetzung vorangeht und unter anderem einen Abriss der gesamten Odyssee enthält,130 widmet Stigel seine Übertragung dem jungen österreichischen Adligen Ferdinand a Maugis. Es trägt die Überschrift Ad Ferdinandum à Maugis, iuuenem nobilitate generis, uirtute et doctrina clarum, equitem Austriacum, Ioannis Stigelii Carmen. In Vers 55–60 des Einleitungsgedichts rühmt Stigel den Widmungsträger als Spross eines alten Geschlechts und lobt seine geistigen Vorzüge:

55

Huc Fernande, genus ueris qui dotibus ornas,

Quæ duplicis titulum nobilitatis habent –

Nam quia Maugisiæ genus a propagine gentis

Ducis, ab antiquo sanguine natus eques,

Nec tamen hoc satis esse putas, sed gentis honorem

60

Illustras animi condecorasque bonis.

Stigel kannte Ferdinand a Maugis von der Universität in Wittenberg, an der der junge österreichische Edelmann sich im April 1544 unter dem Rektorat des Melchior Fendius (1486–1564) eingeschrieben hatte.131 Zu dieser Zeit hatte Stigel dort die Terenzprofessur inne.132

Darüber hinaus ist über Ferdinand a Maugis nur sehr wenig bekannt. In einer Nativitätensammlung der Stadtbibliothek Leipzig133 ist in dem Abschnitt Baronum, Nobilium, Potentum [sc. Nativitates] der 13. März 1520 als sein Geburtstag bezeugt: Ferdinandus a Maugis nascitur 1520. Martii Die 13. Hora 11. Minutis 30. post Meridiem.

Ferdinand a Maugis zählte zu den Tischgenossen Martin Luthers (1483–1546) in Wittenberg. Im Jahr 1545 reiste er zusammen mit diesem nach Zeitz. Dies geht aus dem bekannten Brief hervor, den Luther im Juli 1545 an seine Frau Katharina schrieb.134 Luther hatte Wittenberg am 25. Juli 1545 aus Resignation über die dortigen unhaltbaren Zustände verlassen.135 Außer Ferdinand a Maugis waren auch Luthers Sohn Hans (1526–1575) und sein Wittenberger Kollege Caspar Cruciger136 (1504–1548) dabei. Die Reise ging von Wittenberg aus über Löbnitz an der Mulde und Leipzig nach Zeitz. In der festen Absicht, nicht mehr nach Wittenberg zurückzukehren, und in dem dringenden Wunsch, dass Katharina garten vnd hufe, haus vnd hof verkaufen und ebenfalls die Stadt verlassen möge, schrieb Luther am 28. Juli 1545 aus Zeitz: Liebe Kethe, wie vnser reise ist gangen, wird dir Hans alles wol sagen; wie wol ich noch nicht gewiss bin, ob er bey mir bleiben solle, So werdens doch D. Caspar Creutziger vnd Ferdinandus wol sagen. Ernst von Schonfeld hat vns zu Lobnitz schon gehalten, Noch viel schoner Heintz Scherle zu Leiptzig.137 Mit Ferdinandus ist Ferdinand a Maugis gemeint, der vermutlich zusammen mit Cruciger noch an demselben Tag nach Wittenberg zurückkehrte, um Katharina den Brief zu überbringen und mündlich Bericht zu erstatten. Wie Luthers Brief zu entnehmen ist, hatte Ferdinand a Maugis auf dem Weg nach Zeitz mit seinen Begleitern in Leipzig Heinrich Scherl138 (1475–1548), einen reichen Kaufmann, besucht. Die Nachschrift, die von einer der beiden Tischreden Luthers bei diesem Besuch angefertigt wurde, wird Ferdinand zugeschrieben.139

Ansonsten wird Ferdinand a Maugis nur noch von dem Joachimsthaler Pfarrer Johann Mathesius140 (1504–1565) erwähnt, der 1540 an Luthers Tisch saß und dessen Tischreden nachschrieb. In der zwölften Predigt seiner Luther-Historien zählt er diejenigen auf, die vor und nach ihm Nachschriften anfertigten, und fügt dann hinzu: Ferdinandus a Maugis auß Osterreich hat auch vil außlegung [erg. Martin Luthers] vber etliche spruech in seine Bibel verzeichnet.141 Diese Bibel hat sich jedoch bislang nicht angefunden, so dass die Mitteilung des Mathesius nicht verifiziert werden kann.

Des Weiteren ist bekannt, dass Ferdinand a Maugis eine größere Büchersammlung besaß, die vor allem Werke antiker Autoren und humanistische Literatur enthielt. Er vererbte sie seinem Bruder Philipp, der seit 1541 Propst des Augustiner-Chorherrenstifts Herzogenburg in Niederösterreich war. Als dieser 1550 starb, hinterließ er die Sammlung seines Bruders dem Stift Herzogenburg.142 Daraus darf man wohl schließen, dass Ferdinand a Maugis zwischen 1545 und 1550 noch relativ jung gestorben ist.143

Stigels Einleitungsepistel macht deutlich, dass er mit seiner Übertragung des elften Odyssee-Buches und der Widmung an Ferdinand a Maugis ein didaktisches Anliegen verfolgte.144 Homer habe, so meint er, mit seiner Darstellung des Odysseus das Bild eines vir perfectus entwerfen wollen, der mit seinen geistigen Fähigkeiten und seiner praktischen Erfahrung in der Lage ist, eine führende Position im Staate einzunehmen.145 Diesem Vorbild gelte es nachzueifern und dabei auch viele Gefahren und Leiden zu ertragen, wie es Odysseus getan habe:

71

Ergo quid hic caussæ sapientem mouit Homerum,

Ducat ut adflictum fata per alta ducem?

Scilicet ante oculos mortalibus ille uolebat

Ponere perfecti munera plena uiri,

75

Qui simul ingenio rerumque excelleret usu,

Publica quo posset res duce salua geri.

Crede mihi, tales qui præsint esse necesse est,

Vt multum prosint, multa dolenda ferant.

Hic labor, hoc opus est nostrum, qui mente ualemus,

80

Vllum pro patria ne metuamus onus.

Nonne animo celer ac sensu peracutus Vlysses,

Strenuus ad pacem, fortis ad arma fuit?

Quos tamen in fluctus fortunæ hunc mergit Homerus.

Quot patitur terra quotque pericla mari.

Nun lässt sich freilich nicht leugnen, dass Odysseus nicht in allen seinen Handlungen vorbildlich ist. Insbesondere sein Verhältnis zu Kirke ist mit dem Ideal eines vir perfectus nicht vereinbar. Stigel übt darum in dieser Hinsicht auch Kritik an Odysseus, wobei er dessen erotisches Abenteuer allerdings nicht mit eindeutigen Worten benennt, sondern nur mit vagen Andeutungen darauf anspielt. So heißt es im Zusammenhang mit der Kirke-Episode:

Quid memorem diræ benefacta uenefica Circes?

Est ea iam uulgo fabula nota satis.

195

Hei doleo hoc unquam uenisse ad littus Vlyssem.

Hic Ithaco factus mollior ille fuit.

Atque equidem optarim meliorem huic molyos usum.

Archilochi merito carmine laudo metum.

Quid faceret tristis pro libertate suorum,

200

Quos pridem in turpes uerterat illa sues?

Bestia ne fieret, non cætera cauit Vlysses.

Hei mihi, quam minime multus utrumque cauet.

Doch Odysseus muss für seine Verfehlungen büßen und in die Unterwelt hinabsteigen:

203

Sed tamen infernas migrare coactus ad umbras

Hac etiam pœnas pro leuitate luit.

Aus der Unterwelt aber, in der er die großen Büßer sieht, kehrt er geläutert an die Oberwelt zurück:

209

Illic heroum uitam pœnasque nocentum

Conspicit, ut uitam corrigat inde suam.

Stigel deutet dabei Homers Schilderung vom Abstieg des Odysseus in die Unterwelt als Bild dafür, dass Odysseus sich in sich selbst vertieft, dabei das Gute und Schlechte zu unterscheiden lernt und erkennt, welche Belohnungen der Tugend winken, um so auch Unglück tapfer ertragen zu können:

211

Hoc erat in sese penitus descendere et intus

Ad bene uiuendum quærere quid sit opus.

In se ipsum ducit, non Tartara Homerus Vlyssem

Inque animo manes ipsius esse docet,

215

Cogitet ut secum caræ mens conscia uitæ,

Quid bona lucrentur, quid mala facta luant.

Esse sua ingenuæ uirtuti præmia monstrat,

Crimina supplicio nulla carere docet.

Hæc ita Sisyphides monitus quasi redditus orbi

220

Sustinet in clades fortius ire suas.

Am Schluss der Widmungsepistel wiederholt Stigel seine Deutung vom Abstieg des Odysseus in die Unterwelt als Prozess der Selbsterkenntnis und der daraus resultierenden Läuterung und betont noch einmal die Vorbildfunktion des Odysseus als vir perfectus bzw. exactus:

479

Ille [sc. Odysseus] quidem a Stygiis rediens prudentior umbris

Exemplum exacti sustinet esse uiri.

Stigel geht bei dieser Deutung des Abstiegs in die Unterwelt geflissentlich darüber hinweg, dass Odysseus sich auch nach der Rückkehr aus dem Tartaros erneut in erotische Abenteuer verstrickt. Odysseus lässt sich nämlich nach dem Schiffbruch zunächst durchaus willig auf den Umgang mit der Nymphe Kalypso ein. Stigel bemerkt dazu nur, er wünschte sich, dass Odysseus niemals nach Ogygia, der Insel der Kalypso, gekommen wäre:

239

Fugit et – o nollet, sed sic cogentibus astris –

Ogygiæ tandem peruenit exul humum.

In der relativ breit ausgeführten Kalypso-Episode vermeidet er dann jedoch jeden klaren Hinweis auf die erotische Komponente in der Beziehung zwischen Odysseus und der Nymphe und kommentiert die Episode mit einer abschließenden Bemerkung:

267

Sic licet heroum uicientur pectora, ut omnes

Ad mala mortales obuia turba sumus,

Si tamen agnoscunt uicium morboque repugnant,

270

E turpi emergunt auspice labe Deo.

Die Deutung, was er denn mit vitium und morbum in Carm. 269 meint, überlässt er dabei seinem Leser.

Stigels didaktische Motivation für die Widmung an Ferdinand a Maugis zeigt sich auch in dem Abriss der Odyssee, der mit 134 Distichen (Carm. 85–352) den Hauptteil der Widmungsepistel bildet. In dieser Partie gibt Stigel einen Überblick über die Abenteuer des Odysseus in chronologischer Reihenfolge. Er setzt also mit den Ereignissen bei den Kikonen ein, mit denen Homer erst im neunten Buch die sogenannten Apologe des Odysseus beginnen lässt (Od. 9, 39), und führt dann die Erzählung linear bis zur Heimkehr nach Ithaka weiter.146 In diesen Abriss fügt Stigel mehrfach belehrende Kommentare ein, in denen er die überlegene Kraft des menschlichen Geistes hervorhebt und Odysseus als einen Mann preist, der über diese Kraft und damit über die für eine führende Position im Staate notwendigen Eigenschaften verfügt. So kommentiert Stigel zum Beispiel am Schluss des Kyklopenabenteuers das Verhalten des Odysseus mit folgenden Worten:

151

Tantum animus sapiens ingenti robore præstat,

Omnia uis animi uincere dura potest.

Vim superat uirtus, uincit prudentia ferrum.

Vir pius et prudens omnia uictor habet.

155

Sæpe aliquem nequeunt uires frenare tyrannum,

Vnius hunc frangit mens generosa uiri.

Die Aiolos-Episode mit der Erzählung über die Unvernunft der Gefährten des Odysseus schließt Stigel mit einer auf die eigene Gegenwart bezogenen Interpretation ab, mit der zugleich Odysseus indirekt als idealer princeps gezeichnet wird:

Esse quid exempli uentorum in rege probemus?

180

Cordatos reges numina summa iuuant.

Cur tamen occlusos uentos dat in utre? Monemur

Parcius utendum numinis esse bonis.

Hei quam sæpe malum princeps leuitate suorum

Cogitur et nullo crimine damna pati.

185

Hoc ita seruorum per furta figurat Homerus.

Seruorum nescit fine carere dolus.

Den Schutz der Pallas Athene, unter dem Odysseus steht, deutet Stigel als edle Gesinnung, die auch durch Leiden nicht gebrochen werden kann:

Pallade nil aliud nisi celsam intellige mentem,

350

Quæ frangi superis fisa dolore nequit.

Am Schluss der Inhaltsübersicht stellt Stigel noch einmal den Vorbildcharakter der Odyssee heraus, die sich alle diejenigen wie einen Spiegel vor Augen halten sollen, die nach Tugend und wahrem Ruhm streben und in der Politik oder anderen Bereichen des Lebens eine hervorgehobene Position erreichen wollen:

Hoc speculum ante animum ponant, quoscunque remotos

Moribus a uulgi mens generosa facit,

355

Siue illi illustri genus altum a stemmate ducunt

Et lata populos sub ditione tenent,

Siue illi arrecti ueræ uirtutis amore

Adfectant tituli nomina celsa sui.

Die Telemachie berücksichtigt Stigel in seiner Inhaltsangabe der Odyssee nicht, da sie zum Bild des vir perfectus Odysseus in der Tat nur wenig beitragen kann. Auch die Schwierigkeiten, denen sich Odysseus bei seiner Rückkehr in Ithaka gegenübersieht, werden nur andeutungsweise erzählt:

Fluctibus heu quantis quatitur, quos mœsta dolores,

340

Quot mens ærumnas inuenit ægra domi,

Dum reduci obsistunt manus inuidiosa procorum,

Dum priuata furens ciuis in arma ruit.

Maiores reduci sua præbuit aula labores

Omnia turbatis quam freta mota Notis.

345

Sed tamen euasit sub uindice Pallade uictor

Omnibus inque malis Pallade tutus erat.

Der Freiermord wird dabei überhaupt nicht erwähnt. Er lässt sich ja schließlich mit dem Ideal eines vir perfectus nicht vereinbaren und vor allen Dingen nach christlich-moralischen Vorstellungen nicht im Geringsten rechtfertigen. Alles menschliche Handeln muss aber nach Stigel auf Gott ausgerichtet sein, von dem jegliche Bewegung unseres Geistes ausgeht:

Huc igitur placeat nostros finire labores,

Vnde animi nobis impetus iste uenit.

455

Seruiat hic patriæ, caris hic prosit amicis,

Sic tamen, ut constent omnia nostra Deo.

Damit nimmt Stigel gegen Ende der Einleitungsepistel einen Gedanken wieder auf, den er schon zu Beginn des Gedichtes breiter ausgeführt hatte. Dort war er nämlich der Frage nachgegangen, woher die Bewegung unseres Geistes stammt, durch die wir zu Empfindungen und einer sittlichen Lebensführung befähigt werden. Mit dieser Frage, so schreibt er, haben sich schon die großen Philosophen der Antike beschäftigt, ohne das Richtige zu erfassen (Carm. 1–8). Erst der christliche Glaube hat die Erkenntnis gebracht, dass Gott der Ursprung aller Bewegung ist und der menschliche Geist Anteil an der göttlichen Vernunft hat (Carm. 9–22). Daraus resultiert für den Menschen die Verpflichtung, sein Handeln auf den Schöpfer auszurichten und nach dem Himmel zu streben (Carm. 23–36). Der Mensch muss aber seine geistigen Fähigkeiten auch einsetzen und durch richtiges Handeln stärken. Nur so kann er Ruhm erwerben:

43

Exercendo ualet uiresque acquirit agendo

Hic animus, magnum qui facit esse uirum.

Es genügt aber nicht, sich auf eine vornehme Geburt zu berufen, wahren Ruhm erlangt nur, wer sich durch Betätigung seines Geistes und sittliches Handeln bewährt und dabei keine Mühen und Gefahren scheut:

53

Durandus uigor est animi uirtutis ad usum,

Inclyta per præceps fama paratur iter.

Von hier aus gewinnt Stigel den Übergang zu Ferdinand a Maugis, den er in Vers 55 zum ersten Mal anredet. Ferdinand vereinige in sich die Vorzüge edler Abstammung und hervorragender Geistesgaben, mit denen er seine vornehme Herkunft schmückt:

57

Nam quia Maugisiæ genus a propagine gentis

Ducis, ab antiquo sanguine natus eques,

Nec tamen hoc satis esse putas, sed gentis honorem

60

Illustras animi condecorasque bonis.

Diese Geistesgaben müsse Ferdinand aber auch einsetzen und durch Handeln, vor allem im politischen Leben, stärken. Denn

64

Ignauis animi dona ualere nihil.

Das habe auch Homer mit seiner Erzählung von den Irrfahrten des Odysseus zeigen wollen, wie Ferdinand selbst mit Hilfe von Stigels Homerübersetzung werde beurteilen können. Dass das nicht nur für das elfte Buch, sondern für die ganze Odyssee gilt, zeigt Stigel durch den bereits erwähnten Abriss der Odyssee (Carm. 85–352) mit den jeweils an passender Stelle eingefügten belehrenden Anmerkungen.147

Nachdem Stigel im Anschluss an diesen Abriss noch einmal den Vorbildcharakter der Odyssee herausgestellt hat,148 führt er weitere Beispiele dafür an, dass man mit einer hohen Gesinnung alle Schicksalsschläge überstehen kann, und zwar zunächst Beispiele aus der Geschichte der Antike (Carm. 369–378) und darauf das zeitgenössische Beispiel des Vervetius, der sich im Kampf gegen die Türken große Verdienste erworben hat149 und dem er in einer Apostrophe ein langes Leben wünscht, damit er noch vielen Menschen, die nach Tugend streben, als Vorbild dienen kann:

395

Viue diu, iuuenis, uirtutis amantibus unus

Exemplo ut possis pluribus esse. Vale.

Der Gruß vale, der diese Apostrophe abschließt, wirkt im Kontext der Widmungsepistel an Ferdinand a Maugis etwas deplatziert und lässt dieses Distichon wie den Abschluss des Gedichtes erscheinen. Tatsächlich kehrt Stigel aber in einer Art Ringkomposition noch einmal zum Eingangsthema seiner Epistel zurück: Der menschliche Geist ist stark und verfügt über große Fähigkeiten, die es auszuüben und zu stärken gilt:

397

Tanta animi uirtus, tanta est innata facultas,

Quam pius exercet constabilitque labor.

Dies hätten im Prinzip bereits die Philosophen der Antike richtig gesehen, doch die wahre Erkenntnis der Bestimmung des Menschen habe erst der christliche Glaube gebracht: Jeder Mensch wird zur Erfüllung einer von Gott gegebenen Aufgabe geboren. Diese Aufgabe gilt es zu erfüllen, wobei es nur darauf ankommt, dass unser Handeln Gott gefällt. Auf irdischen Dank darf man jedoch nicht bauen (Carm. 399–416). Diesen Gedanken wiederholt Stigel nach einer Aufzählung verschiedener Lebensformen noch einmal (Carm. 417–422) und kommt dann etwas überraschend auf sich selbst zu sprechen:

Me iuuet officio, me iusso munere fungi,

Sponte mea in patriam me iuuet esse pium.

425

Nosse iuuet cultum, quem mandet et adprobet unus,

Omnia qui præsens scitque uidetque Deus.150

Am Ende dieses Selbstbekenntnisses betont Stigel, dass er nicht nach großen Ehren strebe, sondern nur danach, dass all sein Handeln im Einklang mit Gott steht. Dies begründet er im folgenden Abschnitt (Carm. 441–456) damit, dass alles Irdische vergänglich ist und keinen dauerhaften Bestand hat. Auch hierfür müssen noch einmal die bekannten Beispiele aus der Geschichte – Caesar, Scipio, das Römische Reich, Alexander der Große und Kyros der Große – herhalten, die alle längst Vergangenheit sind.

Insgesamt wirkt diese Partie der Elegie nach dem Ende der Inhaltsangabe der Odyssee etwas ungeordnet. Die Gedanken sind eher assoziativ aneinandergereiht, und bei Stigels Selbstbekenntnis hat man den Eindruck, als sei es nicht für diese Widmungsepistel geschrieben, sondern anderswoher importiert. Merkwürdig ist auch die abschließende Anrede an Ferdinand a Maugis. Hier würde man eigentlich erwarten, dass Stigel ihn ermahnt, dass er sich Odysseus als vir perfectus zum Vorbild nehmen solle. Tatsächlich schließt Stigel jedoch mit der Bemerkung, dass er die zuvor dargelegten Gedanken mit seiner bescheidenen Kunst nur kurz habe skizzieren können.151 Ferdinand könne das, wenn er sich nur die Zeit nehmen wolle, mit seinem Talent sicherlich viel besser. Und zur Überraschung des Lesers wiederholt Stigel nun noch einmal seine Ausführungen über die Vorzüge edler Geburt und geistiger Gaben:

471