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Die wahre und abenteuerliche Geschichte einer beeindruckenden Frau!Die junge Anne Bonny wurde in Irland als Tochter eines verheirateten Rechtsanwaltes und eines Dienstmädchens geboren, eine Tatsache die ihren Vater gesellschaftlich ruinierte. Ihre Eltern beschlossen einen Neuanfang in der neuen Welt zu suchen. Jedoch wurde von ihr ein gesellschaftliches Leben erwartet, in welches Anne sich nicht fügen wollte. Nachdem sie und ihr Ehemann von der Familie verstoßen wurden, suchten die beiden Zuflucht auf einer Pirateninsel, auf welcher Anne bald alleine zurück blieb. Jedoch blieb sie nicht untätig und nach und nach schloss sie sich den Piraten an. Wie sie in den karibischen Gewässern als Piratin lebte, ist ein einziges spannendes Abenteuer.-
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Seitenzahl: 264
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Franjo Terhart
Saga
Anne Bonny ‒ Piratenkönigin der KaribikCopyright © 1996, 2019 Franjo Terhart und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726159912
1. Ebook-Auflage, 2019
Format: EPUB 2.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.
SAGA Egmontwww.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com
Vor einigen Jahren arbeitete ich an einem Roman über die irische Piratin Grace O’Malley, die im 16. Jahrhundert gelebt hat und auf der Grünen Insel zu einer Volksheldin geworden ist. Nach wie vor wird die Erinnerung an diese adelige Piratin sowohl in den Pubs wie auch in Publikationen lebendig gehalten. Dies vor allem, weil sie mit List und viel Fortune über ein halbes Jahrhundert lang eroberungslüstige Engländer von der Westküste ihrer Heimat fernhalten konnte. Einem alten Iren aus Cork habe ich allerdings zu verdanken, daß ich bei meinen damaligen Recherchen auch von der zweiten draufgängerischen Piratin erfuhr, die aus dem Land hervorgegangen ist: Anne Bonny.
Sie lebte ein gutes Jahrhundert später als ihre zumindest in Irland berühmtere Piratenschwester Grace O’Malley. Zudem waren Anne Bonnys Jagdgründe wärmere Gewässer und die mit Palmen übersäten Inseln der Karibik. Damals, als mir Paddy aus Cork, mit fast zahnlosem Mund stolz von Anne Bonny erzählte, nahm ich mir vor, mich mit dieser anderen Piratenkönigin eines Tages näher zu befassen. Im Laufe der Zeit sammelte ich peu à peu Material über ihre seeräuberischen Aktivitäten und war dabei mehr und mehr von ihrem »Lady’s touch« fasziniert – ihren ausgefallenen Tricks, mit denen sie selbst gestandene Männer aufs Kreuz legte, um an ihre Schiffe und Schätze auf See zu kommen. Daß sie dies ein paar Jahre lang im Verein mit einer anderen Piratin tat, nämlich mit Mary Read, machte die ganze Sache für mich noch spektakulärer, weil die beiden Frauen in einem absolut von Männern beherrschten Jahrhundert agierten. Zudem weckte ein Zitat der amerikanischen Schauspielerin, Rennfahrerin und Flugzeugpilotin Jill St. John meine Aufmerksamkeit. In den fünfziger Jahren stellte die Amerikanerin in einem Film eine Piratin dar und äußerte sich über Anne Bonny wie folgt:
»Niemand soll auf die Idee kommen, daß ich in ›Der Pirat des Königs‹ diese Anne Bonny verkörpere. Sie war schließlich 1 Meter 85 groß, wog zweihundert Pfund und hatte ein Gesicht, das eine Sonnenuhr stoppen konnte.« 1 )
Offensichtlich wollte die Schauspielerin lieber eine Piratin mit dem Aussehen eines Pariser Mannequins spielen und distanzierte sich deshalb so stark von Anne Bonny. Tatsächlich war die Piratenkönigin der Karibik alles andere als ein süßes Mäuschen mit dem strahlenden Gesicht eines Leinwandstars à la Hollywood. Aber sie war wohl auch nicht so häßlich, wie Jill St. John sie sich vorstellte.
Es gibt einen höchst interessanten Stich aus dem Jahre 1724, der sie als junge Frau vor einer Palmenküste mit Schiffen in der Ferne zeigt. Anne Bonny trägt weite Hosen mit einem kurzen Jäckchen und einem offenen Hemd, das die Brüste freigibt. Mit der rechten Hand feuert sie eine Pistole ab. Ein Enterbeil in der linken Hosentasche, ein Säbel und zwei weitere Pistolen in einem ledernen Leibriemen vervollständigen ihre Ausrüstung. Ihr breitkrempiger Hut sitzt schief, und das rötlichblonde Haar weht. Das Gesicht ist fein geschnitten, und der Zeichner, der sie in natura wahrscheinlich niemals getroffen hat, mag etwas festgehalten haben von dem Hemmungslosen und Rebellischen, das dieser Frau eigen gewesen ist.
Doch das Auffallendste an dieser Abbildung ist die Drehbewegung, die die Gestalt auszuführen scheint, wodurch das rechte Bein etwas zurückbleibt. Das gibt der Figur etwas unvergleichlich Zierliches, wie überhaupt die ganze Zeichnung einmalig und höchst ungewöhnlich ist. Alle anderen Abbildungen von berühmten Piraten – Zeitgenossen von Anne Bonny – wirken dagegen steif und phantasielos. Anne Bonny gleicht einer Primaballerina, die sich als Püppchen auf einer Spieldose dreht – aber umringt von Feinden, die sie einen nach dem anderen, immer sich drehend und schießend, unschädlich macht. Spielerisch wirkt ihr Tun und zugleich beängstigend. Was für eine ungewöhnliche Frau! Anne Bonny, die Piratenkönigin, war groß, durchtrainiert und hatte Muskeln wie moderne Athletinnen. Die brauchte sie allerdings auch, um sich in einer der unbarmherzigsten Männergesellschaften behaupten zu können, die es jemals gab: die Piratenbanden der Karibik um 1700.
Schillernde Gestalten befanden sich darunter, wie der dämonische Blackbeard, alias Edward Teach, der wegen seiner Brutalität selbst bei seiner eigenen Besatzung als Teufel in Menschengestalt galt. Oder Bartholomew Roberts, den viele wegen seiner Taktik der Kriegsführung auf See und seiner sagenhaften Erfolge für den größten Piraten seiner Zeit hielten und der nach dem Sprachgebrauch seiner Kumpane pistolenfest war. Oder Stede Bonnet – ein seltsamer Kauz – der bei seinen Überfällen auch gerne die Schiffsbibliothek mitgehen ließ, weil er so gerne Gedichte las. Oder Howell Davis, der eine mörderische, halsabschneiderische Besatzung befehligte, die ihm allerdings vollkommen ergeben war, weil sie bei ihm nichts für unmöglich hielten.
Alle diese Heroen und noch viele mehr wird Anne Bonny persönlich gekannt haben. Daß sie sich gegen sie behaupten konnte, zeigt, wie außergewöhnlich diese Frau aus Irland gewesen sein muß. Im übrigen haben Piraten zu allen Zeiten zugleich Schrecken und Bewunderung ausgelöst. Dies gilt um so mehr für das Goldene Zeitalter der Piraterie zwischen 1691 und 1723. Unauslöschlich hat sich trotz dieser kurzen Blütezeit gerissener Schurkenstreiche auf hoher See Stil und Bravour der westindischen Piraten in der Psyche der westlichen Welt eingeprägt. Denn trotz all ihrer Roheit sprechen die Piraten bis auf den heutigen Tag etwas in uns an: »Die Lockung ferner Horizonte, die Verheißung eines anderen Morgens, der Traum, die Ketten der menschlichen Existenz abzustreifen, alle Regeln zu brechen und obendrein noch reich zu werden.« 2 )
Hans Leip hat diese irreale Sehnsucht des sowohl verschreckten als auch faszinierten Kleinbürgers so ausgedrückt: »Befassen sich neuere Schriftsteller mit dem Thema Freibeuterei, ist ihnen meist der soziale Untergrund reizvoll, die historische Unumgänglichkeit, der frühdemokratische Einschlag, die gelegentlich anarchistische oder sektierische Gegebenheit und die einzelnen Typen in ihrer Brutalität, Abseitigkeit oder Verstiegenheit. Und dieses alles auf dem gewaltigen Gefilde der See. Das Malerische kommt hinzu und das Schwierige, die Weltabgeschiedenheit vergangener Segelschiffahrt, auch der Hauch Romantik, der um das scheinbar freie Seeräuberleben geistert, das Glitzern geheimnisvoller Münzen und Kleinodien, die Verschwiegenheit und exotische Pracht der Zuflüchte auf tropischen Inseln, das wild Verschwenderische dort, die Orgien und Ränke, die höllischen Selbstherrlichkeiten und was alles sich das nach Unerhörtem begehrliche zivile Herz aus alten Verhinderungen oder Sehnsüchten heraus ins unerfüllte Tagebuch schreibt.« 3 )
Aber die Betrachtung des karibischen Seeräubertums ist auch noch aus einem anderen Grund interessant und eines der faszinierendsten Kapitel der amerikanischen Geschichte. Denn, will man ehrlich sein, so sind die westindischen Freibeuter, sind Männer wie Blackbeard, Bonnet, Bartholomew und Frauen wie Anne Bonny und Mary Read die ersten Amerikaner im modernen Sinn des Wortes. Warum? Weil sie sich früher als andere von ihrem Mutterland England losgelöst haben, um etwas Neues und Eigenständiges zu gründen. Piratenkolonien nannten und nennen es die Bürger abwertend bis heute, aber gerade dieses Moment des Außerstaatlichen stellte für die bürgerlichen Zeitgenossen der Piraten das eigentliche Verbrechen dar – wie wir noch sehen werden. Dabei war diesen Outlaws immer gegenwärtig, was ihnen blühte, wenn man ihrer habhaft wurde. Der Strick war dabei noch das freundlichste Schicksal. Ein Beispiel dafür ist das Todesurteil von Stede Bonnet. Er würde im Hafen von Charles Town öffentlich gehängt, obwohl er um Gnade gefleht und in seiner Verzweifelung sogar an den Gouverneur geschrieben hatte. In seinem Brief teilte er diesem mit, daß er, falls man ihn begnadige, sich unfähig machen würde, das Piratenleben je wieder aufzunehmen, indem er alle seine Gliedmaßen vom Körper trennen und nur die Zunge behalten werde, um ständig voller Reue den Herrn anzurufen und zu ihm zu beten. Das Angebot der Selbstverstümmelung hat ihm nichts genutzt. Ein gefangener Pirat wurde von der damaligen Justiz immer auf grausamste Weise ums Leben gebracht.
Das muß auch Anne Bonny klargewesen sein. Dennoch hat sie ihr selbstgewähltes Schicksal niemals verleugnet. Vielleicht, weil ein Leben auf See ihr die einzige Möglichkeit eröffnete, an männlicher Bewegungsfreiheit und ihren Privilegien teilzuhaben. Wie Anne Bonny letztlich war und wie sich selber fühlte, wird wohl immer ein Geheimnis bleiben. Diese Biographie kann deshalb auch nur die harten Fakten zusammenstellen – Berichte und Aussagen von Menschen, die Anne Bonny gekannt haben, oder was man über sie vom Hörensagen weiß. Ein verläßlicher Zeuge bei dieser »Beweisaufnahme« ist sicherlich Daniel Defoe, Verfasser des Robinson Crusoe und intimer Kenner der karibischen Piratenszene. Er veröffentlichte 1724, knapp zwei Jahre nach den letzten Massenhinrichtungen von Piraten durch den Strang, in London ein Buch mit dem Titel: A General History of the Robberies und Murders of the Most Notorious Pirates, das 1728 auch in deutscher Sprache erschien. 4 ) Defoes Buch, basierend auf Material aus erster Hand, wie den Abschriften von Piratenprozessen und Unterredungen mit Piraten und ihren Opfern, befaßt sich eingehend mit den westindischen Seeräubern und vor allem mit Anne Bonny und Mary Read. 1728 erschien aufgrund des überwältigenden Erfolges ein zweiter Band. Defoe hatte beide Bücher unter dem Pseudonym Kapitän Charles Johnson veröffentlicht und erst sehr viel später, nämlich in den siebziger Jahren unseres Jahrhunderts, konnte die wirkliche Autorenschaft gelüftet werden. Defoes Buch wurde vor allem wegen seiner »Biographie« der Anne Bonny berühmt und fand zahlreiche Leser, die jedes Wort über die Piratin begeistert verschlangen. Vor allem was ihr Ende angeht, das nach wie vor im dunkeln bleibt, und worüber Defoe keine Auskunft geben konnte oder wollte.
Mich beschleicht beim Lesen von Defoes Bericht der Eindruck, als ob dem Autoren Anne Bonny selbst nicht geheuer gewesen ist. Er bezeichnet ihr Dasein als »äußerst extravagant« und falls der Leser den Eindruck hätte, das Leben dieser Frau gleiche einem Roman, so müsse er ihm leider sagen, daß nichts davon ausgedacht sei. Als Beweis für seine Glaubwürdigkeit fügt Defoe an, daß es immer noch genügend Zeugen gäbe, die dies bestätigen könnten. Defoe ist sich aber zugleich bewußt, daß die ungewöhnliche Laufbahn von Anne Bonny als Piratin seinem Buch eine große Leserschar bescheren wird, selbst wenn ihm die Frau, wohl weil sie aus der tradierten Rolle herausfällt, irgendwie unheimlich bleibt. Und die Faszination, die die Figur des weiblichen Piraten ausübt, ist bis heute ungebrochen.
Anne Bonnys Geburt löste unter Corks Bürgern einen handfesten Skandal aus. Ihr Vater William Cormac, ein bis dahin angesehener englischer Anwalt mit einer wohlhabenden Klientel, hatte sich leichtfertig – wie es hieß – mit seinem irischen Dienstmädchen eingelassen. Bis dato war die Ehe der Cormacs kinderlos geblieben, angeblich weil Elizabeth Cormac unfruchtbar war. Weil sich der Anwalt aber sehnlichst Kinder wünschte und sich offensichtlich zu der hübschen Irin mit dem feuerroten Haar hingezogen fühlte, ließ er sie auch, nachdem die Schwangerschaft offenkundig geworden war, nicht fallen. Und genau darin bestand der eigentliche Skandal. Heimliche Beziehungen zwischen Dienstherren und Personal waren durchaus üblich. Was die Gemüter so sehr in Rage versetzte, war die Tatsache, daß sich William Cormac wie ein verliebter Schuljunge zu seinem Verhältnis bekannte und sich in vorbildlicher Weise um die nicht standesgemäße Geliebte und das gemeinsame Kind kümmern wollte. Seine Freunde rieten ihm von diesem Schritt ab. Es würde sein gesellschaftlicher Untergang sein, warnten sie. Doch der Anwalt schlug ihre Ratschläge in den Wind. Er brachte Mutter und Kind in einem nahegelegenen Mietsgebäude unter, das ihm gehörte, und hoffte, daß schnell Gras über die Sache wachsen würde. Cormac hätte sich auch sofort von seiner Frau scheiden lassen, wenn Elizabeth in eine Scheidung eingewilligt hätte, aber sie hatte ihm trotzig erklärt, diesen Gefallen würde sie ihm bei Lebzeiten niemals tun.
So trug es sich im März des Jahres 1700 in der südirischen Stadt Cork zu. William Cormacs Anwesen lag auf einem Hügel in Sichtweite des betriebsamen Hafens, von dem aus die Schiffe zum Kontinent, aber auch über den Atlantik in die neue Welt fuhren. Schiffe aus Spanien, Frankreich, England und Nordafrika gingen in Cork vor Anker. Der Handel mit den westlichen Ländern Europas und den Kolonien in der neuentdeckten Welt jenseits des atlantischen Ozeans blühte – allerdings nur für die Engländer. Irische Händler wurden von den Royal Shipping Acts, englischen Wirtschaftsbeschränkungen, so gut wie erdrosselt. Denn seit Oliver Cromwell ein halbes Jahrhundert zuvor die Insel – von ihrer Fläche her nicht größer als Bayern – brutal unterworfen hatte, wobei ein Drittel der irischen Katholiken ihr Leben lassen mußten, war alles Land an protestantische englische Siedler übereignet worden. Auch William Cormacs Vater war mit der ersten Welle protestantischer Kaufleute aus England gekommen. Auf dem zerstörten Grundbesitz enteigneter Katholiken hatte er sein großes steinernes Landhaus errichtet und sein Geld auf Kosten der unterdrückten Iren verdient.
William war mit 18 Jahren zum Studium der Rechte nach England geschickt worden. Als er von dort Jahre später mit einem Diplom in der Tasche zurückkehrte, war es seine feste Absicht, in der irischen Kolonie Karriere zu machen, koste es, was es wolle. Aber ein hartes Leben wartete nicht auf ihn. Konkurrenten gab es nur wenige. Seit 1690 waren die Katholiken in Irland zu einer verfolgten Gruppe geworden, ihr Anteil am Landbesitz auf 15 Prozent gesunken. Eine neue antikatholische Gesetzgebung (Penal Laws) schloß Katholiken weitgehend von Ämtern und dem öffentlichen Leben aus. Sie hatten weder das Recht, Land zu kaufen noch rentabel zu pachten. Diejenigen, die es trotzdem versuchten, hießen Tennants – und waren nicht viel besser dran als Leibeigene. Selbst der Stellvertreter des Königs in Irland berichtete 1770, daß es auf der ganzen Welt kaum ein erbärmlicheres Leben gebe als das des irischen Bauern. Und ein Gesetz aus jener Zeit besagte, daß irischen Rebellen bei lebendigem Leibe das Gedärm herausgerissen und vor ihren Augen verbrannt werden sollte.
Die Stadt Cork selbst war 1649 von Cromwell eingenommen worden. Damals wurden die Stadtmauern und alle Befestigungsanlagen geschliffen, aber auch sakrale katholische Bauwerke fielen der Zerstörungswut zum Opfer. Heute stehen aus dieser Zeit nur noch zwei Bauwerke: das Elizabeth Fort und der Red Abbey Tower, Überrest eines im 13. Jahrhundert gegründeten Augustinerklosters. Das älteste Viertel liegt südlich der Grand Parade. Wenn man von dort hinunter zum alten Hafen Cobh schlendert, erhält man mit etwas Phantasie einen ungefähren Eindruck, wie es hier zu Anne Bonnys Zeiten ausgesehen haben mag. Schaut man gen Norden, so sieht man Saint Patrick’s Hill, wo sich in früheren Zeiten die reicheren Bürger niedergelassen haben. Von dieser Anhöhe aus hat man seit jeher einen eindrucksvollen Blick auf den Hafen der Stadt. Das Zentrum von Cork ist ohne jede Erhebung und wird von den Einheimischen als »Ebene der Stadt« bezeichnet. Im Norden jedoch fällt ein markantes Steilufer zum Fluß Lee hin ab. Dort befand sich der Umschlagplatz für Waren. Und die zahlreichen schwarzen Masten der Zwei- und Dreimaster legten im Jahre 1700 Zeugnis für einen florierenden Handel ab.
Bis zum Eklat, den die Geburt seiner Tochter auslöste, führte William Cormac ein angesehenes Leben. Seine Frau und er besuchten die zahlreichen Bälle, die in den Häusern der Aristokraten und Neureichen gegeben wurden. Cormac verdiente sein Geld ausschließlich dadurch, daß er die meiste Zeit über als Notar tätig war, also Verträge besiegelte, was ihm eine hübsche Stange Geld einbrachte. Einen Teil des Geldes investierte er in lukrative Wollgeschäfte, aus denen er nicht selten den doppelten oder dreifachen Gewinn zog. Der junge Anwalt hatte zweifellos ein Händchen für Geldangelegenheiten, aber kein Gespür für die moralische Einstellung seiner Mitbürger.
Wie in jedem feinen Haushalt in Cork hatte auch Cormac ein Dienstmädchen eingestellt. Margaret Mary Brennan, genannt Peg, war mit sechzehn Jahren in seine Dienste getreten und bewohnte unterm Dach ihr eigenes kleines Zimmer. William Cormac, Anfang Dreißig, ein hochgewachsener grobknochiger vitaler Mann, war ihr erster Dienstherr und schon bald ihr erster und einziger Liebhaber. Als Peg schwanger wurde, hätte sie das Kind abtreiben lassen können, wie es viele Dienstherren von ihren Angestellten erzwangen. Der Anwalt jedoch, der sich sehnlichst ein Kind gewünscht hatte, muß sich über die Schwangerschaft seiner Geliebten gefreut haben, auch wenn ihm die Konsequenzen dieser Liebe von Anfang an bewußt gewesen sein müssen.
Der »Fehltritt« konnte von einem bestimmten Punkt an nicht länger verheimlicht werden. Interessanterweise weiß Hans Leip in seinem Bordbuch des Satans etwas darüber zu berichten, wie Elizabeth Cormac zum erstenmal Verdacht schöpfte, daß ihr Mann ein Verhältnis mit dem Dienstmädchen hatte. Leip erzählt, daß ein Bekannter von William Cormac heimlich silberne Löffel unter die Bettlaken des Mädchens schob, um sich einen, zweifelsohne etwas merkwürdigen Scherz zu erlauben. Zu jenem Zeitpunkt soll sich Elizabeth Cormac auf einer Reise befunden haben. Als sie ein, zwei Wochen später nach Hause zurückkehrte, wurde der Verlust des Bestecks offenbar. Man suchte und fand die Löffel schließlich im Bett der Dienstmagd. Leip schreibt: »Nicht, daß Elizabeth annahm, das Mädchen habe die Löffel stehlen wollen. Dennoch bedurfte es keiner detektivischen Überlegung, bis sie sich sagte, das kecke Ding könne unmöglich inzwischen in ihrer Kammer geschlafen haben, sonst hätte es unweigerlich die Löffel entdecken müssen, die ja immerhin nicht aus Daunen waren. Und sie ahnte voller Trauer und Eifersucht, dieses Mädchen habe in den Tagen ihrer Abwesenheit ihren Platz im Bette ihres Mannes ausgefüllt.«
Elizabeth fand augenblicklich eine Verbündete in Cormacs Mutter, die ihm die Liaison mit einem irischen Dienstmädchen niemals verzieh, ihn später sogar enterbte. Von diesem Zeitpunkt an lebte William Cormac getrennt von seiner Ehefrau, aber er zog auch nicht zu Mary und dem Kind. Anne wuchs folglich allein bei ihrer Mutter auf. Daß William Cormac von ihnen getrennt lebte, hatte vor allem finanzielle Gründe. Elizabeth willigte nicht in die Scheidung ein, sah vielleicht in ihrer Weigerung ein Druckmittel, William zur Vernunft zu bringen. Nach wie vor erhielt der Anwalt Geld aus dem Erbteil, das ihm durch den Tod seines Vaters zustand. Doch bei der Zuteilung hatte seine Mutter das letzte Wort. Wäre er mit Mary und dem Kind zusammengezogen, so hätte seine Mutter ihm das Geld augenblicklich gestrichen. William Cormac war alles andere als selbstmörderisch. Er wußte, was man sich in Cork über ihn erzählte. Er wollte die Gerüchte auf keinen Fall in irgendeiner Hinsicht forcieren oder unverrückbare Tatsachen schaffen, die ihm sofort zum Nachteil gereicht hätten. Allerdings sehnte er sich auch danach, Mutter und Tochter um sich zu haben, vor allem die Tochter Anne. Und so verfiel er nach wenigen Jahren auf eine List.
»Dies dauerte beinahe sieben Jahre an«, berichtet Daniel Defoe, »dann aber faßte er eine Zuneigung zu dem Mädchen, das er von seiner Magd hatte, und nahm sich vor, es zu sich nach Hause zu nehmen, um mit ihm zu leben; aber da die ganze Stadt wußte, daß es ein Mädchen war, und um vor ihnen wie auch vor seiner Frau die Wahrheit verborgen zu halten, ließ er es wie einen Jungen Hosen anziehen und gab vor, es handele sich um das Kind eines Verwandten, das er als seinen Lehrling großziehen wollte.«
Offensichtlich glaubte der Anwalt, daß er durch diese Maskerade doch noch zu seinem Recht als Vater kommen könnte. Er sollte sich täuschen. Unklar ist, wie sich die Mutter in dieser Situation verhielt. Schließlich hatte sie die Tochter fünf Jahre lang ohne Mann aufgezogen. Nun nahm William das Mädchen zu sich ins Haus. Alles, was man weiß ist, daß Mary weiterhin in der Mietwohnung lebte, in der sie sich mit ihrem Geliebten wie gehabt nur heimlich treffen konnte. William Cormacs Versteckspiel wirkt naiv, und es konnte letztlich nur eine Frage der Zeit sein, bis die Wahrheit ans Licht kommen würde. Um also nicht direkt mit seiner geliebten Tochter Anne, die ihm von nun an bei seinen Gängen hinunter in die Stadt oder zum Hafen wie ein gehorsames Hündchen auf Schritt und Tritt folgte, in Verbindung gebracht zu werden, hatte er das Mädchen kurzerhand in Jungenkleidung gesteckt. Annes rotblonde Locken verbarg eine grüne Kappe und wenn ihn jemand nach dem Kind fragte, so gab er es als seinen Neffen aus, der ihm anvertraut worden wäre. Anne selbst mußte ihren Vater in der Öffentlichkeit mit »Onkel« anreden. In ihrer Jungenhose rannte sie hinter ihm her und lernte nach und nach das aufregende und hektische Leben am Hafen kennen: Matrosen, Betrunkene, rauhbeinige Kerle, aber auch clevere Geschäftsleute, die genau wußten, wie und wo sie ihr Geld am besten verdienen konnten.
Wir können nur rätseln, wie das alles auf das kleine Mädchen gewirkt haben muß. Das rege Leben am Hafen, Geschichten vom Meer und von fremden Ländern, Schiffe, die um die halbe Welt fuhren, von dort fremdartig aussehende Menschen, Tiere und Pflanzen mitbrachten, das Seemannsgarn, darunter haarsträubende Geschichten von Piraten, die ihr die Matrosen erzählt haben mochten, waren die eine Seite der Medaille. Das alles mag ihr durchaus gefallen haben. Es wird erzählt, daß Anne schon früh sehr gerne den wiegenden Gang der Seeleute und ihre rauhe Art zu sprechen nachgeahmt hätte. Ohne Zweifel hat dieser Einblick in eine fremde Welt, von der ihre übrigen Geschlechtsgenossinnen weitestgehend ausgeschlossen waren, dem Mädchen Spaß gemacht. Aber wie sah die Kehrseite der Medaille aus?
Anne steckte tagein, tagaus in Jungenkleidung, lernte sich wie ein Junge zu benehmen, durfte nicht wie ein Mädchen agieren, sondern mußte auf Wunsch ihres Vaters und wahrscheinlich auch ihrer Mutter ihr Geschlecht verleugnen. Also keine Puppen, keine Kleidchen, keine Duftwässerchen, keine Schleifen im Haar. Unter diesen Umständen war ihr wohl auch der Umgang mit gleichaltrigen oder älteren Mädchen verboten. Die Gefahr, daß der Schwindel auffliegen würde, zum Beispiel durch eine unbedachte Bemerkung des Kindes, war einfach zu groß. Also hatte Anne ausschließlich Umgang mit Jungen, lebte als »Junge« unter und mit ihnen und lernte, wie sich zukünftige Männer verhielten. Das mußte zwangsläufig Auswirkungen auf die Entwicklung ihrer Psyche haben. Es ist nicht sicher, ob Cormac jemals versucht hat, ihr deutlich zu machen, warum dies alles überhaupt stattfand. So richtig verstanden haben wird ihn Anne sicherlich nicht, Aber eine andere Wahl hatte sie ja auch nicht. Wohin aber sollte ihre Entwicklung führen? Wann würde die Maskerade ein Ende finden?
Wahrscheinlich hat William Cormac die besonderen Umstände, unter denen seine Tochter aufwuchs, auch mit Sorge betrachtet. Schließlich wollte er ja aus Anne keinen Jungen machen. Sie sollte zu einer jungen Frau erblühen, um dann mit einem Sohn aus wohlhabendem Hause verheiratet zu werden. In diesem Punkt werden sich Cormacs Vorstellungen von denen seiner Zeitgenossen nicht wesentlich unterschieden haben. Aber er sah auch, wie problematisch die Situation war. In seinen Kreisen wurden junge Mädchen in die Obhut von Erzieherinnen gegeben. Aber welche englische Erzieherin würde unter einer Herrin wie Mary Brennan, die einmal Magd im Hause gewesen war, arbeiten wollen? Sie würde selbst in Verruf geraten und niemals mehr eine weitere Anstellung erhalten. Selbst eine Scheidung von Elizabeth hätte nichts geändert. Seine Frau war zu ihren Eltern zurückgekehrt und hatte William wissen lassen, daß sie ihm den fortgesetzten Umgang mit seiner »Privathure« niemals verzeihen würde. Im übrigen würde sie ihn, ganz gleich, wohin er auch ginge, mit ihrem Haß verfolgen. Im Klartext bedeutete das, daß William Cormac die Mutter seiner Tochter niemals würde heiraten können, solange Elizabeth lebte. Selbst in den neuen Kolonien jenseits des großen Ozeans stand auf Bigamie der Kerker. Um William Cormacs Zukunft stand es also alles andere als gut. Irgendwann würde er den entscheidenden falschen Schritt tun und das Spiel wäre verloren. Die ehrenwerten Bürger und Bürgerinnen von Cork waren einer Meinung: uneheliche Sprößlinge, hervorgegangen aus Liebeleien mit Dienstmägden, die einer legitimen und standesgemäßen Ehefrau vorgezogen wurden, waren eine öffentliche Beleidigung und eine Gefahr für das bestehende gesellschaftliche System. William Cormac gehörte vernichtet, was sein Ansehen und seine Stellung innerhalb der Bürgerschaft von Cork anging.
Dann flog der Schwindel auf. Der vermeintliche Neffe war in Wirklichkeit Cormacs Tochter. Manche wollten es schon immer gewußt haben. Von diesem Moment an riskierte Cormac alles. Mary zog zu ihm, und der Anwalt lebte unverheiratet mit seiner ehemaligen Dienstmagd zusammen. Das war für die Bürger Corks, so weltoffen ihr Hafen auch sein mochte, zuviel. Nach und nach verlor William Cormac einen wohlhabenden Klienten nach dem anderen. Als seine Mutter starb, die sich durch die auf sie ausgedehnte Ächtung seitens der Gemeinde gedemütigt gefühlt hatte, hinterließ sie ihren ganzen Besitz Elizabeth. Das Blatt wendete sich nun endgültig gegen den einst so geachteten Anwalt. Selbst Geschäfte, die über den Hafen abgewickelt wurden, wollte niemand mehr so recht mit ihm machen. Gewinne aus seinen Unternehmungen fielen plötzlich geringer aus als erwartet. Cormac sah sich von einer Mauer aus Vorarteilen umgeben – wohin er auch blickte. Nicht ganz zwei Jahre sollten er und seine Familie diesem Druck von außen noch standhalten. Nun mußten sie handeln, wenn die Familie nicht zugrunde gehen sollte.
Doch was tun? In eine andere irische Stadt zu gehen, hätte wenig Sinn gehabt. Es wäre eher verwunderlich gewesen, wenn sich Cormacs »Fehltritt« nicht unter den ehrenwerten Bürgerinnen und Bürgern des Landes herumgesprochen hätte. In jeder Stadt würde man den Cormacs mit Ablehnung oder sogar Haß begegnen. England selbst hätte nur befristet eine Alternative dargestellt. Eines Tages, vermutlich früher als erwartet, hätte ihn auch im entlegensten Nest in Wales oder Cornwall die Vergangenheit eingeholt. William Cormac dürfte angesichts der verfahrenen Situation ziemlich ratlos gewesen sein.
Die neue Welt jenseits des Atlantiks hatte die Spanier, die Holländer, die Schweden und die Franzosen verlockt, dort Kolonien zu gründen. Die Engländer kamen erst spät. 1606 war das Jahr des Aufbruchs. Sir John Poham und Sir Fernando Gorges, Vertreter zweier Gruppen von Kaufleuten, erbaten und erhielten die Charten zur Gründung von Zwillingskompanien in Virginia. Bereits ein Jahr später schickte die London-Kompanie drei Schiffe über den Ozean, die am 26. April 1607 durch eine wunderbare Fügung Land fanden und in der Chesapeake-Bucht vor Anker gingen. Der an dieser Stelle ins Meer mündende Strom wurde zu Ehren von König Jakob I. James-River getauft. Von einer wohlüberlegten Vorbereitung einer so wichtigen Expedition konnte allerdings nicht im entferntesten die Rede sein. Sie führten Lebensmittel für nur 16 Wochen mit sich, sehr wenig Saatgut, kaum Geräte, um den Acker zu bebauen, und kein einziges Haustier. Reich waren sie nur an Edelleuten und armen Feldarbeitern. Keine einzige Frau war unter ihnen. Ein versiegeltes Kästchen mit den Weisungen der Kompanie enthielt genaueste Vorschriften darüber, wie die Zusammensetzung und der Wirkungskreis des Regierungsrates auszusehen habe. Außerdem wurden sie angewiesen, alle Flüsse hinaufzufahren, um einen Zugang zum großen Südozean zu finden. Offensichtlich hatte sich niemand darüber Gedanken gemacht, wie eine europäische Niederlassung in einem gänzlich »wilden« Land auszusehen habe und wie man die ersten Schritte erleichtern könne. Nicht einmal Tauschwaren für den Handel mit den Indianern gab es.
So also sah der erste englische Versuch aus, einen winzigen Teil Nordamerikas zu besiedeln. Die Virginier bauten ein kleines Fort und nannten es Jamestown. Zwietracht, Hunger, Moskitos, Indianerüberfälle und Sumpffieber dezimierten die 105 Kolonisten innerhalb eines Jahres auf ein Häufchen von 35 Männern. »Noch nie und in keinem anderen Land hatten Engländer derartiges Elend auszustehen«, wird einer von ihnen später schreiben. 5 ) Im September 1608 legte das zweite Schiff mit 70 neuen Einwanderern an, darunter zwei Frauen, den ersten, die den englischen Boden der Neuen Welt betraten.
Einige wichtige Daten und Ereignisse sind hier noch erwähnenswert. Mit den Einwanderern von 1610 war auch ein Mann gekommen, der sich John Rolfe nannte. Ein schwermütiger Mensch, 25 Jahre alt, der erst wenige Monate zuvor seine Frau verloren hatte. Er ließ sich am Rande von Jamestown nieder. All seine Sorgfalt wandte er einem Flecken Land zu, nicht größer als ein Gemüsegarten, auf dem er großblättrige Tabakpflanzen zog. Das Tabakrauchen hatten die Kolonisten von den Indianern übernommen, weil sie darin eine vorbeugende Maßnahme gegen das Sumpffieber sahen. John Rolfe war der erste Weiße, der Tabak anbaute. 1614 gingen Ballen von seiner dritten Ernte nach London. Und das Unglaubliche geschah: Binnen kurzem setzte sich sein Tabak gegen die vielen Sorten von den Antillen und aus Südamerika durch und wurde ein wirtschaftlicher Erfolg. Ab 1619 war der Tabak in Jamestown anerkanntes Zahlungsmittel, und von 1620 an gingen jährlich 100.000 Pfund von Rolfes mildem Kraut über den Ozean.
Ein anderes Ereignis von weittragender Bedeutung fiel in den August 1619. Da legte nämlich ein holländischer Zweimaster vor Jamestown an, verkaufte 20 afrikanische Neger als Sklaven und begründete die furchtbare Geschichte der Versklavung farbiger Menschen. Im selben Monat August scharten sich in der Kirche von Jamestown 22 Honoratioren zur ersten Gesetzgebenden Versammlung der Neuen Welt um den neuen Gouverneur George Yardely. Der Boden konnte von nun an als Privatbesitz erworben werden. 150 »ehrbare junge Frauenzimmer«, von ihren Verlobten mit Tabak bezahlt, waren angekommen. 1.200 englische Neueinwanderer überquerten nun jährlich den Atlantik und die Bevölkerungszahl von Virginia stieg auf 4.000 Seelen. Pflanzungen und Häuser entstanden an den Ufern des Potomac. Die Engländer bekamen die Dinge allmählich in den Griff.
Im selben Jahr brachen von der südenglischen Stadt Plymouth aus weitere Siedler auf, die Ostküste Amerikas für sich in Besitz zu nehmen. Ihr Schiff hieß »Mayflower«, und der Mann im Ausguck des Topmastes sichtete in der Frühe des 10. Novembers am Horizont den ersehnten Landstreifen. Die Pilgrim Fathers – die Pilgerväter – gelten allerdings, wie wir gesehen haben, zu Unrecht als diejenigen, die die erste ständige englische Niederlassung in Amerika gründeten. Auch ist ihr Name »Pilgerväter« erst später gebräuchlich geworden. Sie selbst nannten sich schlicht und bescheiden Heilige. Diese englischen Kongregationalisten wanderten zur freien Religionsausübung zuerst in die Niederlande, dann nach Amerika aus.
Der Gedanke, nach Amerika auszuwandern, hatte für sie manch Verführerisches, aber auch viel Abschreckendes. Vor allem fürchteten sie die indianischen Wilden, von denen sie viel Grausames gehört hatten. Ihnen bangte aber auch vor dem Klimawechsel und davor, hier Wasser trinken zu müssen. Als die »Mayflower« schließlich in einer geschützten Bucht von Cape Code vor Anker ging, verließen 102 Einwanderer, darunter 20 Frauen, Gefährtinnen der Heiligen, das Schiff. Indianer, auf die sie stießen, nahmen vor ihnen Reißaus. Weil sie kein Saatgut besaßen, plünderten sie indianische Gräber, die Behälter voll gelber, schwarzer und roter Maiskörner enthielten. Später folgten von England aus noch weitere Heilige und Strangers, wie die Pilgrim Fathers Angehörige der anglikanischen Kirche bezeichneten. Die Gemeinde vergrößerte sich zusehends, die Spannungen unter den Kolonisten auch. Andere Separatisten folgten, um sich im Land der unbegrenzten Möglichkeiten niederzulassen und ihre religiösen Ideen auszubreiten.
1629 wurde die erste Ziegelbrennerei in Salem errichtet. Zehn Jahre später nahm im gleichen Ort die erste Glashütte ihren Betrieb auf. 1630 wurde Boston gegründet. 1631 lief das erste Schiff – »The Blessing of the Bay« – auf dem Mystic-River vom Stapel. Cambridge besaß im Jahre 1640 die erste Druckerei. Neuamsterdam, 1629 von den Holländern gegründet, ging im Frieden von Breda 1667 im Tausch gegen Surinam an England über und wurde fortan New York genannt. Jamestown, die erste Stadt der englischen Siedler, verlor 1699 seine Stellung als Hauptstadt der Kolonie Virginia und trat sie an Williamsburg ab, das diese Funktion achtzig Jahre später an Richmond verlor.
Kein Zweifel: Neuengland wuchs und gewann mehr und mehr an Selbstbewußtsein gegenüber dem Mutterland. Aber trotz technischer Fortschritte mußten die Kolonisten noch lange leibliche und geistige Not leiden. Dort, wo sich eigentlich Fensterscheiben befinden sollten, waren die Häuser mit Holz- oder Ölpapierläden versehen. Fackeln stellten die Beleuchtung sicher. Gabeln und Teller waren unbekannt, letztere wurden durch »trenchers« ersetzt, rechteckige, ins Tischholz gehöhlte Doppelmulden, die zwei Personen zugleich dienten (woher übrigens der Ausdruck »trencher-fellows«, Busenfreunde, stammt). Kleidung wurde aus grobem Zeug angefertigt, und die Aufgabe der Gerichte bestand hauptsächlich darin, die Erhaltung der Sittenreinheit zu gewährleisten. Drakonische Gesetze mit harten Strafen wurden erlassen. Nichts war so undemokratisch wie die Mutterzelle der amerikanischen Demokratie.