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Erziehung ist pervers. Lisa Nerz recherchiert zum Tod eines Lehrers. Prompt pfeift ihr Chef sie zurück. Doch so leicht lässt Nerz sich nicht ausbremsen. Sie befragt Schüler, eckt im Lehrerkollegium an und schnüffelt trotzdem weiter … »Harte Schule ist ein sehr empfehlenswerter Roman. Weil Lehmann mit nie aufgesetzt wirkender sprachlicher Chuzpe zu Werke geht. Und weil sich hier ein überzeugendes Bild von Jugendlichen findet, eine Mischung aus Kälte und Unbedarftheit, Zynismus und Romantik, Hormonkiller und Stilwillen. Lehmann lässt ihre Figuren reden wie Kids in der Straßenbahn und nicht wie Jugendslang-Lexika der Achtziger.« Thomas Klingenmaier, Stuttgarter Zeitung »Lisa Nerz ist – einsam, aufsässig und notorisch respektlos – ein klarer Fall von hardboiled woman. Der gründlich recherchierte, temporeiche, stilistisch hochklassige Roman beschreibt höchst genau die Verhältnisse, die Verbrechen ermöglichen.« Gitta List, Konkret
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Seitenzahl: 417
Erziehung ist pervers. Lisa Nerz recherchiert zum Tod eines Lehrers. Prompt pfeift ihr Chef sie zurück. Doch so leicht lässt Nerz sich nicht ausbremsen. Sie befragt Schüler, eckt im Lehrerkollegium an und schnüffelt trotzdem weiter …
»Harte Schule ist ein sehr empfehlenswerter Roman. Weil Lehmann mit nie aufgesetzt wirkender sprachlicher Chuzpe zu Werke geht. Und weil sich hier ein überzeugendes Bild von Jugendlichen findet, eine Mischung aus Kälte und Unbedarftheit, Zynismus und Romantik, Hormonkiller und Stilwillen. Lehmann lässt ihre Figuren reden wie Kids in der Straßenbahn und nicht wie Jugendslang-Lexika der Achtziger.« Thomas Klingenmaier, Stuttgarter Zeitung
»Lisa Nerz ist – einsam, aufsässig und notorisch respektlos – ein klarer Fall von hardboiled woman. Der gründlich recherchierte, temporeiche, stilistisch hochklassige Roman beschreibt höchst genau die Verhältnisse, die Verbrechen ermöglichen.« Gitta List, Konkret
Christine Lehmann lebt in Stuttgart und Wangen (Allgäu), ist als Nachrichten- und Aktuellredakteurin beim SWR tätig und schreibt Romane, Kurzkrimis, Kriminalhörspiele (Radio Tatort) und Glossen. Mehr Informationen finden Sie auf ihrer Homepage.
Weitere Lisa-Nerz-Krimis finden Sie auf CulturBooks.
Christine Lehmann
Harte Schule
Der 4. Lisa-Nerz-Krimi
eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2016
Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg
Tel. +4940 31108081, [email protected]
www.culturbooks.de
Alle Rechte vorbehalten
Printausgabe: © Argument Verlag 2005
Lektorat: Iris Konopik
Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj
eBook-Herstellung: CulturBooks
Erscheinungsdatum: 17.05.2016
ISBN 978-3-95988-047-3
Auf einem Stuttgarter Schulhof liegt ein ermordeter Lehrer. Die narbengesichtige Zeitungsreporterin nimmt die Fährte auf und folgt ihr beharrlich. Erst als ein Anschlag stattfindet, wird Lisa Nerz wirklich klar, dass sie im Begriff ist, hochrangigen Amtspersonen in die Suppe zu spucken …
Der unverwechselbare Sound eines Lisa Nerz-Romans kann aufputschen wie ein doppelter Espresso. Dazu begegnen wir hier einer Generation, für die die soziale »Hängematte« eine Illusion gutgläubiger Bürokraten ist. Und auch wenn Goethe sich im Grab umdreht, die jugendlichen Protagonisten sprechen, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist. Christine Lehmann schreibt schnell, hart, glaubwürdig und ohne glättende Kompromisse. Das erweckt ihre Figuren zu grellem, schonungslosem Leben. Oder, wie es Michael Schweizer in der Kolumne des Perlentaucher beschreibt: »Wer nicht täglich mit Heranwachsenden zu tun hat, kann den Roman als Einleitung in die Jugendsprache bestaunen. Überhaupt ist Christine Lehmann den meisten deutschen Krimischreibern stilistisch haushoch überlegen. Lisa Nerz als Ich-Erzählerin kultiviert einen Psychomaterialismus und legt empfindsam-aggressiv versteckte Interessen und Regungen bloß. Man kann sich diesen Sound nicht antrainieren. Bei Lehmann beruht er auf Menschenkenntnis, Lebenserfahrung, Selbstironie und Belesenheit.«
»Harte Schule« ist ein provozierender Meilenstein in der deutschsprachigen Krimikultur.
Else Laudan
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
Chefredakteur Hermann Elsäßer stand an der Kaffeemaschine, biss auf seiner Pfeife herum und kontaminierte den Kaffee mit drei Pillen Süßstoff. »Frau Nerz, wie Sie wissen, unterrichtet meine Frau am Paul-Häberlin-Gymnasium.« Elsäßer war sonst nicht der Mann, der den Verheirateten herauskehrte. »Also machen Sie bitte keine große Geschichte draus.«
Ich nahm Zucker. »Woraus denn?«
Er kraulte sich den Vollbart. »Irgendein Deutschlehrer ist ermordet worden. Und behandeln Sie mir die Volontärin pfleglich!«
Volontärin Isolde Ringolf saß in meiner Zelle im Großraumbüro des Stuttgarter Anzeigers auf meinem Stuhl vor meinem Bildschirm und surfte durch die Agenturmeldungen. Der Duft von Laura Biagottis Venezia harmonierte mit einem orangeroten Leinenblazer, einer beigefarbenen Seidenbluse und einem braunen Wickelrock mit orangeroten Streifen. Sie war blond. Auf dem Näschen saß ein randloses Titanmodell. Sie war hochintelligente unter dreißig, und ich hatte sie jetzt für einen Monat am Hals.
»Was wissen Sie über das Paul-Häberlin-Gymnasium?«
»Paul Häberlin«, sagte sie, »war ein Pädagoge und Philosoph, ein Existenzialist. Er entwickelte eine Ontologie von Individualität …«
»Was auch immer das ist.«
Isoldes Augenbrauen rutschten hoch. »Ontologie? Die Lehre vom Sein.«
»Ich meine Individualität.«
Sie lächelte spöttisch. Als ich nach meiner Lederjacke griff, nahm sie einen karamellfarbenen Kamelhaarmantel vom Haken.
»Und wo wollen Sie hin?«, erkundigte ich mich.
»Ich dachte, wir …«
»Wissen Sie, was eine Blondine mit zwei Gehirnzellen ist?«
Sie runzelte die Stirn.
»Schwanger.«
Hinter den entspiegelten Gläsern brodelte blaues Gift. Ich meldete uns im Sekretariat zur Recherche ab und hielt meiner schönen, verstockten Begleiterin die Türen auf, die sich uns auf dem Weg zum Parkplatz entgegenstellten. Ihr »Danke« klang wie Zitronenbonbons mit Vitamin-C-Zusatz.
Die Büsche, die kostbaren Parkplatz wegnahmen, waren wie verglast. Von jedem Blatt schmolz tropfend das Eis, um auf dem Asphalt sofort wieder zu gefrieren. Isolde rutschte. »Der da?«
»Darf ich vorstellen«, sagte ich, »das ist Brontë. Und das ist Isolde.«
Isolde lutschte an einem kleinen Lächeln, durchaus anerkennend. Brontë wirkte weniger begeistert. Sie war ein vierzig Jahre alter Porsche 356 B 1600 Super 90 – hochzeitsweiß mit nuttenroten Ledersitzen –, den ich mir hatte zulegen müssen, nachdem Emma, mein Golf Cabrio, an einem Apfelbaum bei Reutlingen an der Schwäbischen Alb ihr Leben ausgeknistert hatte. Ich hätte mir auch ein fabrikneues Cabrio leisten können, aber ich habe ein Faible für alte Damen. Auch wenn Brontë grätig war wie eine alte Katze. Erst wollte sie die Tür nicht öffnen, dann nadelte sie uns Kaltluft ins Gesicht. Isolde raffte den Kamelhaarmantel und überlegte laut: »Brontë? Nach welcher der drei Brontë-Schwestern ist die hier benannt?«
»Keine Ahnung. Sie verrät mir ihren Vornamen nicht. Aber vielleicht haben Sie ja mehr Glück.«
Isoldes titanleichter Brillenblick rasterte mein Profil, legte es unter der Rubrik ›mutwillig originell bis verrückt‹ ab und resümierte: »Mein Freund legt seinen Oldtimer im Winter still. Einen Benz.«
Ich gab Brontë die Hundert auf der Schnellstraße nach Degerloch. Das intelligente Verkehrsleitsystem suggerierte sonniges und trockenes Wetter. Stuttgart eiste unter grauen Wolkenschichten zwischen entlaubten Hängen im Talkessel. Wir mussten längs hindurch, vom Südwesten in den Norden. Münster liegt hinter der Müllverbrennungsanlage, eingequetscht zwischen Bahnlinie und Neckar und nördlich beschnitten vom Schnarrenberg. Hier wurde eifrig und eng gewohnt. Es gab eine Bankfiliale, eine Post, eine Apotheke, ein Rathaus, aber kein Zentrum. Das Paul-Häberlin-Gymnasium gruppierte seine dreigeschossigen Plattenbauten oben an der Bahnlinie um einen Lehrerparkplatz und einen kleinen Schulhof. Das Aufgebot an Polizeiautos hatte etliche Anwohner zu einem spontanen Gang zum Bäcker animiert.
Die Glastür des Haupteingangs hatte einen Sprung. Der Geruch nach feuchten Jacken, Turnschuhen und Putzmitteln weckte tief sitzende Beklemmungen. Wenn unsereiner früher durch menschenleere Schulgänge eilte, dann war etwas schiefgegangen. Andernfalls saß man hinter den Türen im Unterricht oder rempelte durch Pausenmassen.
Ich steuerte die Treppe an. Lehrerzimmer und Rektorat lagen immer irgendwo oben. Grünpflanzen in einem Hydrokübel mit Sitzgruppe im zweiten Stock zeigten an, wo Eltern zu warten hatten, die zur Lehrersprechstunde erschienen. Das Lehrerzimmer verwehrte Unbefugten den Zutritt mit einem Türknauf. Das Rektorat hatte jetzt, zwischen den Pausen, etwas von Pausenstimmung. Am Tisch hinter der Holztheke trank eine voluminöse Sekretärin mit gespitzten Lippen und abgespreiztem kleinem Finger Kaffee aus einer Mokkatasse. Sie suchte den Blick durch beschlagene Brillengläser.
»Guten Morgen«, sagte Isolde. »Wir sind vom Stuttgarter Anzeiger. Könnten wir wohl den Herrn Rektor sprechen?«
»Der hat anderes zu tun.«
»Dürfen wir dann hier auf Herrn Otter warten, Frau Bluthaupt?«, erkundigte sich Isolde höflich. Wie ein guter Staubsaugervertreter hatte sie sich die Namen auf dem Türschildchen gemerkt. Der Kamelhaarmantel schmiegte sich um ihr Figürchen an das zerratzte Holz der Theke. Unter dem Saum lugte der Rock hervor, darunter schimmerten Seidenstrümpfe. Die Pumps hatten an den Fersen kleine Nieten.
»Tun Sie, was Sie nicht lassen können«, sagte Frau Bluthaupt und wandte sich Papieren zu. Stühle gab es im Vorzimmer nicht. Schüler sitzen sowieso den ganzen Tag.
»Sie halten die Stellung«, flüsterte ich Isolde zu. »Ich bin gleich wieder da.«
»Aber …«
»Oder wollen Sie im Auto warten?«
Isolde schnaufte.
Der Rektoratsgang endete an einem Fenster zu einem hinteren Schulhof. Gegenüber klotzte eine Turnhalle, die rechts durch einen Seitenflügel mit dem Haupthaus verbunden war. Der Zaun zum öffentlichen Fußweg hatte was von Raubtiergehege. Unten rotteten sich Uniformierte und Zivilisten um einen abgedeckten Körper. Ich treppelte die zwei Stockwerke hinab. Der Gang, der unten an einer Glastür endete, war mit rotweißen Bändern gesperrt und wurde von einem Schutzpolizisten bewacht.
»Ist Oberkommissar Weininger schon da?«, fragte ich.
Weder meine Frage noch meine Lederjacke oder die Narbe in meinem Gesicht passten zu dem, was sich der Bulle unter einer Lehrerin vorstellte. Seine Antwort war diplomatisch. »Das weiß ich nicht.«
Ich entzog mich seinem Blick um die nächste Ecke in den Verbindungstrakt zur Turnhalle. Die Klassenzimmertüren lagen einander gegenüber. Ich klinkte links die nächste auf. Dahinter war es überraschend finster. Im Schein der offenen Tür starrten mir zwei Dutzend Kinder entgegen. Neben einem Filmprojektor ahnte ich die Gestalt des Lehrers. Auf der Leinwand vor der Tafel wurde gerade der brasilianische Regenwald abgeholzt. »Jede Minute verschwindet eine unserer Lebensgrundlagen auf einer Fläche von vierzig Fußballfeldern.« Schon zu meiner Zeit hatte der Sprecher so unerbittlich geklungen.
»Polizei«, sagte ich noch tadelnder und marschierte durch den Regenwald zu den Fenstern, die mit schweren Vorhängen verhängt waren. Ich suchte nach einem Lichtstrahl, fand den Schlitz, öffnete ein Fenster und stieg aufs Fensterbrett. Gelächter flackerte auf. Auch die heutige Jugend war noch mit ganz einfachen Dingen zu erfreuen. Ehe ich in den Schulhof sprang, hatte ich Christoph Weininger ausgemacht. Er neigte zu weißen Socken, die vor der schwarzen Plane blitzten.
»Ich kann dir nichts sagen«, sagte er.
»Brauchst du auch nicht. Warum liegt die Leiche noch hier?«
»Glatteis. Der Leichenwagen steckt im Stau. Es sind wieder alle Hausfrauen mit Sommerreifen losgefahren und haben sich quergestellt.« Er blies in die rot gefrorenen Hände und steckte sie dann in die wattierte rote Weste. Christoph war ein kleiner Schlägertyp mit stoppeligem Schädel und einem Gesicht zwischen Biergemütlichkeit und Strafbarkeitsvermutung.
»Wer hat ihn gefunden?«, erkundigte ich mich.
»Der Hausmeister und eine Turnlehrerin, heute früh beim Aufschließen, gegen halb acht.«
Ich hätte gern die Plane angehoben. Aber die Spurensicherung ließ niemanden mehr ran. Der Tote lag kopfseits an einem sechseckigen Blumenkübel aus Beton, in dem ein kahles Bäumchen kümmerte. »Wie ist er gestorben?«
Christoph hob die breiten Schultern. »Möglicherweise ausgerutscht und rückwärts gegen den Kübel gefallen.«
»Das klingt nicht nach Mord.«
»Dazu kann ich nichts sagen.« Christoph blinzelte an mir vorbei. Eine Frau stürzte auf uns zu. In Regenjacke, Jeans, Turnschuhen und mit dem mausgrauen Kurzhaarschnitt über dem Backpflaumengesicht schien sie seit Jahrzehnten erpicht darauf zu beweisen, dass sie der Abteilung bester Mann war.
»Was machen Sie hier? Wer sind Sie?«
»Nerz.« Ich senkte meine Stimme um eine halbe Oktave. »Hat man Sie nicht informiert? Ich bin der Stuntman. Dezernat für aktionsorientierten Lokaltermin, DALT, im Volksmund Stuntmen genannt. Wir stellen den Tathergang gerichtsverwertbar nach, sobald es der materielle Befund erlaubt. Ich kann nichts dafür. Die Idee stammt von unserem rührigen Polizeipräsidenten. Wir sind beim Referat Ärztlicher Dienst angesiedelt. Versuchsphase. Ich sollte einen Blick auf die Angelegenheit hier werfen. Und wer sind Sie?«
Christoph drehte sich schnell weg und machte sich fremd.
»EKHK Beckstein. Und Sie verpissen sich! Verarschen kann ich mich selber.«
Erste Kriminalhauptkommissarin also, Leiterin des Dezernats 1.1 für Tötungsdelikte und Todesermittlungen, das war neu. Eine wackere Frau, die ihre Untergebenen mit ihrer physischen Gegenwart beglückte und sich nicht zu schade war, eigenhändig nach einem Streifenpolizisten zu winken, der mich abführte.
Mit dem Klingeln zur Pause erschienen an den Fenstern zum Hof Gesichter. Die Gänge waren plötzlich voll von Orange, Giftgrün und DDR-Blau mit weißen Streifen und viel Nabelfrei. Die jungen Türken in gestreiftem Adidas mit Messern in den Taschen. Die Lans in weißen Hosen mit zu Krönchen und Kränzchen gegelten Farbstoffhaaren, bei ihnen die Schminkmädels mit quellendem Busen und so knappen Hüftjeans, dass der Stringtanga rausguckte. Den Skatern hingen die Hosen von den Hinterbacken, der Hosenboden in den Kniekehlen. Hin und wieder ein Skin mit Springerstiefeln, ein Punk mit Hahnenkamm, ein Gruftie ganz in Schwarz und Samt. Was war das nur für ein Rektor, der den Unterricht voll durchziehen ließ, während der Deutschlehrer auf dem Schulhof erkaltete.
Die Glieder des Lehrkörpers, die im zweiten Stock aschgesichtig dem Lehrerzimmer zueilten, waren schon reichlich gichtig, keiner unter fünfzig. Da fiel es auf, dass der albinoblonde Mann im grauen Zweireiher, der, gefolgt von Isolde, aus dem Rektorat kam, kaum die vierzig erreicht haben konnte.
»Wie gesagt«, sagte er, »ich muss erst einmal das Kollegium informieren.«
»Aber natürlich«, antwortete Isolde. »Wir warten gern.«
Otter war ein pigmentarmes Prachtexemplar von einem breitärschigen Jungkarrieristen, der außer einer Topausbildung in Menschenführung und dem richtigen Parteibuch noch ein Schweinsgesicht ins Amt einbrachte. Wieder einmal wäre ich gern Mäuschen im Lehrerzimmer gewesen. Wenn Isolde behauptete, sie warte gern, war sie keine Journalistin. Jetzt wollte sie auf dem Schulhof Jugendliche befragen.
Ein Junge, gerade mal elf oder zwölf Jahre klein, sprang uns auf der Treppe entgegen und fuhr just in dem Moment, da er zwischen uns durchhuschte, die Ellbogen aus. Mich traf er an der Brust. Auch Isolde japste. Ich erwischte ihn am Kragen. Sein Maul feixte noch, aber seine Augen weiteten sich schon. Kurzerhand fasste ich ihm in den Schritt.
»He, was machen Sie denn da!«, rief jemand von unten.
Der Bub riss sich los. Eine Lehrerin stieg mit fliegenden Grauhaaren die Treppe hinauf. Isolde war auffällig sprachlos.
»Wir wollen zu Herrn Otter«, sagte ich.
»Das Rektorat befindet sich aber oben.« Die Lehrerin machte graue Augen hinter den Brillengläsern und zupfte am violetten Halstuch. Sie war dem, was sie gesehen hatte, sprachlich im Moment nicht gewachsen. Überdies fantasiert jeder Mensch, der dazu verdammt ist, sich als Lehrer auf die Gewalt des Wortes zu beschränken, zuweilen von handgreiflicher Zurechtweisung der Rabauken. Isolde und ich kehrten um und fanden zwischen den Grünkübeln Platz. Mit dem Klingeln zum Pausenende erschien Otter.
»Frau äh Ringolf. Von welcher Zeitung waren Sie doch gleich noch mal?« Er öffnete die Tür zum Sekretariat und dann das zu seinem Büro.
»Das ist meine Kollegin Lisa Nerz«, hechelte Isolde hinterher.
Otter eroberte seinen Schreibtisch. Der Stuhl dahinter machte ihn optisch größer. Wir nahmen auf Stühlen davor Platz. Isolde schlug die Beine übereinander. Der Wickelrock klaffte, wie es sich gehörte. Otter nahm seinen glasigen Blick an die Kandare. »Wie gesagt, ich kann Ihnen auch nichts sagen. Wir sind entsetzt und schockiert über diese feige Tat. Herr äh Marquardt war …«
»Dann war es Mord?«, unterbrach ich.
Otters Äuglein hielten es nur Bruchteile von Sekunden auf meinem Gesicht aus. »Wie gesagt, Frau äh Ringolf, Sie werden verstehen, dass ich zu diesem Zeitpunkt natürlich keinerlei Auskunft geben kann, um die polizeilichen Ermittlungen nicht zu gefährden. Herr Marquardt unterrichtete an dieser Schule Deutsch und Ethik seit nunmehr fünf Jahren. Er war ein engagierter Kollege. Ich habe seine Beförderung zum Oberstudiendirektor befürwortet. Er war ein sehr beliebter Kollege …«
»Bei wem?«, fragte ich. »Bei den Schülern oder bei seinen Kollegen?«
Otter blinzelte. »Die Türken gingen sogar zu ihm in den Ethikunterricht. Aber«, an Isolde gewandt, »das schreiben Sie bitte nicht, denn sonst steht morgen der Imam bei mir im Vorzimmer. Wir haben hier einen Ausländeranteil von dreißig Prozent.«
»Verstehe«, seufzte Isolde aus tiefster deutscher Seele. »Da ist die Gewaltrate sicherlich hoch.«
Otter versteifte sich. »Eine konsequente Erziehung zur Leistungsbereitschaft und Demokratie ist der beste Schutz vor politisch motivierter Gewalt. Ich darf wohl sagen, dass wir an dieser Schule bislang keine derartigen Vorkommnisse hatten. Diese erschütternde Bluttat ist für mich überhaupt nicht nachvollziehbar.«
Niemand verlangte von Otter, dass er einen Mord nachvollzog.
»Ist Herr Marquardt verheiratet?«, erkundigte ich mich.
»Nein.«
»War er schwul?«
Otter zog das Kinn an. »Wie gesagt, ich kann hier, selbst wenn ich es wüsste, aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes über private Dinge natürlich keine Auskunft geben.« Er schaute auf die Uhr.
»Natürlich«, sprang ihm Isolde bei. »Wir haben ja auch schon viel von Ihrer kostbaren Zeit in Anspruch genommen. Allerdings hätten wir da noch eine kleine Bitte. Wäre es wohl möglich, ein paar Worte mit Marquardts Klasse zu sprechen? Ein paar Schülerstimmen würden das Bild abrunden.«
Warum war Isolde nur so darauf erpicht, mit Jugendlichen zu reden? Otter errötete, quetschte sich hinter seinem Schreibtisch hervor und ließ sich von Frau Bluthaupt, die sich auf allerhöchsten Stöckelschuhen in Zeitlupe zu den Stundenplanaushängen bewegte, sagen, wo die Klasse 8 b Unterricht hatte. Ich fragte mich, was Schüler von einem Rektor hielten, der immer rot anlief. Was er von Schülern hielt, offenbarte er Isolde beim Gang durch die Gänge. Rechtschreibung mangelhaft, Rechnen ungenügend. »Hätten wir bei Pisa mitgemacht, Deutschland wäre Letzter geworden.« In einer Zeit, da sich das Weltwissen in einem Jahr verfünffache, komme es auf die Grundlagen an und darauf, dass die Schüler das Lernen lernten. Otter setzte auf die Vermehrung von Datenträgern. Gleich bei Amtsantritt hatte er den EDV-Raum ausgebaut. Leider versagten die Rechner zuverlässiger den Dienst als ein Lehrer mit Burn-out-Syndrom. Isolde gab sich als Philosophin und Politologin zu erkennen. Ich trottelte hinterher und spielte mit dem Gedanken, ihr in den Nietenabsatz zu treten.
Otter atmete durch, ehe er die Hand mit dem Ring am kleinen Finger auf die Klinke einer Klassenzimmertür legte. Dann trat er schwungvoll ein und überraschte Madame Hoffmann mitten im Wort il meurt.
»Entschuldigen Sie die Störung. Hier sind zwei äh Damen von der Presse.«
Madame Hoffmann schob scharfen Protest auf ihr Gesicht, doch als ihr Blick auf mich fiel, wichen die Gesichtszüge erschrocken zurück. Manche Schöngeister konnten sich schlecht beherrschen, wenn sie die Narbe erblickten, die mein Gesicht spaltete.
Otter verabschiedete sich von Isolde mit eiligem Handschlag und schwitzte hinaus. Isolde ging zur Tafel hinüber. Ich blieb bei der Tür und lehnte mich gegen den Rahmen. Da Isolde bei der Lehrerin stand, musste sie nun auch etwas sagen.
»Ja, äh, ihr wisst doch alle, was euerm Deutschlehrer, dem Herrn Marquardt, zugestoßen ist.«
Die Schüler lümmelten.
»Ihr seid doch sicher alle sehr betroffen.«
Ich erhaschte den hellblauen Blick einer gefärbten Blondine in der zweiten Bank. Sie hatte einen Teint wie Milch und Zucker.
»Herr Marquardt war doch ein beliebter Lehrer«, krampfte Isolde weiter.
Neben der Aquamarinblondine saß eine dicke Brünette mit Ringen an jedem Finger und nabelfreiem Streifenwestchen. Sie starrte mich hemmungslos an. Die Grunge-Lady hinter ihr nahm verstohlen den Walkman aus den Ohren. Sie trug drei Lagen laufmaschiger, auf links gedrehter Strickpullover übereinander. Vier blankäugige Südländer in blauen Trainingsanzügen flegelten hinten.
»Wir möchten«, holte Isolde aus, »etwas über die schreckliche Tat in der Zeitung bringen. Dafür brauchen wir noch ein paar Schülerstimmen …«
Ich zog die Hand aus der Jackentasche und legte – unsichtbar für Isolde – den Finger an die Lippen. Die Aquamarinblonde runkste ihrer Nebensitzerin den Ellbogen in die Rippen. Die Grunge-Lady schaute sich um. Eine Mauer des Schweigens war im Nu hochgezogen.
»Oder habt ihr zu seinem Tod gar nichts zu sagen?«, mühte sich Isolde. »Lässt euch das denn völlig kalt?!«
Hinten stand einer auf, zog die Jacke vom Stuhl und schlappte nach vorne knapp an Isolde vorbei zur Tür.
»Wo willst du hin, Marko?«, fragte Madame Hoffmann alarmiert.
Der Junge zeigte bös gelichtete Vorderzähne, streifte mich mit der Schulter und knallte die Tür.
»Ich denke«, sagte die Französischlehrerin energisch, »Sie gehen jetzt. Es ist ohnehin eine Geschmacklosigkeit extraordinaire, was Sie hier treiben.«
Isolde drehte sich wortlos um. Ich hielt ihr die Tür auf. Während der Kamelhaarmantel an mir vorbeirauschte, zeigte ich der Klasse verstohlen den erhobenen Daumen.
»Sie sollten sich was schämen!«, sagte Hoffmann.
Die Blonde kicherte lautlos in ihre Nike-Jacke hinein.
Isolde schwieg ausführlich. Ich zwang Brontë auf der linken Spur zwischen Straßenbahndamm und einem Lastwagen hindurch. Isolde holte Luft. »Was habe ich denn falsch gemacht?«
»Zerbrechen Sie sich nicht Ihr schönes Köpfchen. Es war schon okay.« Die Riesenreifen des Lastwagens kamen Brontës Flanke bedrohlich nahe. »Natürlich hätten Sie Otter nicht die Antworten schenken dürfen …«
»Und Ihre Frage, ob Marquardt schwul war, war natürlich superschlau. Was sollte er denn darauf antworten?«
»Er hat doch geantwortet. Er hat alles gestanden: seine Angst vor den Schülern, vor den Kollegen, vor sich selber. Marquardt war in seinen Augen ein Querulant. Otter wollte ihn wegloben. Wir haben nämlich Beförderungsstopp im Ländle. Otter benimmt sich wie einer, der die ganz oben auf seiner Seite weiß gegen sein eigenes Kollegium. Das dürfte Ihnen doch vertraut sein!«
»Wenn das eine Anspielung sein soll«, schnappte Isolde, »dass ich mit Herrn Elsäßer bekannt bin, dann … dann möchte ich eines mal klarstellen …«
»Wenn Sie jemals Journalistin werden wollen«, unterbrach ich, »dann bringen Sie sich bei einem Thema nie selbst ins Spiel!«
»Was haben Sie eigentlich gegen mich?«
Ich lachte. »Streichen Sie das Ich aus Ihrem Wortschatz. Das Bedürfnis, als Mensch respektiert zu werden, ist eine schlechte Voraussetzung für die Unabhängigkeit der Presse.«
»Wenigstens habe ich es nicht nötig, andere Menschen wie Dreck zu behandeln.«
In der Redaktion räumte ich ihr die Hälfte meines Schreibtischs frei, besorgte ihr einen Stuhl und legte ihr Papier und Kugelschreiber hin. Selbstverständlich war sie es gewohnt, am Bildschirm zu arbeiten. Den Artikel über den toten Lehrer mit der Hand zu malen, bedeutete Rückfall in Zeit und Stil von Deutschaufsätzen. Sie hielt die Hand schützend übers Blatt. Dass sie sich drangsaliert fühlte, hinderte mich daran, den Stuhl samt der nach Venezia duftenden Intelligenz mit einem Fußtritt aus meinem Kabuff zu befördern.
Ich klickte mich im Computer durch die Agenturmeldungen. Das Land strich die Fahrtkostenzuschüsse für die Schüler. Entweder die Kommunen zahlten fürs Abo oder die Eltern, wenn sie die Kinder aufs Gymnasium schickten. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft zeterte wieder einmal was vom Ende der Chancengleichheit.
Isolde hüstelte. »Ich habe da ein Problem. Was wissen wir schon? Sollte man nicht bei der Polizei anrufen?«
»Gratuliere. Sie haben so viele Waschmaschinen gewonnen, wie Sie tragen können.«
Die Leichtgläser blitzten. Ich korrigierte ihr Rechercheergebnis im Telefonbuch in Richtung Landespolizeidirektion II. Isolde konnte nicht wissen, dass die LPD I fürs Umland zuständig war. Da sie die Angewohnheit hatte, die Gesprächspartner mit Namen anzureden, bekam ich mit, dass sie an den Chef der Pressestelle geraten war, der sich als Bollwerk gegen die öffentliche Neugierde verstand, vor allem wenn er Volontäre am Ohr hatte.
»Aber, Herr Käfer …« Isolde malte Quadrate aufs Papier. »Sie gehen doch offenbar von einem Gewaltverbrechen aus.« Sie füllte die Quadrate schwarz aus. »Ich will doch bloß wissen, ob es Mord war …« Sie versah die Quadrate mit Nasen. »… meinetwegen ein Tötungsdelikt …« Die Nasen wurden lang und krummer. »Ich meine …« Die Nasen bekamen Warzen. »Na gut, dann warten wir eben die Pressemitteilung ab.« Sie knallte den Hörer aufs Gerät.
Elsäßer verdunkelte den Eingang meines Kabuffs und erkundigte sich, ob er die Damen zur Recherche ausführen dürfe. Schwer zu sagen, wen es mehr erleichterte, die Dame oder den Herrn, dass ich den Mittagstisch ablehnte. Isolde knüllte ihr Blatt in den Papierkorb. Kaum waren sie und ihr Parfüm weg, fischte ich es wieder heraus. Sie hatte eine schwungvolle Handschrift.
»Im Paul-Häberlin-Gymnasium im Stadtteil Münster wurde heute Morgen die Leiche des Deutsch- und Ethiklehrers Marquardt aufgefunden …« Aufgefunden, jawohl! Isolde brauchte nicht erst ein Polizeifax als Vorlage.
Ich kramte Christoph Weiningers Nummer aus meinem Karteikasten und rief im Dezernat an. Er senkte sofort die Stimme. »Nicht jetzt. Ruf gegen sieben wieder an.« Was war EKHK Beckstein nur für ein Besen? Es war absurd, so ein Geheimnis um einen toten Deutschlehrer zu machen. Ich erwog, meinen Oberstaatsanwalt zu aktivieren. Dr. Richard Weber leitete zwar die Abteilung für Wirtschaftsdelikte und lehnte Mord ab, aber ihn verband mit Christoph eine uralte Feindschaft, deren wahre Ursache ich noch nicht hatte ergründen können. Die Aussicht, Christoph zu schaden, konnte ihn locken. Mir zuliebe mischte er sich auf keinen Fall in fremde Ermittlungen ein. Doch: »Herr Weber ist in der Sitzung«, teilte seine Sekretärin Kallweit mit.
Ich legte die Füße auf den Tisch und rauchte. Seit zwei Jahren starrte ich mindestens einmal täglich ins Lochraster der Deckenverkleidung, das die Arbeitsgeräusche des Großraumbüros schlucken sollte. Die Löcher entzogen sich der räumlichen Fassbarkeit. Mal stachen sie als schwarze Punkte herab, dann wieder löcherten sie ins Unendliche. Stets warfen sie mir das Echo meiner Faulheit zurück. Was die Löcher schluckten, produzierte den nervösen Unterdruck für mein journalistisches Tun, doch was die Fläche reflektierte, lähmte meinen Diensteifer für das publizistische Interesse meines Arbeitgebers. So sorgte das Haus dafür, dass ich meinen Platz in der Welt jederzeit bestimmen konnte.
Als Isolde vom Essen zurückkam, hatte ich den inneren Frieden wieder. Auf ihrem Gesicht glänzten Reste ranghöherer Gespräche. Ich überging das »Mahlzeit« und erbot mich, Kaffee zu holen. Vermutlich hatte Isolde mir meine niedere Herkunft längst angesehen und fand die Welt wieder auf die Füße gestellt, als ich mit zwei Bechern Kaffee anschwappte. Inzwischen war auch das Fax von der LPD II gekommen. Es war noch nicht lange her, da hatte man aufgehört, die Polizeiberichte mit Schreibmaschine und Tipp-Ex zu verfassen, und sich einem Textverarbeitungsprogramm anvertraut. Mit dem Briefkopf experimentierte man noch. Mal wieherte das Wappenpferdchen des lokalhistorischen Stutengartens, mal warfen abgerundete Ecken Schlagschatten. Der journalistischen Einfallslosigkeit kam man mit einer schwungvollen Mischung aus Polizeideutsch und reißerischem Lokalzeitungsstil entgegen.
»Eine grausige Entdeckung machte R. Treiber, der Hausmeister des Paul-Häberlin-Gymnasiums, als er am Mittwoch, den 1. Februar um 7:15 Uhr den hinteren Schulhof aufschloss …«
Isolde schob die Haare hinters Ohr. Die kleinen Diamantstecker waren recht konventionelle Ware, vermutlich ein Geschenk ihres Freundes, der seinen Oldtimer im Winter stilllegte. Sie seufzte. »Den könnte doch jeder erstochen haben. Zum Beispiel eine eifersüchtige Freundin.«
»Erstochen also, aber Freundinnen morden selten.« Ich konnte meine feministische Vergangenheit nicht verleugnen.
»Ich meine ja nur«, sagte Isolde. »Es müssen nicht unbedingt Schüler gewesen sein.«
»Wären Ihnen Schüler lieber?«
»Natürlich nicht!« Sie nagte an der Unterlippe. »Soll ich jetzt einfach nur das Fax abschreiben? Und wozu waren wir dann heute früh in der Schule?«
»Weil Elsäßer mir verboten hat, eine große Geschichte draus zu machen, mit Rücksicht auf seine Frau.«
»Ach so, ja.« Isolde blinzelte. »Aber wenn man den Artikel nun so aufziehen würde, wie wir es erlebt haben? Betroffenheit bei den Lehrern, Sprachlosigkeit bei den Schülern?«
Ich fragte mich, wie sie den Anschlag des Skaters auf ihre Brust schildern würde. »Nicht zu vergessen, Otters Verdacht gegen die Türken!«
»Da wäre ich vorsichtig.«
»Mit Rücksicht auf die Türken? Oder auf Otter? Oder auf Ihr Verhältnis zu Elsäßer? Wem schulden Sie am meisten Political Correctness?«
»Wenn Sie glauben, dass ich Angst …!«, fuhr Isolde auf.
»Oh nein«, sagte ich milde. »Aber meinen Sie nicht, Sie sollten sich klar darüber sein, wen Sie in die Pfanne hauen wollen, die Schüler oder die Lehrer?«
»Ich will selbstverständlich niemanden in die Pfanne hauen!«
»Warum nicht?«
»Sie wollen mir doch nicht unterstellen, dass ich …«
»Wenn Sie also auf Objektivität bestehen«, sagte ich lächelnd, »meinen Sie nicht, es wäre unverfänglicher, auch mit Rücksicht auf die Wünsche des Chefredakteurs, wenn Sie sich an den Polizeibericht hielten?«
»Also gut.«
»So viel zum pädagogischen Unsinn sokratischer Fragen. Trauen Sie nie einem Lehrer, auch wenn er sagt, dass er es gut mit Ihnen meint.«
Hinter den Titanzwischenstücken glomm ein blauer Funke auf. Sie wollte meinen Job nicht, aber sie war entschlossen zu beweisen, dass sie ihn eher verdiente. Sie war jung und weiblich und eine Bekannte Elsäßers. Wer zuletzt lacht …
Ich überließ ihr mein Kabuff und ging die Kollegen stören. Als ich nach anderthalb Stunden zurückkam, stand mein Karteikasten offen, und Isolde schrieb, über ihren Terminplaner gebeugt, Telefonnummern ab. Ich riss ihr, ehe sie aufschaute, ihr Büchlein unterm Kugelschreiber weg. Sie fuhr auf. Mit einem zweiten Griff ratschte ich den gesamten Adressteil aus den Ringen und warf ihr den Terminplaner entgegen, als sie aufsprang. Das lederne Buch hüpfte ihr aus den Händen unter den Tisch. Als sie wieder hochkam, hatte ich schon das Feuerzeug unter die Adresszettel gehalten und ließ das Bündel in den Aschenbecher fallen. Fassungslos sah sie zu, wie der Aschenbecher in Flammen aufging.
»Telefonnummern«, sagte ich, »erarbeitet sich jeder Journalist selber. Ich hoffe, Sie schreiben besser, als Sie stehlen. Wo ist der Artikel über den Schulhofmord?«
»Der ist … Maier hat ihn abgesegnet … Sie waren ja nicht da!«
In meinem Hirn funkte es. Aber der Spannungsbegrenzer verhinderte, dass die Sicherung durchknallte. Ich schloss meinen Adresskasten in den Schreibtisch und begab mich ins Archiv hinab.
Dort herrschte in feuerfesten Kunstlichträumen Karin Becker über die hauseigenen und bundesweiten Presseerzeugnisse und das Munzinger Archiv. Die Jungfer legte die Schere auf die Leipziger Volkszeitung und füllte einen Kaffeebecher.
»Paul-Häberlin-Gymnasium«, sagte ich.
Becker ging an die Hängeregister. »Das PHG wurde in den Fünfzigern gegründet und in den Siebzigern erweitert. Starker naturwissenschaftlicher Zug, obgleich der damalige Rektor Philologe war, ein Dr. Karl August Hauff. Er ging vor sechs Jahren in Pension. Sein Nachfolger heißt Wilhelm Otter. Hat alle Staatsexamen mit Eins absolviert und ist der Schwager des Kultusministers.«
»Oh!«
Becker lächelte knittrig fein. »Karl Kraus hat damals den Artikel geschrieben. Einer seiner letzten Arbeiten für den Anzeiger. Ich würde sagen, er hat wie üblich vor dem dicken Ende gekniffen, gell.«
So auch im Privatleben. Krk hatte mir im Rahmen einer heftigen Affäre seinen Tisch und Job beim Stuttgarter Anzeiger überlassen und war als Fotograf zum Motor-MagazinMM gewechselt. Dort schien er endgültig unter die Räder gekommen zu sein. »Haben Sie mal wieder was von ihm gehört?«
Becker dankte mir mit einem Lächeln für den Hinweis, dass die Affäre längst vorbei war, und blätterte in den Zeitungsschnipseln der Mappe. »Da schau her. Vor zwei Jahren verschwand ein Schüler, zwölf Jahre, ein Kurde namens Selim Ögalan, auf dem Nachhauseweg. Die Ermittlungen in türkischen Kreisen brachten genauso wenig wie die in Skinheadkreisen. Im letzten Jahr wurde ein Skinhead aus dem PHG zu zwei Jahren Haft verurteilt, weil er zusammen mit einem Jungen von der Carl-Benz-Schule auf dem Hallschlag Steinplatten von der Reinhold-Mayer-Brücke in Münster auf Obdachlose geworfen hatte. Glücklicherweise kam keiner zu Schaden. Die Namen der beiden Burschen wurden aus Gründen des Jugendschutzes nicht veröffentlicht.«
»Gestern wurde der Deutschlehrer Marquardt vermutlich ermordet.«
»Oh.« Becker nestelte eine Haarsträhne in den Dutt zurück und setzte sich an den Computer. Seit Jahren schon bemühte sich eine einsame Hilfskraft, das gesamte Archiv einzuscannen und mit Recherche-Modi zu versehen. Die Jungfer Becker, hochkonzentriert im bläulichen Widerschein des Bildschirms, war immer noch ein ungewohnter Anblick für mich. Dabei bewahrte sie, trotz der Unerschrockenheit gegenüber futuristischer Technik, die zarte Würde einer früh verknitterten Fünfzigerin in blauem Faltenrock und rosafarbener Bluse, die beim abendlichen Kräutertee den kastrierten Kater streichelte und von Kreuzfahrten mit einem distinguierten Herrn träumte.
»Da haben wir’s«, meldete sie. »Jürgen Marquardt hat nämlich mit seinen Schülern das Stück Was heißt’n hier Liebe? von der Roten Grütze inszeniert. Die Aufführung sollte kurz vor Weihnachten stattfinden, aber der Hauptdarsteller erschien nicht, ein gewisser Marko Vasiljevic, fünfzehn Jahre.«
Musste das ein Gekicher gewesen sein. Wie brachte man pubertierende Kinder dazu, auf der Bühne von Masturbation in Bubenzeltlagern und Orgi dem Orgasmus zu erzählen? Der Vorbericht zur Premiere war reich bebildert. Marko war derselbe, der heute früh die 8 b verlassen hatte. Die Aquamarinblonde hieß Steffi Bach, vierzehn Jahre. Marquardt lächelte vollbärtig in die Kamera wie einer, der sich berufen fühlte, wozu auch immer. Die Notiz, die Ruth Laukin nach der geplatzten Premiere verfasst hatte, offenbarte den ganzen Unmut der gelackmeierten Lokaljournalistin.
»Und noch was«, sagte Becker. »Eine Schülerin namens Birgit L. – Name von der Redaktion geändert – wirft dem Deutsch- und Ethiklehrer des PHG sexuelle Belästigung vor. Das war im letzten August. Er soll sie in den Sommerferien angerufen und sie bekniet haben, mit ihm zu verreisen. Zwei Tage später gibt die Polizei bekannt, das Mädchen habe sich in Widersprüche verwickelt und schließlich eingeräumt, den Vorwurf erfunden zu haben, um die Aufmerksamkeit des Lehrers zu erregen.«
»Eieiei.«
»So was kommt in den besten Schulen vor«, sagte Becker. Sie hüstelte. »Ich … ich hätte mich beinahe wegen eines Lehrers umgebracht.« Sie sah mich mit ihren liebebedürftigen Augen an. »Es war der Lateinlehrer, ein Mann mit schiefen Schultern, unverheiratet, aber wenn er lächelte, sah er so bübisch aus, und er sang wunderbar, mit hoher reiner Stimme. Eines Tages war ich einmal spät dran und ging nachmittags mutterseelenallein durch das große leere stille Schulhaus. Da sah ich plötzlich den Lehrer, meinen göttlichen Lehrer, zusammen mit dem Sohn vom Hausmeister. Ich weiß nicht, was ich gesehen habe, aber es war so schrecklich, dass ich heimging, einen Abschiedsbrief schrieb …«, sie lächelte schief, »… einen sehr schwülstigen, und den Rest aus der Spiritusflasche trank. Es war nur ein kleiner Rest, und so konnte ich den Abschiedsbrief noch vernichten.«
Ich ging bei Ruth Laukin vorbei, die mir bestätigte, dass der Bericht über die Theater-AG auf Betreiben Marquardts zustande gekommen war. Er habe mehrmals angerufen und sie nebenbei für sich zu interessieren versucht und für seinen Kampf gegen den Rektor, der die Deutschergänzungskurse für ausländische Schüler strich zugunsten eines forcierten Ausbaus der EDV-Einheiten. »Er fühlte sich politisch behindert«, resümierte Laukin. »Der reine Verfolgungswahn. Jedenfalls berichte ich nie wieder über ein Schülerprojekt, bevor es abgeschlossen ist!«
Isolde saß immer noch in meinem Kabuff und surfte durch die Agenturmeldungen. Es war sechs Uhr.
»Feierabend«, sagte ich.
»Ich dachte, Redaktionsschluss ist um acht. Allerdings müsste ich heute ausnahmsweise mal um sieben gehen. Mein Freund und ich, wir wollten in die Oper …«
»Gehen Sie!«
»Hören Sie, es tut mir wirklich leid, das vorhin. Ich dachte … ich wollte nur die Handynummer des Pressesprechers von DaimlerChrysler …«
»Stehen Sie auf!«
Sie hob die Brauen.
»Sie sitzen auf meinem Stuhl.«
Isolde lächelte, als gelte es, das ganze Opernpublikum auf meine gelbstrümpfige Lächerlichkeit hinzuweisen, stand auf, langte nach dem Kamelhaarmantel und prallte im Umdrehen gegen einen Herrn in maßgeschneidertem braunem Dreiteiler mit gestreifter Krawatte, der einen kuhdungbraunen Trenchcoat über dem Arm trug.
»Darf ich vorstellen: Isolde Ringolf, Volontärin. Oberstaatsanwalt Dr. Richard Weber.«
»Angenehm«, sagte Richard. »Habe ich Ihren Namen nicht schon in der Süddeutschen Zeitung gelesen?«
Isolde wurde souverän. »Ich möchte den Journalismus gewissermaßen von der Pike auf lernen, bevor ich die Pressestelle von TVCinema übernehme.«
»Eine interessante Aufgabe«, bemerkte Richard.
»Ich hoffe, dass ich ihr gewachsen bin«, sagte Isolde.
»Daran besteht kein Zweifel«, antwortete er, »vor allem, wenn Sie durch die Schule von Frau Nerz gegangen sind und sie überlebt haben.«
Isolde lachte heftig. Richard wandte sich mir zu. »Wann bist du hier fertig?«
Das Du brachte Isoldes Ohren in Lauscherposition. Doch statt still die falschen Schlüsse zu ziehen, hielt sie den Staatsanwalt für den richtigen Mann, ihm vom Schulhofmord zu berichten. »Und stellen Sie sich vor«, schwärmte sie, »das lässt die Schüler völlig kalt.«
Richard runzelte die Stirn und zog eine gelbe Schachtel American Spirit aus der Jacke. Er missbilligte nicht die Sprachlosigkeit der heutigen Jugend, sondern jegliche Begeisterung für Leichen. Er schätzte weder meinen Beruf noch meine Umgangsformen noch meinen Kurzhaarschnitt. Sein Frauenbild – das Zentrum jeder männlichen Existenz – erlitt ständig neue Säureattacken.
Da er den Mantel schon überm Arm trug, war er nicht direkt zu mir gekommen, sondern hatte vorher bei Elsäßer vorbeigeschaut, wahrscheinlich um für Samstag ein Tennismatch im Club zu verabreden. Mit Sicherheit war er über den Toten auf dem Schulhof bereits bestens unterrichtet.
»Danke, ich rauche nicht«, sagte Isolde.
Richard lächelte väterlich und zündete eine Zigarette an. Isolde wusste nicht, wohin mit dem Mantel, und suchte nach einer tragfähigen Konversation.
»Schluss für heute«, sagte ich noch einmal.
»Mein Freund holt mich erst um sieben ab«, teilte sie Richard mit. »Kurt Holzer, vielleicht kennen Sie ihn. Er arbeitet bei TVCinema im internationalen Verkauf.«
Richards Mimik wurde eine Spur wacher.
»Er kennt zumindest einen Kollegen von Ihnen«, plapperte Isolde weiter. »Herrn Fuhr. Aber natürlich nicht dienstlich.« Sie lachte.
»Verpiss dich!«, flüsterte ich ihr von hinten ins Ohr.
Sie fuhr herum. »Wie war das eben?!«
Ich winkte Fliegen scheuchend Richtung Tür.
Sie straffte sich, raffte den Mantel an sich. »Das muss ich mir nicht bieten lassen! Nicht von Ihnen. Was kann ich dafür, dass Sie es nicht zu mehr gebracht haben als zu einer kleinen Lokaljournalistin?!«
Und weg war sie. Richard löschte die Kippe in meinem Aschenbecher. »Glücklicherweise ist Elsäßer schon gegangen.«
»Keine Sorge«, sagte ich. »Die konserviert ihren Zorn über Nacht und verlangt morgen meine Entlassung.«
»Was hat sie dir denn getan?«
»Oh! Es ist immer wieder erhebend zu erleben, wie unverbrüchlich du zu mir hältst.«
»Ach weißt du, es ist doch stets eine rhetorische Herausforderung, Elsäßer davon zu überzeugen, was für eine fähige Kraft er mit dir verlieren würde, auch wenn es keinerlei objektive Belege dafür gibt. Übrigens …«
»Nein, sag es nicht!«
»Was den Schulhoftoten betrifft …«
»Was geht dich das an?«
»Könntest du dich in dieser Sache ausnahmsweise noch ein wenig zurückhalten?«
»Wieso? Hinterzieht Otter Steuern? Veruntreut er Gelder des Vereins der Freunde des PHG? Hat er einen Schulcomputer für den Privatgebrauch abgezweigt?«
»Du wirst verstehen, dass ich dazu im Moment keinerlei Stellungnahme abgeben kann.«
»Hat Otter Marquardt umgebracht?«
»Lisa, das ist kein Scherz. Einer ist schon tot.«
Wenn ich da einen Anflug von Sorge heraushören wollte, so war der Nachgeschmack auf jeden Fall bitter. Richard ärgerte sich nämlich über zwei Anrufe. So hatte sich die ermittelnde Staatsanwältin Meisner erkundigt, ob der Auftritt eines Beamten aus einer sonderbaren Abteilung für aktionsorientierten Lokaltermin am Tatort auf seine Initiative zurückgehe, und sich jegliche Einmischung verbeten. Außerdem hatte Pressesprecher Käfer angerufen und ihn gebeten, seinen Einfluss beim Stuttgarter Anzeiger geltend zu machen, damit wir uns auf den protokollarischen Fünfzeiler beschränkten. Solches Ansinnen stand Richards Berufsethos entgegen. Nur ungern nahm er die Schmälerung seiner juristischen Selbstherrlichkeit hin.
»Und was habt ihr beschlossen, du und Elsäßer?«, erkundigte ich mich.
»Er war der Meinung, dass sich die Berichterstattung auf das beschränkt, was die Polizei mitteilt. Frau Ringolfs Artikel entspricht diesen Kriterien vollkommen.«
»Gratuliere.« Ich stand auf und langte ihm nebenbei an den Sack. Er wich behände aus.
»Um neun im Tauben Spitz«, sagte ich. »Bis dann.«
Der Stuttgarter Tatort dreht seine Polizeiszenen gern im Funkhaus. Aber nicht einmal ein Funkhaus aus den Siebzigern ist abgelatscht genug, um die Wahrheit über die Landespolizeidirektion II zu erzählen. Die graue Kaserne in den Weinhängen am Pragsattel wirkte auch ohne Stacheldraht am Tor wie ein Gefängnis, wenngleich es in der Kantine, die ich zum zweiten Fahrstuhl durchquerte, auch abends noch nach Gurkensalat roch.
Christoph saß kurzärmelig bei offenem Fenster im kalten Zigarettenrauch im Büro der Soko Marquardt. Die fünf weiteren Arbeitstische wirkten wie fluchtartig verlassen.
»Aber ihr dürft noch ermitteln?«, fragte ich.
»Wieso?« Christoph zündete sich eine Zigarette an.
»Nach meinen Informationen gibt es Kompetenzstreitigkeiten zwischen den Abteilungen Gewaltverbrechen und Wirtschafts-kriminalität in der Staatsanwaltschaft.«
»Um die Politik kümmert sich Beckstein. Dafür wird sie bezahlt.«
»Gehört es zur Politik, nicht einmal den Pressesprecher zu informieren? Was Käfer mitgeteilt hat, war ein Witz. Nichts über den Todeszeitpunkt, nichts über die Tatwaffe. Ich lasse mich nicht gern verarschen.«
»Ich auch nicht.« Christophs Augen hatten die Farbe von Beton. Was er außer einem rhythmischen Aufreihen von Scheinwerfern auf der Pragkreuzung draußen sah, blieb mir dunkel. Endlich blickte er mich an. »Marquardt wurde gestern Nacht getötet, schätzungsweise zwischen halb neun und halb zwölf.«
»Also definitiv kein Unfall auf eisglattem Schulhof.«
»Er ist zwar mit dem Hinterkopf auf den Blumenkübel gefallen, aber die postmortalen Klugscheißer haben außerdem einen winzigen Einstich in der Brust gefunden. Jemand hat Marquardt einen langen nadelförmigen Gegenstand ins Herz gestoßen.«
»Eine Haarnadel? Wie altmodisch.«
»Nein. Eine Spritze, aber eine mit einem Durchmesser von eins Komma fünf Millimeter. Die Länge ist nicht genau feststellbar, weil es am Herzen explosionsartige Zerstörungen gab, sagen die Leichenfledderer. Es ist kaum Blut aus der Wunde getreten. Der Stich erfolgte durch Pullover, Hemd und Unterhemd hindurch. Es musste zunächst so aussehen, als sei Marquardt ausgerutscht. Allerdings mit runtergelassenen Hosen.«
»Oh!«
»Wenn du mich fragst: Es sieht nach einer Beziehungstat aus.«
»Und warum dann diese Hektik bei höheren Stellen?«
Christoph hob die breiten Schultern. »Ich bin nur der kleine Fahnder, der die Puzzlestücke sammelt.«
»Und was sagen die noch?«
»Zum Beispiel, dass eine Unmenge Leute auf dem Schulhof die dünne Eisschicht zertrampelt haben, die uns sonst allerlei hätte erzählen können. Dem Hausmeister und der Turnlehrerin kann man nicht übelnehmen, dass sie Spuren hinterließen, aber der Vandalismus der Schutzpolizei ist unbegreiflich.«
»Gab es einen Kampf?«
»Die Leiche weist zumindest keine Blutergüsse oder Hautabschürfungen auf. Allerdings kann man nicht ausschließen, dass Marquardt vielleicht ein paarmal gestoßen wurde. Er war dick angezogen. Übrigens deutet vieles darauf hin, dass er sich die Hose selber runtergezogen hat.«
»Seine Notdurft hätte er doch wohl besser auf dem Bubenklo verrichtet.«
»Es ist gar nicht so selten, dass Leute ihrem Unmut gegen Personen oder Institutionen Luft machen, indem sie prominente Plätze verschmutzen.«
»Seine Genitalien sind unversehrt?«
Christoph bekam ein Gesicht ähnlich dem, das Frauen machen, wenn sie dem Partner das Wesen der Menstruation erläutern. »Nun, Marquardt hatte da eine kleine Anomalie. Sein Penis ist verkrümmt wie ein Haken. So was kann man im Prinzip operativ korrigieren lassen, aber oft trauen sich die Männer nicht, damit zum Arzt zu gehen. Sie reden mit niemandem darüber, verzichten oft ihr ganzes Leben lang auf Sexualität oder weichen auf abnorme Praktiken aus.«
»Was hat Marquardt eigentlich gestern Abend noch in der Schule gemacht?«
»Er hatte …«
Die Tür platzte auf, Christoph duckte sich, und EKHK Beckstein trat ein. »Sie schon wieder!«
»Ich tue auch nur meinen Job«, sagte ich. »Leider ist Herr Weininger wenig kooperativ.«
Beckstein stemmte die Beine in den Boden. »Herr äh …?«
»Nerz.«
»Wer hat Ihnen eigentlich die Anweisung gegeben, bei uns rumzuschnüffeln? Der Polizeipräsident mit Sicherheit nicht. Und der Psychologe aus dem Haus auch nicht. Wer also dann?«
Christoph schnaufte. »Dr. Weißenfels ist wirklich für jeden Schwachsinn gut.«
»Soooooo! Weißenfels also!«
Ein Hauch Schnee weißte die Fußwege. Über den Hallschlag fuhr ich nach Münster hinab. Teerschwarze Nacht stieg aus dem Neckar auf.
Das Haupttor des PHG war verschlossen. Ein Pfad führte zwischen Haupthaus und einem verwilderten Grundstück zur Bahnlinie. Er wurde von zwei Funzeln erleuchtet. Die dritte war kaputt. Der Raubtierzaun zum hinteren Schulhof war gut zwei Meter hoch und hatte ein Wärtertörchen. Ein solches Törchen befand sich auch am vergitterten Bolzplatz hinter der Turnhalle. Beide waren abgeschlossen. Ich turnte hinüber und sprang in den Schulhof. Am mittleren der drei sechseckigen Betonkübel war Marquardt gestorben. Morgen ödeten sich hier wieder Schulkinder an.
Plötzlich flammten Lichter im Verbindungsflügel zwischen Haupthaus und Turnhalle auf. Ich warf mich in den Schatten eines Stützpfeilers der Turnhalle. Das Licht flutete zwei Räume im unteren Stockwerk. Eine ältliche Frau mit dem Dutt der praktizierenden Christin am Hinterkopf trat von einem Hörsaal, in dem die Stuhlreihen anstiegen, in die Physiksammlung und wandelte zwischen Rolltischen mit Versuchsanordnungen herum. Ich huschte näher. Die Alte hantierte hexenhaft gebeugt mit einem Bunsenbrenner hinter einem verbeulten Bandgenerator.
Ich trat ans Fenster. Sie blickte hoch, griff nach einer Coulomb’schen Kugel, ließ die untaugliche Waffe dann aber liegen, strich das graue Kleid glatt und öffnete das Fenster. Ich zeigte meinen Presseausweis. »Es ist lange her, dass ich all diese physikalischen Folterinstrumente gesehen habe.«
Sie strich das dünne Haupthaar zum Dutt zurück. »Da draußen können Sie nicht bleiben. Wenn Sie der Hausmeister erwischt …« Sie kicherte. Ich stieg ein. Sie musterte mich flink. »Gott, Sie sehen ja aus wie ein Zombie. Wer hat Ihr Gesicht so verwüstet?«
»Ein Autounfall.«
»Hm. Übrigens, ich heiße Schneider. Möchten Sie einen Tee?«
Das Wasser sprudelte auf einem Dreifuß über dem Bunsenbrenner. Die Alte holte zwei Bechergläser aus dem Schrank und hängte Teebeutel hinein. Ihre Nase war spitz und weiß, die Augen lagen tief in den Höhlen unter einer breiten und hohen Stirn.
»Störe ich?«
Sie kicherte. »Natürlich stören Sie, mein Kind. Außerdem haben Sie mir einen jesusmäßigen Schrecken eingejagt. Gestern wurde da draußen ein Kollege ermordet. Aber deswegen schleichen Sie hier vermutlich herum.« Sie goss das sprudelnde Wasser über die Teebeutel. »Aber ich muss Sie enttäuschen. Ich habe nichts gesehen. Ich habe um acht das Licht ausgemacht. Da war Marquardt noch drüben mit seiner AG zugange. Ich bin über den Schulhof zum Törchen. Ich habe einen Schlüssel, damit ich den Hausmeister nicht immer bitten muss. Ich wohne da oben an der Bahnlinie. Mein Mann ist vor fünf Jahren gestorben.«
Sie stellte Zucker in einem Mörserschälchen auf den Tisch. Das Leben hatte ihre Lippen auf einen Strich reduziert, aber ein subversiver Optimismus verbog sie zu einem Lächeln.
»Was war Marquardt für einer?«
»Ich würde sagen, das kann Ihnen genauso egal sein wie mir. Abgesehen davon, ich kannte ihn kaum. Ich komme selten rauf ins Lehrerzimmer. Physikalische Versuche wollen gut vorbereitet sein, sonst tanzt Ihnen die Klasse auf der Nase rum.«
Auf einem der Rolltische war der Versuch mit dem Wagen aufgebaut. Das Wägelchen auf der waagrechten Schiene war über einen Strick und eine Rolle mit einem Gewicht verbunden, das lotrecht hinunterhing.
Schneider kicherte. »Natürlich funktioniert kein Versuch wirklich. Zwar müssen die Axiome durch Versuche gesichert sein und demzufolge wiederholbar. Aber das ist Theorie. Der Reibungsverlust bei dem Wagen ist viel zu groß, und meistens drücke ich zu spät auf die Stoppuhr. Eigentlich messe ich gar nicht mehr. Ich weiß, dass der Wagen in der doppelten Zeit den vierfachen Weg und in der dreifachen Zeit den neunfachen Weg zurücklegt. Die Strecke ist die halbe Beschleunigung mal Zeit im Quadrat. Wir ersetzen a gleich Beschleunigung durch g gleich Erdbeschleunigung …«
»Neun Komma acht eins Meter pro Quadratsekunde.«
»Schau an! Sie haben aufgepasst in der Schule.«
»Nee. Die Zahl steht auf dem Aufkleber hier unter der Schiene.«
Schneider lachte. »Es soll ja Physikkollegen geben, die sich das nicht merken können.« Sie wischte ein nicht vorhandenes Stäubchen vom Tisch. »Aber Sie interessieren sich wohl mehr für Deutschlehrer. Nun denn, er war engagiert, wie man so sagt. Einmal fragte er mich was wegen einer Astrologie-AG. Er hatte die vage Vorstellung, Astrologie hinge doch irgendwie mit Astronomie zusammen.«
Sie stellte das Zuckerschälchen wieder in den Schrank. Der Tee war ungenießbar bitter.
»Er war unruhig«, sagte sie vom Schrank her, »ein Mensch, der immer auf der Suche ist. Zuletzt hat er eine Esoterik-AG geleitet.«
»Hatte er Feinde?«
»Du meine Güte, jede Antwort darauf wäre eine Beschuldigung. Vorsicht! Kommen Sie dem Plattenkondensator nicht zu nahe. Da kann immer Spannung anliegen.«
Der Kondensator war mit dem verbeulten Bandgenerator verbunden.
»Der Generator dient dazu«, erklärte Schneider, »den Schülern zu veranschaulichen, dass man Arbeit verrichtet, um die Elektronen von einer Platte auf die andere zu bringen. Mittelstufe. In der Oberstufe geht es nun darum zu zeigen, dass die Feldstärke im Kondensator konstant bleibt, auch wenn man die Platten auseinanderzieht, dass die Spannung aber zunimmt. Das ist genauso, wie wenn Wasser aus großer Höhe herabstürzt. Die Menge bleibt dieselbe, aber es klatscht mehr, je tiefer Wasser fällt.«
»Aber die Feldstärke?« Hatte ich eben noch gemeint, das Prinzip verstanden zu haben, so hatte das Wasser alles wieder weggespült.
Die Alte lächelte listig und wühlte aus einer Schublade ein Glühlämpchen mit Verbindungskabeln. »Passen Sie auf. Ich schalte die Glühlampe zwischen die Platten. Es leuchtet. Ich ziehe die Platten auseinander …«
Das Lämpchen glühte mächtig auf. »Hübsch.«
»Doch die Ablenkung«, fuhr sie fort und ließ eine kleine Kugel an einem Fädchen zwischen die Platten baumeln, »die eine negativ geladene Kugel in Richtung der positiv geladenen Platte erfährt, bleibt immer gleich, egal, wie weit oder eng die Platten stehen. Die Feldstärke bleibt demnach konstant.«
»Aha.«
»Vorsicht!«
Zu spät. Ein mordsmäßiger Schlag haute mich unter den Tisch. Ich verlor ein paar Sekunden.
Neben mir kniete die Alte und gab mir Klapse auf die Backe. »Und ich sag’s den jungen Kollegen immer wieder: Lasst nie die Schüler nach vorne kommen, wenn ihr mit dem Plattenkondensator experimentiert. Da liegen schnell mal siebentausend Volt an. Unglaublich, wie wenig die Leute wissen, wo sie ihre Hände haben. Zum Glück sind Sie Rechtshänderin. Wäre der Strom durch die Herzseite geflossen, wären Sie jetzt tot. Da reichen schon ein paar Volt.«
Schneider half mir auf einen Stuhl. Meine Knie zitterten ernstlich. Sie diagnostizierte Schock, legte meine Füße hoch und redete allerlei auf mich ein: »Auch die Dauer, die der Strom durch den Körper fließt, entscheidet über Leben und Tod. Die Hitze zerstört die Muskelzellen, die Eiweißzerfallsprodukte legen noch Tage später die Nieren lahm. Dass manche von der Stromquelle nicht mehr loskommen, liegt daran, dass der Strom die Muskeln kontrahiert und dass die Handschließer stärker sind als die -öffner.«
Ich entdeckte die Strommarke auf der Kuppe meines rechten Mittelfingers, eine winzige Delle in der Haut, umgeben von einem kleinen weißen Wall aus geschmolzenen und verkürzten Hautfasern. Ich konnte mich jedoch beim besten Willen nicht erinnern, wie ich eigentlich in Kontakt mit dem Kondensator gekommen war. Schneider holte ihren Wintermantel aus einem Schrank und griff mir unter den Arm. »Geht’s?«
Ich ignorierte das Muskelflimmern im rechten Arm. Durch den Physiksaal gelangten wir in den Gang und von dort durch die Glastür in den hinteren Schulhof. Die kalte Luft schüttelte mich aus dem Tran. Schneider schlüsselte uns durchs Törchen hinaus auf den Pfad. Eine trockene kleine Hand hibbelte in meiner. Die tief liegenden Augen huschten um den direkten Blick herum.
»Sie müssen mal auf einen Tee zu mir kommen«, kicherte sie, »falls Sie vor einer einsamen alten Schachtel keine Angst haben. Passen Sie auf sich auf. Sie stehen noch unter Schock.«
Sie ging fort in Richtung Bahndamm, klein und schief. Hatte sie wirklich versucht, mich umzubringen? Welche Ehre für eine Kröte wie mich.
Münster hatte sich unterhalb der Schule den schwäbischen Dorfcharakter bewahrt. Häuser und Gassen hielten sich an keine Linie, wie ein Kindergebiss vor der Zahnregulierung. Die Giebel spitzten ins nahtlos abschließende Dach. Wer dahinter lebte, gönnte sich nur ein einziges erleuchtetes Zimmer hinter runtergelassenen Rollläden. Garagen hatte man früher nicht gebaut. Heute fehlte der Platz. Entlang der Bahnlinie hatten sich Pfennigmarkt und Drogeriemarkt angesiedelt. Vor einer Eckkneipe lungerten drei Buben in Springerstiefeln und Blousons. Ich zitterte noch und lechzte nach etwas Wärmendem. Drinnen saßen am Fenster, das mit einer gelben Butzenscheibenfolie beklebt war, ein halbes Dutzend Grufties vor Gläsern mit Diesel. Schwarzer Samt, weiße Rüschen, schwarze Röcke, schwarze Lippen, weiße Gesichter, silberne Kreuze an Ohren und Hälsen. Unter den Tischen scharrten die Pikes, die tütenspitzen Schuhe der gotischen Denkungsart. Sie waren damit beschäftigt, Bierdeckel von der Kante hochzuschnippen und mit derselben Hand danach zu schnappen.
Der haarlose Wirt war hinter der Theke in etwas Zeitungsähnlichem mit vielen nackten Weibern versunken. Ich verlangte Kaffee. Er zog die Hausjacke über den Hinterschinken und angelte die Kanne von der Wärmeplatte.
»Frisch, wenn’s geht«, sagte ich.
»Ebbes andres gibt’s net.«
Die Goten hatten die Bierdeckeljagd unterbrochen. Unter ihnen befand sich ein Punk, dessen blauer Haarkamm schon etwas welkte.
»Cool!«, entfuhr es einem Mädchen. Mit leuchtenden Augen vermaß sie Haken um Zacken die Narbe in meinem Gesicht. So was musste ihresgleichen erst mühsam im Pearcingstudio ritzen und pfeffern lassen, und dann sah es doch nie so antik aus.
»Geht ihr ins PHG?«, erkundigte ich mich. »Ich suche Steffi Bach und Marko Vasiljevic.«