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Romantisch, dramatisch und zum Träumen schön: Der berührende Liebesroman »Die Inselträumerin« von Bestseller-Autorin Christine Lehmann als eBook bei dotbooks. Wenn Wind und Wellen neues Glück versprechen … Nach einer schmerzhaften Trennung will sich die Journalistin Karoline ganz auf ihre Karriere konzentrieren. Ihr neuer Auftrag führt sie auf die wunderschöne Ostseeinsel Hiddensee, wo sich der berühmte Fotograf Thomas Reuter komplett aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hat. Um mehr über ihn zu erfahren, muss Karoline viel riskieren – auch ihr Herz: Thomas weckt Gefühle in ihr, die sie nie wieder zulassen wollte … doch seine dunkle Vergangenheit droht ihr zartes Glück bald zu überschatten. Kann ihre Liebe stärker sein als das Schicksal? Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der bewegende Liebesroman »Die Inselträumerin« von Bestseller-Autorin Christine Lehmann verspricht pures Inselglück und Urlaub für die Seele. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 367
Über dieses Buch:
Wenn Wind und Wellen neues Glück versprechen … Nach einer schmerzhaften Trennung will sich die Journalistin Karoline ganz auf ihre Karriere konzentrieren. Ihr neuer Auftrag führt sie auf die wunderschöne Ostseeinsel Hiddensee, wo sich der berühmte Fotograf Thomas Reuter komplett aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hat. Um mehr über ihn zu erfahren, muss Karoline viel riskieren – auch ihr Herz: Thomas weckt Gefühle in ihr, die sie nie wieder zulassen wollte … doch seine dunkle Vergangenheit droht ihr zartes Glück bald zu überschatten. Kann ihre Liebe stärker sein als das Schicksal?
Über die Autorin:
Christine Lehmann, geboren 1958 in Genf, wuchs in Stuttgart auf. Heute pendelt sie zwischen ihrer Heimatstadt und Wangen im Allgäu. Christine Lehmann ist Nachrichtenredakteurin beim SWR und schreibt seit vielen Jahren erfolgreich in den verschiedensten Genres – von Krimis und historischen Romanen über Jugendbücher bis zu romantischen Liebesgeschichten. Außerdem arbeitet Sie an verschiedenen Sachbüchern und Hörspielen.
Von Christine Lehmann erschienen bei dotbooks bereits die Romane »Die Rache-Engel«, »Die Liebesdiebin«, »Der Winterwanderer«, »Die Liebesträumerin«, »Die Strandträumerin« und »Das Rabenhaus« sowie der Hundekrimi »Eiskalte Fährte«.
Zwei ihrer Romane sind auch als Sammelband unter dem Titel »Die Rache-Engel & Die Liebesdiebin« erhältlich.
Unter Madeleine Harstall erscheinen bei dotbooks ihre Romane »Die Töchter der Heidevilla« und »Die Brückenbauerin«.
Mehr Informationen über Christine Lehmann finden sich auf ihrer Website: www.christine-lehmann.blogspot.de
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Aktualisierte eBook-Neuausgabe Juli 2019
Dieses Buch erschien unter dem Titel »Der Bernsteinfischer« bereits 2001 bei Heyne und 2014 bei dotbooks.
Copyright © der Originalausgabe 2001 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München
Copyright © der Neuausgabe 2014 dotbooks GmbH, München
Copyright © der aktualisierten Neuausgabe 2019 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Bildmotiven von shutterstock/Okrasyuk und mitchFoto
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)
ISBN 978-3-95520-684-0
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Christine Lehmann
Die Inselträumerin
Roman
dotbooks.
Der Wind trieb die Wolken über die Insel hinweg aufs Festland zu. Tom blickte vom Leuchtturm übers Meer. Unterhalb der Steilküste rauschte die See auf den Geröllstreifen. Möwen kreischten und schaukelten auf dem Wind, und wieder einmal hatte Tom das Gefühl, am Ende der Welt zu sein. Hier hörte sein Lebensweg auf, brach ab, wurde vom Meer weggespült.
Tom nahm die Zügel seines sandfarbenen Ponys, das er für den Streifzug über die Insel mit Stativ und Kameratasche beladen hatte, und wandte sich auf den Pfad gen Norden.
Es war ein glänzender Septembertag. Windzerzauste Bäume duckten sich in die Senken zwischen kahlen Hügeln, das trockene Gras zitterte im Wind. Das Pony schritt trittsicher über die schmalen sandigen Pfade des Dornbuschs, die bergauf, bergab an der Steilküste entlang zum Toten Kerl führten. Gras und Wurzeln knackten unter den unbeschlagenen Hufen Lizzys, und bald ließ Tom den Leuchtturm hinter sich. Jenseits der Steilküste hörte er das Meer rauschen. Ein paar Wolken hingen im blauen Himmel.
Tom liebte es, allein mit dem Pony und dem Wind über die Insel zu streifen. Er bewegte sich mit der Leichtigkeit eines Menschen, der sich seiner körperlichen Fähigkeiten sicher ist. Der Wind raufte ihm das strohblonde Haar, und in seinem hageren Gesicht leuchtete ein Paar scharfer blauer Augen. In seinen Gesichtszügen spiegelten sich die Stille des Lebens, das er führte, und die Härte einer bewegten Vergangenheit. Hätte er sich jemals mit seiner Wirkung auf andere beschäftigt, oder wäre er eitel gewesen, so hätte ihn sein athletischer Wuchs vielleicht mit Stolz erfüllt. Aber er schätzte an sich nur, dass er sich auf seine Ausdauer und Entschlossenheit verlassen konnte. Seine einstige selbstbewusste Reaktionsschnelligkeit allerdings hatte er verloren, und darum fühlte er sich unsicher, wenn er es mit anderen Menschen zu tun hatte.
Als Pferd und Mann eine Senke am Swantewitberg erreicht hatten, band Tom Lizzy an einem Baum fest und nahm die Kamera aus dem Packsattel. Er hatte vor einigen Tagen im Wurzelwerk eines Buschs ein Ameisennest entdeckt. Um welche Art von Ameisen es sich handelte, würde er später bestimmen. Jetzt kam es darauf an, im Sucher seiner Kamera eine Struktur im Gewusel winziger rötlichschwarzer Leiber zu entdecken. Tom legte sich quer über den Weg auf den Boden. Als erfahrener Fotograf achtete er dabei automatisch auf viele Kleinigkeiten. Die Sonne durfte nicht ins Objektiv fallen, sein eigener Schatten das Objekt nicht verdunkeln. In aller Ruhe robbte er sich an das Ameisennest heran. Die kleinen Ameisenleiber funkelten rotbraun zwischen kristallin blitzenden Sandkörnern und graubraunen Zweigstückchen.
In Toms Seele kehrte absolute Ruhe ein. Er konnte stundenlang lauern, bis er auf den Auslöser drückte. Die Leidenschaft des Fotografen verwandelte sich in absolute Geduld. Tom vergaß die Welt um sich herum und nahm von Sonne und Wind nur wahr, was sich als Licht und Schatten durch das kleine Rechteck seines Suchers bewegte.
Wäre er nicht so absorbiert gewesen, hätte er vielleicht gehört, dass sich jenseits des Hügels, an dessen Fuß er lag, etwas oder jemand näherte. Lizzy hatte längst die Ohren gespitzt und starrte in Richtung des Leuchtturms. Aber Tom war vollständig auf die winzige Welt der Ameisen am Strunk des Buschs konzentriert. Es gab keinen Grund für ihn, mit bösen Überraschungen zu rechnen. Im Herbst waren wenig Gäste auf der Insel. Gewöhnlich hatte Tom an so einem Morgen den Norden der Insel ganz für sich allein.
Der kleine Pit war vor einer Stunde mit seinem roten Fahrrad von Zuhause aufgebrochen und in der Windstille hinterm Deich von Vitte nach Kloster geradelt. Das Fahrrad hatte ihm sein Vater zum fünften Geburtstag geschenkt. Den ganzen Sommer über hatte Pit damit seinen Aktionsradius erweitert. Allerdings hatte seine Mutter ihm verboten, alleine auf den Dornbusch zu radeln. Doch als Pit hinter Kloster die sonnigen Hügel sah und den glatten Weg vor sich, der zum Leuchtturm hinauf führte, konnte er nicht widerstehen. Die Wege da oben waren schön für einen kleinen Jungen und sein Fahrrad. Man konnte mit Schwung in eine Senke rasen, drüben wieder hinauf, über die Kuppe fliegen, hinein in den Himmel, und erneut in eine Senke sausen. Und immer gab es noch eine Herausforderung, noch einen Hügel, noch einen Kitzel, nicht zu wissen, wie der Weg hinter der Kuppe weiter ging.
Pit vergaß alle Verbote und die Strecke, die er bereits zurück gelegt hatte, umrundete den Leuchtturm und nahm den ersten Hügel in Angriff, dann den zweiten und dann den dritten. Der Schwung trug ihn zur Hälfte den Anstieg hinauf. Dann musste er sich in die Pedale werfen. Das Hinterrad drehte hohl im Sand. Aber er schaffte es und warf sich auf den Sandpfad jenseits der Kuppe.
Da sah er das sandfarbene Pony mit gespitzten Ohren unten am Baum stehen. Wo dieses Pony war, war auch der Mann mit der Kamera, ein Mann, dem Pit auf dem Dornbusch nicht begegnen durfte. Denn er sprach ab und zu mit Mama und wusste, dass sie ihm verboten hatte, hier herum zu radeln.
Da lag er, unten quer über dem Weg.
Aber es war schon alles zu spät. Pit trat in die Pedale, um zu bremsen, aber er schlitterte in einem Schwall von Sand den tief ausgetretenen Pfad hinab, unaufhaltsam. Er sah, wie der Mann aufblickte und den Arm schützend hob, sah diese eisigen blauen Augen.
Das Fahrrad stoppte in Toms Rippen. Es überschlug sich. Pit hagelte über Tom hinweg und kugelte in die Senke. Das Fahrrad sauste hinterher. Die Kamera flog Tom aus der Hand und knallte ins Ameisennest.
Das Pferd scheute, riss den Kopf hoch, wieherte und wich gegen den Baum aus, als ihm das Fahrrad gegen die Fesseln schlitterte. Auf seinem Packsattel zerkrachte etwas.
Pit war auf den Füßen, schneller als er begriff, was geschehen war. Blitzschnell sondierte er seine Lage. Das Fahrrad lag dem Pony vor den Hufen, Tom versperrte ihm den Fluchtweg nach Hause und stand eben auf, ein großer breitschultriger Mann in schwarzer Lederjacke mit fürchterlich kalten und brutalen Augen. Im nächsten Moment würde er ihn schnappen und festhalten. Und was dann geschehen würde, wagte Pit sich nicht auszumalen. Er befand sich in Lebensgefahr.
Pit riss sein Fahrrad an sich. Das Pony scheute noch einmal, und erneut knirschte der Packsattel am Baumstamm.
»Langsam, Pit«, sagte Tom und streckte die Hand aus.
Der kleine Junge sah seine Zähne zwischen den Lippen blitzen, die mordlustigen Augen ganz nah, und sprang auf sein Fahrrad. Ohne sich zu besinnen, warf er sich auf die abschüssige Wiese und raste mit schlingerndem Vorderrad in halsbrecherischem Tempo querfeldein zwischen den Hügeln hinab. Im Augenwinkel sah er, dass Tom ihm hinterher sprang, schließlich aber zurückblieb. Dann war er endlich hinter einer Hügelkuppe außer Sicht.
›Als ob ich ihn auffressen würde‹, dachte Tom. Er blieb so lange auf der abschüssigen Trockenwiese stehen, bis er sehen konnte, dass Pit den Leuchtturmweg erreicht hatte, der nach Kloster hinabführte. Die Rippe, die mit Pits Fahrrad in Kontakt gekommen war, tat ihm weh, als er sich umwandte, um wieder zu dem Pfad hinauf zu steigen, auf dem sich der Unfall ereignet hatte. Lizzy blickte ihm fast verlegen entgegen.
»Das war nur Pit Eilers, der Sohn von Marina und Gert«, sagte er, dem Pony beruhigend auf den Hals klopfend.
Lizzy schüttelte Kopf und Mähne.
Auf dem Packsattel war das Stativ verbogen. Die Teleskopbeine krümmten sich in alle Richtungen.
Tom wandte sich dem Busch zu und klaubte seine Kamera aus dem Ameisennest. Ameisen rasten darauf herum und liefen ihm in Panik den Arm hinauf. Das Objektiv war aus dem Verschluss geknackt. Aus der empfindlichen Spiegelreflexmechanik rieselte der Sand. Diese Kamera war nicht mehr zu retten.
Tom ertappte sich dabei, wie er den aufgewühlten Sand in der Senke mit den Augen nach Blutspuren absuchte. »Himmel!«, dachte er beschämt. Immer noch der alte Blick des Kriegsberichterstatters, und das nach vier Jahren auf der Insel. Dabei war hier nur ein fünfjähriger Junge in den Sand gefallen, weil er nicht aufgepasst hatte. Kinder taten sich bei solchen Stürzen nicht so weh wie Erwachsene. Trotzdem wäre ihm wohler gewesen, wenn er sich hätte vergewissern können, dass Pit sich nicht ernstlich verletzt hatte.
Er verstaute die Trümmer seiner Kamera in Lizzys Packtasche und zog die zweite Kamera heraus. Sie lag glatt und kühl in seiner Hand. Das dunkel schillernde Objektiv linste ihn fragend an. Tom ließ seinen Blick über das wellige Land schweifen, das sanft zum Bodden abfiel. Das Wasser zwischen Hiddensee und Rügen leuchtete frisch und dunkelblau.
Dann steckte er die Kamera zurück in die Packtasche und band Lizzy vom Baum los. Die Ameisen mussten ihr Nest reparieren, und er hatte ja doch keine Ruhe mehr, ehe er nicht mit Marina geredet hatte.
Es war nicht das erste Mal gewesen, dass er den Jungen offensichtlich zu Tode erschreckt hatte. Seitdem er ihn im Sommer allein an der Steilküste der Hucke aufgestöbert hatte, rannte Pit nur noch vor ihm davon. Tom hatte damals Marina nichts davon erzählt, wo sich Pit herumtrieb, wenn er mit dem Fahrrad unterwegs war. Aber er wusste, dass Marina Pit verboten hatte, alleine auf den Dornbusch zu fahren. Wie jede Mutter machte sie sich Sorgen, dass ihrem Sprössling etwas passieren könnte.
Andererseits wollte Tom den Kleinen nicht bei seiner Mutter verpetzen. Pit war ein seltsamer Junge. Er war scheu und still und schien sich nur in sicherer Entfernung von Fremden wohl zu fühlen. Sein Mund wurde zu einem Strich und sein kleines Gesicht verhärtete sich, wenn man ihn tadelte. Mit seinem feinen Auge für Ungereimtheiten hatte Tom längst bemerkt, dass Pit Angst vor Menschen hatte.
Nachdenklich wandte er sich Richtung Swantewitschlucht und bog hinter dem Leuchtturm auf den Weg ins Innere der Insel ab.
Er hatte sich vor vier Jahren das Haus am Hexenberg gekauft. Es stand allein hinter dem Hügel auf halbem Weg vom Leuchtturm nach Kloster.
Dort sattelte Tom erst einmal Lizzy ab und stellte sie auf die kleine Koppel hinterm Haus. Er besaß kein Telefon, darum konnte er Marina in Vitte nicht einfach anrufen und sich nach Pit erkundigen. Also schwang er sich aufs Fahrrad.
In Kloster begegneten ihm die ersten Menschen, die er außer Pit an diesem Morgen gesehen hatte, Touristen, die sich vor dem Gerhart-Hauptmann-Museum versammelten. Die Inselkirche war von einem Gerüst umgeben. Tom schrie dem alten Fischer Jupp sein »Moin, Moin« zu und bog auf den windgeschützten Weg am Westdeich entlang ein. Von Kloster bis Vitte, dem Hauptort der Insel, waren es gut zwei Kilometer.
Hinter dem Deich rauschte die Ostsee. In seinem ersten einsamsten und schwersten Jahr auf der Hiddensee hatte Tom vor allem das Meer mit seiner Kamera studiert. Er kannte all seine Gesichter, den zarten Schaum, die wütende Gischt, das dunkle Flaschengrün des Sturms, das Blau des Friedens. Am meisten hatte ihn jedoch der Horizont interessiert, die Linie zwischen Himmel und Erde, mal wie mit dem Lineal gezogen, dann wieder im Dunst verwischt und immer unerreichbar. Wer sich aufs Meer begab, erreichte sie genauso wenig wie er, der am Strand stand und das Objektiv in die Ferne richtete. Doch kam er sich hier wie jemand vor, der auf einer Insel gefangen war und sich auf das beschränken musste, was er am Strand fand: Muscheln, Bernstein, Treibholz, Kanister; Boten einer widersprüchlichen Welt, aus der er sich verabschiedet hatte.
Marina und Gert Eilers waren vor gut zwei Jahren mit dem kleinen Pit auf die Insel gekommen. Damals wurde am Dornbusch gerade die Wetterstation eingerichtet. Gert war Meteorologe. Tom war einer der Ersten gewesen, die neugierig bei ihm angeklopft hatten. Gert lud ihn dann in das kleine alte Fischerhaus ein, das er mit seiner Frau und Fit in Vitte bewohnte. Dort sah Tom die schöne Marina zum ersten Mal mit dem noch nicht ganz dreijährigen Pit am Rockzipfel.
Marina kam ihm immer vor wie eine wunderbare Blüte an der Seite des etwas struppigen Gert. Sie war schlank, wirkte fast zerbrechlich. Aus ihren großen graublauen Augen sprachen Verständnis und der Wunsch nach Freundschaft. Blondes Haar floss ihr wie Messing über Schultern und Rücken.
Als Tom vom Hauptweg in die sandige Straße einbog, an der die Eilers wohnten, kam ihm Marina in einem geblümten Kleid und einer Jeansjacke darüber entgegen. Der Wind spielte mit dem Rock. In einer Hand trug sie eine Einkaufstasche. An der anderen ging Pit.
Doch kaum bog Tom um die Ecke, riss der Junge sich los, kehrte um und rannte zum Haus zurück.
Marina blickte ihm verdutzt hinterher und wandte sich dann mit einem verlegenen Lachen Tom zu, der mit seinem Fahrrad bei ihr bremste und abstieg.
»Hallo Tom. Was Pit nur wieder hat. Es sieht ja geradezu so aus, als habe er Angst vor dir.«
»Kleine Jungs leben in ihrer eigenen Welt«, erwiderte Tom. »Mach dir keine Sorgen. Ihm geht es gut, ja?«
»Abgesehen davon, dass er eben mit einem aufgeschürften Knie heimgekommen ist. Aber er will mir wieder mal nicht sagen, was passiert ist. Und, was machst du hier?«
»Ich ... äh ...« Tom hatte, kaum, dass er in Marinas argloses Gesicht geblickt hatte, beschlossen, ihr nichts von seiner Begegnung mit Pit auf dem Dornbusch zu erzählen. Er wollte Pit nicht in den Rücken fallen und Marina nicht ängstigen. Und auf die zerstörte Kamera und das kaputte Stativ kam es ihm nicht an. Doch nun konnte er seine Anwesenheit nicht erklären.
Marina lächelte. »Na, hast du Lust auf einen Kaffee?«
»Du bist doch gerade auf dem Weg zum Einkaufen.«
»Oh, das hat Zeit. Ich habe den ganzen Tag Zeit einzukaufen. Aber, wenn du etwas anderes vorhast ...«
Sie musterte den Mann, der da in seiner abgeschabten Lederjacke vor ihr stand, die Brauen leicht zusammengezogen, die strohblonden Haare etwas vom Wind zerrauft. Tom war immer unschlüssig, fand sie, ein eigenartig zurückhaltender Mann, der ungern sich selbst in den Mittelpunkt stellte, dafür aber umso mehr Anteil nahm an dem, was sie, Pit und Gert betraf. Ein guter Freund, aber einer, der hinter seinen so oft gesenkten Lidern ein Problem verbarg, das Marina zu ahnen meinte, wenn er sie ansah, intensiv und ... liebevoll.
Im ersten Sommer hatte er sie des öfteren besucht. Dann hatten sie nachmittags auf der Bank hinter ihrem Haus im Garten gesessen und Kaffee getrunken. Anfangs hatte er kaum ein Wort gesagt und nur sie reden lassen bis ihr die Themen ausgingen. Dann hatte er sie stumm angeschaut. Erst allmählich hatte er entweder zu ihr oder zu sich Zutrauen gefasst und auch ein wenig von sich preisgegeben. Da hatte es einmal eine Ehefrau gegeben, die es ihm übel genommen hatte, dass er so viel auf Reisen gewesen war.
»Diesen Sommer«, sagte sie nun, da er immer noch nichts sagte, »hast du dich ziemlich rar gemacht, finde ich.«
»Ich hatte viel zu tun.«
Marina lächelte nachsichtig. Man sah Tom eigentlich immer an, was er fühlte, zumindest sie sah es. Seit einiger Zeit hatte sie nicht mehr nur den Verdacht, dass er sich in sie verliebt hatte und dagegen. ankämpfte. Vielleicht kam er darum nicht mehr.
»Oder«, sagte sie, »stört es dich, dass Pit vor dir davonlaufen könnte, wenn du zu uns kommst?«
Tom hob plötzlich die im Sonnenlicht so frappierend blauen Augen. »Das wird sich schon wieder legen«, sagte er ausweichend.
»Hast du eine Idee, warum er das tut?«
»Nein, Marina. Ich könnte nur spekulieren.«
Dabei sah er so verschlossen aus, wie Pit ausgesehen hatte, als er vorhin heimkam, oder vielmehr nicht eigentlich verschlossen, sondern eher so, als hätten die beiden gemeinsam eine Dummheit angestellt. Aber genauso wenig, wie Marina aus ihrem Jungen etwas herausbekam, würde sie Tom gesprächiger machen.
»Na gut«, sagte sie. »Dann werde ich mal einkaufen gehen. Du hast sicher auch noch etwas vor.«
»Äh, ja, ich muss ... ich muss mit dem Bürgermeister reden. Irgendjemand hat wieder mal die Schilder am Naturschutzgebiet auf dem Bessin aus der Verankerung gerissen und umgeworfen. Bis bald mal wieder, Marina. Und Gruß an Gert.«
»Ich werd's ausrichten.«
Dabei besuchte Tom Gert in seiner Wetterstation öfter als sie, dachte Marina, während er sein Fahrrad bestieg. Sie war enttäuschter, als sie es sich eingestehen wollte.
Karoline wandte den Blick zurück. Noch leuchtete Rügen im herbstlichen Abendlicht. Die reetgedeckten Häuser von Schaprode schienen sich vor dem drohenden Regen in die grünen Hügel zu ducken. Auf dem großen Parkplatz standen nur drei Autos, darunter das von Karoline. Sie war die Einzige, die das kleinere Fährboot nach Neuendorf auf Hiddensee bestiegen hatte. Ein junger Kerl kassierte für die Überfahrt über den Bodden. Ein Alter steuerte. Beide redeten nicht. Das Boot tuckerte gegen gischtige Wellen an.
Die Insel lag lang gestreckt wie ein gestrandetes Schiff vor der Westküste Rügens unter den heranziehenden Wolken. Achtzehn Kilometer Land, kaum einen Kilometer breit, im Norden bergig und im Süden so flach, als wolle es in den Wellen versinken.
Erst gestern früh hatte Manfred Schulze sie zu sich ins Büro gerufen.
»Karo, nimm es mir nicht übel«, sagte er, »aber du siehst aus als hättest du drei Wochen lang nicht geschlafen.«
Manfred leitete die Redaktion des Dresdner Tagblatts und war seit fünf Jahren Karolines Chef, ein Mann von gut fünfzig Jahren, der als Journalist alles Menschliche gesehen hatte und selbst immer so wirkte, als wisse er mehr, als man ihm sagte.
»Also, was ist los?«
»Nichts Besonderes«, sagte Karoline. »Es ist nur ... naja, Klaus hat sich von mir getrennt. Oder vielmehr, ich bin ausgezogen.«
»Klaus!« Manfred zog die buschigen Brauen zusammen. »Wie lange wart ihr zusammen?«
»Sieben Jahre«, antwortete Karoline seufzend.
»Verstehe, das schmerzt. Aber wie kommt dieser Dummkopf dazu, dich zu verlassen?«
Karoline lächelte schwach. Manfreds poltrige Parteilichkeit tat ihr gut. Wegen Klaus war sie vor fünf Jahren von Berlin nach Dresden gezogen. Er arbeitete als Ingenieur am Wiederaufbau der Frauenkirche. Sie hatte für den Job als Journalistin beim Dresdner Tagblatt eine gute Stelle beim Rundfunk aufgegeben.
»Wolltet ihr nicht heiraten?«, bohrte Manfred weiter.
»Klaus wollte mich heiraten«, räumte Karoline widerstrebend ein. Zu verblüfft war sie immer noch über das, was geschehen war.
»Er hat mir einen Diamantring geschenkt und um meine Hand angehalten. Und drei Tage später sagte er mir, er habe noch einmal nachgedacht und sich entschieden. Und zwar für die Sekretärin aus dem Ingenieurbüro, blond.«
Manfred hustete mitfühlend und fing an, auf seinem mit Papieren überhäuften Schreibtisch zu kramen. »Du solltest mal raus aus der Stadt. Lass dir den Wind der Ostsee um die Nase wehen. Ich habe da was für dich, einen Job, für den ich eine Frau brauche.«
Unter den Bergen von Papieren wühlte er einen zerknitterten Brief hervor und blickte Karo über seine Lesebrille hinweg an.
»Thomas Reuter, sagt dir das noch was?«
»Aber sicher. Das ist doch dieser Fotograf.«
»Genau. Seit vier Jahren hat man nichts mehr von ihm gesehen und gehört. Scheint abgetaucht zu sein nach dieser Geschichte ... Du weißt schon.«
Karo nickte.
Manfred blickte auf den Brief in seiner Hand. »Und nun scheint er unter die Bernsteinfischer gegangen zu sein. Ein Kollege hat mir geschrieben. Ganz am Schluss seines Briefs erwähnt er einen Tagesausflug nach Hiddensee, den er im Sommer mit seiner Familie unternommen hat. Und dort will er Reuter gesehen haben.«
»Aber interessiert das wirklich noch irgendwen?«
»Na hör mal, Karo! Reuter ist ein Sohn der Stadt Dresden, und zwar ein viel gerühmter. Auch wenn ihn nicht alle für einen anständigen Mann halten. Aber sein Schicksal dürfte wohl interessieren. Man will doch wissen, wie so einer endet.«
»In Armut und Einsamkeit«, bemerkte Karoline schmunzelnd.
»Einige mag es geben, die das wünschen. Aber mich interessiert nur die Wahrheit.« Manfred lächelte eigenartig, als er das sagte. »Und wenn die einer rauskriegen kann, dann du. Du lässt dich wenigstens nicht von Gefühlen beeinflussen.«
Karo war sich nicht sicher, ob sie dieses Kompliment Manfreds schätzte. Denn nach dem ersten Schock der Trennung fragte sie sich, was sie falsch gemacht hatte. Sie hatte ihre Beziehung immer immun geglaubt gegen blonde Sekretärinnen. Aber nun sprach Klaus von Wärme und Leidenschaft und knallte ihr an den Kopf: »Du bist zu kalt. Bei dir kriegt ein Mann ja Frostbeulen.« Das hatte sie ungeheuer verletzt.
»Kopf hoch, Karo!«, raunzte Manfred feinfühliger als er wirkte. »Jetzt fährst du erstmal für eine Woche nach Hiddensee in die Herbststürme. Und hinterher sieht alles ganz anders aus.«
Vom ersten Moment an, da sie in der Redaktion arbeitete, war er in sie verliebt. Das wusste sie. Obgleich er nicht darüber sprach, wusste sie auch, dass er seine Karriere und seine Hoffnungen auf Glück für seine Ehe geopfert hatte, für eine Frau, die ihm die Hölle heiß gemacht hatte, damit er von Hannover nach Dresden zog, wo sie herkam. Und nun ging sie fremd, munkelte man. Seit zehn Jahren leitete er das Dresdner Tagblatt, Durchgangsstation für junge Journalisten, die woanders dann Karriere machten. Auch Karo würde ihm irgendwann davonlaufen, das wusste er.
Der Ostseewind blies mächtig, riss an Karolines silbergrauer Windjacke und peitschte Gischt über den Bug des Bootes. Die Häuser von Neuendorf-Plogshagen tauchten unter tiefhängenden Wolken knapp über der rauen See auf. Es war eine Ansammlung von einem guten Dutzend Gebäuden, ein Dorf ohne Mitte. Alle Hauseingänge zeigten nach Süden. Im Sommer mochten Jachten in dem kleinen Fischerhafen schaukeln, jetzt waren nur ein paar Fischerboote am Kai vertäut. Nachsaison. Einige wenige Inselgäste standen in Windjacken am Hafen herum. Die Ankunft eines Bootes mit einem Gast stellte eine willkommene Abwechslung dar.
Karoline schulterte die Reisetasche, lehnte die Hand des Bootsjungen ab und sprang an Land, obgleich das klatschende Wasser zwischen schwankendem Boot und Kaimauer ihr kurz den Puls hochjagte. Als junge Journalistin war sie schon während ihrer Berliner Zeit in Bosnien gewesen, später im Kosovo, und hatte einige Male in Bundeswehrhubschraubern gesessen und mit Soldaten die Suppe gelöffelt. Sie konnte sich auf ihre Trittsicherheit verlassen, auch und gerade wenn eine Horde skeptischer Männer darauf wartete, dass sie ins Stolpern geriet. Obgleich sie zierlich gebaut war, hatte sie etwas an sich, das mehr oder minder gestandenen Männern Respekt einflößte. Vielleicht lag es daran, dass sie keine Angst zeigte, zumindest keine vor Matsch, Dreck, Ratten und Kakerlaken.
»Unsere Karo ist unser bester Indianer«, pflegte Manfred zu sagen. Aber Karoline fühlte sich in Wahrheit oft verzagt und unsicher. Doch es gab niemanden, bei dem sie sich dann anlehnen konnte. Auch Klaus hatte sie immer stark haben wollen und dann verlassen, weil sie ihm zu stark war.
Sie blickte einer Möwe ins kalte gelbe Auge, die einen Moment dicht über ihr schwebte. Das Tier kreischte und ließ sich dann von einer Böe forttragen. Die Insel empfing einen nicht unbedingt herzlich. Karoline schaltete von der Stadthektik einen Gang herunter. Hier ging man zu Fuß. Hier gab es keine Autos, nicht einmal Straßen. Auf einem Weg aus Betonbohlen und auf sandigen Trampelpfaden ging man durch das südlichste der vier Inseldörfer.
Karoline hatte sich das Hotel am Meer im Internet herausgesucht, ohne zu wissen, wie ungeheuer verschlafen der Ort wirklich war. Links ein Fahrradverleih, ein handgeschriebenes Hinweisschild auf Räucheraal, steile Häuser, die fast alle im Sommer Pensionsgäste beherbergten.
Sie trug Jeans unter der silbergrauen Windjacke und Schnürstiefel. Obgleich wetterfest gekleidet, konnte sie ihre Herkunft aus der Großstadt nicht verleugnen. Karoline besaß viel natürliche Eleganz. Klaus hatte sie wohl vor allem als präsentable Frau geschätzt, dachte sie jetzt manchmal bitter. Ihr schmales Gesicht wurde von dichtem halb langen Haar umrahmt, das die Farbe von Haselnüssen hatte. Unter den geraden Brauen blickte sie mit festen dunkelbraunen Augen in die Welt. Ihre Lippen waren voll und weich geschwungen und verrieten dem, der genau hinsah, Karolines Sinn für Humor. Für ihre knapp dreißig Jahre hatte sie viel von der Welt gesehen, auch Schlimmes.
Jenseits des Stückchen Landes, das sie in Richtung Dünen überquerte, um zum Hotel zu gelangen, glühte ein Sonnenuntergang. Gen Norden erstreckte sich eine endlos blühende Heide in leuchtendem Rostrot und Blauviolett.
Das Hotel am Meer lag an den Dünen zur offenen Ostsee. Die Straße aus Betonplatten machte hier vom Hafen am Bodden kommend einen Bogen in die Heide gen Norden. Das Hotel wirkte wie eine weiße Kurbadvilla aus dem vorigen Jahrhundert und die Gartenwirtschaft unter den alten Bäumen vor dem Hotel war jetzt, Anfang Oktober, so gut wie geschlossen. Am Schlüsselbrett der Rezeption fehlte nur ein Schlüssel.
»Außer Ihnen ist nur noch ein älteres Ehepaar aus Berlin da«, sagte Martha Helbig, die resolute Wirtin, in deren grauen Augen sich das eigenartige helle Zwielicht der Insel zu spiegeln schien. »Ich hoffe, Sie sind mit dem Zimmer zufrieden.«
Karoline war es.
Pit lag im Sand in der Kuhle am Hang des Hexenbergs und linste zwischen den hohen Gräsern hindurch auf das Haus hinab, das in einer Senke des Dornbuschs lag, dem Hügelkopf der Insel. Der wilde Wein, der das Haus bis zum Reetdach bedeckte, glühte blutrot in der Morgensonne.
Von seinem Platz aus hatte Pit den gesamten Norden der Insel im Blick, links den Anstieg des Dornbuschs bis hoch zum Leuchtturm über der Steilküste, rechts den Weg nach Grieben, dem nördlichsten Dorf, und das sanft zum Bodden hinab schwingende Land mit seinen vereinzelten knorrigen Bäumen, Dornbüschen und Gras- und Schilfflächen. Im Nordosten mischten sich die grünen Streifen der beiden Landzungen Alt- und Neubessin mit dem blauen Wasser, und es war nicht möglich zu unterscheiden, wo Rügen begann.
Aber Pit war zu jung, um sich für die Schönheiten der Landschaft zu interessieren. Er hatte sein Fahrrad in den Sand geworfen und duckte sich hinter den Gräsern. Er durfte nicht gesehen werden von dem Mann, der jetzt da unten aus der blau gestrichenen Haustür kam, über den Vorplatz zur Scheune ging und sich dann mit einem roten Halfter in der Hand der Koppel zuwandte, auf der das sandfarbene Pony stand.
Pit verfolgte ihn jetzt seit gut drei Wochen und wusste mittlerweile alles über Lizzy und Tom. Heute war Montag, und da wurde das Pony vor einen kleinen Wagen gespannt und trabte durch Kloster nach Vitte und bog dort zum Hafen ab. An anderen Tagen belud er es mit Kisten und streifte mit ihm über die Pfade des Dornbuschs, manchmal bis hoch zum Toten Kerl oder zum Enddorn oder bis ins Naturschutzgebiet von Alt- und Neubessin. Dort legte er sich dann mit einem Fotoapparat auf den Boden, oder hockte stundenlang im Gras. Wie eine Katze vor dem Mauseloch wartete er auf irgendetwas, das Pit, versteckt hinter einem Busch oder Hügel, nie sehen konnte; vielleicht auf Trolle oder Feen oder die Geister der Erde, von denen sein Vater ihm abends aus Büchern vorlas.
In seinem kurzen Leben, von dem sich die Hälfte Pits bewusster Erinnerung entzog, hatte er begriffen, dass es lebenswichtig war, immer zu wissen, was die Großen und Starken vorhatten und wo sie plötzlich auftauchen konnten. Es war wie früher bei dem Hund des Nachbarn, den Pit immer beobachtet hatte, damit er wusste, wo er war und nicht von ihm überrascht werden konnte. Auch vor diesem Hund hatte er Todesangst gehabt. Und Tom war unheimlich stark, stärker noch als Nünü, der bärenstarke Sohn vom Enddornwirt, und vor dem hatte Pit auch Angst. Diese Angst war ein Alptraum, der Pit vertraut war. Zwei Sommer lang hatte er eine unbeschwerte Freiheit in der Stille der Insel genossen, in den Dünen, in Wind und Gischt. Aber jetzt war diese alte Angst vor den Großen und Starken wieder da.
Denn er hatte einem von ihnen eine Kamera zerstört. Dafür musste es eine Strafe geben. Eine fürchterliche Strafe, wenn er sich erwischen ließ. Und wenn seine Eltern das alles herausbekamen, dann würden sie ihn nicht mehr lieben. Sie würden ihn einsperren, verstoßen. Pit dachte das nicht in diesen Worten, aber er fühlte es, er wusste es irgendwie, er hatte es in seiner unerinnerbaren frühen Kindheit so erfahren.
Als Tom unten den Kutschbock bestieg, duckte Pit sich noch tiefer in seine Kuhle.
Das Pony zog an und bog zur Auffahrt zum Leuchtturmweg ein. Es schnitt die Kurve ums Haus wie immer so eng, dass das Weinlaub wackelte. Tom trug die alte schwarze Lederjacke und hatte den Kragen hochgeschlagen. Das Pony trabte zügig den Leuchtturmweg hinab.
Erst als der grüne Wagen hinter dem ersten Haus von Kloster verschwunden war, nahm Pit sein Fahrrad auf, rutschte auf den Weg hinab und fuhr hinterher. Lizzy war nicht beschlagen, darum hörte man ihren Hufschlag kaum. Pit hatte aus sicherer Entfernung beobachtet, wie die Inselgäste manchmal erst im letzten Moment ins Gebüsch sprangen, wenn sie das Pony hinter ihrem Rücken schnauben hörten.
Als Pit aus Kloster herauskam, sah er das Gespann wieder vor sich auf dem Weg am Deich entlang Richtung Vitte fahren. Er konnte es wagen, relativ nah heranzuradeln. Selbst wenn Tom sich umdrehte und ihn sah, konnte er doch nicht einfach vom Kutschbock springen und sich auf ihn stürzen. Das wusste Pit. Einen Ponywagen konnte man nicht stehen lassen wie ein Auto.
In Vitte gabelte sich die Straße. Ein Arm führte als Sackgasse am Laden vorbei in die Dünen. Aber Tom bog auf den Weg Richtung Hafen am Vitter Bodden ein. Lizzy schnitt wie üblich die Linkskurve. Pit sah, wie eine Frau auf einem Fahrrad in die Bremsen stieg und gegen den Zaun kippte.
»Flegel!«, fluchte Karoline und pflückte sich aus dem Zaun, an dem sie sich festgehalten hatte. Ein Spreißel blieb in ihrer rechten Hand stecken. Er brach ab, als sie ihn rausziehen wollte.
Genau vor ihr bremste nun ein kleiner Junge auf einem roten Fahrrad und blickte sie groß, beinahe erschrocken an.
»Guten Tag«, sagte sie lächelnd über so viel Kinderblick.
»Man darf ihm nicht in den Weg kommen«, bemerkte der Kleine ernst.
»So?« Sie zupfte unkonzentriert an dem Spreißel herum, der nur noch tiefer eindrang. »Und wer bist du?«
»Ich bin Pit. Ich bin schon fast sechs Jahre.«
»Ich heiße Karoline.«
»Du musst eine Pinzette nehmen«, sagte Pit. »Meine Mami nimmt immer eine Pinzette. Sie kann gut Dornen herausziehen.«
»Aha.«
»Wir wohnen gleich da drüben«, sagte Pit und deutete einen Sandweg in den Ort hinein. »Komm. Mami soll dir den Dorn rausziehen. Sie kann das.« Er schob sein Fahrrad bis zu einem reetgedeckten Häuschen und stieß das Törchen auf. »Mami! Mami!«
Es war Karoline etwas peinlich, als nun eine hübsche junge Frau mit langem messingfarbenem Haar um die Hausecke kam. Über dem geblümten Kleid trug sie eine Jeansjacke und unter dem Arm einen leeren Wäschekorb. Sie lächelte auf ihren blonden Sprössling herab.
»Mami, du musst Karoline den Dorn aus der Hand ziehen.«
Die Frau zog leicht die feinen Brauen zusammen und musterte Karoline aufmerksam, aber nicht unfreundlich.
»Entschuldigen Sie«, sagte Karoline. »Aber Ihr Sohn ist überzeugt, dass nur Sie mir mit einer Pinzette aushelfen können.«
Die Frau lachte. »Kommen Sie.«
»Eilers«, las Karoline auf dem Schild am Gartentor, neben dem sie ihr Fahrrad abstellte. Seit jeher legte sie Wert darauf, die Namen der Personen zu wissen, mit denen sie Umgang hatte. Und sie vergaß kaum je einen Namen wieder. Es war in ihrem Beruf sehr nützlich, zu wissen, welche Namen vor Jahren einmal in welchen Geschichten eine Rolle gespielt hatten.
»Ah«, sagte sie nun, »Ihr Mann ist Gert Eilers, der Wettermann auf Hiddensee. Man sieht ihn oft im Fernsehen.«
»Und ich heiße Marina.«
Karoline stellte sich vor und zuckte zusammen, als Marina ihre kühle Hand um ihre schloss und dabei den Spreißel noch tiefer hineintrieb.
»Oh, tut mir Leid«, sagte Marina. »Kommen Sie rein. Ich hole die Pinzette. Gehen Sie schon mal ins Wohnzimmer.«
»Hier lang!«, rief Pit und ergriff Karolines andere Hand.
Sie sah die graublauen Augen der Mutter auf den Jungen fallen und dann erstaunt zu ihr hochblicken. Das Befremden Marinas konnte ihr nicht entgehen.
Die Stube, in die Pit sie führte, war klein, aber hell und freundlich eingerichtet. Es gab kein Sofa, aber vier Sessel mit hübschem Blumenmuster, ein Tischchen, ein kleines Bücherregal und einen Fernseher. An einem der beiden Fenster stand ein Nähtischchen.
»Ich muss jetzt wieder hinaus«, erklärte Pit. »Ich muss aufpassen.«
Das kam Karoline zwar seltsam vor, aber wer durchschaute schon die Seele eines kleinen Jungen? Wahrscheinlich wollte er seine Freunde abpassen. Da kam auch schon Marina mit Pinzette, Pflaster und Salbe wieder. Während Pit verschwand, hieß sie Karoline auf dem Stuhl am Nähtisch Platz nehmen und beugte sich über ihre Hand.
»Pit scheint Sie zu mögen«, sagte sie. »Er fasst nicht leicht Zutrauen.«
Karoline hatte das Gefühl, sie müsse sich dafür entschuldigen. »Ich wäre vorhin fast mit einem Pferdefuhrwerk zusammengerasselt und bin in den Zaun gefallen. Pit kam gerade dazu. Er hat sofort begriffen, was los ist. Ein helles Kerlchen. Und sehr hilfsbereit.«
Die Pinzette piekste. »Entschuldigung«, sagte Marina und blickte kurz hoch. »Das wird wohl Tom gewesen sein. Seine Lizzy rast immer so um die Ecken.«
»Lizzy ist dann wohl das Pony«, sagte Karoline leichthin. »Ein hübsches kleines Biest.«
»Er hat es seit zwei Jahren.« Marina beugte sich wieder über Karolines Hand. »Da haben wir ihn. Schauen Sie. Ganz schön lang.« Sie hielt den Spreißel gegen das Licht. »Warten Sie, ich mache Ihnen noch Salbe und Pflaster drauf, damit es sich nicht entzündet.«
Karoline musterte verstohlen das mit viel Liebe eingerichtete Zimmer mit der niedrigen Decke. Es war alles ordentlich und blitzsauber. Eine Hausfrau mit Leib und Seele, dachte sie. Auf so einer Insel gab es ja nicht viel anderes als Haushalt, wenn man nicht eine Pension führen wollte, und das war dann Haushalt hoch zehn.
»Sagen Sie, dieser Tom, das ist nicht zufällig Thomas Reuter?«
Wieder dieses Misstrauen in Marinas Augen. »Kennen Sie ihn?«
»Nicht persönlich.«
»Und warum fragen Sie?« Der Ton war deutlich zurückhaltender. Es war dieselbe Zugeknöpftheit, die Karoline auch bei ihrer Wirtin vom Hotel am Meer aufgefallen war, als sie nach Reuter fragte. »Kenne ich nicht«, hatte sie geantwortet. »Aber hier lassen sich immer wieder Leute vom Festland nieder. Wir respektieren es, wenn sie ihre Ruhe haben wollen.«
»Reuter ist ein bekannter Fotograf«, erklärte Karoline nun. »Zumindest war er es bis vor ein paar Jahren. Er hat eine Unmenge internationaler Preise bekommen. Seine Fotos aus Krisengebieten haben mehr als einmal die internationale Politik zum Handeln gezwungen. Ich bin selber Journalistin. Wir haben oft über ihn berichtet.«
»Wo kommen Sie her?«
»Aus Dresden.«
»Und Sie machen hier Urlaub?«
»So kann man es nennen.«
»Der Herbst ist die schönste Jahreszeit. Wenn die Heide blüht. Wie lange wollen Sie bleiben?«
»Eine Woche, denke ich. Mal sehen. Ich wohne im Hotel am Meer.«
»Ah ja, Neuendorf-Plogshagen. Das ist ein schönes Stück bis Kloster, vor allem gegen den Wind, nicht?«
Karoline stutzte. Sie befanden sich nicht in Kloster, sondern in Vitte, woraus sie schloss, dass Marina an die Entfernung dachte, die zwischen den Süderdörfern und dem Wohnort Toms lag, also Kloster. Was es hieß, gegen den Wind zu radeln, hatte Karoline gerade eben zu spüren bekommen. Sie war wie alle Städter, die an das Tempo von Autos gewohnt sind, die sechs Kilometer durch die Heide viel zu schnell gefahren und völlig ausgepumpt in Vitte angekommen. Sonst wäre sie wahrscheinlich imstande gewesen, schneller zu reagieren, als das Pferdefuhrwerk ihren Weg kreuzte.
»So«, sagte Marina, als das Pflaster über der kleinen Wunde an Karolines äußerer Handkante klebte. »Hoffentlich entzündet es sich nicht.«
»Sicher nicht. Vielen herzlichen Dank!«
Marina lächelte offen. »Keine Ursache. Schönen Aufenthalt noch. Und wenn Sie meinen Mann in der Wetterstation besuchen wollen – er freut sich.«
Sie schüttelten einander in der Haustür die Hände.
Karoline hatte sich entschieden, Pits Mutter nicht zu fragen, wo Reuter wohnte. Sein Name hatte bei Marina eine gewisse Nervosität ausgelöst, so eine Hast, das Thema zu wechseln. Karoline schmunzelte vor sich hin. Marinas Gedanken kreisten verdächtig eng um Tom. Die hatten doch nicht etwa eine kleine Affäre? Dabei konnte sie sich für eine verheiratete Frau kein untauglicheres Gelände für eine Liebelei vorstellten als diese Insel mit seinen nicht einmal 13 000 Einwohnern.
Sie bestieg ihr Fahrrad wieder und wandte sich den Dünen zu. Die Straße führte an einem kleinen Supermarkt vorbei mitten in den schweren Sand der Dünen. Karoline ließ das Fahrrad unten und stieg hinauf.
Sie atmete tief. Jeder Atemzug schien den Staub der Stadt zu vertreiben und ihre Lungen mit Freiheit zu füllen. Der Blick, der sich ihr oben öffnete, weitete ihr das Herz. Graugrün brandete die See an den schmalen Strand von silbriggrauem Sand. Alle zwanzig Meter liefen Wellenbrecher aus Holzpflöcken vom Strand bis weit ins Meer. Silbermöwen schaukelten über den Wellen. Weißgraue Wolken eilten aufs Land zu. Nie war Karoline das Zusammenspiel von Grautönen so lebendig und farbig erschienen.
Sie ging ein Stück am Strand entlang und genoss Wind und Salzluft. Dann kehrte sie zu ihrem Fahrrad zurück. Als sie nach Vitte hinabgerollt kam, stand der grüne Wagen mit dem sandfarbenen Pony vor dem kleinen Supermarkt. Ein Stein vor dem linken Vorderrad diente als Bremse.
Karoline hielt nach Reuter Ausschau. Vermutlich befand er sich im Laden. Im offenen Wagen lag ein größeres Postpaket und sie warf einen Blick auf die Adresse. ›Thomas Reuter, Leuchtturmweg 9, 18565 Kloster, Hiddensee.‹ Der Absender war ein Buchversand.
Außerdem lagen hinter dem Kutschbock Kehrschaufel und Besen neben einem Blecheimer, dessen Verschmutzung seinen Verwendungszweck verriet. Auch im Dresdner Tagblatt hatten sie unter der Rubrik ›Buntes aus aller Welt‹ schon über den Kampf der Hiddenseeer gegen die Pferdeäpfel auf den Wegen berichtet.
Karoline schob ihr Fahrrad über die Straße und stellte es in einen der Fahrradständer vor dem kleinen Supermarkt.
Als sie wieder hochblickte, sah sie den kleinen Pit unten an der Kreuzung um die Ecke kommen. Er winkte ihr zu. Sie winkte zurück. Aber offenbar war es nicht das, was Pit bewirken wollte. Er kam zögernd näher, das Gesichtchen wirkte aufgeregt, fast angstvoll.
»Geh weg da!«, rief er.
Karoline verstand nicht. Pit konnte doch nicht sie meinen. Sie blickte sich um.
In diesem Augenblick erschien der blonde Kerl mit der alten Lederjacke in der Ladentür, in der Hand eine Einkaufstüte. Thomas Reuter. Aber er beachtete sie nicht, er hatte die Augen auf den Jungen geheftet.
Karoline sah, wie Pit vor Schreck erstarrte und dann zurückwich.
Auch Reuters Schritte stockten. »Pit!«
Da hielt den Jungen nichts mehr. Er drehte sich um, taumelte dabei gegen das Pony, das zusammenschrak, und rannte los, was seine kurzen Beine hergaben.
Und nun ging alles sehr schnell.
»He Pit!«, rief Reuter. »Lauf doch nicht immer weg!«
Da warf das Pony den Kopf hoch und trabte los, vielleicht angestiftet vom Ruf seines Herrn, zumindest jedoch ungebremst denn der Stein vor dem Radreifen war verrutscht, als Pit gegen Pferd und Wagen getaumelt war.
Reuter stand wie erstarrt.
Aber Karoline rannte los. Pit drehte sich um, erschreckt von dem Lärm hinter sich. Er stolperte über seine Füße und fiel der Länge nach auf den Boden. Karoline überholte den Wagen, erreichte das Pferd, griff ihm ins Zaumzeug und riss es nach links. Das rechte Vorderrad rollte äußerst knapp an Pit vorbei, bevor sie Pferd und Wagen schließlich zum Stehen brachte. Karoline ließ das Pony los und ging auf die andere Seite des Wagens, um nach Pit zu sehen. Aber der Junge war bereits auf die Füße gekommen und entwischte ihr, kopflos vor Panik, um die nächste Ecke. Karoline rannte ein Stück hinterher, gab es dann aber auf und kehrte um.
Äußerst verwundert sah sie nun, wie Reuter gerade den Kutschbock bestieg, die Zügel aufnahm und dem Pferd das Kommando zum Anziehen gab. An ihr vorbei und ohne sie überhaupt anzusehen, lenkte er den Wagen auf die Dorfstraße Richtung Norden aus dem Ort hinaus.
»Was war das denn?«, fragte sich Karoline verblüfft. »Träume ich?«
Nichts in dieser verschlafenen Straße deutete noch auf das Ungeheuerliche hin, das sich da eben abgespielt hatte. Eine Alte trat aus dem Laden, schwer beladen mit Tüten.
Karoline ging zu ihrem Mietfahrrad. Doch, ein Zeugnis gab es von dem Geschehnis. Neben ihrem Fahrrad stand verwaist die Einkaufstüte, die Reuter offenbar hatte fallen lassen.
Karoline nahm sie und stellte sie in den Drahtkorb auf ihrem Gepäckträger.
Verwundert dachte sie darüber nach, was sie gerade eben gesehen hatte; einen kleinen Jungen in Panik, der sie vor dem Mann hatte warnen wollen, der da aus dem Laden kam und sichtlich unfähig gewesen war, die Katastrophe abzuwenden, die sich vor seinen Augen entwickelte.
Sie hatte sein Gesicht nur kurz gesehen, die unheimlich blauen Augen, die zusammengezogenen Brauen, die eigenartige Mischung von Härte und Sensibilität auf seinen Lippen.
Schon auf den Archivfotos, die Karoline sich vor ihrer Abreise aus Dresden angeschaut hatte, war dieses Gesicht nicht leicht zu durchschauen gewesen. Es schien nichts über die Gefühle eines Mannes verraten zu wollen, der in seinem zehnjährigen rasanten Aufstieg zum berühmtesten Fotoreporter weder Angst noch Skrupel gekannt zu haben schien.
Die bedrückendsten Bilder, die je in Hochglanzmagazinen erschienen waren, stammten von ihm: ein Kind, das verlassen im Zug von Kosovoflüchtlingen stand und noch nicht weinte, aber im nächsten Moment in Tränen ausbrechen würde. Seine Fotos zwangen den Betrachter, innezuhalten und die Geschichte zu ergründen, die etwa das Lächeln eines Mädchens erzählte, das an Krücken ging, weil eine Bodenmine ihm den Fuß abgerissen hatte.
›In einem einzigen Augenblick, den man mit der Kamera festhält, muss mehr Vergangenheit und Zukunft stecken und mehr Trauer und Freude, als man in einem Roman abhandeln kann‹, hatte Karoline in einem Interview mit Reuter gelesen, das fast zehn Jahre zurück lag.
Immer war es ihm gelungen, das Entsetzen von Krieg und Gewalt zu zeigen, ohne wirklich Entsetzliches abzulichten. Nie hatte er Leichen fotografiert, nie auf blutende Opfer gehalten.
Nur ein einziges Foto war von ihm veröffentlicht worden, das einen toten Menschen zeigte, einen jungen Briten, der im Kaschmir von Unabhängigkeitskämpfern entführt und erschossen worden war. Reuters Rolle dabei war unklar geblieben. Als dieses Foto erschien, galt er als tot.