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Über uns die Sterne und vor uns das Meer: Der Romantik-Sammelband »Der Zauber der Insel« von Christine Lehmann jetzt als eBook bei dotbooks. Drei Frauen, die an der Ostsee nach einem Neuanfang suchen – drei berührende Romane voller Glücksmomente und sanftem Meeresrauschen … Als Alena auf der Überfahrt nach Rügen ein Mädchen trifft, das mithilfe eines alten Schmuckstücks seinen unbekannten Vater finden will, ahnt Alena noch nicht, dass ihre Wege von nun an untrennbar miteinander verbunden sein werden … In ein bewegendes Inselabenteuer wird auch die Journalistin Karoline verwickelt, die auf Hiddensee einen Artikel über den geheimnisvollen Fotografen Thomas Reuter schreiben soll. Hat das Schicksal sie womöglich genau zur rechten Zeit an diesen Ort geführt? Das fragt sich auch Jasmin, die bei einer Traumhochzeit im Grand Hotel an der Ostsee nicht nur auf den Mann trifft, der ihr vor vielen Jahren das Herz gebrochen hat, sondern auch auf ein Geheimnis, das der Schlüssel für ihre Zukunft sein könnte … Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Ostsee-Sammelband »Der Zauber der Insel« von Christine Lehmann verspricht bewegende Lesestunden mit den drei Urlaubsroman-Highlights: »Die Strandträumerin«, »Die Inselträumerin« und »Das Grand Hotel an der Ostsee«. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 1297
Über dieses Buch:
Drei Frauen, die an der Ostsee nach einem Neuanfang suchen – drei berührende Romane voller Glücksmomente und sanftem Meeresrauschen … Als Alena auf der Überfahrt nach Rügen ein Mädchen trifft, das mithilfe eines alten Schmuckstücks seinen unbekannten Vater finden will, ahnt Alena noch nicht, dass ihre Wege von nun an untrennbar miteinander verbunden sein werden … In ein bewegendes Inselabenteuer wird auch die Journalistin Karoline verwickelt, die auf Hiddensee einen Artikel über den geheimnisvollen Fotografen Thomas Reuter schreiben soll. Hat das Schicksal sie womöglich genau zur rechten Zeit an diesen Ort geführt? Das fragt sich auch Jasmin, die bei einer Traumhochzeit im Grand Hotel an der Ostsee nicht nur auf den Mann trifft, der ihr vor vielen Jahren das Herz gebrochen hat, sondern auch auf ein Geheimnis, das der Schlüssel für ihre Zukunft sein könnte …
Über die Autorin:
Christine Lehmann, geboren 1958 in Genf, wuchs in Stuttgart auf. Heute pendelt sie zwischen ihrer Heimatstadt und Wangen im Allgäu. Christine Lehmann ist Nachrichtenredakteurin beim SWR und schreibt seit vielen Jahren erfolgreich in den verschiedensten Genres – von Krimis und historischen Romanen über Jugendbücher bis zu romantischen Liebesgeschichten. Außerdem arbeitet Sie an verschiedenen Sachbüchern und Hörspielen.
Mehr Informationen über Christine Lehmann finden sich auf ihrer Website: www.christine-lehmann.blogspot.de
Christine Lehmann veröffentlichte bei dotbooks auch den Hundekrimi »Eiskalte Fährte« sowie die folgenden Romane:
»Der Zauber einer Inselnacht«
»Die Liebesträumerin«
»Das Geheimnis des Rabenhofs«
»Der Winterwanderer«
Unter ihrem Pseudonym Madeleine Harstall erschienen bei dotbooks ihre Romane »Die Töchter der Heidevilla« und »Die Brückenbauerin«.
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Sammelband-Originalausgabe August 2021
Copyright © der Sammelband-Originalausgabe 2021 dotbooks GmbH, München
Eine Übersicht über die Copyrights der einzelnen Romane finden Sie am Ende dieses eBooks.
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock / DR pics / Olha Rohulya / Drepictor / Oksana2010 / kzww / Maks Narodenko / OoddySmile Studio / OlgaOvcharenko
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)
ISBN 978-3-96655-682-8
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Christine Lehmann
Der Zauber der Insel
Drei Romane in einem eBook
dotbooks.
Werden unsere Wege vom Schicksal geleitet? Als Alena auf dem Weg nach Rügen ein zehnjähriges Mädchen trifft, ahnt sie nicht, wie dies ihr Leben verändern wird: Luisa ist auf der Suche nach ihrem Vater, den sie nie kennengelernt hat; ihre einzigen Hinweise sind ein altes Schmuckstück und ein paar Papiere. Alena beschließt, der Kleinen zu helfen. So lernt sie den ebenso rätselhaften wie faszinierenden Lennart kennen – und verliebt sich Hals über Kopf. Dann aber erfährt sie, dass er ein Geheimnis hat. Ein dunkles Geheimnis. Und dies hat mehr mit ihr zu tun, als sie je für möglich gehalten hätte …
Luisa nagte an ihrem Bleistift. »Worauf ich mich in den Ferien besonders freue«, hatte Frau Brucker an die Tafel geschrieben. Die Erwachsenen dachten immer an Urlaub, wenn es in Hamburg regnete, an Sonne und Meer. Aber das brauchte Luisa alles nicht. Sie senkte den Kopf und schrieb: »Ich werde meinen Fater kennenlernen.« Sie stutzte. Der Satz sah seltsam aus. Luisa malte abwechselnd die Wörter »Vater« und »Fater« auf den Heftrand. Und wenn sie einfach Papa schrieb? Da konnte sie nichts falsch machen. »Ich werde meinen Pappa kennenlernen. Er ist ein berühmter Musiker und hat schon eine CD gemacht und lebt in Rügen.« Misstrauisch musterte Luisa ihren Text. Das Tückische war, dass sich die Fehler dort verbargen, wo man sie nicht vermutete. »Pappa wird mir helfen, dass ich aufs Gümnasium gehen kann, denn auf meine Mamma höhrt ja niemand, weil sie blos alleinerziehende Mutter und arbeitslos ist«, notierte sie grimmig. Dann suchte sie in ihrem Mäppchen den Radiergummi und radierte alles wieder weg.
Das durfte sie nicht schreiben, denn es durfte niemand wissen, dass sie in den Sommerferien nach Rügen fahren würde, um ihren Vater zu suchen. Auch Mama nicht. Und den Aufsatz würde sie bestimmt wieder ihrer Mutter zur Unterschrift zeigen müssen, weil er so viele Fehler enthielt.
Luisa knabberte erneut am Bleistift. Ihr Blick wanderte missmutig über die Köpfe in den Bänken vor ihr. Lütfiye würde mit ihren Eltern in die Türkei fliegen. Vanessa würde nach Griechenland fahren und im Meer baden. Ihren Aufsatz würde Frau Brucker wieder vorlesen, wenn sie die Hefte zurückgab. Vanessas Vater war Lehrer. Sie würde im Herbst auf das Gymnasium in Bramfeld gehen, während Luisa hierbleiben musste, auf der Gesamtschule von Hamburg Steilshoop, wo man kein Abitur mehr machen konnte, weil die Oberstufe geschlossen worden war. Dabei konnte man auf dem Gymnasium in Bramfeld ein Instrument lernen und ganz viel Musik machen. Luisa wollte später mal Sängerin werden. Wie ihr Vater. Er hieß Lennart.
Das hätte Luisa eigentlich gar nicht wissen dürfen. Ihr Vater sei tot, hatte Mama erklärt. Und offenbar gehörte er zu den Vätern, über die Mütter nicht gerne sprachen. Nicht mal einen Namen hatte Mama genannt.
Doch eines Tages, als es draußen stürmte und goss und Mama nicht im Haus war, hatten Lütfiye und Luisa Modenschau gespielt und waren beim Wühlen in Mamas Schrank auf eine blaue Blechdose gestoßen, auf die gelbe Monde und Sterne gemalt waren. Luisa hatte sofort das richtige Wort dafür gefunden – »Mamas Erinnerungsdose«. Sie enthielt einen blonden Zopf mit blauen Bändern, eine Schachtel mit Milchzähnen, eine CD, zwei Büchlein, kaum größer als Scheckkarten, mit Jahreszahlen darauf, innen eng beschrieben, und Eintrittskarten aus dem Jahr 1992 für ein Konzert in Berlin. Die Gruppe schrieb sich B’Demons, und Luisa und Lütfiye rätselten eine Weile herum, wie man das wohl aussprach. Derselbe Name stand auch auf der CD, auf der drei Jungs zu sehen waren, ein langer, dünner mit elektrischer Gitarre, ein kleiner am Schlagzeug und ein schöner in der Mitte mit einer normalen Gitarre. Sie hießen Bob Badster, Tim Toyrand und Len Lost. Len trug weiße Skaterhosen und eine dunkelrote Lederjacke. Er hatte lange, rabenschwarze Haare und wunderbar helle Augen.
Der war ihr Vater, dessen war Luisa sich sicher, denn in der Dose fand sich außerdem ein speckiges kleines Automatenfoto mit seinem Gesicht, und hintendrauf stand: »Love, Lennart Gristow, 1994«
»Vielleicht ist es nur ein Autogramm«, hatte Lütfiye Luisas Erregung zu dämpfen versucht.
»Dafür nimmt man Autogrammpostkarten«, hatte Luisa widersprochen. »Und ein Jahr später bin ich geboren worden. Also ist Lennart mein Vater. Das ist logisch wie das große Einmaleins. Und diesen Kettenanhänger hat er Mama geschenkt.«
Ganz unten in der Dose hatte ein ziegelroter Stein gelegen, in dessen obere weiße Schicht ein Storch geschnitzt war. Er stand in einem Nest und hielt den Schnabel vor der Brust gesenkt, deren einzelne Federn Luisa mit ihren scharfen Kinderaugen mühelos erkennen konnte.
Die CD hatte leider nur klirrende Geräusche von sich gegeben, als sie sie anhören wollten. Also legten Luisa und Lütfiye sie in die Dose zurück, so wie alles andere auch, und taten diese wieder dorthin, wo sie sie gefunden hatten. Erst danach bemerkte Luisa, dass sie den kleinen Stein mit dem Storch noch in der Hand hielt, und steckte ihn in die Hosentasche, denn sie hörten schon, wie Mama den Schlüssel in der Haustür umdrehte.
Obwohl es nicht ganz richtig war, hatte Luisa den Stein auch später nicht zurückgetan, sondern behalten. Sie hütete ihn in ihrem Schatzkästchen, einer ausgedienten Schachtel für Hustenpastillen, zusammen mit einem rostigen Minischweizermesser, einem Ring mit rosafarbenem Glasstein und einem Gummidinosaurier.
Einmal hatte Luisa Mama erzählt, sie habe im Musikunterricht eine CD von einer Gruppe gehört, deren Sänger Len Lost heiße. Das war natürlich geschwindelt gewesen. Mama wurde aber gleich ziemlich böse. »So einen Schund nehmt ihr in Musik durch?«
»Dann kennst du den?«, hatte Luisa nachgehakt. »Hast du ihn kennengelernt, als du in Berlin gelebt hast?«
Mama hatte aufgelacht. »Typen wie den lernt man nicht einfach so in der Kneipe kennen. Die hatten Bodyguards wegen der vielen Fans. Mit solchen Leuten haben wir nichts zu tun, Luisa! Diesen Len, dass du es nur weißt, den hat man sogar wegen Mordes angeklagt! Man hat ihm aber nichts beweisen können, und deshalb läuft er immer noch frei herum.«
Dann lebt Papa also doch noch, dachte Luisa aufgeregt, sagte es aber zum Glück nicht.
Und glücklicherweise hatte Mama derzeit fast nur Augen für ihren neuen Freund Ronaldo und seine Harley. Ronaldo war Halbitaliener und plante eine Sommertour mit dem Bike nach Neapel. Zu gerne wäre Mama mitgefahren, wenn sie nur gewusst hätte, was sie so lange mit Luisa machen sollte.
Luisa hatte ihre Chance sofort erkannt. Mama musste mit Ronaldo nach Italien fahren, damit sie, Luisa, in Ruhe ihren Vater suchen konnte. Inzwischen hatte sie sogar seine Adresse. Sie hatte sie zusammen mit Dirk herausgefunden. Dirk besaß einen Computer. Sie hatten den Namen Lennart Gristow ins Telefonbuch eingegeben, und da war er mit einer Adresse in Gager auf Rügen erschienen.
Luisa wusste, dass Erwachsene ein zehnjähriges Mädchen, das noch in die vierte Klasse ging, niemals alleine so weit wegfahren lassen würden. Also hatte sie in der Klasse herumgefragt, ob jemand auf Rügen Urlaub mache, aber niemanden gefunden. Lütfiye hatte immerhin den Prospekt eines Ferienhofs Sonnenschein mitgebracht, auf dem ihr Bruder mal gewesen war. Da gab es ein Zeltlager für Kinder und Pferde und Töpferkurse, und die Eltern mussten nicht mit dabei sein.
»Lütfiye fährt auch da hin«, hatte Luisa ihrer Mutter vorgelogen und behauptet, Lütfiyes Vater werde sie im Auto hinbringen. »Dann kostet es nichts.«
»Und die Freizeit, was kostet die?«
Auf diese Frage war Luisa zwar nicht vorbereitet gewesen, denn sie war nie weiter als bis zum Hamburger Hafen gekommen, aber sie hatte improvisiert. »Nichts. Das zahlt die Schule. Die ganzen sechs Wochen. Da konnten wir Lose ziehen, wer dahin darf, und ich habe gewonnen. Lütfiye auch. Frag Frau Brucker, wenn du mir nicht glaubst.«
»Ich glaube dir doch, mein Schatz«, hatte Mama weich und glücklich erwidert, weil sie nun mit Ronaldo auf seiner Harley nach Italien fahren konnte. »Das freut mich für dich.«
Mama würde niemals Frau Brucker anrufen, um zu fragen, ob das mit der Freizeit stimme. Mama hasste die Klassenlehrerin. »Ich lasse mich doch nicht als asozial beschimpfen!«, hatte sie erst kürzlich wieder getobt, nachdem sie zur Elternsprechstunde in der Schule gewesen war. Mama regte sich immer leicht auf. Das Leben war sehr schwer für sie.
Dabei war alles ganz einfach, fand Luisa. Manchmal kam es ihr so vor, als wäre sie als Baby vertauscht worden und würde eigentlich ganz woanders hingehören.
Alena liebte den Hamburger Hauptbahnhof mit seiner flach gewölbten Stahlhalle und den Emporen an beiden Enden, von denen man auf die ein- und ausfahrenden Züge hinunterblicken konnte wie auf eine Modelleisenbahnanlage.
Sie lieferte ihr Fahrrad ab und schlenderte den silberfarbenen IC entlang zu ihrem Waggon. An den Türen drängelten sich Leute mit Koffern. Es waren viele Menschen, die an diesem Freitag mit diesem Zug fahren wollten. Die Sommerferien hatten gerade begonnen, und außerdem hatte es einige Zugausfälle gegeben, vermutlich wegen des Dauerregens der letzten Tage. Irgendein Bahngleis war unterspült worden. Doch Alena hatte sich einen Sitz reservieren lassen, sie hatte Zeit.
Zum zweiten Mal fiel ihr das kleine Mädchen auf, das mit einer Fahrkarte in der Hand und einem orangeroten Rucksack auf dem Rücken zwischen den Koffern, Kofferkulis und Menschen Slalom lief. Es war vielleicht zehn Jahre alt. Die halblangen Jeans zeigten natürliche Verschleißerscheinungen, die Turnschuhe sahen aus wie aus der Wühlkiste des Supermarkts, das T-Shirt war an den Bündchen ausgeleiert. Und keine Mutter weit und breit, die es auf den Bahnsteig begleitete, an der Tür abküsste und dann vor einem der dunklen, spiegelnden Fenster stand und winkte.
»Na, wo willst du denn hin?«, fragte Alena.
»Nach Binz. Fährt der Zug nach Binz?«
Alena nickte.
Ein älteres Ehepaar wuchtete ihre drei Koffer in den Zug und kletterte hinterher. Alena ließ dem kleinen Mädchen den Vortritt. So wie es sich an die Fahrkarte klammerte, wirkte es nicht wie eines jener Vorstadtkinder, die jeden Tag in Züge stiegen.
Kaum im Waggon drin, stockte schon wieder alles. Das ältere Ehepaar blockierte den Gang. Wohin mit den Koffern?
»Ist das hier dein Wagen?«, erkundigte sich Alena bei dem Mädchen.
Die Kleine starrte sie ratlos an. Sie hatte kluge graublaue Augen, kaum Augenbrauen und mittelblonde Haare, die wie Schnittlauch auf ihre Schultern welkten. Eine Schönheit war sie nicht, aber das waren Mädchen in diesem Alter selten.
»Hast du einen Sitzplatz reserviert?«, verdeutlichte Alena ihre Frage.
Das Mädchen zuckte mit den mageren Schultern.
»Darf ich mal sehen?« Alena streckte ihre Hand nach dem Fahrschein aus, den das Kind ihr sofort vertrauensvoll überließ. Im selben Moment rammte jemand einen Rucksack in Alenas Rücken. Sie musste sich an der Rückenlehne eines der Sitze abstützen, um nicht auf die Kleine zu fallen. Dabei verhedderte sie sich mit den Fingern in der langen Mähne eines halbwüchsigen Mädchens, das sich gerade gesetzt hatte und fürchterlich fluchte. Alena entschuldigte sich. Die Kleine feixte. Auch noch schadenfroh, dachte Alena und sagte mit mehr Strenge als notwendig:
»Du bist im falschen Zug. Das hier ist der Intercity. Deiner wäre eine halbe Stunde früher gefahren, ein Regionalexpress.«
»Der ist aber nicht gefahren!«
Gut möglich, dachte Alena und ließ ihren Blick aus nussbraunen Augen durch den Großraumwagen schweifen. Überall Menschen. Sogar im Gang gab es kaum noch Platz. Einen Sitzplatz würde die Kleine hier nicht finden und woanders auch nicht. Alena stellte sich darauf ein, dass sie selbst stehen würde. »Na, dann komm mal mit«, sagte sie und begann, sich mit Ellbogen und vorsorglichen Entschuldigungen durch die Menschen zu drängen, die sich im Gang stauten, die einen, weil sie ihre Platznummer noch nicht gefunden hatten und zurückstrebten, die anderen, weil sie die Menschen, die sich auf ihrem Platz eingerichtet hatten, wieder vertreiben mussten, und wieder andere, weil sie es für aussichtslos hielten, weiter vorzudringen.
Alenas reservierter Platz am Fenster war noch frei. Auf dem Platz am Gang saß ein junger Mann, der sofort hochschreckte, als Alena mit gerunzelter Stirn ihren Fahrschein und die Nummern über den Sitzen musterte.
»Oh, sind das Ihre?«, erkundigte er sich mit resigniertem Blick auf das Kind an Alenas Seite und sprang auf. Alena gab sich keine gesteigerte Mühe, ihn über seinen Irrtum aufzuklären. Sie schickte das Mädchen zu ihrem Fensterplatz durch und hoffte, dass es ihr nicht in den nächsten Minuten so erging wie dem jungen Mann.
»Wie heißt du denn?«, fragte Alena, als sie Platz nahm.
»Luisa.«
»Ein schöner Name. Ich bin Alena.«
»Angenehm«, sagte Luisa so erwachsen, dass Alena sich ein Schmunzeln verbeißen musste. »Machen Sie auch Urlaub auf Rügen?«, fügte das Kind gestelzt hinzu.
»So könnte man es nennen«, antwortete Alena.
»Und wie nennt man es eigentlich?«
»Arbeit.«
»Sind Sie Kellnerin?«
»Gute Idee, du kennst dich aus«, bemerkte Alena. Das Kind strahlte über das unerwartete Lob. »Aber nein, Luisa, ich bin keine Kellnerin.«
Der Zug hatte sich inzwischen sachte in Bewegung gesetzt. Die Schilder, Bänke und Tafeln des Bahnsteigs glitten immer schneller an ihnen vorbei, die Halle blieb zurück. »Ich bin Fachwirtin für Public Relations.«
»Also doch Wirtin!«
»Ja, aber für Beziehungen, die eine Firma mit anderen Leuten hat. Ich bin fürs Reden zuständig, und zwar für eine Filmproduktionsfirma. Jetzt zum Beispiel reise ich nach Rügen und schaue mir die Orte an, wo ein Film gedreht werden soll. Ich rede mit den Leuten, ich frage herum, was es Besonderes gibt, und solche Sachen.«
»Und das kann man dann im Fernsehen sehen?«
»Ja, aber erst irgendwann im nächsten oder übernächsten Jahr, wenn der Film dann auch wirklich gedreht worden ist.«
»Ach so.« Luisa verlor bei diesen Zeiträumen etwas das Interesse. »Wir fahren ja schon.«
Masten und Leitungen schwirrten an ihnen vorbei. Der Zug wackelte und ratterte über die Weichen. Die breitgefächerten silbrigen Gleise schwangen eines nach dem anderen in die Strecke ein und lösten sich auf. Schließlich schossen sie auf einem einzigen Schienenstrang dahin. Wiesen breiteten sich behäbig zum Horizont aus. Vereinzelte Gehöfte zogen in der Ferne vorbei.
»Und was machst du auf Rügen?«, erkundigte sich Alena.
»Ich besuche meinen Vater.«
»Ah«, bemerkte Alena, die trotz ihrer fünfundzwanzig Jahre schon einige Trennungen, Scheidungen und Streitereien um Kinder mitbekommen hatte. »Du darfst die halben Sommerferien bei deinem Vater verbringen.«
»Nein, die ganzen, wenn ich will.« Das Kind sah sie mit einem so blanken Blick an, wie ihn nur Kinder noch hatten – klar, unverletzt und mutig. Kein Zaudern, keine Zweifel an dem, was vor ihm lag.
Schön, dachte Alena. »Dafür hast du aber ziemlich wenig Gepäck dabei«, sagte sie und deutete auf den kleinen orangeroten Rucksack zwischen Luisas Füßen.
»Ich werde doch bei meinem Vater wohnen.«
»Ja, schon, aber ein paar Klamotten brauchst du da auch.«
»Die kauft Papa mir. Er ist soooo reich.«
»Aha.«
»Er ist Sänger und voll berühmt!« In der Stimme des Mädchens schwang ein untergründiger Trotz mit.
Alena kannte sich mit Kindern in diesem Alter nicht aus. In der Filmproduktionsfirma war niemand älter als fünfunddreißig. Eine der Gestaltungsassistentinnen hatte kürzlich erst ein Kind bekommen, aber das steckte noch in den Windeln. Ansonsten verliebten sich zurzeit alle neu. Nur Alena nicht, die hatte sich gerade getrennt und damit mehr hinter sich gelassen als nur einen Mann.
Seit einem guten Jahr war sie jetzt bei Potemkin Film beschäftigt. Vorher hatte sie bei der Jukkboks ein Gastspiel gegeben, dem auflagenstärksten Popmagazin, denn während ihres Studiums von Fächern, mit denen man eigentlich nichts anfangen konnte – Musikgeschichte und Politologie –, hatte sie auf einem Konzert Marvin kennengelernt. Er war dort der Marketingmanager und für die Konzerte zuständig, an denen sich die Zeitschrift beteiligte. Er hatte alles darangesetzt, Alena einen Job als seine Assistentin zu verschaffen. Die Arbeit hatte Alena gefallen, das Klima von Neid und Karrierehektik ganz und gar nicht. Sie hatte es Mobbing genannt, Marvin hatte ihr Mangel an Stressresistenz vorgeworfen. Ihr erster großer Streit. Sie hatte den Verlag verlassen.
Alena schüttelte sich. Nicht an Marvin denken! Seit zwei Wochen war es endgültig aus. Auf immer und ganz.
Sie musste schmunzeln. »Auf immer und ganz« hatte Kristin immer gesagt, wenn sie sich etwas versprachen. Kristin, die große Schwester mit den Schwüren unter Tränen und den großartigen Versöhnungen. Leider hatte sie dem Falschen ewige Treue geschworen.
Um die blonde Mähne hatte Alena ihre fünf Jahre ältere Schwester immer beneidet. Ihre eigenen Haare waren dunkelbraun und glatt. Komisch, dass man nichts Besseres zu tun hatte, als die Schwester um etwas zu beneiden, was völlig unwichtig war. Vor allem im Rückblick. Große blaue Augen hatte Kristin gehabt, Mutters Augen. Alena dagegen hatte die braunen Augen des Vaters geerbt und seine zierliche Figur. »Du bist prosaisch wie vier Reihen Feldsalat«, hatte Kristin immer behauptet. Ihr Gelächter war ungeheuer ansteckend gewesen.
Inzwischen tat es nicht mehr so weh, wenn Alena an ihre Schwester dachte. Alles, was Kristin getan hatte, hatte sie ganz getan. Auf Gedeih und Verderb. Wenn sie zum Studium damals nicht nach Berlin gegangen wäre, sondern nach Hamburg, ob sie dann wohl heute noch leben würde? Vielleicht wäre sie dann nicht zu dem Konzert dieser Boygroup gegangen.
Alena dachte an die vielen Sommer, die sie beide im Haus ihrer Tante in Binz auf Rügen verbracht hatten – Sand zwischen den Zehen, nasse Schuhe, Sonnenbrand, Kopfsprünge vom Bootssteg in den See, Bernsteinsuchen am Strand. Glückliche Kinder. Und abends hatten sie flüsternd beraten, was wäre, wenn Papa und Mama nicht aus Amerika zurückkämen. Andere Eltern anderer Kinder waren auch im Westen geblieben. Papa hatte als Uniprofessor in Greifswald eine Operationsmethode am Herzen entwickelt und durfte reisen, musste sogar, um sie vorzustellen. Erst viel später, als die DDR schon lange nicht mehr existierte, hatte Alena verstanden, dass Kristin und sie das Pfand gewesen waren, damit ihre Eltern zurückkamen. Und so hatten sie als Kinder Sommer für Sommer bei Tante Trude auf Rügen verbracht.
Sobald eine Hochzeitskutsche durch Binz fuhr, waren Kristin und sie zu den Rädern gestürzt und hinterhergeradelt, glücklich, wenn es bis nach Göhren ging. Sie hatten die Räder an der Seebrücke in den Sand geworfen und waren den Strand unter der Steilküste des Nordperds entlanggelaufen, bis zu der Stelle, wo man dem Buskam am nächsten war, dem riesigen flachen Findling mitten im Wasser. Dann hatten sie sich in den Sand gehockt und zugeschaut, wie die Hochzeitsgesellschaft im schaukelnden Boot übersetzte und nach der Trauung den Schüttelbüx tanzte. Einer fiel immer ins Wasser.
Storchenstein hatte Kristin den Findling genannt. Er hatte sich vor Millionen Jahren von Bornholm herübergewälzt. Erst vor ein paar Tagen, fast zwanzig Jahre später, hatte Alena bei ihren Vorrecherchen für ihre Sondierungsreise nach Rügen verblüfft festgestellt, dass Kristin den Namen nicht frei erfunden hatte. Denn in der Tat nannte man den größten Findling Rügens auch Adebarstein, und der Volksmund sagte, dass die Störche die Babys aus der Ostsee pickten und dort zum Trocknen hinlegten, bevor sie sie zu den Müttern brachten. Allerdings hatten sie nie auch nur einen Storch auf dem Buskam gesehen.
Der Ruf des Zugbegleiters nach den Fahrscheinen holte Alena aus ihren Erinnerungen. Der Schaffner verlangte der Ordnung halber auch noch ihre Bahncard und runzelte dann die Stirn, als er Luisas Fahrschein abknipsen wollte.
»Das ist der falsche Zug, junge Dame. Da musst du nachlösen!«
»Wieso?«, fuhr Luisa kämpferisch auf.
»Weil das ein IC ist. Du hast aber für den Regionalexpress gelöst.«
»Der ist wohl ausgefallen«, griff Alena ein.
»Davon ist mir nichts bekannt«, entgegnete der Schaffner. »Gehört die junge Dame zu Ihnen?«
»Nein.«
Der Mann begann in seinen Handcomputer zu tippen. »Dann bekomme ich von dir noch ...«
»Ich habe aber kein Geld mehr«, hörte Alena die Kleine angstvoll flüstern. In dem ausgefransten Plastikgeldbeutel, den Luisa aus dem Rucksack kramte, klimperten nur ein paar Münzen.
»Dann musst du leider aussteigen«, sagte der Schaffner.
Die graublauen Augen des Kindes weiteten sich vor Schreck.
Alena zog ihren Geldbeutel aus der Tasche. »Was bekommen Sie genau?«
Es tat einen Schlag, und alle Sicherungen flogen raus. Lennart seufzte. Die Stromleitungen in dem alten Haus waren nicht mehr zu gebrauchen. Überall Kriechströme. Inzwischen haute es die Sicherungen schon raus, wenn er nur die Waschmaschine anstellte, ohne das Licht in der Küche auszumachen.
Lennart holte die Trittleiter aus der Speisekammer und trug sie in den Flur zum Sicherungskasten. Der war auch mindestem hundert Jahre alt und enthielt fünf Halterungen für Schmelzsicherungen aus Keramik. Waren sie einmal durchgebrannt, dann waren sie hinüber. Leider belief sich Lennarts Vorrat an Sicherungen nur noch auf eine. Nachschub bekam er nur im Baumarkt von Binz. Da konnte er dann auch gleich Zement kaufen und was ihm sonst noch so einfiel.
In den letzten acht Jahren, seit er das Gutshaus Gristow bewohnte, hatte Lennart sich zum Maurer, Tischler und Fliesenleger und schließlich zum Gipser und Malermeister entwickelt. Inzwischen war fast alles gemacht, bis auf die Elektrik.
Das Dach hatte die Großmutter noch kurz vor der Wende neu mit Rohr decken lassen, wie man auf Rügen zum Reet sagte. Dann war sie gestorben. Als Lennart sich vor acht Jahren hier verkroch, hatte es nicht einmal ein anständiges Badezimmer gegeben. Er hatte ganz von vorn angefangen, nicht undankbar, seine Tage mit handwerklicher Schwerstarbeit zu verbringen. Es hatte ihn vom Nachdenken abgehalten und ihm zu einer gewissen buddhistischen Gelassenheit verholfen.
Außerdem war es die einzige Methode gewesen, sich auf der Insel ein Heimatrecht zu verschaffen. Zwar lagen mindestens fünf Generationen von Gristows auf hiesigen Friedhöfen, und deshalb durfte Lennart sich mit Fug und Recht Rüganer nennen, aber gekommen war er als reicher Berliner Wessi, der ein Gutshaus in Besitz nahm, das er nie zuvor in seinem Leben gesehen hatte.
Lennart nahm den Autoschlüssel von der Kommode im Gang und warf im Vorbeigehen einen Blick in den Spiegel, der neben der Garderobe hing.
Silke hatte ihn ausgesucht und darauf bestanden, dass er ihn aufhängte, weil sie etwas haben wollte, vor dem sie sich drehen und den Sitz von Frisur und Hose überprüfen konnte, ehe sie das Haus verließ. Silke war zwar inzwischen auch schon wieder Vergangenheit – sein Leben bestand eigentlich nur aus Vergangenheit –, aber der Spiegel hing immer noch und war sogar nützlich. Andernfalls hätte Lennart das Haus so manches Mal mit Farbe im Gesicht und Gips in den Haaren verlassen.
Aber diesmal sah er manierlich aus. Aus dem Spiegel blickte ihn unter einem schwarzen Haarschopf und schwarzen Brauen hervor ein Paar graue Augen mit langen Wimpern an. Er mochte das Gesicht nicht besonders, denn mit dem Kontrast heller Augen und schwarzer Haare war es sein Schicksal geworden, hatte aus ihm Len Lost, den Harten, gemacht. Die Rollen waren streng verteilt gewesen bei den B’Demons. Tim hatte den Weichen gespielt, Bob den Schwulen. Alles nur nach außen hin, für die Fans.
Lennart lenkte seinen alten Mercedes Kombi durch das ehemalige Fischerdorf Gager. Die Sonne schien endlich wieder. Sämtliche Sommergäste hatten sich aufgemacht, die stille Halbinsel Mönchgut mit den Zicker’schen Bergen und dem Bakenberg mit seinen Ginsterheiden und Magertrockenrasen zu erkunden.
Bei Lobbe kam Lennart am Straßenrand ein kleines Mädchen entgegen. Es marschierte ganz allein tapferen Schrittes auf der Grasnarbe entlang. Im Rückspiegel sah er den orangeroten Rucksack in der Sonne leuchten. Ob die Kleine wusste, wo sie hinwollte, so ganz allein?
Im nächsten Augenblick hatte er das Mädchen vergessen. Er schlängelte sich durch die verkehrsberuhigten Straßen des altehrwürdigen Ostseebades Binz und fuhr auf den Parkplatz. Frohgemut zielte ein Mann auf die Türen des Baumarkts, gefolgt von zwei weniger interessierten Frauen – Mutter und Tochter –, die sich bei den Blumen im Eingang aufhielten. Der Blick der Tochter verweilte auf Lennart. Sie lächelte versonnen. Das war nichts Neues für ihn. Ein Glück nur, dass sie ihn nicht erkannte. Dazu war sie zu jung.
Die B’Demons waren wie eine Sternschnuppe über den Himmel der Musikbranche geschossen und vor genau zehn Jahren verloschen. Heute waren die Groupies an die dreißig, die sich damals in den Sälen die Seele aus dem Leib gekreischt hatten, ohnmächtig geworden waren, sie mit Kuscheltieren beworfen und vor jeder Tür, aus der sie traten, gelauert hatten. Einzelne hatte er nach dem Konzert backstage wiedergefunden und mit auf sein Zimmer genommen. Oder sie hatten schon nackt in seinem Hotelbett gelegen. Die meisten waren noch Jungfrauen gewesen, und manche hatten es ohne Gummi mit ihm machen wollen und gehofft, dass sie schwanger würden. Er hatte keiner gesagt, dass sie vergebens hoffte, weil er nach einem Sturz von der Bühne zeugungsunfähig war. Damals war ihm das wie ein Segen vorgekommen, wie eine glückliche Fügung des Schicksals, die es ihm erlaubte, alles mitzunehmen, was sich ihm bot.
Nach fünf Jahren hatten die B’Demons elf Millionen CDs verkauft und waren mit einem Knall verglüht, vor allem er, Len Lost, der Harte. Ihn hatte man ins Fegefeuer geworfen. Die Presse hatte ihn zum Mörder gestempelt, ehe der Prozess überhaupt stattfand, und nach seinem Freispruch gejagt und zerfetzt.
Wenn Lennart heute eines absolut sicher wusste, dann dies, dass er nie wieder auf einer Bühne stehen würde, nie wieder Cashcow der großen Musikproduzenten, nie wieder Hysterie mit Kuscheltieren. Weder Hype noch Erfolg, sondern nur noch Stille suchte er mit seinen fünfunddreißig Jahren, einem Alter, in dem andere Menschen zum ersten Mal in ihrem Leben das große Geld witterten.
Wenn er sonntags in der evangelischen Kirche von Binz die Orgel spielte, dann genoss er es, dass ihn niemand sah. Niemand wollte wirklich wissen, wer der Organist war, der den schleppenden Gesang der Gemeinde vorantrieb und im Sommer den ungeübten Touristen die Melodien vorgab.
Mit drei Säcken Zement, einem Dutzend Vierkanthölzern, drei Schachteln Schrauben, Sandpapier für den Schwingschleifer, zwanzig Meter Kabel und zwei Dutzend Keramiksicherungen auf der Ladefläche seines Kombis kehrte Lennart nach Gager zurück. Die Rohrdachhäuser scharten sich locker verstreut den Hang hinab um einen Hafen mit Anleger für ein Fährschiff, hölzernen Fischerhäuschen und einer Bootswerft. Lennart ließ seinen Wagen auf dem Parkplatz am Campingplatz stehen und eilte die Kaimauer entlang. Amperemeter und Werkzeugkasten für die Elektrik hatte er in der Papageno, seinem Segelboot. Bevor er im Gutshaus wieder Wäsche waschen konnte, musste er den Fehler in der Elektrik gefunden haben.
Einen Moment hielt er inne, um den Blick über die Schilfküste, die Wiesen und Wälder der Hagen’schen Wiek schweifen zu lassen. Auf der anderen Seite der blauen Bucht die Nehrung von Alt Reddewitz, dahinter der dichte dunkle Wald der Granitz.
Am Fischverkauf fiel ihm das kleine Mädchen mit dem orangeroten Rucksack wieder auf. Es zählte sein Geld in einem offensichtlich weitgehend leeren Geldbeutel und schüttelte dann den Kopf. Rieke Dörhagen reichte ihm trotzdem ein Stück Räucherhering über die Theke. Dabei schaute Rieke hoch und deutete auf ihn. Das Kind drehte sich um und sah ihn, mit vollen Backen kauend, aus großen graublauen Augen an.
Lennart drehte auf dem Absatz um und floh zu seinem Wagen. Albern, zumal die Kleine ihn nicht kennen konnte. Sie war vermutlich noch nicht einmal auf der Welt gewesen, als die Jagd auf ihn begann. Aber Lennart konnte es nicht ändern. Er war zu viele Jahre geflüchtet, zuerst vor Autogrammjägerinnen, dann vor den Paparazzi und schließlich vor Menschen, die ihm nur auflauerten, um ihn zu beschimpfen und mit Gegenständen zu bewerfen. Vor allem nach seinem Freispruch.
Langsam lenkte er seinen dunkelblauen Kombi durch den Ort. Im Sommer herrschte Ausnahmezustand auf den Straßen der Halbinsel Mönchgut. Sommerurlauber kannten keine Verkehrsregeln. Sie stolperten von links nach rechts und fuhren Schlangenlinien mit ihren Fahrrädern oder blieben mitten auf der Straße stehen, um sich Schnürsenkel zu binden. Aber Lennart mochte die Sommergäste mit ihrer arglosen Neugierde und ihrem sich hart erarbeiteten Wunsch nach einer leisen, lichten Welt, in der man nicht ständig aufpassen musste, dass man nicht überfahren wurde.
Lästig war nur, dass derzeit immer öfter Makler bei ihm klingelten und sich erkundigten, ob er das Gut Gristow verkaufen wolle, damit sie daraus ein Ferienhaus machen konnten.
Das bald hundertfünfzig Jahre alte Gutshaus stand hinter Bäumen am Hang der Zicker’schen Alpen, jenes Bergzuges von schwindelerregenden sechsundsechzig Metern Höhe, von dem aus man die gesamte Hagen’sche Wiek überblicken konnte. Das Haupthaus war aus roten Ziegeln errichtet und mit Rohr gedeckt. Zum Komplex gehörten ein alter Pferdestall, eine Scheune und eine Remise, die den kopfsteingepflasterten Hof umschlossen. Auf der dritten Seite wurde der Hof von einer Mauer begrenzt, deren Abschluss ein kleiner Rundturm bildete, in dem einst ein Leuchtfeuer den Seefahrern den Weg gewiesen hatte. Ein Kuriosum, das ebenfalls immer wieder Touristen nach Gristow lockte.
Lennart fuhr mit dem Wagen in die Scheune und begann, die Zementsäcke auszuladen und in den Stall zu tragen, wo er Schubkarren, Schaufeln, Äxte, Sägen und Vorschlaghämmer aufbewahrte. Kater Murr saß auf dem Holzstapel neben der Haustür und schaute grünäugig zu. Als Lennart wieder auf den Hof trat, stand neben dem Türmchen am Hofeingang das Mädchen mit dem orangeroten Rucksack.
Lennart gab den Insulaner, zog schweigend die Vierkanthölzer von der Ladefläche und trug sie über den Hof in den alten Pferdestall, verfolgt diesmal von Kater Murrs grünen und des Mädchens graublauen Augen.
»Hallo«, sagte Lennart, als er die nächsten vier Stangen packte.
»Hallo«, erwiderte das Mädchen. »Ich bin die Luisa.«
»Freut mich.«
»Kennst du mich denn nicht? Ich bin deine Tochter.«
Die Behauptung war so dreist, dass Lennart erneut schweigend die Latten aus dem Auto zog. Er lehnte sie sorgfältig gegen die Mauer am Schuppen und wandte sich dann erst wieder dem Mädchen zu. »Das kann nicht sein, Luisa«, sagte er. »Ich habe keine Kinder.«
»Doch, mich!«
»Das müsste ich doch aber wissen, meinst du nicht?« Lennart zog die letzten Stangen von der Ladefläche und schloss die Rückklappe des Wagens. Er hatte schon viele absonderliche Methoden erlebt, sich an ihn heranzumachen, aber das war entschieden die originellste.
»Ich bin gekommen, um dich kennenzulernen«, erklärte ihm Luisa geduldig.
»Und wer schickt dich?«, fragte Lennart. »Deine Mutter? Was will sie? Geld? Du kannst ihr ausrichten, wenn sie Geld will, dann soll sie mich auf Vaterschaft verklagen. Aber wie dieser Prozess ausgeht, kann ich dir auch jetzt schon sagen.«
Luisa blickte ihn aus großen Augen an.
Lennart atmete aus. »’tschuldige. Wie ... wie heißt sie denn, deine Mutter?«
Luisa dachte einen Moment nach, dann antwortete sie: »Wenn du das nicht selber weißt, dann ... dann möchte ich es auch nicht sagen.«
»Aha. Und warum nicht?«
»Weil du sie dann sicher anrufen willst, um sie zu fragen, ob sie weiß, wo ich bin.«
Lennart ahnte größere Komplikationen. »Weiß sie das denn nicht?«
Luisa schüttelte den Kopf.
»Dann macht sie sich doch aber bestimmt schon Sorgen!«
Die Kleine winkte großzügig ab. »Erstens bin ich schon zehn Jahre alt, und zweitens kann Mama sich keine Sorgen machen, denn sie ist mit Ronaldo auf dem Motorrad nach Italien gefahren.«
»Mit dem Motorrad?« In Lennarts Herz gab es einen kleinen Stich.
»Ja, Ronaldo hat eine Harley.«
»So?« Es wurde immer abgründiger. »Und dich haben sie einfach zu Hause gelassen? Wo auch immer das ist.«
»In Hamburg. Aber Mama denkt, dass ich jetzt auf dem Ferienhof Sonnenschein bin und eine Freizeit mache. Mit Töpfern und Reiten und so. Es ist also alles in Ordnung.«
Ordnung war anders. »Aber wenn deine Mutter sowieso nicht zu Hause ist«, gab Lennart zu bedenken, »dann kannst du mir doch ruhig sagen, wie sie heißt, denn ich würde sie ja ohnehin nicht erreichen, selbst wenn ich im Telefonbuch nachschaue.«
Luisa lächelte leise. »Du hast gewonnen. Ihr von der Erzeugerfraktion habt ja sowieso immer die besseren Argumente. Davon darf man sich nur nicht unterkriegen lassen, sonst ist man gleich verratzt.«
Lennart lachte. »Na, dann komm erst mal rein. Du hast vermutlich Hunger und Durst.«
Luisa nickte heftig.
Er führte das Kind in seine große Gutshausküche. »Aber ich warne dich, bleiben kannst du hier nicht.«
»Und wo soll ich schlafen?« Luisa schlug äußerst vorwurfsvoll die Augen zu ihm auf. »Ich habe nur noch ein Euro fünfunddreißig. Und ein Hotel kostet doch bestimmt tausend Euro.«
Lennart schmunzelte. »Ganz abgesehen davon, dass alles ausgebucht ist. Und geschäftsfähig bist du auch nicht.«
»Eben! Und darum musst du mir helfen. Außerdem musst du mir Geld geben, denn ich schulde der Frau noch was, die im IC den Zuschlag für mich gezahlt hat. Sonst hätte ich vom Zug springen müssen und wäre gar nicht hier. Dann wäre ich wirklich verloren gegangen, und man hätte sich Sorgen machen müssen.«
Lennart ahnte dunkel, dass es nicht einfach würde. Natürlich konnte er das Kind bei der Polizei abliefern. Den Beamten würde es dann notgedrungen sagen, wo es hingehörte. Aber das war ziemlich hart.
»Wie kommst du eigentlich auf die Idee, dass ich dein Vater sein könnte?«, erkundigte er sich, während er Luisa eine Cola hinstellte und eine Scheibe Brot mit Käse belegte. Luisa musste erst einmal das Glas zur Hälfte leeren und dann einen riesigen Bissen vom Käsebrot kauen und hinunterschlucken, bevor sie antworten konnte: »Ich habe dein Foto gesehen.«
»Aha. Und wo?« Lennart setzte Teewasser auf. Der Gasherd funktionierte auch ohne Strom.
»Eigentlich waren es zwei Fotos. Eines ist auf einer CD. Da heißt du Len Lost. Aber Mama hat in ihrer Erinnerungsdose noch ein anderes Foto, und da steht hinten Lennart Gristow drauf. Dirk und ich haben im Internet nachgeschaut, es gibt nur einen Lennart Gristow, und das bist du. Und hier bin ich.«
»Es könnte doch aber auch sein, dass derjenige Lennart Gristow, der dein Vater sein soll, nicht im Telefonbuch steht.« Er wusste selber, dass das dummes Zeug war. Der Name Gristow war praktisch ausgestorben.
»Blödsinn«, fand auch Luisa. »Du bist der auf dem Foto. Ich erkenne dich wieder!« Sie musterte ihn von oben nach unten. »Du bist nur ein bisschen älter und nicht so cool angezogen. Ich möchte auch Sängerin werden.«
Lennart ignorierte den letzten Satz. »Aber ich bin trotzdem nicht dein Vater, Luisa. Wenn deine Mutter das behauptet, dann ... dann hat sie da was verwechselt, fürchte ich.«
Luisa senkte nicht sonderlich beeindruckt den Blick auf ihr Brot und biss noch einmal hinein. Sie hatte einen Sonnenbrand auf der Stupsnase und sah reichlich abgekämpft aus. Kein Wunder. Selbst wenn sie mit dem Rasenden Roland bis Göhren gefahren war, hatte sie einen Fußmarsch von etlichen Kilometern hinter sich. Mit einem Mal tat sie ihm leid. Wie einsam und unglücklich musste ein Kind sein, wenn es sich in solch ein Abenteuer stürzte? Die Mutter mit dem Freund in der Weltgeschichte unterwegs, sie in eine Kinderfreizeit abgeschoben, und das auch noch ohne Taschengeld. Und offenbar hatte die Mutter sie zudem in den falschen Zug gesetzt, so dass eine fremde Person ihr die Fahrkarte hatte bezahlen müssen. Mit nichts als einer Adresse und einem Foto im Kopf, hatte sie sich bis zu ihm durchgefragt, und nun saß sie mit Blasen an den Füßen und ausgehungert an seinem Küchentisch. Und er ließ sie kaltschnäuzig abblitzen, weil er von der Erzeugerfraktion immer die besseren Argumente hatte. Zur Erzeugerfraktion konnte er sich allerdings beim besten Willen nicht zählen.
»Wer war das eigentlich«, rettete er sich erst einmal auf einen Nebenschauplatz, »der dir im Zug das Geld geliehen hat?«
»Eine Frau.«
»Hat die wenigstens einen Namen?«
Luisa schien wieder Hoffnung zu schöpfen. »Sie heißt Alena. Sie hat mir ihre Karte gegeben, damit ich ihr das Geld zurückbringen kann.« Luisa legte das Brot auf den Teller und kramte die Visitenkarte aus der Außentasche ihres Rucksacks. »Hier!«
»Alena Heil« las Lennart auf der Karte über dem Logo »Potemkin Film« und einer Hamburger Adresse. Darunter stand eine Handynummer. Sie war mit Kugelschreiber unterstrichen.
»Die Adresse steht hinten«, sagte Luisa kauend.
Lennart drehte die Karte um. »Haus Buskam, Pantower Weg, Binz« stand dort mit der Hand geschrieben.
Im Haus Buskam wohnte Trude Klapsing, eine frühpensionierte Lehrerin, die das Haus am Schmachter See mit einer ostfriesischen Malerin und drei Katzen teilte und ihre Zimmer im Sommer an Gäste vermietete. Trude war es gewesen, die ihn, kaum war er in Mönchgut aufgetaucht, auf dem Gutshof besucht und eingeladen hatte, in der evangelischen Kirche sonntags die Orgel zu spielen. Sie habe gehört, er sei Musiker, und ihnen fehle ein zuverlässiger Organist. Außerdem stellte Trude im Winter allerlei Musik- und Kulturabende auf die Beine und war die gute Seele der evangelischen Gemeinde. Sie hatte zwar zuweilen einen etwas ruppigen Charme, aber Lennart war ihr zutiefst dankbar und würde es immer sein.
Er drehte die Karte in der Hand. Alena Heil war offenbar ein neuer Pensionsgast. Er musste wohl mit ihr reden. Vielleicht wusste sie etwas mehr über Luisa, als er momentan aus dem Kind herausbekam. Er warf die Karte auf den Tisch und goss das kochende Wasser auf die Teeblätter in der Kanne.
»Jetzt weißt du nicht, was du mit mir machen sollst«, stellte Luisa fest. »Du überlegst, wie du mich wieder loswirst.«
»Nein!«, widersprach Lennart reflexartig und drehte sich um. »Das heißt, um bei der Wahrheit zu bleiben, genau das ist mein Problem.«
»Warum sind wir Kinder immer ein Problem?«
»Das seid ihr doch gar nicht!« Lennart setzte sich zu Luisa an den Tisch und sagte liebevoll, aber ernst: »Und selbst wenn, Probleme sind dazu da, dass man sie bespricht, bis alle zufrieden sind.«
»Aha!« Luisa stand auf und nahm ihren Rucksack.
»Was hast du vor?«
»Ich gehe.«
»Langsam, Luisa. Nun sei doch nicht gleich beleidigt.«
»Ich bin nicht beleidigt. Aber wenn du sagst, du bist nicht mein Vater, dann kann ich nichts machen. Wie das ausgeht, wenn man etwas bespricht, das weiß ich schon.«
»Und wo willst du heute Nacht schlafen?« In dem Moment, da er das sagte, merkte Lennart, dass er in die Falle getappt war, die das Kind für ihn ausgelegt hatte. Er musste lachen. »Eins zu null für dich, Luisa. Du bist zu schlau für mich.«
Luisa lächelte vorsichtig. »Trotzdem lassen die mich nicht aufs Gymnasium gehen.«
Oje! Lennart ahnte ein weiteres Problem. »Nun setz dich wieder. Bitte! Und dann erzähl mal.«
Zwischen tiefen Schlucken aus dem Colaglas, das Lennart immer wieder nachfüllte, und großen Bissen von einem zweiten Brot trug Luisa ihren ganzen Frust vor. »Wenn ich nur nicht immer so viele Fehler in der Rechtschreibung machen würde, dann hätten die mir die Gymnasialempfehlung geben müssen. Aber wenn Mama mit mir übt, dann ist das immer voll der Stress.«
»Wenn das alles ist, dann wüsste ich jemanden, der mit dir üben kann«, hörte Lennart sich sagen.
»Du?«
»Noch viel besser als ich könnte das Trude Klapsing machen. Sie war früher einmal Lehrerin. Ihr gehört das Haus Buskam in Binz.«
Luisa blickte ihn prüfend an. »Und jetzt willst du mich zu ihr bringen, und dann soll ich auch gleich bei ihr bleiben, und du wärst mich los.«
Himmel aber auch!, dachte Lennart. »Hör mal, Luisa, du kannst nicht hierbleiben. Ich bin nicht dein Vater. Ich kann nicht einfach ein fremdes Kind bei mir übernachten lassen. Ich lebe hier ganz alleine. Dir ist es vielleicht egal, was die Leute denken oder sagen könnten, aber mir nicht. Ich lebe nämlich immer hier und kann mir üble Nachrede nicht leisten. Trude ist ein Kompromissangebot, Luisa. Bis wir geklärt haben, wer ich wirklich für dich bin. Andernfalls müsste ich dich bei der Polizei abliefern.«
»Dann komme ich ins Heim«, sagte Luisa.
»Quatsch! Wahrscheinlich stecken sie dich, bis deine Mutter dich holen kommt, erst einmal in den Ferienhof Sonnenschein, wo du ja auch eigentlich sein solltest. Die fahnden doch vermutlich schon nach dir.«
»Nein, da kannst du ganz beruhigt sein. Ich bin dort gar nicht angemeldet. Die rechnen nicht mit mir.«
Lennart raufte sich die Haare. Dann kam ihm eine Idee. Die Frage war nur, ob Luisa ihm glaubte und ob sie mitspielen würde.
Seit gestern Nachmittag ging das Kind Alena nicht mehr aus dem Kopf. Sie hätte es doch nicht einfach ziehen lassen dürfen, ohne sich zu erkundigen, wo genau es hingewollt hatte. Am Bahnhof von Binz war jedenfalls niemand erschienen, um Luisa abzuholen. »Mein Vater kommt gleich«, hatte Luisa behauptet, als sie auf dem Bahnsteig standen. Alena hatte vorgeschlagen, ihn per Handy anzurufen, aber Luisa hatte die Nummer ihres Vaters nicht gewusst.
»Oder«, hatte Alena gefragt, »habt ihr euch vielleicht auf einem anderen Bahnhof verabredet?« Sie hatte sich noch einmal die Fahrkarte angeschaut und festgestellt, dass Luisa nach Bergen hätte fahren und dort den Bus nach Göhren hätte nehmen müssen. Wahrscheinlich wartete ihr Vater in Göhren auf sie.
»Ja, richtig«, hatte Luisa gesagt, »so hat das geheißen.«
»Dann nimmst du jetzt den Rasenden Roland«, hatte Alena kurzerhand beschlossen. Der Rasende Roland war eine historische Schmalspurbahn mit Dampflok, die allerdings nicht am Hauptbahnhof hielt, sondern fünf Minuten zu Fuß am Südzipfel von Binz. Mit ihrem Trekkingrad auf der einen und dem Kind auf der anderen Seite hatte Alena ihren Rucksack geschultert, Luisa zum Schmalspurbahnhof gebracht und sie in einen der grünen Wagen gesetzt, in denen fast nur Touristen saßen, die nirgendwo ankommen mussten. Als sich der Zug dampfend und zischend in Bewegung setzte, war das Kind aus ihren Augen entschwunden, einer Zukunft entgegen, die Alena nicht mehr so unproblematisch erschien, war doch schon so viel schiefgegangen auf der Reise der Kleinen von ihrer Mutter zu ihrem Vater.
In den Pantower Weg, wo das Haus Buskam stand, waren es für Alena nur noch ein paar hundert Meter gewesen.
Was war das nur für eine Mutter, die ihre Tochter auf dem Hamburger Hauptbahnhof förmlich aussetzte und sich nicht darum kümmerte, dass sie in den richtigen Zug stieg? Was für ein Ehekrieg musste da toben, wenn die Mutter dem Kind nicht einmal genug Geld mitgab und praktisch keine Wäsche zum Wechseln! Zahlte der Vater nicht? Oder nicht genug? Oder hatte er so viel, dass der Mutter nie genug erschien, was sie von ihm bekam? Warum nur hatte sie, Alena, nicht einmal gefragt, wie dieser Vater hieß? »Du bist nicht für alles verantwortlich«, ermahnte sie sich. »Wann wirst du das endlich lernen?«
Alena riss das Fenster weit auf. Es roch nach Sommer, Sonne und Sand. Die Wiese hinterm Haus ihrer Tante lag noch im Morgenschatten. Tau glitzerte in den Halmen. Der Wind spielte mit dem goldgrün schillernden Schilfrohr am Ufer des Schmachter Sees, zwei Schwäne zogen Kielspuren ins blaue Wasser, ein paar schwarzköpfige Lachmöwen stritten sich in der Luft um irgendeine Beute. Das alte Ruderboot lag so schwerfällig wie immer am Steg, dessen Bretter Alena noch krummer und verwitterter vorkamen als früher.
Während sich in Binz in den letzten zehn Jahren viel verändert hatte, war die Zeit hinter Tante Trudes Haus stehen geblieben. Das tat überraschend weh.
Als wäre es gestern gewesen, sah Alena sich und Kristin da unten über die Wiese zur Schaukel springen. Natürlich hatten sie sich gestritten. Als Tante Trude ihr »Du bist schon viel länger dran als ich!«-Geschrei nicht mehr hatte hören können, hatte sie einen Wecker gebracht. So hatte Alena die Uhr lesen gelernt. Nach genau fünf Minuten war die jeweils andere mit Schaukeln dran gewesen, was die Schaukel binnen Tagen ziemlich uninteressant gemacht hatte.
Vielleicht würden heute Kristins Kinder da unten herumlaufen und sich um die Riemen im Boot streiten. Kristin hatte immer viele Kinder haben wollen. Mindestens vier. Eines hatte sie noch bekommen, doch es hatte nur ein paar Tage gelebt.
Alena schloss das Fenster wieder, kippte es und zog die Gardinen zu, die sich leicht im Wind bauschten.
»Aber euer altes Zimmer kann ich dir nicht geben, das Haus ist voll«, hatte Tante Trude sie am Telefon gewarnt, als sie vor drei Tagen ihren Besuch ankündigte. »Ich habe nur noch das Dachstübchen frei.«
Das war Alena sogar recht gewesen, auch wenn es ihr einen Stich versetzte, dass ihre Tante das Zimmer an Gäste vergeben hatte, in dem sie beide so viele Sommer über geschlafen hatten. Aber so war das eben. Irgendwo stach es immer unvermutet, weil plötzlich ein Geräusch, ein Geruch oder ein Bild die Erinnerung an Kristin weckte.
Zehn Jahre lang war sie nicht mehr hier gewesen, obgleich Marvin sie gedrängt hatte, ihn ihrer Tante vorzustellen. Tante Trude hatte behauptet, sie verstehe das, aber da war sich Alena nicht so sicher. Der Tod fügte allen Menschen Verletzungen zu, allen, die übrig blieben, und nicht nur den engsten Verwandten. Alenas Eltern waren vor etlichen Jahren nach Mallorca ausgewandert und suchten dort nach der verlorenen Leichtigkeit des Lebens. Tante Trude hatte nach einer Krebsoperation ihren Schuldienst quittiert und sich Gesellschaft in ihr Haus geholt, in dem sie immer alleine gewohnt hatte, eine Malerin aus Ostfriesland. »Meine streunende Katze«, wie sie sie am Telefon scherzhaft genannt hatte.
Alena hatte die »Katze« gestern Abend endlich kennengelernt. Überall im Haus hingen ihre Bilder, schreiend bunte Fantasielandschaften, die von der örtlichen Umgebung inspiriert waren und Titel hatten wie »Windsbraut« und »Feentanz« und auch so aussahen. Farbwirbel, Hurrikans in Rot, Gelb, Grün und Blau. Die »Katze« hieß Marika, trug bunte Röcke und Tücher, ging jeden Morgen mit Stöcken walken, sagte nicht viel, lächelte umso mehr und half Trude im Sommer in der Pension.
Alena nahm ihre Fahrradschuhe und die Wasserflaschen und ging die Treppe hinunter. Sie trug schwarze Radlershorts und ein Trikot.
In der Küche war Tante Trude dabei, Marika den Kaffee und die Gläser mit Orangensaft in die Durchreiche zum Frühstückszimmer zu stellen. Marika steckte den Kopf durch die Wandöffnung und winkte Alena zu. Dann verschwand sie, um die Getränke auf dem Tisch zu verteilen. Leises Gemurmel, Stühlerücken und Besteckklirren drangen herüber.
»Rügen ist doch viel zu groß fürs Fahrrad und zu windig«, bemerkte Trude.
Alena lächelte. Alles unter hundert Kilometer am Tag schreckte sie nicht, und von Binz aus war kein Punkt der Insel weiter als fünfzig Kilometer entfernt. »Aber man sieht mehr.« Sie goss sich ein Glas Orangensaft ein und stürzte es in einem Zug hinunter. Dann begann sie, unterm Wasserhahn ihre Fahrradflaschen zu füllen.
»Aber iss wenigstens was!«
»Ja, ja.«
Auf der anderen Seite des Hauses fuhr ein Auto vor und hielt. Alenas städtische Ohren registrierten den ungewöhnlichen Besuch in der Sackgasse erst, als Tante Trude lauschend den Kopf hob, aufstand und die Küche verließ.
Alena nahm ein Croissant aus dem Korb für die Pensionsgäste, biss hinein und trat ans Fenster. Im Kopf begann sie die nächsten Tage zu planen. Heute die Halbinsel Mönchgut, morgen die Ostküste Richtung Norden an Prora vorbei auf die Halbinsel Jasmund mit den Kreidefelsen und dem Königsstuhl. Übermorgen dann noch weiter hinauf zum Kap Arkona, falls das Wetter mitspielte. Eigentlich kannte sie Rügen schon wieder fast zu gut, um die plakativen Attraktionen zu erkennen, die für einen Fünfundvierzig-Minuten-Film über Rügen wichtig waren. Weniger gut kannte sie die Menschen, und auf die kam es letztlich an – auf den Fischer, den Bernsteinschleifer, die Fischverkäuferin, den Gourmetkoch, auf Malerinnen wie Marika. Schade, dass auf dem Storchenstein keine Hochzeiten mehr stattfanden. Jeder anständige Film über exotische Gegenden fing mit einer Hochzeit an. Und für Leute aus dem Schwarzwald oder vom Chiemsee war Rügen exotisch mit seinen malerischen Fischerdörfchen, den seltsam gedrungenen Kirchen, den maulfaulen Fischern, dem geheimnisvollen Bernstein und dem fettigen Räucheraal. Zumindest würde man im Film genau das zeigen.
Sie schob den Rest des Croissants in den Mund und drehte sich um. Marika wuselte in die Küche und lächelte sie auf ihre wortlos liebe Art an. Kaum zu glauben, dass diese schüchterne Frau solch wilde Bilder malte.
Es wurde Zeit, dass sie aufbrach. Sie schnappte sich die Radsachen, nickte Marika zu und lief durch den Gang zur Haustür. Jenseits des weißgestrichenen Gartenzauns stand Trude bei einem dunkelblauen Daimler im Gespräch mit einem breitschultrigen Mann, der Alena den Rücken zuwandte. Er drehte sich um, als Trude zum Haus blickte, aus dem sie gerade trat.
Eigentlich hatte Alena ihn nicht beachten wollen, aber sein Gesicht mit den hellen Augen und dem schwarzen Haaren gehörte nicht zu denen, die man übersah. Und so entging ihr auch der Rest nicht, die schlanke, sehr männliche Gestalt, die kräftigen Arme und im Gegensatz dazu eine eigenartige Zögerlichkeit in seinen Bewegungen. Er trug Jeans und ein hellgrünes T-Shirt.
In der nächsten Sekunde forderte ein kleines Mädchen ihre Aufmerksamkeit, das durchs Gartentor auf sie zusprang.
»He, Luisa!«, rief Alena erfreut. »So schnell sieht man sich wieder.«
»Hallo, Alena!«
»Ach, ihr kennt euch?«, sagte Trude.
»Ja, ich habe dir doch von Luisa erzählt«, antwortete Alena. »Wir sind im selben Zug gekommen.« Sie ging zum Zaun und streckte dem großen Mann ihre Hand entgegen. »Dann sind Sie also der Vater. Freut mich, Sie kennenzulernen.«
»Das ist Lennart«, stellte Trude vor, ehe er etwas sagen konnte. »Und das ist meine Nichte Alena.«
Lennart? Etwas versetzte Alena den vertrauten Stich, aber sie wusste nicht, was.
»Angenehm«, sagte er mit einer leisen und tiefen Stimme. Sein Handschlag war fest und warm, wenngleich in seiner Haltung eine schon übertriebene Höflichkeit lag, eine Art Abneigung, sich irgendwem über Gebühr aufzudrängen. »Machen Sie Urlaub hier auf der Insel?«
»So kann man es auch nennen!«, krähte Luisa fröhlich triumphierend. »Aber eigentlich muss sie arbeiten. Sie ist nämlich Wirtin für Geschwätz ... Also, sie dreht einen Film über Rügen.«
Lennart zog die Brauen zusammen. »Ah, interessant«, murmelte er. Dann wandte er sich beinahe hastig wieder an Trude. »Wir sind so weit klar. Dann bringe ich Luisa also in zwei Stunden hier vorbei.«
»So machst du das«, erwiderte Trude.
»Wir gehen jetzt nämlich für mich einen Badeanzug kaufen und eine Windjacke und solche Sachen«, erklärte Luisa Alena unterdessen im Flüsterton. »Ist der nicht voll cool, mein Vater?« »Doch, absolut cool.«
Winkend hüpfte Luisa um den Kühler des alten blauen Kombis herum und kletterte auf den Beifahrersitz, während sich Lennart hinters Lenkrad setzte und startete. Alena hatte den Eindruck, als würde er es vermeiden, sie anzuschauen. Dabei hätte sie nichts dagegen gehabt, noch einmal mit einem Blick aus seinen klaren forschenden Augen bedacht zu werden, die denen seiner Tochter sehr ähnlich waren.
Aber irgendetwas stimmte nicht mit den beiden. Irgendwie, dachte Alena, während der dunkelblaue Mercedes auf dem Kopfsteinpflaster davonrollte, hatten sie ausgesehen, als hätten sie ein Geheimnis. Luisas Augen hatten geflackert, als würde sie ein bisschen flunkern, und Lennart hatte gewirkt wie einer, der nicht erkannt werden wollte.
»Ein ausnehmend gutaussehender Mann«, bemerkte sie lächelnd, als Trude durchs Tor in den Garten kam. »Ist er wirklich Musiker?«
»Ja«, sagte Trude kurz angebunden, »er spielt bei uns die Orgel. Aber jetzt muss ich rein, mich um meine Gäste kümmern. Du kommst zurecht? Zum Mittagessen bist du nicht da, nehme ich an.«
»Wahrscheinlich nicht. Aber Luisa kommt, oder?«
»Sie will Diktat üben. Anscheinend will sie unbedingt aufs Gymnasium, und daran hängt es noch.«
»Erstaunlich«, bemerkte Alena, »dass ein Kind so erpicht auf die Schule ist.«
»Ist doch gut«, entgegnete Trude und verschwand im Haus.
Alena schmunzelte. Wenn sie gerührt war, wurde ihre Tante wortkarg und ruppig. Luisa würde bei ihr in besten Händen sein.
Alena holte ihr Trekkingrad aus dem Schuppen, in dem auch die Räder für die Pensionsgäste standen, überprüfte den Luftdruck in den Reifen und schlüpfte in die Radschuhe. Turnschuhe und Jacke nahm sie in der Gepäckträgerbox mit für den Fall, dass sie einen kleinen Spaziergang machen würde.
Das Gefühl von Freiheit und Abenteuer erfüllte sie, als sie durch die Straßen von Binz rollte und dann in den dunklen Wald der Granitz eintauchte. Es war eine gute Entscheidung, sich das Fahrrad zu schnappen, dem regnerischen Sommer von Hamburg zu entfliehen und eine paar Tage unter klarem Himmel zu verbringen mit der Nase im Wind, der in der Tat viel zu stark wehte, um Rad zu fahren, jedenfalls in dem sportlichen Tempo, in dem Alena das zu tun liebte.
Durch tiefe Wälder am Jagdschloss Granitz vorbei, radelte sie auf schnurgeraden Alleen ins Mönchgut. An den Feldrändern blühten Kornblumen und Mohn, Seen spiegelten den blauen Himmel, auf den Wiesen standen wilde Margeriten. Von den Erhebungen, die man liebevoll spöttisch auch die Zicker’schen Alpen nannte, genoss Alena anderthalb Stunden später einen überwältigenden Rundblick. Ihre Augen wanderten vom Jagdschloss in der Granitz im Norden über Wälder, Seen, Landzungen und Boddengewässer gen Westen nach Gager hinab. Von dort schwenkte der Blick weiter nach Süden zur Greifswalder Oie und über das Südperd bei Thiessow und den fernen Streifen des Festlands nach Osten zur Insel Usedom hinüber, um schließlich über das Nordperd bei Göhren zum Granitzer Wald zurückzukehren.
Währenddessen lenkte Lennart den Wagen auf einen der Parkplätze von Binz und begab sich mit Luisa auf die Einkaufsmeile des Ostseebads, auf der sich zwischen Bäumen Postkartenständer, Sandspielzeugregale, Kleiderständer und Straßencafes abwechselten. Er konnte nur hoffen, dass Luisa den Weg in den richtigen Laden fand, denn er selbst war nicht ganz bei der Sache.
Wieso hatte ihm Trude nie von ihrer Nichte Alena erzählt? Natürlich konnte er ihr diesen Vorwurf nicht ernsthaft machen. Warum auch hätte sie ihm von einer Nichte erzählen sollen, die in Hamburg lebte und sie in den acht Jahren, die er Trude jetzt kannte, nie besucht hatte. Nun aber war sie da und ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Ihr Anblick hatte ihn getroffen wie ein Blitz. Nie hätte er gedacht, dass es so etwas wirklich gab, diese schlagartige Erkenntnis: Die ist es. Am liebsten wäre er umgekehrt, um nachzuschauen, ob er sich nicht vielleicht doch geirrt hatte. Aber das wäre nicht nur lächerlich gewesen, sondern auch sinnlos. Sie war vermutlich längst mit ihrem Rad unterwegs.
Es waren nicht nur ihre sportliche Figur in den schwarz schimmernden Radlershorts, der Honigton ihrer Haut, die zum Pferdeschwanz gebundenen kastanienbraunen Haare und das kluge Gesicht, die ihn getroffen hatten, sondern etwas in ihrem Blick. In diesen braunen Augen war ihm nicht nur funkelnder Lebensmut begegnet, sondern auch eine versteckte Trauer, die ihm erschreckend vertraut war. Auf einmal zuckte in ihm die Hoffnung, endlich verstanden zu werden. Vorausgesetzt, er fände den Mut, sich zu öffnen.
Aber das war der Punkt. Silke hatte ihm immer wieder vorgeworfen, er könne keine Nähe zulassen. Daran war ihre Beziehung letztlich zerbrochen. Man könne sich mit ihm nicht streiten, hatte sie ihm vorgehalten, weil ihm nichts wichtig genug sei, um sich zu ereifern. Er weiche aus, er lasse sich nicht fassen. Sie verstehe, dass er Angst habe, verletzt zu werden, aber sie verzweifle daran, dass er ihr nicht vertraue. Silke verdankte er auch eine ziemlich erbarmungslose Analyse seines Wesens. »Du wartest ab, bis wir zu dir kommen, und dann schubst du uns weg.« Sie hatte recht. Er war mit kaum achtzehn Jahren über Nacht zum Märchenprinz tausender Mädchen geworden, die ihn pausenlos verfolgt hatten. Er hatte aussuchen können, hatte verjagen müssen. Kistenweise Briefe hatten sie ihm geschrieben, Nacktfotos hatten sie ihm geschickt. Die eine oder andere hatte es bis in sein Bett geschafft. Wie Motten im Licht seines Ruhms hatten sie ihn ein paar Tage lang umschwirrt, um dann zu verglühen und zu verschwinden. Vor allem aber konnte er die Todesangst jenes furchtbaren Abends in Düsseldorf nicht vergessen, wo sie ihn zu fassen bekommen und von der Bühne gezerrt hatten, um ihn kreischend zwischen sich zu zerreißen.
Womöglich gehörte Alena auch in diese Riege. Sie war in dem Alter, da sie ihn noch kennen konnte. Sie arbeitete für eine Filmproduktionsfirma und suchte auf Rügen Motive. Am Ende ging es ihr nur darum, ihn vor die Kamera zu bekommen. Vielleicht unter der Rubrik »Berühmte Menschen auf Rügen«. Oder als gescheiterte Existenz, je nachdem, wie man sein Leben heute sehen wollte. Einstiger Superstar einer in den neunziger Jahren gefeierten Boygroup spielte Orgel in der evangelischen Kirche von Binz. Tragisch und rührend. Oder heroisch?
Alles, bloß das nicht!, dachte Lennart. Unter keinen Umständen würde er vor laufender Kamera sein stilles Leben nach dem großen Erfolg schönreden, auch wenn er das Leben guthieß, das er heute in der äußeren Ruhe des Mönchguts führte, weil er nur so seine innere Ruhe bewahren konnte.
Das alles ging ihm in Fetzen durch den Kopf, während er Luisa von Laden zu Laden folgte. Er selbst kaufte gewöhnlich seine Alltagsjeans und T-Shirts im selben Supermarkt, in dem er sich mit Getränken und unverderblichen Waren wie Reis, Spaghetti und Konserven eindeckte. Vermutlich hätte man dort auch für Luisa etwas gefunden, aber Lennart ahnte, dass selbst zehnjährige Mädchen gerne shoppen gingen, und sein Blick war aus den Zeiten, in denen er das Geld mit vollen Händen ausgegeben hatte, geschärft genug, um zu erkennen, dass die wenigen Kleidungsstücke, die Luisa in ihrem Rucksack mitgebracht hatte, samt und sonders im Discount gekauft worden waren.
Er hatte gestern Abend nicht nur seine Waschmaschine wieder in Gang gebracht und die Elektrik im Haus in den gewohnten Zustand labiler Ruhe zurückversetzt, sondern sich mit Luisa auch darauf geeinigt, vorerst als ihr Vater zu gelten. Beide hatten nicht ausgesprochen, dass es eine Lüge war.
Um Luisa das Lügen leichter zu machen, hatte er einen Trick angewendet. Mit großem Ernst hatte er ihr dargelegt, dass sie ihm den Namen ihrer Mutter nennen müsse, damit er überhaupt beurteilen könne, ob sie seine Tochter sein konnte.
Luisa hatte das Angebot angenommen und ihm den Namen Isabella Vorbeck genannt, ein ihm gänzlich unbekannter Name. Aber das war nicht weiter verwunderlich, falls sie eine der vielen Groupies gewesen war, die irgendwann einmal in seinem Bett gelandet waren.
Nachdem der Name gefallen war, hatte er zu lügen begonnen. »Isabella«, hatte er sinnierend gesagt, »ja, ich erinnere mich. Leider nicht besonders gut. Sie hat sich ja auch nie wieder bei mir gemeldet.«
Danach hatte er die Bedingungen dafür ausgehandelt, dass er den überraschten Vater eines bis dato unbekannten Töchterchens spielen würde. Luisa musste versuchen, ihre Mutter anzurufen. Er hatte sogar später übers Internet kontrolliert, ob sie auch die richtige Nummer in Hamburg gewählt hatte. Und sie musste es jeden Tag erneut versuchen, so lange, bis sie ihre Mutter erreicht hatte.