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Der Wolf ist nach Deutschland zurückgekehrt und die Begeisterung darüber ist ebenso groß wie die Unsicherheit. Was wissen wir über dieses Lebewesen? Wie verhalten wir uns, falls uns Wölfe begegnen? Wie können wir lernen, angst- und vorurteilsfrei mit ihnen zu leben? Wie können Nutztierhalter ihre Schafe, Rinder und Pferde schützen? All diese Fragen beantworten die Autoren in diesem Buch wissenschaftlich fundiert und basierend auf eigenen Erfahrungen und Tausenden direkten Begegnungen mit wild lebenden Wölfen. Dazu praxiserprobte Tipps und Verhaltensregeln für das Leben im Wolfsgebiet. Mit einem Vorwort von Ethologin und Fachtierärztin für Verhaltenskunde Dr. Dorit Urd Feddersen-Petersen.
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Seitenzahl: 220
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Man erlaube mir ein wenig Lokalpatriotismus zu Beginn. Der letzte schleswig-holsteinische Wolf wurde um 1810 herum im Raum Neumünster erschossen und der erste Wolf, der im nördlichsten Bundesland wieder gesichtet wurde, kam auf der vielbefahrenen Bundesstraße 76 in Süsel/Ostholstein zu Tode. Das geschah im April 2007, also fast 200 Jahre später. Der Wolf aus Süsel, ein ca. einjähriger Rüde mit parasitär gebeuteltem Fell, kam im Zoologischen Institut der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel auf den Sektionstisch und ich habe ihn obduziert. Die genetischen Untersuchungen ergaben, dass er aus demselben Genpool stammte wie die Wölfe, die Sachsen besiedelt haben. Er war gen Nordwesten abgewandert, legte mindestens 400 km Luftlinie zurück und scheiterte am Straßenverkehr.
Aus dem Freistaat Sachsen wurde ich in der Folgezeit mehrmals von einem Jäger und Bürgermeister besucht, der mich inständig bat, ihm doch nur ein Papierstück zu unterzeichnen, auf dem vermerkt war, dass ich die Wölfe in der Lausitz für „künstlich eingebracht“ aus Polen hielte. Und es solle mein Schaden nicht sein. Ich muss eigentlich nicht erwähnen, dass ich dieser Bitte nicht Folge leistete und tue dieses nur der Ordnung halber. So begann die Rückkehr des Wolfes auch für mich nicht immer harmonisch.
Viele in unserem Lande waren und sind schlicht überfordert durch die zurückkehrenden Wölfe. Was man nicht kennt, will man nicht. Ängste und Vorurteile breiten sich aus. Hier setzt das vorliegende Buch an, das uns genau die Wölfe, mit denen wir nun schon eine Weile leben, näher bringt, damit sich diffuse Ängste wie spezielle Befürchtungen verlieren. Es geht ja nie um DEN Wolf, denn den gibt es nicht. So lernen wir zunächst die Wölfe und ihr Verhalten in ihrem/unserem Umfeld, einem speziellen Ökosystem, kennen. Zu berücksichtigen ist weiter das jeweilige soziale Gefüge, geht es doch stets um bestimmte Wolfsfamilien in diesem Lebensraum, die hinsichtlich individueller Charakteristika ihrer Mitglieder unterschiedlich zusammengesetzt sind. An dieser Individualität scheitern Aussagen nach dem „normalen“ oder „unnormalen“ Wolfsverhalten a priori. Verallgemeinern gilt nicht.
Ganz allgemein indes gilt, dass möglichst viele Informationen über spezielle Wölfe zu sammeln sind, um ihr Verhalten korrekter einordnen zu können. Auch der wölfische Lebensraum wurde ja gern mystifiziert. So haben wir in den letzten Jahrzehnten anschaulich gelernt, dass auch Wölfe nicht die vermeintlich unberührte Wildnis brauchen, vielmehr lediglich Orte, in denen sie in der Nähe des Menschen einigermaßen ungestört leben können. Und wir werden weiter lernen müssen. Im Süden und Osten Europas, in Ländern also, in denen der Wolf nicht ausgestorben war, kommen Menschen heute leichter mit Wölfen zurecht, weil man schon lange mit ihnen lebt und diesbezüglich erfahren ist. Wir hingegen haben Nachholbedarf durch unsere wolfslose Zeit. Die Wölfe kommen uns dabei entgegen, denn sie sind bestens angepasste Kulturfolger, die sich zurückhalten und niemanden stören. So Günther Bloch.
Und was ist konkret mit der Angst vor dem Wolf? Informationen sind wichtig, die Autoren verweisen auf „besonnene Vorsicht“ statt Angst und klären klug und angemessen auf. Sie erteilen mit Recht den Fütterern ein striktes Verbot. Futterkonditionierte Wölfe können nachweisbar zur Gefahr werden.
Und „normales“, „aggressives“, „gefährliches“ Verhalten? Es ist alles vermeintlich so, die Wertung erfolgt subjektiv, sie gibt die Meinung bestimmter Menschen mit bestimmten (oder auch keinen) Erfahrungen wieder. Normales Wolfsverhalten hat viele Ausprägungsformen. Günther Bloch und Elli Radinger gehen zur Definition dieser Begrifflichkeiten über und füllen sie mit Verhaltensbeschreibungen. Tatsächlich gefährlich meint dann, dass protokolliert wurde, wie ein bestimmter Wolf Menschen gegenüber etwa in „fixierender Anpirschhaltung zielorientiert Distanzen verringert, von menschlichen Abwehrreaktionen unbeeindruckt“. Das ist eindeutig.
Dieses Buch besticht durch Fakten und den immensen Kenntnisreichtum seiner Autoren, denen ein überaus praktikables Handbuch zum Leben mit Wölfen in Deutschlandgelungen ist.
Auf Probleme der Nutztierhalter wie Hobbyzüchter wird kundig eingegangen. Mir gefällt auch in diesem Kontext der deutliche Hinweis darauf, dass es immer nur eine Anpassung der Schutzmöglichkeiten einer Herde an die individuelle Situation, Haltungsform und Landschaft gibt. Cave Verallgemeinerungen! Diesbezüglich werden Vorschläge unterbreitet. Und noch einmal: Pauschalierungen sind doch im Grunde immer nur ein Ausdruck dafür, dass sich jemand mit einer Problematik nicht richtig auseinandergesetzt hat. Typisch für Günther Bloch und Elli Radinger ist weiter, dass sie immer um praktikable Lösungen bemüht sind – im Gegensatz zur Reduktion bestehender „Wolfsprobleme“.
Herdenschutztiere werden kundig diskutiert. Wichtig erscheinen hier Hinweise der Autoren aus eigener Sozialisierungsarbeit und Verhaltensprotokollierung in der Slowakei – so etwa die Problematik mit Schafen, die keine Hunde mögen und sie bei der Sozialisierung durch den Pferch scheuchen. Unerwünschtes Verhalten von Herdenschutzhunden wird aufgeführt wie Fragen der Finanzierung der Hunde und Tierschutzbedenken. Gut gefällt mir, dass die Messlatte der Autoren immer wieder ganz objektiv die Biologie der Arten ist. Das Wild muss keineswegs vor dem Wolf geschützt werden, der Wolf ist ja einer der Regulatoren der Wildbestände. Und Wölfe werden keine Wildtierbestände ausrotten, Beutegreifer-Beute-Systeme sind komplex und sensibel und abhängig von vielen Faktoren – unser Schalenwild ist in langen Zeitläufen an den Wolf adaptiert und umgekehrt, auch wenn dieser eine Zeit lang fehlte. Schließlich wird Wolfstourismus mit klaren Verhaltensregeln für Besucher in Wolfsgebieten, der Menschen vorbereitet und informiert, beispielhaft als „sensibler Ökotourismus“ vorgestellt.
Seit Beginn der 1990ger Jahre haben sich Günther Bloch und Elli Radinger der Wolfsbeobachtung verschrieben, überwiegend in Kanada und in den USA, bestens vertraut auch mit den Verhältnissen in Europa, speziell in Deutschland. Sie gründeten die Gesellschaft zum Schutz der Wölfe, Elli Radinger wurde Herausgeberin des Wolfs-Magazins, beide waren an Wolfsforschungen beteiligt und Günther Bloch leitete mehrere Forschungsprojekte über Wölfe in Polen und Kanada, beobachtete von 1998 bis 2014 die Bowtal-Wolfsfamilie aus kurzer Distanz vom Geländewagen aus, um nur einiges zu nennen.
Der lange Atem der Autoren hat sich gelohnt. Was die beiden machten, folgte ihrem ureigenen Interesse – sie waren wissensdurstig und individuell. Sie folgten keinem Trend der Zeit, sie verfolgten ihr Ziel. Sie redeten nicht, sie taten etwas. Und sie ließen sich nicht mit Floskeln abspeisen. Das hat beeindruckt und Hoffnungen auf selbstbestimmte Lebensführungen gemacht. Wohl auch deshalb bewirkten beide so viel.
Wölfe haben uns schon immer fasziniert, weisen sie doch Ähnlichkeiten in ihrer sozialen Struktur mit uns auf, die eine soziale Passung kennzeichnen: sie leben in Familien wie wir, verfügen gleichfalls über eine fein graduierte Kommunikation, kooperieren beim Beutefang und in so vielen sozialen Belangen und zeigen altruistisches Verhalten. Der Prozess der Domestikation des Wolfes zum Haushund wird seit Coppinger (2006) als Co-Evolution begriffen, ausgehend von der Hypothese, dass auch der Mensch sich veränderte in den fast 40 000 Jahren des Zusammenlebens mit dem Hund. Diese besonders enge Beziehung zwischen Mensch und Hund unterstreicht im Rückschluss wiederum die wölfische Nähe zum Menschen.
Eine Wolf-Mensch- Koexistenz sollte also auch bei uns möglich sein. „Das Management von Wölfen ist weniger ein Problem von Wildbiologie, Ökologie oder angeblich notwendiger Bestandskontrolle, sondern vielmehr eines von kulturellen Wahrnehmungen. Darum geht es im Wolfsmanagement weniger um Biologie als um Menschen“, so die Autoren. Ich glaube an die Veränderung, die in den Köpfen vieler Menschen schon begonnen hat, wie von Günther Bloch und Elli Radinger angenommen, und danke den beiden für ihre so überaus wertvollen Beiträge dazu.
Dr. Dorit Urd Feddersen-Petersen
© Michael Hamann
Zwei Welpen vom Daubaner Rudel (vorne ein Männchen, hinten ein Weibchen).
Der Wolf ist zurück in Deutschland, und er ist hier, um zu bleiben, ob uns das gefällt oder nicht. Streng geschützt breitet er sich aus, sucht neue Reviere in Bundesländern, die bisher „wolfsfrei“ waren, gründet Familien und zieht seinen Nachwuchs auf. Theoretisch kann heute fast überall ein Wolf auftauchen. Die Unsicherheit, wie wir mit ihm umgehen sollen, ist groß, ebenso wie die Angst, die manche Interessengruppen bewusst schüren. Aber Angst ist ein schlechter Ratgeber. Vermutlich liegt es in unserer Natur, etwas Unheilvollesin dem anzunehmen, was wir nicht verstehen und nicht kontrollieren können. Dennoch wundern wir uns, dass sich angeblich so viele Menschen vor einem Tier fürchten, dessen Sozialverhalten und Familienleben dem unseren so ähnlich ist und das wir uns in seiner domestizierten Form als „besten Freund“ ins Haus geholt haben.
Viele von uns kennen sie nur aus Naturfilmen oder aus dem Zoo. Aber die Realität ist kein Film, und Zoowölfe verhalten sich in vielen Belangen nicht wie wilde Wölfe. Außerdem mussten wir über die Jahre hinweg ein ums andere Mal selbstkritisch feststellen, Lichtjahre davon entfernt zu sein, Wölfe lückenlos zu verstehen. Dafür sind diese viel zu clever. „Experte“ zu sein, heißt sicher nicht, „alles“ zu wissen. Was wir aber vorweg mit Gewissheit sagen können ist, dass der Wolf keine blutrünstige Bestie ist. Nein, er ist ein treu sorgender Familienvater, eine liebevolle Mutter, ein durchgeknallter Teenager, eine entspannte Tante. Selbstverständlich verhalten sie sich, wenn notwendig, knallhart territorial gegenüber benachbarten Wolfsfamilien. Das gehört genauso zu einer realistischen Darstellung des Wolfes wie die Tatsache, dass er ein selektiver und opportunistischer Jäger ist, der andere Tiere tötet. Er frisst aber auch Aas und manchmal auch ein wenig Obst oder Kräuter. Summa summarum handelt es sich um ein revierbezogenes Familientier, das im Grunde genommen nur ungestört seine Kinder großziehen will. Was macht uns daran Angst? Ja, Wölfe können uns gelegentlich erschrecken, wenn sie plötzlich vor uns auf dem Waldweg stehen, unseren Hunden folgen oder nachts diskret durch ein Dorf laufen. Sie machen uns – zu Recht – wütend, wenn sie unsere Schafe oder geliebte Haustiere töten. Und Jäger fürchten – zu Unrecht – die Konkurrenz. Woran liegt es, dass der Wolf so viele Emotionen in uns hervorruft?
Um die Angst zu verlieren, müssen wir wissen, wo wer was wann und warum tut. Wölfe zu verstehen, bedeutet nicht nur, ihr natürliches Verhalten in der Freiheit zu kennen, sondern sie auch in ihrem Umfeld zu erleben, dem Ökosystem, von dem sie ein wichtiger Teil sind. Es gibt nicht den Wolf per se, der sich so verhält.Jeder Wolf ist, wie wir Menschen auch, ein Individuum, das geprägt wird von seinerFamilie, Alter und Persönlichkeit, vielfältigenErfahrungen und dem Lebensraum, in dem es lebt. Darum kann man auch von einem Wolf, der sich innerhalb deutscher Kulturlandschaften beispielsweise hier und dort einmal Menschen nähert, nicht behaupten, er verhalte sich „nicht normal“.
Dieses Buch basiert auf unseren vielfältigen Erlebnissen aus über zwanzigtausend Begegnungen mit wilden Wölfen. Ja, wir haben sie persönlich getroffen: im Auto, beim Radfahren oder Schneeschuhwandern, auf Reitausflügen und in Langlaufloipen, zu Fuß, unterwegs auf zugefrorenen Seen und Flüssen, in Wald, Feld und Flur, mit Hund und ohne. Wir haben einen sehr großen Teil unseres Lebens damit verbracht, Wölfe in freier Wildbahn über längere Zeiträume hinweg zu beobachten; auch in Europa. In Polen, der Slowakei, in Italien oder Spanien haben wir ihr Verhalten detailliert erforscht und zahlreiche verblüffende Begegnungen erlebt. Manchmal waren wir draußen in der Natur sogar ganz allein unterwegs, oft auch mit unseren Hunden. Dann haben sich Mensch, Wolf und Hund eine Zeit lang aus der Distanz gegenseitig gemustert. Mehr war nicht – kein einziges Mal.
Außerdem haben wir ausführlich mit Einzelpersonen oder Familien gesprochen, die in Wolfsgebieten leben. Wir haben eigene Umfragen organisiert und mit Nutztierhaltern diskutiert, die durch Wolfsrisse herbe Verluste erleiden mussten, bevor sie lernten, ihre Tiere so zu schützen, dass diesen möglichst nichts geschieht. Dabei haben wir gegenüber jedem einzelnen Gesprächspartner stets ehrlich zugegeben, dasss wir bei manchem beobachteten Wolfsverhalten nicht die geringste Idee hatten, warum sich die Tiere in diesem Fall so verhielten, wie sie es taten.
Nichtsdestotrotz möchten wir in diesem Buch Ihnen – auch als Hundehalter – unsere unmittelbar erlebten Erfahrungen mit Wölfen weitergeben. Und live erlebt haben wir in all den Jahren draußen, an der Wolfsfront, so einiges. Insofern können wir Ihnen vielleicht dabei helfen, nicht nur zu lernen, wie Sie sich bei einer möglichen Wolfsbegegnung ganz konkret verhalten sollen, sondern auch, welch ein Geschenk die Wölfe für uns und unser Land sein können. Kurz und bündig: Wer sich ernsthaft mit diesen erfolgreichen Beutegreifern beschäftigt, wird erkennen, dass es sich einfach um eine faszinierende Tierart handelt!
Günther Bloch & Elli H. Radinger
© Tobias Bürger
Ende des letzten Jahrtausends machte sich imdeutsch-polnischen Grenzgebiet ein junger Wolfbereit, die Neiße zu durchschwimmen und damit, ohne es zu ahnen, Naturgeschichte zu schreiben. Der Wolf blickte sich vorsichtig um. Er war müde. Schon seit Herbst war er aus Polen unterwegs, immer nach Westen, einem Instinkt folgend. Seine Familie war zu groß geworden, die Fähen alle mit ihm verwandt. So musste er sein Heimatrevier verlassen. Auf seiner Wanderung ernährte er sich von Hasen, Rehen und gelegentlich auch von einem fetten Biber, der zu beschäftigt damit war, einen Baum anzunagen, statt über seine Schulter zu schauen. Er hatte von seinen Eltern gelernt, wie man sich anschleicht und wie man am besten ein Beutetier schlägt, aber ihm fehlte noch viel Erfahrung. Meist blieb er hungrig. Manchmal war er auf die Spuren fremder Wölfe gestoßen oder hatte ihr Heulen gehört. Dann war er schnell weitergelaufen. Er musste ein eigenes Revier finden und in Besitz nehmen. Spätestens in der Paarungszeit im Winter wollte er eine Familie gründen.
Der Wolf stand an der Neiße, die nach vielen Regenfällen stark angeschwollen war. Vorsichtig hatte er mehrmals zur anderen Seite des Ufers hin geheult und keine Antwort erhalten. Dort war er sicher. Langsam glitt er in das kalte Wasser. Sofort ergriff ihn die Strömung und trug ihn fort. Verzweifelt paddelte er und tauchte unter. Dann spürte er festen Boden unter den Pfoten und zog sich auf das mit dichtem Buschwerk bewachsene Ufer. Er schüttelte sich,dass die Tropfen aus dem Fell flogen. Mit einemletzten Blick zurück zum Fluss trabte er los undverschwand im Wald.
Wenige Wochen später, im Januar, wurde einepolnische Wölfin vom sehnsüchtigen Heulen desWolfes angelockt und folgte ihm. Im April hatten die beiden Nachwuchs. Sie ließen sich aufeinem Truppenübungsplatz in der Oberlausitz nieder, wo sie ungestört ihre Welpen großziehen konnten. Hundert Jahre nach ihrer Ausrottungwaren die Wölfe in die alte Heimat zurückgekehrt.
So oder so ähnlich könnte es sich abgespielt haben, als der Wolf nach Deutschland kam. Wir wissen nicht, an welcher Stelle er zum Einwanderer wurde. Was wir wissen, ist, dass er sehr lange unterwegs war und dass viele seiner Vorfahren, bei dem Versuch, in den Westen zu wandern, erschossen oder überfahren wurden. Zwischen 1945 und 1990 waren es mindestens 23 Wölfe.
Lange Zeit blieb die Einwanderung des „polnischen“ Wolfes ein gut gehütetes Geheimnis der Einheimischen. Er hatte sich mit dem Truppenübungsplatz ein ideales Revier erkoren. Es gab ausreichend Nahrung in Form von Reh-, Rot- und Schwarzwild, und der gelegentliche Militärlärm machte ihm und seiner Familie nichts aus. Doch das Wichtigste: Menschen war der Zugang zum Gelände verboten. Als die ersten Jungwölfe aus seiner sozialen Gruppe abwanderten, ließ es sich nicht mehr länger verbergen. Im Sommer 2001 kündigte das sächsische Umweltministerium offiziell die Rückkehr der Wölfe an.
Am 13. März 2002 nahm ich (Radinger) auf Einladung des sächsischen Umweltministeriums an der ersten deutschen Wolfskonferenz in der Muskauer Heide teil. Staatsminister Steffen Flath war sich mit allen anwesenden Biologen und Jagdverbänden einig, dass die Wölfe unbedingt geschützt werden müssen. „Sie sind ein Geschenk für Sachsen, ein Symbol für eine intakte Natur“, sagte er.
Dr. Michael Gruschwitz vom Sächsischen Staatsministerium für Umwelt und Landwirtschaft erklärte, er hoffe, dass die Wölfe Sachsen und die Oberlausitz touristisch noch attraktiver machen würden.
Die Bevölkerung in den umliegenden Dörfern schien keine Furcht vor dem großen Kaniden zu haben. Dass Wölfe irgendwo immer einmal auftauchten, war für sie nichts Besonderes.
„Wieso Angst?“, fragte der Besitzer des Gasthofes, in dem ich ein Zimmer hatte. „Die Wölfe waren schon immer hier. Die tun doch nichts.“ Ähnlich antworteten andere Bürger, die ich befragte. Die Menschen in der Nähe der polnischen Grenze lebten schon seit vielen Jahren mit Wölfen. Sie standen der Rückkehr der Beutegreifer positiv gegenüber. Auch der Landesjagdverband Sachsen und die örtliche Jägerschaft unterstützten deren Rückkehr, erwarteten aber auch, in die Planung und Arbeit mit einbezogen zu werden, denn „der Kern der Arbeit muss hier mit unseren Leuten in der Region gemacht werden“, so Prof. Braun von der Sächsischen Forstverwaltung.
Was die wissenschaftliche Forschung an den deutschen Wölfen angehe, so würde es, wenn es nach Dr. Gruschwitz ginge, keine geben. „Die Wölfe sollen durch die Forschung nicht beeinträchtigt werden“, bekräftigte er. „Es besteht kein Telemetriebedarf. Man weiß bereits alles, was man wissen muss. Die Tiere sollen in Ruhe gelassen werden.“
Der große Zoologe und bedauerlicherweise viel zu früh verstorbene Erik Zimen, der damals ebenfalls an der Konferenz teilnahm, sprach seine Hoffnung für die Wölfe weltweit aus: „Bis vor wenigen Jahren noch waren Wölfe in vielen Gebieten vom Aussterben bedroht. Jetzt kommen sie überall massiv zurück. Dies ist meines Erachtens ein Zeichen dafür, dass sich in den Köpfen der Menschen etwas geändert hat, dass ein Umdenken in Sachen Natur- und Artenschutz stattfindet.“
Dieser Auffassung waren auch die anderen Teilnehmer der ersten deutschen Wolfskonferenz. Als wir bei der abschließenden Besichtigung des Truppenübungsplatzes Wolfsspuren im Sand fanden, konnten wir uns mit eigenen Augen von der Anwesenheit der grauen Vierbeiner überzeugen: 1,22 Meter Schrittlänge, Pfotenabdruck acht Zentimeter lang (ohne Krallen) und sieben Zentimeter breit. „Ein jüngeres Tier, das etwa dreißig Kilo wiegt“, so die Biologin Gesa Kluth.
Vielleicht „unser“ polnischer Wolf?
Nur zwei Jahre später holte die Realität die Vorstellung vom „unberührten Wolfsland Deutschland“ ein. 2003/2004 erhielt die erste Wölfin der Wolfsfamilie auf dem Militärgelände („Neustädter-Rudel“) nun doch ein Sendehalsband. Warum? Sollten die Tiere nicht in Ruhe gelassen werden? Wir wissen nicht, warum sich die Verantwortlichen anders entschieden haben. Stattdessen startete nun die ganze Managementmaschinerie. Heute gibt es Dutzende Wolfsmanagementpläne, Hunderte Wolfsbetreuer und -berater, Förderungsmaßnahmen für Herdenschutz, Entschädigungsfonds sowie mehrere landeseigene Wolfsbüros. Und die Wölfe wandern weiter. Sie haben sich bis nach Ostfriesland vorgewagt, ein Wolf hat es zwischenzeitlich bis in die Niederlande geschafft. Einzelne sind nach Dänemark gewandert und haben auch Randbereiche von Nordrhein-Westfalen, Hessen, Rheinland-Pfalz und Bayern erreicht.
Es ist nicht mehr zu übersehen: Der Wolf ist da. Die großen Kaniden sind faktisch unsere neuen Nachbarn geworden, so wie Fuchs und neuerdings vereinzelt sogar der Goldschakal. Doch nicht jeder heißt sie willkommen. Das war auch nicht zu erwarten, denn in Gebieten, in denen lange Zeit keine Wölfe mehr gelebt haben, überwiegt oft die Skepsis.
© Sebastian Hennigs
Wolfsspuren in Deutschland – ein (noch) seltener Anblick.
Die Heimkehr der Wölfe spaltet die Bevölkerung. So ist dies zumindest zu lesen. Die einen freuen sich demnach über die biologische Vielfalt, für viele Nutztierhalter und für manchen Jäger sind sie ein Fluch. Den meisten Deutschen ist der Wolf, realistisch betrachtet, wohl eher egal. Für viele Wolfsgegner ist die Geschichte unseres polnischen Wolfes jedoch eine Lüge. Böse Zungen behaupten sogar, dass der Wolf gar nicht eigenständig ins Land gekommen, sondern quasi als „Illegaler von Wolfsverrückten eingeschleust worden“ sei, heimlich und von der Öffentlichkeit vollkommen unerkannt. Der Hintergedanke derartig abstruser Theorien scheint zu sein, den derzeit noch bestehenden strengen Artenschutz der Wölfe so weit wie möglich auszuhebeln.
Immer wieder wird in Teilen der Medien von den „wiederangesiedelten“ Wölfen gesprochen. Dieser Begriff ist nicht korrekt, denn wir haben in Deutschland keine Wiederansiedlung von Wölfen erlebt, sondern ganz klar eine natürliche Rückwanderung. Bei einer Wiederansiedlung wird eine bedrohte Tierart, die vorher nicht (mehr) in diesem Gebiet gelebt hat, von Menschen zurückgebracht. So wurden beispielsweise im amerikanischen Yellowstone-Nationalpark in den neunziger Jahren Wölfe angesiedelt, die man einer wilden Timberwolfpopulation in Kanada entnahm. In Deutschland jedoch kommen die Wölfe auf eigenen Pfoten ins Land zurück, das bedeutet, dass wir eine Rekolonisierung haben. Unser polnischer Wolf marschierte ungestört allein nach Sachsen.
Auf Seiten der Wolfsgegner ist man davon jedoch nicht überzeugt. Irgendwelche handfesten Beweise für diese, aus der Luft gegriffenen, Thesen hat zwar niemand, dennoch tauchen zahlreiche Verschwörungstheorien immer wieder mit regelmäßiger Häufigkeit auf. Wir nennen hier nur die Aktuellsten:
Eine häufig zu hörende Verschwörungstheorie der Wolfsgegner ist die der sogenannten „Kofferraumwölfe“: Weil Naturschützer der Wolfspopulation nachhelfen wollen, würden Wölfe mit LKWs aus Polen und Weißrussland nach Deutschland importiert und dort ausgesetzt. So berichtet beispielsweise die Zeitschrift JÄGER in ihrer Ausgabe 2/2014, dass ein Bundespolizist der Redaktion gegenüber die Meldung eines gestoppten Transporters mit lebenden Wölfen an der polnischen Grenze bestätigt hätte. Auf Anfrage des Sächsischen Wolfsmanagements wollten die Bundespolizei Berlin/Brandenburg sowie die Polizeidirektion Görlitz solche Vorkommnisse allerdings ganz und gar nicht bestätigen. Die Pressestelle der Polizeidirektion Berlin erklärte am 27. Januar 2014 in einer offiziellen Stellungnahme:
Bundespolizei-Bericht: Die Geschichte vom Wolfstransporter – alles nur Wolfsgeheul!
Berlin (ots) – Jeder, der mit den Märchen der Gebrüder Grimm groß geworden ist, kennt sie, die Geschichten vom großen, bösen Wolf. Nun macht ein neues Wolfsgerücht die Runde: Ein polnischer Kleintransporter hätte Wölfe und Luchse über die Grenze nach Deutschland gebracht.
Die aktuelle Ausgabe einer JÄGER-Zeitschrift verbreitet unter dem Titelthema „Das Märchen über den Wilden Wolf“ nach Auffassung der Bundespolizei tatsächlich ein neues Märchen. Entgegen dem in der Zeitschrift behaupteten „Tatsachenbericht eines Bundespolizisten, der bestätigt, dass ein LKW an der deutsch-polnischen Grenze gestoppt wurde, der auf der Ladefläche mehrere Luchse und Wölfe hatte“, hat die Bundespolizeidirektion Berlin keinerlei Hinweise auf eine solche Feststellung. Einen solchen Fall hat es nicht gegeben!
Bereits Mitte Dezember machte diese Geschichte über Isegrim ihre Runde, doch entsprechende Prüfungen ergaben, dass an diesen Gerüchten nichts dran ist. Allerdings gab es Anfang November den Fall, dass Bundespolizisten auf einem weißen VW T4 unter anderem einen „Steppenwolf“ sichergestellt hatten. Dabei handelte es sich jedoch nicht um einen nordamerikanischen Kojoten, sondern um ein Rad des gleichnamigen Fahrradherstellers. Es war eines von 14 Fahrrädern, die als Hehler-Ware nach Osteuropa gebracht werden sollten. Ob der Verfasser des Berichts über Canis lupus in der aktuellen JÄGER-Zeitschrift hier gegebenenfalls einem Irrtum aufgesessen ist oder den erfolgreichen Song „Born to Be Wild“ der gleichnamigen Hard-Rock-Band „Steppenwolf“ im Ohr hatte, ist hier nicht bekannt. Es könnte aber auch sein, dass in Anlehnung an die Hauptfigur des Romans „Der Steppenwolf“ von Hermann Hesse bei dem angeblichen hinweisgebenden und zudem unbekannten Bundespolizisten ein tiefes, seelisches Leiden vorliegt und er die Versöhnung seiner zerrissenen Seiten im Humor suchte. 1
Auch wenn diese Story längst unmissverständlich wiederholt als Märchen bestätigt ist, so muss sie doch immer wieder herhalten, wenn es um die Frage nach der Herkunft deutscher Wölfe geht.
Alle unsere deutschen Wölfe sind auf natürliche Art ins Land gewandert aus verschiedenen Wolfspopulationen in Italien, Frankreich und der Schweiz (Canis lupus italicus) sowie hauptsächlich aus Osteuropa (Canis lupus lupus). Sie sind echte Europäer. Dies bestätigte auch das Forschungsinstitut Senckenberg in Gelnhausen, das als Referenzzentrum für Wolfsgenetik DNA-Proben von toten Wölfen, aber auch von Wolfskot untersucht.
Die Quellpopulation für die deutsch-westpolnische Population ist anscheinend das baltische Wolfsvorkommen in Nord-Ost-Polen. Der „deutsche“ Wolf, den es so gar nicht gibt, hat sich seit der ersten nachgewiesenen Reproduktion im Jahr 2000 von der Sächsischen und Brandenburgischen Lausitz ausgehend über Deutschland ausgebreitet. Sein italienisches Pendant ist, aus den Alpen kommend, auch auf dem Vormarsch nach Deutschland.
© Michael Mayer
Alle deutschen Wölfe sind echte Europäer. Die Vorfahren dieses Wolfs stammen von der polnischen Wolfspopulation ab.
Diese Theorie behauptet, dass in Polen und Russland reihenweise Wölfe mit Hunden gepaart und die Mischlinge nach Deutschland transportiert würden, unsere deutschen Wölfe also im Grunde nicht „echt“ seien und daher nicht unter Artenschutz stünden. Auch diese Behauptung wurde vom Forschungsinstitut Senckenberg widerlegt. Neben der Untersuchung von Verwandtschaftsbeziehungen kann über Genanalysen auch die Reinrassigkeit von Wölfen überprüft werden. In mehr als 800 DNA-Proben von toten Wölfen oder von Wolfskot konnte kein einziger Wolf-Hund-Hybride nachgewiesen werden. Es zeigte sich, dass nach dem in der Öffentlichkeit bekannt gewordenen Fall einer einzigen tatsächlich stattgefundenen und belegten Hybridisierung in den Anfangsjahren der Wolfsbesiedlung keine weiteren wild lebenden Wolf-Hund-Hybriden mehr in Deutschland auftraten. (Mehr zum Institut und seiner Arbeit im Kapitel „Soko Wolf“)
Als wir Anfang der 90er Jahre nach einem Ort suchten, um wild lebende Wölfe zu beobachten, war der Wolf in Deutschland noch ein Randthema. Offiziell gab es nur einige wenige Sichtungen in Ostdeutschland, das wir regelmäßig besuchten und dort mit Ortskundigen nach Spuren und Wolfskot suchten. 1992 machte ich (Bloch) unter der wissenschaftlichen Leitung des Biologen Dr. Henryk Okarma ein vierwöchiges Freilandpraktikum in dessen Wolfs- und Luchsprojekt im ostpolnischen Białowieża-Nationalpark. Dort lernten wir das Fallenstellen und Besendern von Beutegreifern, praktische Telemetriearbeit und genaue Spurenanalysen. Da sich jedoch direkte Verhaltensbeobachtungen an Wölfen als äußerst schwierig erwiesen, gingen wir in die USA (Radinger) beziehungsweise nach Kanada (Bloch) und beobachteten sie dort tagtäglich. Weil viele Freunde und Mitglieder unserer Gesellschaft zum Schutz der Wölfe e. V. auch einmal wilde Wölfe in deren natürlicher Umgebung erleben wollten, organisierten wir Reisen zur Wolfsbeobachtung nach Minnesota und Yellowstone in den USA sowie nach Banff und Jasper in Kanada. Heute gehören Wolfsreisen auch in einigen deutschen Bundesländern zum touristischen Angebot. Es ist eine erstaunliche Entwicklung. Obwohl nach dem Artenschutzbericht des Bundesamtes für Naturschutz ein Drittel der in Deutschland vorkommenden Tier- und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht sind, ist die Rückkehr von Wolf, Bär und Luchs eine bemerkenswerte Erfolgsgeschichte. Diese großen Beutegreifer haben uns gezeigt, dass sie keine unberührte Wildnisbrauchen, sondern lediglich Orte, an denensie in der Nähe des Menschen einigermaßen ungestört leben können. Und die scheint es trotz urbaner Entwicklung hier und dort in der Tat zu geben.
„Wölfe ja, aber nur in Nationalparks oder irgendwo hinter Zäunen, wo sie niemandem in die Quere kommen“, hören wir oft. Was in Amerika funktioniert (Beispiel: der 9 000 km² große Yellowstone-Nationalpark), klappt im an Wildnisgebieten armen Europa nicht. Wollten wir Wölfe beispielsweise nur im Nationalpark Bayerischer Wald zulassen, kämen wir schnell an unsere Grenzen. Ihr natürlicher Expansionsdrang und die Größen unserer Schutzgebiete passen nicht zueinander. Deutsche Schutzgebiete sind als Lebensraum für Wolfsfamilien viel zu klein. Und niemand käme auf die Idee, den Nationalpark Bayerischer Wald mit einem Zaun eingrenzen zu wollen. Die Idee, Wölfe nur in bestimmten Gebieten zu erlauben, ist ebenso absurd wie illusorisch. Wir werden also nicht umhin kommen, mit dem Wolf in unserer Nähe zu leben. Als bestens angepasste Kulturfolger haben die Kaniden selbst auch kein Problem damit. Sie sind der Nachbar, den meist niemand sieht. Das belegen Tausende Beispiele etwa aus Italien, Spanien oder auch Rumänien.
© NABU/ Jürgen Borris
Wolf in der Lüneburger Heide auf dem Truppenübungsplatz Munster Nord.
Was sind das für Menschen, die sich mit Wölfen beschäftigen oder deren Leben von dem Beutegreifer tangiert wird?