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Ein historisches Abenteuer gegen die Piraterie!Schon damals hatte es die Seherin prophezeit, wie die Männern mit Körpern hart wie Panzer vor der friesischen Küste stehen würden. Die Römer sind gekommen. Jedoch ist der 13-jährige Tore erfreut, denn er findet in Titus, der gleichalt ist, einen neuen Freund. Und das vor ihnen liegende Jahr verspricht aufregend zu werden, denn das Dorf wird von einem unheimlichen Wolfspirat bedroht.-
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Seitenzahl: 290
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Franjo Terhart
Saga
Der Wolf der MeereCopyright © 2003, 2019 Franjo Terhart und SAGA EgmontAll rights reservedISBN: 9788726159905
1. Ebook-Auflage, 2019
Format: EPUB 2.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com
„Nördlich der Suinonen (ein germanischer Stamm) liegt abermals ein Meer, träge und nahezu unbewegt. Dass es den Erdkreis ringsum begrenze und einschließe, ist deshalb glaubwürdig, weil der letzte Schein der schon sinkenden Sonne bis zum Wiederaufgang anhält, und zwar so hell, dass er die Sterne überstrahlt. Die Einbildung fügt noch hinzu, man vernehme das Tönen der emportauchenden Sonne und erblicke die Umrisse der Pferde und das strahlenumkränzte Haupt. Dort liegt – und die Kunde ist wahr – das Ende der Welt.“
So schreibt Tacitus in seiner Germania.
Tore Ich-Erzähler, Friesenjunge
Ramgar Oberhaupt der Wolfssippe, Tores Vater
Wilburga Tores Mutter
Menold Tores älterer Bruder
Baldur Tores Onkel
Amala Baldurs Tochter
Alrun Seherin der Wolfssippe
Birger ein erfahrener Fischer
Onne einer von Tores Freunden
Mälo Onnes Vater
Thoralf, Otger, Rango, Arvid, Rollo Männer der Wolfssippe
Hakon umherreisender Geschichtenerzähler
Daglind, Fladhild, Freia Amalas Freundinnen
Bandulf ein Ampsivarier, Übersetzer zwischen Germanen und Römern
Nero Claudius Drusus römischer Befehlshaber in Germanien im Jahre 12 v. Chr.
Titus der Neffe von Nero Claudius Drusus
Marcus Claudius Paterculus der Stellvertreter von Drusus
1 Ein scharfer Morgenwind fuhr Menold ins Gesicht, als er die schwere Holzbohlentür aufstieß und sich aus dem Dunkel des Langhauses unsicher ins Freie hinaustastete. Menold reckte sich und konnte dabei ein Gähnen nicht unterdrücken. Es war recht früh am Morgen. Alle anderen im Hause schliefen noch tief und fest. Als er draußen vor dem Eingang stand, erfasste den jungen Germanen augenblicklich die Kälte, die aus dem hohen Norden übers Meer zu uns an die Küste kommt und jedermanns Glieder erschauern lässt. Menold hatte – noch bevor Sunna ihren feurigen Wagen am Horizont aufziehen ließ – das fast heruntergebrannte Herdfeuer inmitten der Schlafenden verlassen, um vor der Tür sein Wasser abzuschlagen. Er wusste, dass ich, sein Bruder Tore, nachts, wenn ich mich unbeobachtet fühlte, bevorzugt in die Glut des Feuers pinkelte, weil ich die Kälte des Winters fürchte wie die Bienen, die ihren Stock in der kalten Zeit auch niemals verlassen. Menold jedoch hasst es, seine Notdurft im Hause zu verrichten, weil das die Geister des Herdes erzürnen könnte. Er glaubt fest daran, dass ihr Zorn sogar so weit gehen kann, die Glut des Feuers für lange Zeit zum Erlöschen zu bringen. Und dann werden wir alle im Schlaf erfrieren, ohne es rechtzeitig zu merken ... Ich glaube zwar auch an Herdgeister, bin aber einfach zu bequem mir nachts ein stilles Örtchen draußen zu suchen.
Die eisige Kälte machte meinen älteren Bruder augenblicklich wach. Mühsam unterdrückte er das Zähneklappern, während er vorsichtig im Dunkeln ein Bein vor das andere setzte. Trotzdem bewegte er sich dabei einen Schritt zu schnell, weil er so rasch wie möglich wieder zurück in sein warmes Strohlager kriechen wollte. Diese Eile rächte sich jäh. Menold stolperte über etwas Weiches und stürzte der Länge nach hin. Mühsam rappelte er sich wieder auf und wurde zu seinem Ärger von einem lang gezogenen Gemecker begrüßt, das auch noch irgendwie schadenfroh klang. Es war Nobbo, der hornlose, schwarze Ziegenbock, der Menold zu Fall gebracht hatte und der sich nun meckernd davontrollte. Mein Bruder rief ihm einen Fluch nach, was er jedoch sogleich wieder bereute. Wie konnte er nur so dumm sein ausgerechnet dieses Tier zu verwünschen? Nobbo, der Bock, war nämlich Donars heiliges Tier. Donar ist der gewaltige Himmelsdonnerer, den wir auch Thor nennen. Er hatte dem hornlosen Ziegenbock besondere Schutzkräfte verliehen, damit dieser die Pferde im Stall vor Schaden bewahre. In Gedanken entschuldigte sich Menold gleich mehrmals bei dem Tier. Nobbo zu verfluchen, zog unweigerlich die Strafe Thors auf sich. Zumindest hatte es unangenehme Folgen. Und die sollten wir auch bald zu spüren bekommen!
Als Menold wieder ins Haus zurückwollte, tauchte vor ihm wie von Geisterhand geführt eine Gestalt auf. Erschrocken zuckte mein Bruder zurück. Aber es war keiner der Untoten, die in den nahen Mooren ihr Unwesen führen. An ihrer leicht gebückten Haltung und den im Wind wehenden strähnigen Haaren erkannte er Alrun, die Seherin.
Jede Sippe der Friesen, vermutlich sogar jede germanische Sippe, besitzt in ihren Reihen eine Frau, der die übermenschliche Gabe verliehen ist, in die Zukunft zu blicken. Zweifellos ist es ungeheuer wichtig zu wissen, was die Zukunft den Menschen bringt, denn das Leben an der Küste ist hart und beschwerlich. Schon oft sind Männer in ihren Einbooten zum Fang aufs Meer hinausgefahren und von dort niemals mehr zurückgekehrt. Die graue See hat ihre Leiber gefressen. Nur Seherinnen wie Alrun können die Menschen ihres Stammes vor Stürmen und anderen Gefahren rechtzeitig warnen – vorausgesetzt natürlich man bittet sie um ihren Rat und hört auch auf ihre Prophezeiungen.
Alruns Augen blitzten gefährlich auf, als sie Menold auf sich zukommen sah. Er kam ihr gerade recht.
„Komm zu mir, Junge“, krächzte sie wie ein alter Rabe. Menold wollte sich schnell an ihr vorbeidrücken, aber Alruns knochige Hand packte ihn derb an der Schulter und hielt ihn fest wie ein Angelhaken. Menold roch ihren faulen Atem und ihm wurde speiübel. „Bleib bei mir, Junge, denn du sollst als Erster erfahren, was ich durch göttliche Kraft der ganzen Sippe der Wolfsmenschen verkünden muss“, zischte Alrun ihm ins Ohr.
Wenn ich mich jetzt von ihr losreiße und davonlaufe, verwandelt mich Alrun womöglich in ein grunzendes Schwein, durchfuhr es Menold. Nicht ohne Grund: Denn jeder, der die Gabe des Voraussehens besitzt, kann auch zaubern und somit Menschen in Tiere verwandeln. Das hatte man uns mehr als einmal gesagt!
Was blieb meinem Bruder also anderes übrig, als sich zähneknirschend in sein Schicksal zu fügen. Sollte Alrun ihm doch ihren Traum mitteilen! Es war ja ohnehin zwecklos ihr entkommen zu wollen.
Die alte Seherin hielt ihre knochige Hand noch immer in seine Schulter gekrallt. Auf diese unsanfte Weise führte sie ihn aus dem Dorf hinaus an den nahen Strand. Dort, wo das Meer und der Himmel miteinander verschmolzen, zeichnete sich ein rötlicher Schimmer am blauschwarzen Firmament ab: Sunna schickte sich an aus den Tiefen emporzusteigen und das Licht des Tages neu zu entzünden. Menold betrachtete eher teilnahmslos die schwache Dünung des Meeres, dessen Wellen sanft am Ufer ausliefen. Er war hundemüde und wäre nur zu gern zu seinem warmen Strohlager zurückgekehrt. Zudem zuckte seine Schulter unter Alruns schmerzhaftem Griff. Aber seine Qual war noch nicht zu Ende. Erneut schüttelte Alrun ihn, als wäre er eine Strohpuppe.
„Siehst du den dunklen Schatten dort oben am Himmel?“, herrschte die Seherin ihn an.
„Wo? Ich weiß nicht.“ Menolds Blick ging suchend himmelwärts. Aber die Alte hörte nicht auf ihn. Ein Gott hatte sie erfasst und die Worte sprudelten nur so aus ihr hervor. Sie sprach, was sie sprechen musste.
„So dunkel und grau wie diese Wolke dort oben sehe ich eine große Gefahr auf uns zukommen. Es sind Männer, Fremde von weit her, deren Leiber hart sind wie die Panzer von Schildkröten. Sie tragen seltsame Kopfbedeckungen, an denen Pfeile abprallen wie an Felsen. Sie sprechen eine unbekannte Sprache und sie sind so zahlreich wie der Sand des Meeres. Sie bringen große Gefahr zu uns, obwohl ...“
Alruns Stimme wurde brüchig. Von einem Augenblick zum anderen verfiel sie in Schweigen und ließ von meinem Bruder ab. Menold spürte, dass die Seherin Wichtiges mitzuteilen hatte, auch wenn es ihm Angst bereitete. Alruns Warnung betraf die ganze Sippe der Wolfsmenschen, die seit Menschengedenken am Meer lebt und sich bislang dort auch sicher fühlte. Vielleicht ging ihre Vorahnung sogar alle Friesen an? Es schien Menold plötzlich ungeheuer wichtig, ganz genau hinzuhören. Wer konnten diese seltsamen Menschen sein, von denen die Seherin sprach? Deren Leiber in Panzern steckten, wie sie manche Tiere besaßen? Menold zitterte jetzt mehr vor Furcht als vor Kälte. Was hatte die Alte noch gesagt? Sie bringen große Gefahr zu uns, obwohl ...
„Was obwohl?“, schrie mein Bruder Alrun aufgebracht an. Dabei fasste er sie an beiden Armen und rüttelte sie kräftig, so als ob sie sich dadurch besser erinnern könnte. Doch Alruns Augen blickten ihn an wie tot. Sie wusste nicht, was er von ihr wollte. Ihr Blick ging ins Leere.
„Sag es! Sag es mir, Alrun!“ Menolds Stimme überschlug sich. Er machte sich große Sorgen, etwas Entscheidendes nicht mitbekommen zu haben. „‚Sie bringen große Gefahr zu uns, obwohl‘ ... was meinst du damit? Ich muss es wissen. Es ist wichtig für die Sippe.“
Und auf einmal kehrte der Gott, der Alrun die Gabe schenkte, die Zukunft zu sehen, in sie zurück. Ein irres Zittern durchfuhr plötzlich ihren dürren Leib. Und als Menold in ihre dunklen Augen sah, wusste er, dass sie ihm jetzt endlich Antwort geben würde. In ihren Augen loderte ein Feuer, das nach ihm zu greifen schien. Erschrocken ließ er sie los und wich drei Schritte zurück. Die Alte stierte ihn an, als wollte sie ihn fressen.
„Sie bringen große Gefahr zu uns, obwohl sie nicht unsere Feinde sind“, stieß sie mit fast kreischender Stimme hervor. Ihren Worten folgte ein so wahnsinniges Kichern, dass Menold davon eine Gänsehaut bekam.
Mein Bruder fühlte sich in Alruns Gegenwart zunehmend unwohl. Er hatte jetzt genug gehört und wollte nur noch weg. Alrun war wieder in sich zusammengesackt und wirkte fast leblos. Menold ließ sie stehen und wankte innerlich aufgewühlt zum großen Langhaus unseres Dorfes jenseits des sandigen Strandwalls zurück. Bringen große Gefahr, sind aber nicht unsere Feinde!, hämmerte es dabei fortwährend in seinem Hirn. Das Blut pochte wie wild in seinen Schläfen. Ohne es zu begreifen, wiederholte er mehrmals laut, was die Alte im Seherrausch gesagt hatte. Ramgar, unser Vater und Häuptling der Sippe, würde ihn ausfragen und vermutlich ebenso wenig wie er verstehen, was Alruns Prophezeiung zu bedeuten hatte ... Menold hatte Angst, denn das Leben unserer Sippe war von dieser Nacht an überschattet von einer großen Gefahr. Würden wir stark genug sein, ihr entgegenzutreten?
2 Ich bin Tore. Wir Menschen an der Küste zählen unsere Jahre nach bestimmten Ereignissen, die uns bewegt haben und die sich in unseren Köpfen festklammern wie Muscheln an Steinen. So wurde ich in jenem Jahr geboren, als man am Strand auf eine junge Robbe mit einem weißen Kopf stieß. Eine Robbe mit weißem Kopf ist sehr ungewöhnlich und erst recht die Tatsache, dass sie ganz allein war. Gemäß unserer Seherin Alrun bedeutet das Erscheinen einer weißköpfigen Robbe für ein Neugeborenes der Sippe ein außergewöhnliches Leben. Das war meiner Familie wohl bewusst, als ich in jenem Jahr meinen ersten Schrei tat. Er muss im Übrigen ziemlich laut gewesen sein, wie man mir später berichtete. Mein Vater hielt mich in die Höhe und betrachtete mich aufmerksam. Dann sagte er: „Du hast eine kräftige Stimme, mein Sohn. Du sollst Tore heißen, so wie Gott Thor, der mächtige Himmelsdonnerer. Vielleicht wirst du mal ein großer Krieger und Heerführer und führst die Friesen sicher in den Kampf gegen ihre Feinde. Dann werden sie deiner starken Stimme folgen.“
Seitdem sind dreizehn Sommer gekommen und wieder gegangen. Wir Menschen von der Küste glauben, dass unsere Namen viel über uns verraten. Heißt einer Baldger, bedeutet dies, dass man in ihm einen kühnen Speerkämpfer sieht, während Swingard die Hüterin der Gesundheit ist. So lebt jeder seinen Namen, den er von Geburt an besitzt. Aber die Wege, die uns die drei Schicksalsgöttinnen, Urs, Werdandi und Skuld, auferlegen, sind unterschiedlich. Mein Vater hoffte, dass ich mit meiner kräftigen Stimme einstmals ein Heer von Kriegern anführen werde. Eine gute Aufgabe, sicherlich! Aber ich, Tore, Sohn der Wolfssippe, will meine Stimme nur für Geschichten erheben. Ich will umherreisen und erzählen, so wie der große Hakon, der uns hin und wieder mit seinen Besuchen beehrt. Hakon, der Geschichtenmann, erzählt von der Welt der Götter und der Menschen. Meistens kommt er vor Einbruch des Winters zu uns, wenn die Wege für Wanderer noch einigermaßen passierbar sind, und bleibt für ein paar Tage. Aber davon will ich später noch erzählen ...
Menold – wie ich bereits erwähnte – ist mein großer Bruder und von ihm weiß ich, was sich in jener eiskalten Nacht am Ufer des Meeres ereignet hat. Menold spielt sich mir gegenüber immer ein wenig als der Klügere auf. Ich lasse ihn in seinem Glauben, denn bekanntlich gibt der Klügere immer nach. Menold beteuerte mehr als einmal, dass er zwar Angst gehabt hätte, klar, aber im Nachhinein sei ihm schon bewusst geworden, dass niemand außer ihm in jener Nacht Alruns Zeuge hätte gewesen sein können.
„Das war keine Strafe Thors wegen Nobbo gewesen, sondern eine Auszeichnung, mein kleiner Bruder! Für eine solch lange Prophezeiung muss man jemanden auswählen, der über ein gutes Gedächtnis verfügt und zugleich das Wesentliche erkennt.“
Nun gut, Menold war an jenem Tag der große Held der Sippe. Es sei ihm gegönnt. Für mich war vor allen Dingen wichtig, alles ganz genau von ihm zu erfahren, denn ich will immer nur Wahres erzählen, damit jeder, der Ohren hat zu hören, von meinen Geschichten auch etwas lernen kann. So wie Hakon will ich eines Tages den Ruf genießen, nicht nur ein großer Erzähler, sondern zugleich auch ein großer Lehrer zu sein!
Ich schreibe die unheimliche Geschichte vom Wolf der Meere in der Sprache auf, die mich mein Freund Titus gelehrt hat. Es ist die Sprache unserer mächtigsten Verbündeten, die Sprache der Römer. Titus soll die Geschichte lesen und die Schriftrolle auch seinen Freunden im fernen Rom in die Hand drücken, damit diese uns Menschen aus dem hohen Norden besser verstehen lernen. Wir Germanen kennen keine Schrift und ich habe das Schreiben von Titus gelernt, der mir das von Anfang an zutraute. Ich habe rasch begriffen, wie gut es ist, etwas aufschreiben zu können, und habe Titus häufig in den Ohren gelegen, täglich mit mir zu üben. Aber ich will von Anfang an erzählen ...
Titus‘ Onkel, der große Feldherr Nero Claudius Drusus, hat mir geraten, beim Schreiben so zu tun, als würden zu meinen Füßen viele Zuhörer sitzen. Das fällt mir nicht schwer, denn wie gesagt, wir Germanen schreiben keine Geschichten auf, wir erzählen sie lieber. Aber der Gedanke daran, dass meine Geschichte auch von fremden Menschen gelesen werden kann, gefällt mir sehr und spornt mich an, nichts, aber auch rein gar nichts auszulassen.
Womit fange ich also an? Ach ja, mein Zuhause! Wer uns Germanen vom Stamm der Friesen verstehen will, muss zuvor wissen, wie wir leben und wer wir sind ...
Wir Friesen wohnen ganz nahe am Meer und so weit das Auge reicht, sind wir von flachem Land umgeben – sieht man einmal von wenigen kleinen Anhöhen ab, die meine Vorfahren mit Steinen, Holzstämmen und sehr viel Erde weiter aufgeschüttet haben. Auf diesen so genannten Warften errichten wir unsere Wohnhäuser und kleinen Dörfer. Geht man vom Meer weg und tiefer ins Landesinnere hinein, so stößt man auf ausgedehnte Moore, die jeden, der sich ahnungslos in sie hineinbegibt, verschlingen und niemals wieder freigeben. Die Moore dienen uns zum Schutz vor Feinden, die von Süden her an die Küste drängen wollen. Sie können uns nicht erreichen, weil das morastige Land für Fremde unüberwindlich ist. Es gibt jedoch einige wenige Wege aus alten Holzbohlen, die sich durch diese tückischen Gegenden schlängeln. Aber nur Kundige wissen, wo diese Bohlen liegen, denn sie sind mit Matsch und Schlamm bedeckt. Wehe dem, der danebentritt!
Wir Friesen wohnen in lang gestreckten Häusern aus Holz, die wir ausnahmslos auf den Warften gebaut haben. Das ist wichtig, denn das Meer hört niemals auf das Land zu fressen. Dafür ist es viel zu gierig. Viele schmale und viele breite Arme hat das Meer seit Urzeiten in unser Land hineingestreckt und es dabei zerklüftet.
Wir Menschen von der Küste fürchten das Meer sehr. Seine Fluten holen sich gerade im Herbst Stück für Stück unser kostbares Ackerland. Manchmal auch Vieh und Menschen. Wenn ich von unserem Haus zum Ufer des Meeres laufe, bin ich fast 300 Schritte unterwegs. Das ist sicherlich nicht wenig, aber eines Morgens vor langer Zeit, als ich noch klein war, trat ich aus dem Haus und sah das Meer gleich unterhalb unserer Warft in der Sonne glänzen. Es war schrecklich und Odin sei Dank, dass es nach einigen Tagen wieder verschwand. Aber es hatte unsere Äcker, auf denen wir Getreide anbauen und unser Vieh halten, schlammig gemacht. Zum Glück wohnen wir erhöht, denn sonst hätte es uns sicherlich weggeschwemmt.
Mein Vater Ramgar rief damals die Götter um Hilfe an, aber es dauerte lange, bis sie seinen Ruf endlich erhören wollten. Und leider war da schon fast unsere ganze Rinderherde ins neblige Totenreich Hel gewandert.
Aber wir Menschen der Wolfssippe hießen nicht so, wenn wir in schlechten Zeiten aufgäben. Wir sind viele und wir halten alle zusammen und nur deshalb überstehen wir solche schlimmen Gefahren.
Doch an jenem Morgen, an dem uns Menold aufgeregt von Alruns Prophezeiung erzählte, sah ich meinen Vater Ramgar zum ersten Mal ratlos. Immer wieder strich er sich kopfschüttelnd über seinen langen, roten Bart. Wir hatten uns alle um das Herdfeuer im großen Haus versammelt. Unser Haus ist lang, weil Mensch und Tier gemeinsam darin leben müssen. Die Wände bestehen aus lehmverschmiertem Flechtwerk und das Dach wurde mit dichtem Schilfrohr gedeckt. In der Mitte des Hauses steht der große Herd. Er raucht immer und schenkt uns dadurch Wärme. Der Rauch zieht nach oben durch ein Loch am Giebel ab. Dieses Loch nennen wir „Uhlenflucht“. Uhlen sind Eulen. Sie nisten bei uns hoch oben unterm Dach. Nachts fliegen sie hinaus auf Mäusejagd. Um hinauszukommen, nehmen sie dasselbe Loch im Dach wie der Rauch des Feuers. Titus findet, dass es in unserem Haus unangenehm riecht. Der Geruch kommt wohl von den Kühen und Schweinen, die gleich neben meinem Strohlager ihre Koben haben. Aber mich stört das nicht, denn ich kenne es nicht anders.
Wenn es etwas Wichtiges zu besprechen gibt, ruft mein Vater Ramgar die ganze Sippe zusammen. Alle eilen herbei und versammeln sich im Haus des Sippenoberhauptes. Auch Alrun war an jenem Morgen anwesend, aber sie blieb stumm. Die göttliche Kraft war aus ihrem Körper entwichen und sie wusste nichts mehr von dem, was sie prophezeit hatte. Folglich war Menold derjenige, der nun von meinem Vater ausgequetscht wurde, als wäre er ein nasses Tuch, das man auswringen müsste. Ich wusste, dass es meinem Bruder gefiel, mit seinem besonderen Wissen im Mittelpunkt zu stehen. Alle Augen waren begierig auf den gerichtet, der später einmal das Oberhaupt unserer Sippe sein würde. Und als Oberhaupt muss man es schließlich verstehen sich wichtig zu machen! Endlich konnte Menold sich, wie mein Freund Titus sagen würde, so richtig in Szene setzen. Und das liebte er mindestens so sehr wie seine Lieblingsspeise, Fischroggenmus. Nur er allein konnte Bericht erstatten. Vater wollte alles, restlos alles von ihm hören, was meinem Bruder dann doch irgendwann wieder zu viel wurde. Ich musste aufpassen, nicht loszuprusten. Menold wand sich wie eine Schlange.
„Was denn noch? Ich weiß wirklich nicht mehr. Ehrlich! Was ich gehört habe, habe ich euch auch gesagt!“
Die Augen des Häuptlings der Wolfssippe schienen sich in Menold geradezu hineinzubohren. „Denke genau nach, Junge! Jedes Wort der Seherin ist wichtig für uns. Was sollen das für seltsame Männer sein, deren Körper in Schildkrötenpanzern stecken?“, knurrte er. „Oder hast du etwa heimlich vom Met gekostet?“
Wer zu viel vom Met, unserem Honigwein, trank, konnte schon mal seine Augen verdrehen und komische Dinge reden, die er allesamt für wahr hielt. Aber Menold hob abwehrend beide Arme und sagte mit fester Stimme: „Nein, Vater! Ich schwöre es bei Mani, Sunnas Bruder am Himmel, und er soll mich keine Nacht mehr ruhig schlafen lassen, wenn ich nicht jedes Wort richtig wiedergegeben und die ganze Wahrheit gesprochen habe.“
Vater war beeindruckt und nickte anerkennend. Dann fragte er in die Runde der Männer, die von den umliegenden Häusern herbeigeeilt waren: „Was kann es mit diesem unbekannten Feind auf sich haben? Hat jemand von euch je zuvor von solchen merkwürdigen Panzermännern gehört?“
Alle schwiegen. Die Männer überlegten und schüttelten dann verneinend die Köpfe. Schließlich ergriff doch einer das Wort. Es war Thoralf, der bei uns als der Stärkste gilt. Thoralf hatte mal mit bloßer Faust einen Bullen, der aus seiner Koppel ausgebrochen war, zu Boden gestreckt.
„Also, Ramgar“, vernahmen wir seine tiefe, angenehme Stimme. „Ich denke nicht, dass es die Chauken sind oder die Ampsivarier. Aber ich habe einen furchtbaren Verdacht!“
Thoralf machte eine bedeutungsvolle Pause. Er wollte, dass alle gebannt an seinen Lippen hingen. Die Chauken waren ein Stamm, der dort lebte, wo Sunna mit ihrem Wagen aufstieg, während die Ampsivarier südlich von uns jenseits der großen Moore siedelten. Die Chauken hatten in der Vergangenheit häufig mit uns Krieg geführt. Manchmal überfielen sie die Häuser der Friesen und setzten sie in Brand, nachdem sie alles geraubt hatten, was für sie von Interesse war. Mein Vater Ramgar erzählte, dass er als Junge zusammen mit seinem Vater, vereint mit anderen friesischen Sippen, gegen die Chauken gekämpft hatte. Aber das lag lange zurück. Drohte nun etwa ein neuer Krieg? Berengar, ihrem König, eilte der Ruf voraus, äußerst streitsüchtig zu sein.
„Nein!“, unterbrach Ramgar Thoralfs allzu langes Schweigen. „Die Chauken sind es nicht. Berengar lässt uns in Frieden leben. Aber wenn du etwas Bestimmtes weißt, dann nur heraus mit der Sprache!“
Thoralf räusperte sich. „Ich habe wirklich einen schrecklichen Verdacht“, wiederholte er seine letzten Worte. „Ich kann mir nämlich gut vorstellen, dass diese Männer in Panzern, an denen Pfeile abprallen und vermutlich auch Speere, tollwütige Männer in Bärenfellen sind, also Berserker.“
Ein ängstliches Raunen erfüllte mit einem Schlag das Haus. Ramgar starrte Thoralf an, als hätte sich dieser gerade in einen der wilden Berserker verwandelt. Einige Frauen schluchzten verzweifelt. Ich selbst hatte schon von Berserkern reden gehört, aber bislang niemals welche zu Gesicht bekommen. Vater war jedenfalls äußerst beunruhigt. Vermutlich fürchtete er, dass die Menschen unserer Sippe in Panik geraten könnten, wenn sich Thoralfs Verdacht bestätigte.
„Das meinst du nicht wirklich?“, fragte er deshalb nochmals skeptisch nach. Aber Thoralf nickte bloß und hob dabei seine rechte Hand wie zur Bestätigung hoch. Das macht man bei uns so, wenn man sich einer Sache ganz sicher ist. Alle sahen es und das Gemurmel wurde noch erregter. Dann stand Thoralf auf, sodass ihn alle sehen konnten.
„Ihr habt Alruns Worte – wie sie uns Menold wiedergegeben hat – noch gut in den Ohren. Wovon spricht sie? Von unverwundbaren Männern. Und was sind unverwundbare Männer anderes als Berserker? Sie bedrohen uns und das ist weitaus schlimmer, als wenn sich Chauken und Ampsivarier gegen uns verbündet hätten.“
Erneut schluchzten einige Frauen auf. Was sind Berserker bloß?, dachte ich. Untote? Wesen der Anderswelt? Übermächtige Feinde? Ich hatte keine Ahnung, aber auf jeden Fall schienen sie äußerst gefährlich zu sein.
Plötzlich redeten alle wie wild durcheinander. Thoralfs Deutung der Prophezeiung hatte die Männer in helle Aufregung versetzt. Hatte der Hüne nämlich Recht, dann gab es für die Sippe wohl keine Rettung. Schließlich gebot Ramgar allen Anwesenden mit einer deutlichen Geste zu schweigen. Das Oberhaupt einer Sippe muss stets weise abwägen, was zu tun ist. Sein Wort gilt immer. Wenn er jemanden ausstößt, so muss dieser das Dorf verlassen. Nimmt er jemanden an, auch einen vollkommen Fremden, so gehört dieser fortan zur Sippe, ist also mein Bruder oder meine Schwester. Nun richtete sich die Aufmerksamkeit aller auf Ramgar.
„Thoralf mag Recht haben oder auch nicht. Ich weiß es nicht. Aber erinnert euch, dass die Prophezeiung noch eine zweite Hälfte bereithält. Und die ist ebenso wichtig.“
Nun war es an meinem Vater seine Rede zu unterbrechen, um die Erwartung der Zuhörer zu steigern. Schließlich fuhr er fort: „Alrun hat uns durch meinen Sohn Menold und die Kraft der Götter mitteilen lassen, dass uns zwar Gefahr droht ...“
„Große Gefahr!“, rief jemand aufgeregt dazwischen. Ich vermutete, es war Onne, der Sohn meines Onkels Mälo, der mit seiner Familie am unteren Ende unserer Siedlung wohnt.
„Große Gefahr“, nahm mein Vater seinen Einwand auf und lächelte gelassen. „Aber die Götter haben uns auch wissen lassen, dass diese Männer, durch die uns Gefahr droht, nicht unsere Feinde sind. Das dürfen wir nicht vergessen.“
Ramgar hatte Recht. Aber genau das war im Grunde auch das Rätselhafteste an der ganzen Sache. Was sollte es bedeuten? Gefahr, aber keine Feinde. Auch Vater fand dafür keine einleuchtende Erklärung. Er forderte die Sippe daher auf, wachsam zu sein, aber sich nicht unnötig zu fürchten. So löste sich die Versammlung auf und die Menschen kehrten zu ihren jeweiligen Häusern zurück. Mir gingen diese Berserker nicht aus dem Kopf. Ich beschloss Alrun zu fragen. Sie wusste sicher, was das für Wesen waren.
Ich fand die Seherin abseits des Hauses auf einem Baumstumpf sitzend. Sie schien mich zunächst nicht zu bemerken. Auch nicht, als ich näher kam und dabei drei Gänse verscheuchen musste, die sich laut schnatternd davonmachten. Offensichtlich war sie ganz in sich versunken und dachte wie die meisten hier über das Gehörte nach. Alruns lange graue Haare wehten im Wind. Ihre Gestalt unter dem wollenen Kleid schien klapperdürr und die Haut spannte sich über ihr Gesicht so straff, dass ihr Kopf schon fast einem Totenschädel glich. Natürlich fürchtete auch ich Alrun wie jeder andere auf den Gehöften, aber ich bedauerte sie zugleich, denn sie hatte sich ihre Gabe schließlich nicht selbst ausgesucht.
„Alrun“, sagte ich sanft. „Darf ich dich was fragen?“
Ein kurzer Ruck ging durch den schmächtigen Körper. Dann wandte sie mir ihre dunklen Augen zu.
„Du bist es, Tore“, sagte sie leise und betrachtete mich aufmerksam. Ich meine sagen zu können, dass Alrun mich leiden kann, denn zu anderen kann sie mitunter übel gelaunt sein. Zu mir hingegen nie.
„Was sind Berserker, Alrun? Kannst du mir das erklären?“
Die Seherin lächelte mich an und entblößte dabei ihre spitzen schwarzen Zähne, deren Farbe vom Kauen irgendwelcher Kräuter herrührte. Alrun war auch unsere Hagedise, was bedeutet, dass sie, sich mit Kräutern auskannte, mit denen sie Krankheiten heilte.
„Du weißt, dass ich deinem Vater, wenn er zu viel vom gebratenen Wildschwein gegessen hat, einen heißen Tee aus frischen Kräutern reiche. Das lindert seine heftigen Bauchschmerzen“, begann sie.
Ich musste lachen, als ich mich an das Gesicht meines Vaters erinnerte, der nur mit größtem Widerwillen von diesem Gebräu getrunken hatte.
„Ramgar spuckt es anfangs jedes Mal wieder aus, aber am Ende säuft er es doch“, meinte ich grinsend.
Alrun lächelte, wurde aber sogleich wieder ernst. „Im Wald gibt es Pilze mit einer roten Kappe. Du hast sie sicher schon gesehen, Tore.“
„Ja, ja, ich kenne sie. Sie sind giftig und wer sie isst ...“
„... stirbt unter schrecklichen Schmerzen“, vollendete die Alte meinen Satz. „Dagegen ist kein Kraut gewachsen.“ Sie schwieg für einen Moment. Dann sagte sie: „Nur wer sich mit diesen Pilzen sehr gut auskennt und sie in bestimmter Weise zubereitet, töten sie nicht.“
Ich schaute Alrun überrascht an.
„Dann sind sie doch nicht so giftig, wie gesagt wird?“
„Und wie giftig sie sind, Tore! Lass bloß die Finger davon. Ich will nur erklären, dass sie für Hagedisen ungefährlich sind, weil kräuterkundige Frauen wissen, wie man sie richtig zubereiten muss. Und wer diese Pilze dann isst, dem schenken sie Bärenkräfte. Männer, die den Pilz zu sich genommen haben, werden stark und scheinbar unverwundbar. Man nennt sie Berserker.“
„Hm!“, machte ich und rieb mir nachdenklich das Kinn. So war das also. Dann kam mir plötzlich ein Gedanke.
„Aber dann könntest du allen Männern im Dorf aus diesen Pilzen mit den roten Kappen ...“
Ich vollendete meinen Satz nicht, denn Alrun hatte sich wieder von mir abgewandt und war ganz in ihre Träume zurückgesunken. Wenn sie doch weiß, wie es geht ... überlegte ich. Aber dann kam mir in den Sinn, dass ich keinen einzigen Mann aus unserer Sippe kannte, der sich jemals in einen Berserker verwandelt hatte. Warum eigentlich nicht? War es denn nicht gut, bärenstark und unverwundbar zu sein?
3 Zunächst passierte lange Zeit gar nichts. Sunna schob ihren Wagen noch oft von der einen zur anderen Seite des Himmels und Mani, ihr Bruder, wurde Sichel und Scheibe und sein Licht ließ manche Menschen unruhig schlafen. Dann setzten plötzlich heftige Schneefälle ein und ein starker Wind blies die weißen Flocken über das Meer aufs Land, dass selbst unsere Zäune darunter versanken. Doch schließlich brach Sunna machtvoll durch die Wolkendecke und ließ den Schnee schmelzen. Die Schneemassen gaben das Haus frei und auch die Wege wurden wieder passierbar.
An solch einem sonnigen Wintertag kam Hakon der Dichter zu uns. Die Kinder liefen aufgeregt umher und riefen immer wieder: „Hakon, Hakon ist da.“ Sie freuten sich, weil Hakon stets interessante Neuigkeiten bringt. Nur durch Hakon erfahren wir von anderen Familien an der Küste, die weit entfernt von uns leben. Zum Beispiel, dass Hauke aus der Sippe der Ottermenschen einen gestrandeten Wal erbeuten könnte. Oder dass die schöne Edigna vom Clan der Bärenmenschen Ragin dem Starken in die Ehe gegeben wurde. Wir erfahren auch, wo es Krieg gibt oder ob die Chauken eine Hinterlist planen. Und wir hören uralte Geschichten, die uns an den langen Winterabenden in Atem halten und uns alle erfreuen. Hakon ist ein kluger Erzähler. Er weiß viel und er lässt uns Dinge sehen, von denen wir niemals gedacht hätten, dass es sie überhaupt gibt.
Männer, Frauen und Kinder hockten sich also um das wärmende Herdfeuer und machten es sich auf den Fellen gemütlich. Die Männer tranken Wasser mit Met und kauten Dörrfisch. Der Dichter saß auf einem Knakkr, einem Baumstumpf mit drei als Füßen zurechtgestutzten Wurzelenden. Nur er und Ramgar durften erhöht sitzen. Hakon ist hoch gewachsen und hager. Er ist kein Kämpfer mit dem Schwert – dafür aber einer mit dem Mundwerk. Und das genügt uns allemal. Hakon blickte einmal aufmerksam in die Runde, sah die erwartungsvollen Blicke und begann seine Rede.
„Ihr habt mich alle erwartet und endlich bin ich wieder mitten unter euch. Es drängte mich diesmal mehr als sonst zu euch zu kommen, obwohl meine Anwesenheit ein dunkles Vorzeichen mit sich führt. Etwas ist geschehen, was mich sehr bewegt und ängstigt.“
Sofort kam Unruhe unter seinen Zuhörern auf, denn so hatte der weit gereiste Geschichtenmann noch niemals zu ihnen gesprochen. Was mochte geschehen sein, dass er sich so sehr davor fürchtete? Hakon sprach von einem bösen Vorzeichen. Das klang in der Tat sehr beunruhigend.
„Ich hatte einen Traum, der seltsamerweise mit eurem Dorf zu tun hat. Ich träumte, ich säße in einem Kreis von Zuhörern und erzählte von den zwei größten Kriegern der Friesen: Gisolf und Jorit. Beide suchten sie Gott Odin und fanden ihn nirgendwo auf der Welt. Der einäugige Rabengott versteckte sich listig vor ihnen. Aber Gisolf und Jorit gaben nicht auf. Sie suchten so lange, bis sie an einen Ort kamen, wo einem dichter Nebel die Augen verschleiert und Sunna nur wenig von ihrer gleißenden Macht besitzt.“
„Was ist das für ein unheimlicher Ort, Hakon?“, fragte Ramgar und folgte so dem Brauch, den Erzähler zu Beginn einer Geschichte zu unterbrechen.
„Dieser neblige Ort liegt viele Tagesreisen von hier entfernt auf der anderen Seite des Meeres.“
„Oh!“, machten einige erstaunt und schlugen sich dabei mit der Hand auf den Mund. Wie sollte es möglich sein, dass jemand auf die andere Seite des Meeres gelangen konnte?
Hakon fuhr fort: „Aber dann geschah das Unvorstellbare. Irgendwie wurde dieser Ort am Ende der Welt mit eurem Dorf verknüpft. Denn in meinem Traum befand ich mich plötzlich auf dem Platz eines Dorfes und ich erkannte ihn augenblicklich: Es war euer Platz, der Platz im Dorf der Wolfssippe.“
„Das gibt es doch nicht!“, hörte ich viele ausrufen.
„Was mag das nur bedeuten, wenn Hakon von unserem Dorfplatz träumt?“, fragte meine Mutter besorgt.
„Es geht ja noch weiter“, sagte Hakon und rieb sich dabei die Nase. „Ich erkannte alles wieder und spürte, dass es eine große Bedrohung für alle Menschen hier gab. Von den Bewohnern sah ich niemanden. Es war neblig und später Abend. Das Licht Manis leuchtete nur spärlich. Ich stand allein mitten zwischen euren Häusern. Jorit und Gisolf sprangen auf einmal an mir vorbei und schrien aufgeregt: ‚Renn um dein Leben, Hakon! Etwas Furchtbares wird gleich geschehen.‘ In Todesangst suchte ich im Schatten zweier Häuser Schutz. Dabei hörte ich plötzlich Schreie und dumpfe, klopfende Geräusche.“
„Was für Schreie waren das?“, wollte Ramgar wissen.
„Wie die von Säuglingen, denen man die Mütter raubt.“
„Und die dumpfen Geräusche?“
„Als würde jemand Türen eintreten!“
Ein Stöhnen ging durch den Raum. Hakons Traum hatte uns alle eingenommen.
„Dann sah ich einen Schatten, der so groß war wie Ramgars Haus. Dieser unheimliche Eindringling schlich zwischen den Häusern umher, so als suchte er etwas ganz Bestimmtes. Erneut hörte ich diese gellenden Schreie, die mir durch Mark und Bein gingen. Dann war es so, als ergriffe ein Sturmwind das ganze Dorf und rüttelte es kräftig durch. Das Holz der Wände knarrte so entsetzlich laut, als würde es vor Schmerz aufschreien, weil es jeden Moment von einer rohen Gewalt zerrissen werden könnte. Im Traum hielt ich mir beide Ohren zu, weil ich es anders nicht mehr aushielt. Der Schatten, der mich an ein riesiges Tier erinnerte, kam drohend auf mich zu. Dann auf einmal wachte ich auf und lag schweißgebadet auf meinem Strohlager. So einen Albtraum hatte ich niemals zuvor gehabt.“
Zunächst schwiegen alle entsetzt. Was hatte der Traum des Dichters zu bedeuten? Standen Hakons bedrohliche Bilder in einem rätselhaften Zusammenhang mit Alruns Prophezeiung? Ein Gefühl unbestimmter Angst ließ uns nicht mehr los: Die Schicksalsgöttinnen hatten uns große Gefahren zugeteilt. Aber was, was würde geschehen?
„Mit dunklen Vorzeichen sind wir im Augenblick gut versorgt“, brummte mein Vater schwermütig.
„Jemand unter uns hat den Göttern zu wenig geopfert. Jetzt erhalten wir die Strafe dafür“, erklärte Thoralf und keiner wagte es, ihm zu widersprechen. Eine bedrückende Stille beherrschte die Versammlung. Doch plötzlich wurde die Tür aufgerissen und Ansgar stürmte in unser Langhaus. Bleich und völlig außer Atem stammelte er unverständliches Zeug. Etwas Seltsames sei geschehen. Etwas Unvorhergesehenes. Draußen im Meer, das sich am Tag weit zurückzieht und Schlick und Schlamm freigibt, lägen vier große Boote, berichtete Ansgar, so riesig, wie er sie noch niemals in seinem Leben gesehen habe. Sie steckten fest. Sonderbar gekleidete Menschen gingen auf den Booten auf und ab. Viele Menschen. Unzählbar viele.
„Wie gestrandete Wale! Wie gestrandete Wale!“, rief er immer wieder.
Auf einmal war alles im Haus auf den Beinen und lief aufgeregt umher. „Die große Gefahr, von der Alrun vor vielen Monden gesprochen hat, ist gekommen“, hörte ich auch sofort eine der Frauen ängstlich flüstern. „Hakons Albtraum greift nun nach uns“, hauchten andere entsetzt.
„Unsinn!“, dröhnte die Stimme meines Vaters Ramgar durch den Raum. Wir haben zwar in der Sippe keine Helden wie Gisolf und Jorit, aber wir sind Manns genug selber nachzuschauen, was dort draußen geschieht. Folgt mir, Männer! Und nehmt eure Schwerter und Speere mit. Und zahlreiche Fackeln!“