Pferdekuss. Kriminalroman - Christine Lehmann - E-Book

Pferdekuss. Kriminalroman E-Book

Christine Lehmann

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Beschreibung

Eine Zucht Vollblut-Araber ist ein Vermögen wert – aber wer hat dafür getötet? Lisa Nerz, Witwe des einstigen Thronfolgers, kennt die zerstrittene Familie, in der einige Leute das stärkste Motiv der Kriminalgeschichte haben: Gier. Lisa Nerz reist in die Vergangenheit, als sie ihren alten Heimatort am Fuß der Schwäbischen Alb und ihre (oft zitierte) katholische Mutter aufsucht. Dort, im Arabergestüt Gallion, findet man in der Box eines Hengstes eine Frauenleiche. Sind die Nerven mit dem sensiblen Tier durchgegangen? Lisa muss feststellen, dass gegen die kostbaren Pferde ein Menschenleben nicht viel wiegt ... »Lehmann kann das, souverän und überzeugend.« Thomas Wörtche, kaliber.38 »Christine Lehmann ist den meisten deutschen Krimischreibern stilistisch haushoch überlegen. Ihr unverwechselbarer Sound beruht auf Menschenkenntnis, Lebenserfahrung, Selbstironie und Belesenheit.« Perlentaucher

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Über das Buch

Eine Zucht Vollblut-Araber ist ein Vermögen wert – aber wer hat dafür getötet? Lisa Nerz, Witwe des einstigen Thronfolgers, kennt die zerstrittene Familie, in der einige Leute das stärkste Motiv der Kriminalgeschichte haben: Gier.

Lisa Nerz reist in die Vergangenheit, als sie ihren alten Heimatort am Fuß der Schwäbischen Alb und ihre (oft zitierte) katholische Mutter aufsucht. Dort, im Arabergestüt Gallion, findet man in der Box eines Hengstes eine Frauenleiche. Sind die Nerven mit dem sensiblen Tier durchgegangen? Lisa muss feststellen, dass gegen die kostbaren Pferde ein Menschenleben nicht viel wiegt ...

»Lehmann kann das, souverän und überzeugend.« Thomas Wörtche, kaliber.38

»Christine Lehmann ist den meisten deutschen Krimischreibern stilistisch haushoch überlegen. Ihr unverwechselbarer Sound beruht auf Menschenkenntnis, Lebenserfahrung, Selbstironie und Belesenheit.« Perlentaucher

Über die Autorin

Christine Lehmann lebt in Stuttgart und Wangen (Allgäu), ist als Nachrichten- und Aktuellredakteurin beim SWR tätig und schreibt Romane, Kurzkrimis, Kriminalhörspiele (Radio Tatort) und Glossen. Mehr Informationen finden Sie auf ihrer Homepage.

Christine Lehmann

Pferdekuss

Der 3. Lisa-Nerz-Krimi

Impressum

eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2015

Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

Tel. +4940 31108081, [email protected]

www.culturbooks.de

Alle Rechte vorbehalten

Printausgabe: © Ariadne Verlag 2008

Lektorat: Iris Konopik

Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj

eBook-Herstellung: CulturBooks

Erscheinungsdatum: 17.05.2016

ISBN 978-3-944818-97-9

Anfang

»Er ist dein Schwiegervater«, sagte meine Mutter. »Wer weiß, wie lange er noch lebt. Da wirst du ihm wohl zum siebzigsten Geburtstag gratulieren können.«

»Er hat mich nicht eingeladen.«

»Wir gehen vormittags um elf hin, wie alle anderen auch.«

Die Telefonleitung knatterte energisch. Wenn ich gewusst hätte, dass meine Mutter den Siebzigsten meines Schwiegervaters zum Anlass nehmen würde, mich nach Vingen zurückzuzitieren, hätte ich das Telefon abgemeldet. Ich war vor fünf Jahren nach meinem Unfall aus dem Kaff unter der Schwäbischen Alb nach Stuttgart geflüchtet, um dreißig Kilometer Distanz zwischen die Argumente meiner Mutter und mich zu bringen.

»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Was willst du denn noch von dem alten Gallion. Dich hat er doch auch nicht gerade verwandtschaftlich behandelt.«

»Ich kann verzeihen!«

Vermutlich hatte ich nur das Wesen des christlichen Verzeihens noch nicht begriffen. Meine Mutter rächte sich durch Demut an Krankenbetten siecher Feinde, verlängerte mit Gebeten deren Agonie und dankte dann am Grab Gott für ihre unerschütterliche Gesundheit und ihr reines Gewissen. Es musste dem alten Gallion schlecht gehen, wenn sie so erpicht darauf war, ihn zu besuchen.

»Na gut. Wann soll ich kommen?«

»Wann du willst. Mein Haus steht dir immer offen, wie du weißt.«

Nur zu gut. Es stand seit fünf Jahren offen wie der Schlund eines Drachens.

1

Ich ordnete meine Papiere, schrieb ein Testament, in dem ich meiner Freundin Sally das Vermögen vermachte, das mir nach dem Tod Todt Gallions in Form seiner Lebensversicherung zugefallen war, ließ mich beim Stuttgarter Anzeiger wegen einer dringenden Familienangelegenheit beurlauben und dachte tagelang darüber nach, wie ich die Reisetasche packen musste. Nahm ich den Anzug mit oder das Kostüm? Sollte ich zu den Jeans noch die Reithose einpacken, mit oder ohne Stiefel, um für alle Unwetter gerüstet zu sein?

Ich rief in der Staatsanwaltschaft an und erfuhr von Sekretärin Roswita Kallweit, Herr Dr. Weber sei in der Sitzung. Dort war der Oberstaatsanwalt immer, wenn ich an Frau Kallweit geriet. Richards Autotelefon war nicht geschaltet. Blieb nur sein Anrufbeantworter und die Hoffnung, dass er rechtzeitig heimkehrte, um ihn abzuhören, sich mit mir zu treffen und beruhigend auf mich einzureden.

»Soll ich mitkommen?«, fragte er, als wir im Sa Limba im Gerichtsviertel bei Muscheln und Seezunge saßen.

»Bloß nicht! Meine Mutter ist praktizierende Katholikin. Sie würde uns in getrennten Zimmern unterbringen. Ich müsste auf der Couch im Wohnzimmer schlafen, auf der mein Vater gestorben ist.«

»Wir würden schon klarkommen, deine Mutter und ich«, sagte er lächelnd. Er setzte auf Anzug mit Schlips und Kragen. Bei seinen eigenen Eltern in Balingen mochte das funktionieren, aber meine Mutter würde ihn sehen, von seinen fünfzig Jahren auf sein Einkommen schließen und mich in der Küche als Nutte beschimpfen und im Wohnzimmer das Gespräch auf das Sakrament der Ehe bringen. Dann würde sich herausstellen, dass er aus pietistischem Hause stammte und dass nicht er, sondern ich es war, die nicht heiraten wollte, nicht noch einmal. Meine letzte Ehe war vor fünf Jahren (inzwischen über zehn, manchmal sage ich jetzt auch fünfzehn Jahre, aber wer will das so genau wissen) und nach zweijähriger Dauer abrupt an einem Birnbaum zu Ende gegangen. Todt starb in den Trümmern seines Autos. Mir bescherte die berstende Windschutzscheibe ein vernarbtes Gesicht.

»Das stehe ich nicht durch.«

»Wovor hast du denn Angst? Du bist jetzt fast vierunddreißig. Was kann dir deine Mutter da noch anhaben?«

»Sie kastriert mich.«

Richard lachte. »Verwechselst du da nicht was?«

Ich verwechselte solche Dinge gern. Richard kannte das, aber meine Mutter ging immer noch davon aus, dass ich ein Mädchen war, dessen einziges Sodom und Gomorrha darin bestand, sich ohne Trauschein einem Mann hinzugeben.

»Du musst dich ja nicht gerade wie ein Hengst aufführen«, riet er. »Drei Tage wirst du das schon aushalten. Oder fürchtest du dich gar vor dem alten Gallion? Aber warum denn? Nach dem bisschen, was du mir erzählt hast, hat er dich zwar nicht gerade nett behandelt, aber du wohnst ja nicht bei ihm, und du musst dich nicht mehr mit ihm gutstellen.«

»Aber ich bin diejenige, die ihm seinen Sohn genommen hat.«

»Er saß am Steuer, nicht du. Und inzwischen bist du nicht mehr die kleine Sekretärin mit Dauerwellen. Du bist eine ... eine ... ähm ...«

Richards Wortkunst versagte vor der Aufgabe, meine Erscheinung und mein Auftreten in die Begriffe zu fassen, die er eigentlich von Frauen hatte, entweder anschmiegsam oder elegant und karrieregeil. Vermutlich konnte er nur deshalb nicht von mir lassen, weil er noch keine Definition gefunden hatte. In Ermangelung warmer Worte suchte sein milchkaffeebrauner Blick, mich aufzurichten, von den Jeans über den Gürtel, das Joop-Hemd und den Blazer bis in die Spitzen meiner braun-blond gefärbten Kurzhaare. Das können sie, die Männer, wenn es sein muss: mit ein paar kurzentschlossenen Komplimenten eine Frau aus den Selbstzweifeln scheuchen, bevor sie anfängt, das Aber ins Unendliche auszudifferenzieren und ihm den Abend mit Muscheln und Seezunge zu verderben. Richard wollte nachher lieber von einem übermütigen Fohlen zum Spiel aufgefordert werden als eine lahmende Stute animieren.

»Außerdem«, sagte er, »was sind schon drei Tage? Du fährst da morgen hin, trinkst mit deiner Mutter Kaffee, gehst Freitag früh dem Alten gratulieren, machst Samstag mit deiner Mutter einen Ausflug und bist Sonntagmittag wieder daheim. Deine Mutter ist zufrieden, Gallion hat seine Genugtuung und du weißt, dass du es überleben kannst.«

2

Die Reisetasche packte ich trotz tagelanger Planung erst am Morgen in aller Eile. Keine Reithose, kein Nadelstreifenanzug mit Weste und Krawatte, dafür das graue Leinenkostüm mit den roten Webstreifen, Seidenshirt und -bluse, Pumps, am Leib die Jeans, das T-Shirt und das Jil-Sander-Jackett. In Stuttgart-Degerloch tankte ich Emma voll, bedachte zufrieden, dass mein Golf Cabriolet gerade erst in der Inspektion gewesen war, und schlug das Verdeck zurück. Es war Anfang Juni und hochdruckbeständig und warm. Ich vergewisserte mich, dass mein Handy empfangsbereit war, und wagte mich dann auf der Schnellstraße gen Süden hinaus aus der Stadt. Vorsorglich hatte ich die Landkarte konsultiert, als ob ich den Weg nicht im Schlaf kennen würde. Zunächst unter der Münchner Autobahn durch Richtung Tübingen und Reutlingen, dann in der Einspurigkeit Richtung Reutlingen, Metzingen auf die blaue Front der Schwäbischen Alb zu. Neckartailfingen, Neckartenzlingen, Bempfingen. Es ging viel zu schnell. Auch in Metzingen gelang es mir nicht, mich zu verfahren. Lauthals zogen die Tafeln den Verkehr durchs Städtchen Richtung Urach. Vor dem Albtrauf, dem Anstieg in den Riegel der Schwäbischen Alb, die sich mit dem Hohen Neuffen, dem Roßberg, der Hohen Warte und dem Grasberg quer stellte, musste ich rechts ab, runter von den Hauptschlagadern des Unterwegsseins, hinein in die Kapillaren über Land. Immer noch das Schild an der Hauswand, auf die man zuhielt: Vingen fünf Kilometer. Die Straße schlängelte sich raus in Obstbaumwiesen.

Ich hätte Vingen auch von der anderen Seite über Reutlingen und Eningen anfahren können, aber besser, ich stellte mich dem Schrecken gleich. Unter der Mittagssonne über der Wand der Alb hatte das Sträßchen keine Ähnlichkeit mit der Herbstnacht meiner letzten Erinnerung: Dunkelheit und Raureif, heranspringende kahle Obstbäume, Erlkönige. Wir kamen von einem Konzert in Stuttgart. Todt pflegte zu rasen, wenn er verärgert war. Die Polizei zeigte mir später ein Foto von dem völlig zermatschten Porsche. »Ein Wunder, dass Sie da überhaupt rausgekommen sind.« Nach ihren Berechnungen waren wir mit mindestens hundert aus der Linkskurve geschossen.

Ich hielt Emma an.

Hier müsste es gewesen sein. Da die Böschung runter. In der Wiese hatten wir uns mehrmals überschlagen. Zwanzig Meter von der Straße entfernt waren wir in einen Birnbaum gekracht, vielleicht in den da unten. Ein Ast durchbohrte Todts Hals.

Junihitze dampfte aus der Wiese. Vögel zwitscherten von Baum zu Baum. Mehr als siebzig konnte man auf dieser welligen Straße nicht fahren, die durch die Obstwiesen kurvte. Friedlich schwangen sich die Wiesen zur Ars hinab und stiegen dahinter sanft hinauf in die Ebene gen Norden. Linker Hand blockte der bewaldete Hang vor dem Roßberg mit seinen Jurakalkfelsen am oberen Grat. Der Blick auf Vingen war von Bäumen verstellt.

Wahrscheinlich war kein weiteres Fahrzeug an unserem Unfall beteiligt gewesen. Es hatte gedauert, bis man uns fand. Nach Aussagen der Ärzte war Todt bereits eine Stunde tot, als jemand das Auto da unten im Obstbaum bemerkte und die Polizei anrief. Ich soll halb erfroren auf der Wiese gelegen haben. Man vermutete, dass ich trotz eines gebrochenen Beines und blind von Blut und Glasscherben aus dem Wagen gekrochen war, um zur Straße zu gelangen und Hilfe zu alarmieren. Ich erinnere mich nicht. Ich kam erst im Katharinenhospital in Stuttgart wieder zu Bewusstsein. Der Hubschrauber hatte mich dorthin gebracht, weil man glaubte, meine Augen seien nur noch durch einen Spezialisten zu retten. Aber die Windschutzscheibe hatte nur meine Gesichtszüge zerschnitten. Inzwischen verblassten die Narben. Störend war noch der lange Schnitt vom linken Nasenflügel in den Mundwinkel. Lange Zeit glaubte ich, dass die Ärzte mich belogen hätten, als sie behaupteten, Todt wäre auch dann nicht mehr zu retten gewesen, wenn der Notarzt sofort zur Stelle gewesen wäre. Zuweilen fragte ich mich, ob es wünschenswert wäre, dass ich mich an den Unfall erinnerte.

Ein GTI röhrte an mir vorbei. Ich ließ Emma wieder anrollen. Die Dächer von Vingen tauchten auf. Der Zwanzigtausendeinwohnerort mit Tankstelle und holzverarbeitendem Betrieb am Eingang zentrierte sich um eine festungsartige protestantische Kirche, das Fachwerkrathaus und das Kriegsgefallenendenkmal in der Kehle zwischen Roßberg und Hoher Warte. Die Fußgängerzone war in den späten Siebzigern mit einem Betonkomplex aufgerüstet worden, der Volksbank, Drogeriemarkt und Mode enthielt. Neu waren die Tempo-30-Schilder beim Hotel König im Dorfkern. Gegenüber, an der Flanke des Arstals, klotzte noch immer die alte Fabrik Gallion Obstsäfte. In den Fünfzigern hatte Gallion alle Obstbauern der Gegend unter Vertrag genommen, in den Sechzigern raubte ihnen die Fabrik bereits das Grundwasser, in den Achtzigern wurde das Obst dann aus Spanien und Griechenland importiert. Anfang der Neunziger hatte Juniorchef Todt Gallion versucht, auf ökologische Produktion umzustellen, ohne großen Erfolg, während sein Vater sich endgültig der Pferdezucht widmete, mit wesentlich größerem Erfolg. Heute wurden die Stadtkinder mit anderen Apfelsäften groß. Die Fabrik betrieb inzwischen ein Verwandter von Gallions verstorbener Frau, der sich der Ökologie verschrieben hatte und den Bauern und Kleingärtnern das Fallobst versaftete.

Das Gestüt Gallion entzog sich hinter der Bergnase der Hohen Warte im Arstal gen Eningen dem direkten Einblick von Vingen aus. Ich hatte meine Kindheit in einer Neubausiedlung für Deutschstämmige aus dem Ostblock verbracht, die nach dem Krieg dem strammen Pietismus dieser Landschaft mit ihrem Katholizismus zu Leibe rückten. Nur deshalb besaß Vingen neben der Stephanskirche auch eine katholische Kirche, die zur Wirkungsstätte meiner Mutter geworden war. Inzwischen gehörte die Reihenhaussiedlung, in der mein Elternhaus stand, zum Altenteil von Neu-Vingen. Ein Teil des Hangs unter der Hohen Warte war für Villen der Pendler nach Stuttgart erschlossen worden. Straßen mit Vogelnamen fraßen sich in den Wald vor. Es schien mir alles sehr eng. Die Bäume waren groß und alt geworden, die Straßenränder zugeparkt. Endlich passierte es: Ich fuhr am Haus meiner Mutter vorbei, musste wenden und nach den Hausnummern Ausschau halten.

Meine Mutter war seit siebzehn Jahren verwitwet, trug Schwarz aus Überzeugung und hatte mich noch nie umarmt. Sie sah auch jetzt keinen Anlass dazu. Ihre Hand war trocken und knochig, ihr Gesicht zusammengehäkelt aus Scharfsinn und Demut. Ihre grauen Augen entdeckten alle Sünden, die ihre Mitmenschen bei der Beichte verschwiegen, ihre Lippen stülpten sich ein und aus, um moralisch zu rechten, und ihr hagerer Leib warf sich gerade auf wie ein Prügel. Mich verblüffte nur, dass sie kleiner war, als ich sie in Erinnerung hatte.

»Schön«, sagte sie, »dass ich dich vor meinem Tod noch einmal sehen darf.«

»Aber sonst geht’s dir gut, ja?«

»Gott sei es gedankt.«

Am liebsten hätte ich gleich auf den roten Läufer in der gelblich gekachelten und ockerfarben tapezierten Diele gekotzt. Gerüche vergisst man nicht. Da stachelt die Erinnerung Gift in die Blutbahn. Es roch nach alten Strümpfen, erkalteter Rinderbrühe und Kloseife, genauso wie an dem Tag, als mein Vater, der in Reutlingen einen Autohandel betrieb, sich auf die ockerfarbene Plüschcouch in der Stube legte und entschlief. Am Abend deckte meine Mutter ihn mit einem Laken zu. So blieb er liegen, bis ihn des Morgens das Beerdigungsinstitut abholte. Danach nahm sie meine Erziehung energisch in die Hand.

»Du siehst schlecht aus«, bemerkte sie. »Bist du krank?«

»Nein.«

»Dann bist du schwanger.«

»Nein.«

Meine Mutter maß mit Missfallen meine Jeans. Wahrscheinlich hatte ich mich deshalb in ein Jackett gehüllt, damit ihr Blick so wenig Fläche wie möglich bekam, an meinem Leib herumzuzwicken. Als Siebzehnjährige hatte ich den Kauf eines Büstenhalters gegen den Verdacht meiner Mutter verteidigen müssen, ich hätte es auf Männer abgesehen, was so falsch ja nicht war. Heute würde sie gegen das Fehlen des BHs unter meinem T-Shirt mit derselben Argumentation anrücken.

»Etwas Besonderes kann ich dir nicht bieten«, sagte sie, als wir die Stube betraten. »Du bist sicher inzwischen Besseres gewohnt.«

Über dem Fernseher krümmte sich Jesus am Kreuz im vergeblichen Bemühen, das Leid der Menschheit auf sich zu nehmen, an der Wand über dem Sofa hing in Farbe und von Pfeilen durchbohrt der heilige Sebastian. Auf dem Tisch, der dem Sofa auf ganzer Länge die Beinfreiheit nahm, harrte noch eingeschlagen in Papier vom Bäcker ein Gebäck meiner Ankunft. Meine Mutter erklärte sich bereit, Kaffee zu machen, brachte aber nicht das gute Porzellan, sondern die alten Tassen. Ich setzte mich in den Sessel mit dem Rücken zum Kruzifix und mit Blick auf den heiligen Sebastian. Die Blutstropfen leuchteten rubinrot. Ich gierte nach einer Zigarette, traute mich aber nicht.

»Ich habe Apfelkuchen gekauft«, sagte meine Mutter und entfaltete mit gebremster Gier das Papier über zwei matschigen Tortenstücken auf einer Pappschale. Ich brauchte mir nicht den Kopf zu zerbrechen, welche mütterliche Grausamkeit sie auf die Idee gebracht hatte, mich ausgerechnet mit Apfelkuchen zu strafen. Immerhin hatte sie überhaupt etwas gekauft. Nie hatte sie die Notwendigkeit empfunden, meine Vorlieben und Abneigungen zu ergründen. Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt. Und im Übrigen, was wollte ich auf dem Gymnasium in Eningen? Mädchen heirateten sowieso, und bis dahin war Fremdsprachensekretärin ein hinreichend ordentlicher Beruf. Letztlich hatte es mir ja nicht geschadet. Oder? Schon mit achtzehn hatte ich als Sekretärin im Im- und Export der Firma Gallion Obstsäfte wahnwitzige zweitausend Mark verdient.

Der Tortenheber mit dem Kuchenstück zauderte über den Tellern. Wem das größere Stück? Auch wenn die Hand nicht wollte, der Geist meiner Mutter war zu jedem demonstrativen Opfer bereit. Ich bekam die Ecke mit dem Apfelscheit mehr.

»Tante Trude hat dich vermisst auf der Beerdigung vom Onkel Karle voriges Jahr«, sagte sie, als der Kaffee in die Tassen strullte, »ich habe gesagt, dass du im Ausland bist ...«

Die katholische Denkungsart widersprach der Lüge nicht, im Gegenteil. Meine Mutter log, wann immer es galt, die Gebrechen der Familie vor dörflicher Schadenfreude zu verbergen.

Ich betrachtete das Papierbild an der Wand neben dem Fenster. Es zeigte einen Wanderer auf schmalem Steg über einem Abgrund, verfolgt von einem Schutzengel, der die Hand nach ihm ausstreckte.

Meine Mutter hatte immer gewusst, wo es langging. Gott strafte die anderen, zum Beispiel meinen Vater, weil er immer jüngere Büromädchen einstellte, oder Todt Gallion, weil seine Familie glaubte, sie sei was Besseres. Onkel Karle starb an Kehlkopfkrebs, weil er das Rauchen nicht lassen wollte, und Tante Trude stand jetzt ohne einen Pfennig da, weil sie vorher schon nie das Geld zusammenhalten konnte und einmal die Woche nach Reutlingen zum Friseur fuhr. Davon kam dann auch, dass ihr Sohn Roland mit seiner Frau Annemarie nach Reutlingen gezogen war und von der Mutter nichts mehr wissen wollte, weil da die Annemarie dahintersteckte. Dabei wäre Trudes Haus in Vingen groß genug für alle gewesen. Dasselbe galt für mich, nur dass meine Mutter sich nichts vorzuwerfen hatte und darum lieber herumerzählte, ich sei im Ausland verhindert.

Gegen sechs wollte sie zum Grab und hernach die Kirche für eine Hochzeit schmücken. Ich brachte meine Reisetasche ins Kinderzimmer hinauf und riss erst einmal das Fenster auf, das in der Gaupe zwischen schrägen Wänden auf Nachbars Garten wies. Hinter den Dächern der Siedlung spickten die Giebel der neuen Villen hervor. Dahinter erhob sich kühl die Wand der Hohen Warte mit ihrem Laubwald und Jurakalkfels. Süßer Sommerduft nach gemähtem Rasen, blühenden Wiesen und Kuhstall strömte herein, gemischt mit Autoabgasen und Hundegebell.

Ich nahm das Holzkreuz von der Wand und legte es in die leere Schublade meines Kinderschreibtischs. Die geschnitzte Madonna mit dem nackten Riesenbaby auf dem Arm konnte auf der Sockenkommode stehen bleiben. Vom Kopfkissen aus hatte ich einst das verzückte Gesichtchen vor Augen gehabt, wenn ich unter der Bettdecke verbotene Manipulationen an mir vornahm.

Die Kirche meiner Mutter war aus Beton und hatte ein knallbuntes Fenster, das den heiligen Georg beim Drachentöten darstellte. Sie lag am Alten Backhaus zwischen Alt- und Neu-Vingen. Die Blumen auf dem Grab meines Vaters hinter der Kirche bewiesen, dass meine Mutter jeden Tag auf den Friedhof ging. Seit siebzehn Jahren war mein Vater für mich nur noch ein Kreuz. Als meine Mutter losging, um sich den vom Grab meines Vaters geklauten Topf Margeriten zwei Gänge weiter vom Grab der Schäufeles wiederzuholen, verabschiedete ich mich. »Und warte mit dem Essen nicht auf mich.«

»Wie du meinst.«

Vingen war ein Erbteilungsdorf. Häuser und Häuschen, oft nicht breiter als eine Haustür und ein Stalleingang, reihten sich an den Gassen wie schiefe Zähne in einem Kindergebiss vor der Zahnregulierung. Es roch nach Kuh. Ein Misthaufen dampfte. Reichtum wurde versteckt. Am Albgürtel lebten heute die meisten Multimillionäre der Republik. Die Fußgängerzone verdankte Friedrich Gallions Spendierhosen das Schmuckpflaster und das Kriegsgefallenendenkmal. Unter demselben schwarzen Marmor lagen auf dem Friedhof hinter der Stephanskirche Todt Gallion und seine Mutter Karola Gallion, geb. von Sterra.

Ich setzte mich in die neue Pizzeria in der Fußgängerzone. In den Wühlschalen vor Schlecker probierten Mädels Parfüm. Zwei Frauen mit Lauchstangen in den Einkaufsbeuteln unterhielten sich an der Ecke. Mich schützten Narbe, Kurzhaarschnitt und Herrenjackett davor, erkannt zu werden. Aber mir fehlte auch ein Fremder an meiner Seite, dem ich lächelnd die Ecken meiner Kindheit hätte erklären können.

»Dort, wo diese popelige Festhalle steht«, hätte ich Richard beim Spaziergang am Waldrand unter der Hohen Warte erklären können, »dort war früher der Bauernhof, wo ich zum ersten Mal vom Pferd gefallen bin.«

Richard konnte nicht reiten. Sein Interesse wäre begrenzt gewesen. Er würde die Plakate fürs Kinderfest hinter den Festhallenscheiben lesen. »Es war ein Glück für mich«, könnte ich im Gegenwind der Erinnerung fortfahren, »dass zwischen meinem zwölften und sechzehnten Lebensjahr der Autohandel meines Vaters in Reutlingen in die selbstverschuldete Krise geriet.«

Mein Vater bereitete sich auf seinen Herzinfarkt vor, und meine Mutter suchte an seinen Hemden nach Lippenstiftspuren und Parfümduft, um ihm Verhältnisse mit den stets wechselnden Büroschreibkräften zu beweisen. Das hielt beide davon ab, sich darum zu kümmern, wo ich meine Nachmittage verbrachte. Ich mistete Ställe aus und striegelte Haflinger und Norweger, in der Hoffnung, dass die Mädels, denen die Pferde gehörten, mich auch mal reiten ließen. Dann legte sich mein Vater zum Sterben hin und meine Mutter steckte mich in eine Sekretärinnenschule. Von meinem Gehalt bei Gallion Obstsäfte konnte ich mir dann eine Reitbeteiligung leisten. Ich zahlte hundert Mark im Monat und ritt den Welsh Cop der Bäckerstochter, die sich mehr für Jungs denn für ihr Pferd interessierte. Vier Jahre lang gurkte ich mit Sandy über die Felder und durch den Wald, lernte, einem von galoppsüchtiger Hand gequälten Pferd Vertrauen in mich beizubringen, und träumte davon, eines Tages einen von den Shagya-Arabern zu besitzen, die in dem Gestüt hinterm Vorsprung der Hohen Warte gezüchtet wurden.

Eines Abends traf ich einen dieser Reiter aus dem Gestüt am Wasserwerk beim kleinen Stausee. Sein junger Trakehner-Rappe Satan war mit der Hinterhand in eine Rolle Draht geraten, die an einer Baugrube neben dem Wasserwerk herumlag. Er konnte das panikbereite Pferd nicht gleichzeitig am Kopfzeug ruhig halten und seine Hinterhufe aus dem Draht befreien.

»Es war wie Dornröschen«, würde ich nicht Richard, sondern Sally erzählen. »Todt Gallion hatte Augen und Locken so schwarz wie sein Rappe.«

Sally würde kichern und ihre blonden Locken schütteln. Sie war erpicht auf Geschichten über Arm und Reich.

»Allerdings kam ich, die Prinzessin, um ihn zu erlösen. Sein Satan hätte sich sonst die Schlagadern am Draht aufgerissen. Damals wusste ich noch nicht, dass Todt von seinem Vater verhext worden war. Ich sah nur einen dieser Snobs vom Gestüt, deren Pferde umso höher im Blut stehen, je geringer die Intelligenz ihrer Halter ist. Er behauptete, er müsse Satan beruhigen. Darum war ich es, die sich schließlich an die Hinterhufe des Trakehners wagte, um den Draht zu entwirren.«

Damals war ich nur eine Sekretärin mit Dauerwellen. Aber Todt lud mich zum Dank aufs Gestüt ein. Und so kam es, dass ich mich in ihn verliebte. Dasselbe Phlegma, das mich befähigte, im Haus meiner Mutter zu leben, setzte mich in den Stand, Vollblüter zu beruhigen und Männer von noblem Geblüt. Todt befand sich in brisanter Lage, nicht nur mit seinem Pferd am Wasserwerk, auch auf dem Hof seines Vaters. Wir trafen uns in unserer Unfähigkeit, dem Elternhaus den Rücken zu kehren. Über ihn herrschte der Saftkönig von Vingen, der Kavallerist Friedrich Gallion, der seine Selbstgerechtigkeit aus dem Umstand ableitete, dass er bei Kriegsende zu denjenigen gehört hatte, die mit den preußischen Kriegsrössern von Trakehnen die Flucht aus Polen übers vereiste Frische Haff angetreten und den Treck nach Mecklenburg überlebt hatten. Todt nannte ihn nur »den General«.

Ein Frühsommertag verglühte im Arstal zwischen Albtrauf und welligem Land mit seinen knorrigen Obstbäumen, Gehöften und reifenden Feldern. Meine Mutter saß unter dem heiligen Sebastian und umhäkelte Geschirrtücher für den kommenden Basar. Im Fernsehen unter dem geschundenen Leib Jesu versammelten sich Leute in Trachtenanzügen zum Finale. »Die Leute ham auf Gott vergessen, früher ist das anders g’wesen ...« Die knotigen Finger meiner Mutter flitzten, das Sofa knarzte mit den Häkeleinstichen, in ihrem Schoß zuckte das Knäuel weißen Garns, die Zehen krümmten sich in ihren Pantoffeln aufwärts. Die Kiefer mahlten.

»Na«, sagte sie, »hat denn im Ort überhaupt noch jemand gewusst, wer du bist?«

Beim Blick in den Badspiegel fuhr mir der Schreck bis in die Kniekehlen. Meine Augen hatten nicht nur das Muttergrau, sie hatten auch denselben bösartigen Zuschnitt, dieses schlau auftrumpfende Schillern von Leuten, die sich immer geringschätzig behandelt, aber allen überlegen fühlen. Nur gut, dass ich Richard nicht mitgenommen hatte. Er hätte sonst womöglich noch entdeckt, was ihm blühte, wenn ich in die Jahre kam.

Gegen elf klingelte das Handy. Es war nicht Richard, sondern Sally, die gute Seele. Sie erkundigte sich, ob mit mir alles okay sei. Ich bemühte mich um einen vergnügten Abriss des dörflichen Idylls. Sally verdankte ich mein Leben. Sie lag neben mir in der Unfallmedizin des Katharinenhospitals, als meine Mutter kam, um mir von Todts Beerdigung zu berichten. Ich muss wohl versucht haben, mir die Verbände vom Gesicht zu reißen und aufzustehen. Die Infusion, die mich ruhigstellen sollte, löste einen allergischen Schock aus. Sally begriff, dass ich mich davonstahl, drehte den Tropf zu und alarmierte die Ärzte. Es handelte sich um Minuten. Dafür begleitete ich sie jetzt von Zeit zu Zeit im Nadelstreifenanzug oder in Bomberjacke auf Konzerte, damit die Kerle, die sie treffen wollte, nicht glaubten, sie sei solo.

3

Eine Stunde spachtelte ich am Morgen an meiner Selbstverleugnung, überschminkte die Narbe, gelte die Haare und versah die Ohren mit lupenreinen Brillanten. Das Auge meiner Mutter blitzte tückisch, als sie mich im grauen Leinenkostüm mit roten Webstreifen sah. Einerseits gefiel ich ihr im Rock besser, andererseits war er zu kurz.

Fünf vor elf bog ich mit meinem offenen Golf Cabriolet, grünmetallic mit roten Ledersitzen und Alufelgen, von der Eninger Landstraße nach rechts auf den Asphaltweg ab, der zuerst eine leichte Kuppe hinanstieg und sich danach geflankt von Koppeln ins Herz des Gestüts senkte. Auf dem gekiesten Parkplatz standen Roadster mit Hängerkupplung, Mercedes SKL und Zweitlimousinen. Das Witwenkleid meiner Mutter flatterte. Sie trug das Geschenk: Dürers betende Hände in Holz geschnitzt. Ich atmete den Geruch nach Pferd, diese die einen berauschende, die anderen abschreckende Mischung aus Dung, Heu, Pferdeschweiß und Huffett. Mein Puls beschleunigte.

Vom Parkplatz ging es zwischen Remise und Wirtschaftshaus auf den Hof. Die gesamte Anlage, die sich heute auf knapp achthundert Hektar erstreckte, verleugnete in ihrem Kern nicht die Anfänge als Aussiedlerhof mit Kutschenremise, Schuppen und alten Stallungen im Arsbogen. Der General hatte nie ein Gebäude abgerissen, sondern immer nur angebaut. Als ich im Neubau neben dem alten Bauernhaus einzog, war das Ensemble schon fertig. Es gab siebzig Privatpferden in Stallkasernen jenseits der Ars Raum. Im Wirtschaftshaus wohnten Stallknechte. Die Reithalle war groß genug, um Auktionen und Turniere abzuhalten. Die Zuchthengste deckten jedes Jahr an die dreißig Stuten, die sommers mit ihren Saugfohlen auf den Weiden im Norden standen. Die Generationen der Junghengste waren auf drei Nordweiden untergebracht.

Rauchschwalben kreischten von den Nestern unter den Dächern und in den Außenboxen des Hofs in den Himmel. Freitagvormittag war nicht viel los. Ein paar Hausfrauen und Rentner trödelten mit ihren Gäulen. Die Berufstätigen kamen erst abends, die Mädchen erst, wenn die Schule aus war. Ich lotste meine Mutter um die Fährnisse eines Reiterhofs herum, Deichseln von Pferdeanhängern, Schubkarren, Holzstapel und Katzen.

Vom Wirtschaftshaus her kam eine junge Frau in Reithosen mit rappschwarzen Locken. Mein Herzschlag setzte aus. Warum hatte ich nicht damit gerechnet, sie zu sehen: Todts Schwester Siglinde, eine Amazone von Kindesbeinen an, trocken, breithüftig und mit harten Handgelenken, acht Jahre jünger als ihr Bruder und damit in meinem Alter. Ich hatte sie auf unserer Hochzeit das erste Mal gesehen und dann anderthalb Jahre lang nicht mehr. Als sie sich nach abgeschlossener Ausbildung in den Renn- und Zuchtställen von Oldenburg und Hannover wieder auf dem Hof einrichtete, beäugten wir uns verschiedentlich sogar mit Wohlgefallen, aber das streitsüchtige Klima, das ihr Vater zu schaffen verstand, verhinderte, dass wir uns näherkamen. Sie hatte Todts hämatitschwarze Augen, und sie besaß das Gallion’sche Kinn, diesen Kiefer puren Siegeswillens.

»Lisa? Bist du’s wirklich? Ich werd verrückt!« Sie klang nicht so, als würde sie verrückt. Siglindes Gefühle bemächtigten sich nur im Zorn ihrer Stimme. Freundlichkeiten klangen immer wie einstudiert. »Wie geht es dir denn? Hast du endlich wieder den Weg nach Vingen gefunden? Was für eine nette Überraschung.«

»Wir kommen deinem Vater gratulieren.«

»So seht ihr auch aus.« Ihre Augen rutschten mein Kostüm herab. »Der Bürgermeister ist auch schon da. Wart, ich bring euch rauf. Papa wird sich freuen.«

Das war gelogen. Doch erleichterte es mich, auf dem Gestüt einer Gallion zu begegnen, die die Höflichkeit über die Wahrheitsliebe stellte, mit der der General seine Mitmenschen zu geißeln pflegte. Siglinde hatte in den fünf Jahren, die sie die Geschicke des Gestüts bestimmte, deutlich Umgangsformen dazugelernt. Ich kannte sie noch als ungezügeltes Gör, das sich gegen das Kavalleristenwissen des Generals und die ausgefeilten Urteile ihres Bruders durchzukeifen versuchte.

Beruhigend war auch, dass der Alte tatsächlich Geburtstag hatte. Ich neigte dazu, solche Termine für Phantasien meiner Mutter zu halten, die lediglich einen Anlass suchte, unter den Alten und Siechen des Kaffs neue Beute für christliche Hilfsdienste zu machen.

»Wie geht’s ihm denn?«, erkundigte ich mich, während wir auf das alte Bauernhaus mit dem modernen Anbau zugingen.

»Der Jüngste ist er natürlich nicht mehr, aber geistig immer noch topfit. Nur das Rheuma macht ihm arg zu schaffen.«

Meine Mutter presste befriedigt die Lippen zusammen. »Rheuma, damit ist nicht zu spaßen.«

An der Tür zur Küche drehte sich Siglinde noch mal um und erklärte, sie warte auf einen Züchter mit einer rossigen Stute, der jede Minute eintreffen müsse. Dann streifte sie die Turnschuhe auf einem Putzlumpen ab und schlüpfte in Hauslatschen. In der großen Küche des alten Bauernhauses wirtschaftete immer noch die Haushälterin Kobel.

»Na, Mimi, kennst du Lisa wieder?«

Mimi Kobel zog die Hand aus dem Brustkorb eines nackten Kaninchens, ließ Herz und Nieren auf einen Teller fallen und wischte die Hände an der Schürze ab. Ihre Augen verfusselten sich in meinem Kostüm. »So, hosch uns doch no net vergesse’.«

Die schwierige grammatische Form des Sie wandte sie nur beim General an. Für mich war sie dennoch auch nie Mimi gewesen, so wie für die Gallion’schen Kinder, die sie nach dem Tod der Mutter bei Siglindes Geburt gefüttert und gewaschen und mit Familienstolz vollgestopft hatte. Für sie war ich bestenfalls eine neue Hausbedienstete gewesen, die sie nur nicht so anfegen durfte, wie es ihr richtig erschien.

Der General hatte nach dem Tod seiner Frau, einer Edlen aus ostpreußischem Adel, nicht wieder geheiratet. Er stammte aus dem Elsässischen, aber sein Vater hatte als SS-Offizier in Polen Aufgaben zu erfüllen gehabt, die im Hause Gallion niemand zu erwähnen wagte. Nach dem Krieg hatte er den Aussiedlerhof in Vingen gekauft und war reich geworden. Während Kobel resolut sein Haus führte, hatte er sich in lockerer Folge Geliebte in Eningen und Reutlingen gehalten. Das war allgemein bekannt, aber er machte es so diskret, dass sich das Gerede in Grenzen hielt.

Wir traten über den Gang ins Treppenhaus des Neubaus und stiegen die Treppe hoch. Als echter Bauer hatte Gallion nicht das Geringste übrig für das alte Fachwerkhaus mit seiner katzenreichen Großküche und den knarzenden Stuben. Er sah sich würdig repräsentiert nur in einem Neubau mit Tapeten, Teppich, Couchtisch und Tischdecke auf dem Esstisch. Das Mobiliar hatte Karola Gallion einst in den fünfziger Jahren angeschafft. Es war massiv und zeitlos. Sie soll eine feinnervige Frau gewesen sein mit Sinn für Blumen, Bilder und Musik. Dem Ganzen hatte Mimi Kobel bei Übernahme des Regiments Schondeckchen und Überteppiche angedeihen lassen.

Unerschrocken betrat meine Mutter die gute Stube. Am Fenster zum Hof stand der große Esstisch, an dem sonntags die Familiendramen eskalierten. An diesem Tisch lernte ich das Wort »güst« für Unfruchtbarkeit bei Kühen und Stuten, als der Alte mich fragte, ob sein Sohn eigentlich eine güste Erbschleicherin geheiratet habe oder ob er noch vor seinem Tod mit Enkeln rechnen dürfe, und als er Todt, der vor Wut zitterte, einen Schlappschwanz nannte.

Im Schatten einer Eichenschrankwand saß der General in seinem Lebensabendsessel zwischen Hengstbüchern und Pferdezeitschriften. Friedrich Gallion bestand nur noch aus Knochen, Sehnen und Kinn. Die Nase sprang ihm hakig aus dem Gesicht, die Kinnlade ankerte schwer an den löchrigen Schläfen. Das Haar war weiß und spärlich, die Hämatit-Iris färbte seine Augäpfel rot. Zum ersten Mal in meinem Leben stellte ich mit Genugtuung fest, dass jemand an der Schwelle zum Grab stand, und erschrak, denn genau diesen Triumph teilte ich mit meiner Mutter.

Er blieb sitzen, während sich hinter dem Blumengebinde mit knirschender Klarsichtfolie Bürgermeister Wagner aus dem Sofa hochkämpfte und den Janker glattzog, der nicht recht zu seiner Brille und seinem Eierkopf passen wollte. Meine Mutter war in Fragen dörflicher Etikette trittsicher, missachtete den Bürgermeister, der zwar der christlichen Partei angehörte, aber nicht von hier war, und überreichte dem Jubilar das Geschenk mit Segens- und ausführlichen Gesundheitswünschen. Der Alte presste die Lippen zusammen und kräuselte die Mundwinkel.

»Ist das nicht nett«, sagte Siglinde im Versuch die Unhöflichkeiten des Vaters zu überblenden. »Alle denken Sie noch an dich. Sogar Lisa ist gekommen. Na, erkennst du sie wieder?«

Der General lachte tonlos, wie immer, wenn Siglinde ein Fauxpas unterlief. Ihr fehlte die Bremse zwischen Denken und Plappern, die andere daran gehindert hätte, auf meine Verunstaltung anzuspielen.

»Ist ja wieder ganz hübsch geworden, deine Fratze«, sagte er, denn er hatte es nicht nötig, taktvoll zu sein. Seine Augen verweilten zwischen meinen Schenkeln am Saum des Rocks, als ich ihm die Hand reichte, um meine Glückwünsche zu entbieten. Während meine Mutter nun den Bürgermeister begrüßte, öffnete Friedrich Gallion die Lippen und sagte ganz leise und mir direkt ins Gesicht: »Auf wen hast du es denn jetzt abgesehen, he?«

Siglinde nötigte uns zum Kirsch. Meine Mutter lehnte nicht ab. Der Bürgermeister sprach einen Toast. Ich zog mich ans Fenster zurück.

Emsiger Frieden lag über Hof und Stallungen und dem sanft gen Norden schwingenden Land. Rot die Dächer, grün die Weiden, darüber wie eine Haube der Himmel mit den Schwalben. Unten rundeten sich Pferdeleiber im Sonnenlicht. Hufeisen klapperten. Tiere schnaubten. Wozu sollte ich einem alten Mann grollen, dem der Tod in den Schläfen pochte? Er hatte seinen Sohn auf dem Gewissen. Damit musste er ins Grab, nicht ich.

Ein Geländewagen mit Pferdeanhänger fuhr auf den Hof. Ich wandte mich zu Siglinde um. »Die rossige Stute kommt.«

Sie sprang zu mir ans Fenster und blickte hinaus. Ich erhaschte den Stutengeruch ihres Haares. Sie musterte meinen Rock abwärts. »Na, kommst du mit?«

Wir entwischten die Treppe hinab und umsegelten auf dem Hof die Flotte der anrückenden Herren in Anzügen und schwerem Schuhwerk, Gemeinderäte, Bauern, Züchter, Abgesandte des Haupt- und Landesgestüts Marbach. Vor dem Wirtschaftshaus hatte der Geländewagen Halt gemacht. Ihm entstieg ein Mann im Poloshirt, den Siglinde als Herrn Epple begrüßte. »Fahren Sie über die Brücke zu den Zuchtställen. Hajo erwartet Sie da.«

Epple versicherte Siglinde, bevor er ins Auto kletterte, dass die Stute blitze und dass der Test mit seinem Island-Hengst daheim ergeben habe, dass sie gewiss in der Hochrosse sei. Siglinde kicherte sich ab, als er nicht weniger paarungsbereit als seine Fracht über die Brücke fuhr. Wir gingen zu Fuß hinterher.

»Hajo kennst du noch nicht«, erklärte Siglinde. »Als der alte Max in Pension ging, hab ich ihn zum Hauptbereiter und Zuchtwart gemacht. Ihm verdanken wir Palas, unseren Hauptbeschäler. Er hat ihn entdeckt. Palas steht in der Linie von Gazal.«

»Oh!«

Man musste nicht viel über Araberzucht wissen, um den Namen des legendären Schimmelhengstes Gazal zu kennen, Sohn von Gazal VII aus dem ungarischen Staatsgestüt Bábolna, das mit den Hauptbeschälern Kuhaylan Zaid, Shagya und O’Bajan die Zucht großrahmiger Araber begründete.

»Seit wir Palas haben«, sagte Siglinde, »sind wir auf dem besten Wege, die größte Shagyazucht in Europa aufzubauen. Hajo wollte auch Rennpferde züchten, aber den Hengst dazu hat ihm kürzlich jemand vergiftet.«

»Was?«

»Er ist auf der Koppel krepiert. Ein hässliches Vieh. Aber Palas wird dir gefallen.«

Sie dirigierte mich, fast mehr besorgt um mein teures Schuhwerk als ich, um eine fäkal schimmernde Pfütze herum zu einem Stallgebäude, das etwas zurückgesetzt lag, während der Züchter mit seiner hochrossigen Stute noch hundert Meter weiterfuhr und von einem Stallangestellten gestoppt wurde. Ein Belgischer Schäferhund an einer Kette bewachte den Stall, der mit einer Schließanlage versehen war. Die Schiebetür stand jetzt offen. Zwei schneeweiße alte Stuten und eine hochträchtige Jungstute standen in drei Boxen. Über die Tür der vierten lauschte uns ein weißer Hechtkopf mit grauen Nüstern und gespitzten Gazellenohren entgegen.

»Sieht er nicht aus wie Gazal?«, fragte Siglinde mit mehr Wärme in den Worten als in der Stimme. »Schau dir die Beine an, staubtrocken.«

Drei trockene Dinge soll ein Araber besitzen, den Kopf, die Beine und die Gelenke, drei lange Dinge, die Hinterbeine, die Ohren und den Hals, drei kurze Dinge, den Knorpelansatz des Schweifs, den Rücken und die Vorderbeine, und drei breite Dinge, die Brust, die Stirn und das Hinterteil. Das Ohr soll dem einer aufgestörten Antilope gleichen, und die Nüstern sollen weit sein mit roten Höhlungen. Ein solches Pferd war Palas. Er stand so hoch im Blut, dass die menschliche Seele seufzte in ihrer Erbärmlichkeit.

Palas blähte die Nüstern. Noch hatte er keine Witterung von der rossigen Stute, aber ein Shagyahengst ist in jeder Minute ein Ereignis. Dem Bann eines solchen Bündels aus Muskeln, Nerven, Blut und Leben kann sich niemand entziehen. Schönheit, man ahnte es schon immer, ist Kraft.

»Fünfzehn Fohlen von ihm laufen dieses Jahr in der Herde mit«, sagte Siglinde. »Letztes Jahr waren es dreizehn. Drei seiner Hengstfohlen wurden gekört und haben uns bei der letzten Herbstauktion allein eine halbe Million gebracht.«

Während Siglinde schön wurde, stolz und rassig vor diesem Hengst, rupfte mir die hochtragende Schimmelstute aus der Nachbarbox den Knopf vom Ärmel meiner Kostümjacke. Hamsun ox stand auf dem Schild an der Boxentür.

Gleichzeitig kam ein Mann in den Stall, ein leichtgebauter sehniger Bursche in speckigen Reithosen, abgewetzten Stiefeln und verschwitztem T-Shirt, Arme und Gesicht von der Sonne verbrannt, die Haare von der Farbe alten Heus und die Augen geschliffen wie Aquamarine.

»Ah, Hajo«, sagte Siglinde.

Er musterte mich von den Fesseln aufwärts bis zum Brustbein und streckte dabei die Hand unter Hamsuns Maul. Um den Mund hatte er so einen gemeinen Zug von Männern, die sich gegen die geistige Überlegenheit der Frauen dadurch zur Wehr setzen, dass sie sie mit dem Blick bis auf Brustwarzen und Schamhaar ausziehen. Hamsun spuckte ihm meinen Knopf in die Hand.

»Das gehört wohl Ihnen. Sie halten besser Abstand. Pferde sind keine Kuscheltiere.«

Ich hasse Männer mit blauen Augen, die mir eingesabberte Knöpfe in die Hand gleiten lassen und grinsen, weil sie wissen, dass ich im Kostüm meinem Impuls nicht nachgeben kann, ihnen unter der Hand das Knie in die Eier zu rammen.

»Lisa kennt sich aus mit Pferden«, sagte Siglinde. »Sie war die Frau von meinem Bruder.«

»Aber jetzt gehören Sie wohl mehr zu den passiven Reitern«, sagte er mit Blick auf meine Beinmuskulatur, »Verzeihung, Reiterinnen, eh.«

Siglinde lachte. Wie hatte ich mich nur dazu verführen lassen können, wieder einen Stall zu betreten, dieses Zuchthaus von Schadenfreude und Prahlerei? Die speckigen Burschen wie Hajo verdankten ihr Ansehen als Mann lediglich dem physischen Geschick, ein Pferd so zu vergewaltigen, dass es nichts Schöneres kennt, als seinem Reiter zu Willen zu sein. So ein Kerl holte sich jeden Abend einen runter in dem Bewusstsein, dass es keinen gab wie ihn, keinen, der wie er jedes Pferd zu nehmen wusste, mit Schlauheit, mit Tricks und mit Kraft. Wenn die Stute zwischen seinen Knien kirre wurde, dann schmolzen auch die Weiberherzen, so wie Siglindes. Doch war Siglindes Schmelzen eine komplizierte Angelegenheit, wie ich sah. Sie wollte ihn, aber nicht die Herrschaft verlieren.

»Hast du dir Hannibal angesehen?«, sagte sie, als Hajo an die Box von Palas trat und der Hengst ihn mit Kopfstoß vor die Brust begrüßte.

»Hannibal ist in Ordnung.«

»Aber er schwitzt stark«, widersprach Siglinde mit einem schrillen Oberton.

»Es ist warm.«

»Nicht, dass er dir krepiert wie dein Arabal.«

In Hajos Augenwinkel blitzte Gift. Siglinde freute sich, dass sie ihn getroffen hatte. Er zeigte uns die Schulter und inszenierte Männersolidarität mit dem Hengst, der mit verspielter Miene nach der Hand seines Herrn zwickte. Als der Zuchtwart nach dem Deckhalfter am Haken neben der Box griff, wölbte der Hauptbeschäler den Mähnenkamm, suchte mit geweiteten Nüstern Fernwitterung und stieß unvermittelt das helle gellende Hengstwiehern aus.

»Ja, Palas«, gurrte der Mann, »ja, jetzt geht’s zur Stute.«

Siglindes Miene verfärbte sich trotzig. »Willst du gleich? Willst du die Stute nicht erst mal in den Stall bringen, damit sie sich eingewöhnt?«

»Wozu? Sie ist bereit.«

Palas sandte erneut seinen markschneidenden Kontaktschrei aus und drängelte Hajo, der die Boxentür geöffnet hatte, in die Arme. Tänzelnd ließ er sich das Halfter überstreifen und piaffierte in den Stallgang. Den ganzen Weg an der Seite des Zuchtwarts zeigte der Hengst hohe Schule, hob die Beine, wölbte den Hals, schlug mit dem Schweif und stieß erregte Schnorrlaute aus. Siglindes schwarze Augen schwankten zwischen Bewunderung, die man einem Araberhengst niemals versagen kann, und Unwillen über den Aufwand an Männlichkeit. Der Trab ist ja ursprünglich nichts anderes als die Gangart, um zu imponieren. Die Sonne spritzte Silber in Palas’ Schimmelweiß. Sein Leib schwang, vibrierte, entfaltete versammelte Kraft.

Dabei hatte die Stute, die aus dem Hänger geholt und außen am Probierstand angebunden war, gar keine Wahl, als ihren Beschäler anzunehmen. Sie war grauschimmelig, jung und schön, fast übertrieben dekadent mit ihrem mächtigen, vom schlanken Rumpf abgesetzten Hinterteil und dem sehr konkaven Nasenbein des von uns so geschätzten Arabertyps. Palas tanzte, schnaubte und stieß ein Imponierwiehern aus, das Gesicht mit hochgewölbtem Mundwinkel auf urviehhafte Begrüßungsartigkeiten eingestellt, nur dass sich beim Araber bei solcher Mimik der Hengsteckzahn nicht zeigt, weil seine Nüsternpartie zu lang ist.

Die Stute war beeindruckt. Herr Epple nicht weniger. Er stemmte die Hände in die Hüften, und sie stemmte die Vorderbeine nach vorn und die Hinterbeine nach hinten und stand da wie ein Sägebock, Schwanz und Kopf erhoben, die Antilopenohren rückwärts gerichtet. Ein Bild der Bereitschaft.

»Sie blitzt, sie blitzt!«, jubelte Herr Epple. »Sehen Sie, sie blitzt.« Er konnte sich nicht mehr einkriegen über die deutlichen Signale organischer Bereitschaft. »Soll ich Fatimah jetzt in den Probierstand führen? Sollen wir sie nicht besser einspannen, falls sie ausschlägt? Sie ist Maidstute. Es ist das erste Mal, dass ich ... dass sie ...«

»Was wollen Sie denn da noch probieren?« , fragte Hajo trocken neben dem heißen Hengst. Für den sogenannten Sprung aus der Hand, bei dem der Hengst die Tage der Vorrosse nicht nutzen konnte, um sich der Stute vertraut zu machen, führte man Stuten oft hinter eine Bretterwand in den Probierstand, damit sie in der Beschnüffelungsphase nicht etwa nach dem kostbaren Beschäler ausschlagen konnte. Aber Hajo und Palas verstanden ihr Geschäft. Palas piaffierte und grunzte sich mit gewölbtem Hals am Strick des Züchters von schräg vorn an die Stute heran.

Herr Epple trat besorgt vom einen Bein aufs andere. Siglinde knabberte missmutig an der Unterlippe, und ich hielt mich im Hintergrund auf. Auf der anderen Seite des Deckplatzes waren vier hübsche drei- oder vierjährige Trakehnerhengste auf der Koppel erschienen und hatten sich am Zaun aufgereiht. Dies gab Palas Gelegenheit zu demonstrieren, dass er den Platz unbestritten beherrschte.

Fatimah behielt ihr friedliches Paarungsgesicht bei, als Palas Nüstern an Nüstern den ersten Kontakt herstellte. Er beschnoberte Schultern und Flanke und näherte sich nicht ungeduldig, aber bestimmt ihren blitzenden Genitalien. Sie stand wie ein Lamm. Palas trat hinter sie und trank ihren Geruch und ließ ihn mit erhobenem Kopf und aufgestülpter Oberlippe genüsslich durch den luftdicht verschlossenen Nasenraum rinnen.

»Er flehmt, er flehmt!«, rief Herr Epple beinahe erstickt vor Erregung. »Und jetzt schachtet er aus.«

Nicht nur Palas hatte seinen Begattungsrüssel ausgefahren, sondern auch die jungen Trakehnerhengste am Zaun. Als Palas grunzend aufsprang, die Stute zwischen die Vorderbeine klemmte und sich mit lustvoll entblößten Unterkieferzähnen in ihrer Mähne verbiss, begannen die Junghengste am Zaun, den Schlauch gegen den Bauch zu schlagen, und samten ab. Was in der Maidstute vor sich ging, die ihre vier Hufe in den Boden stemmte, wissen wir nicht. Palas rammelte grunzend und fellzwickend.

Hajo legte die Hand an den Schlauch des Hengsts, um zu fühlen, wann er absamte, und grinste. Siglinde wandte sich augenblicklich ab. Fast schien es mir, als hätte sie dabei mit dem Fuß aufgestampft. Was für ein gemeines Spiel spielte dieser Hauptbereiter da eigentlich mit seiner Chefin? Oder spielte er es auch schon mit mir, dieser Herr der Vermehrungskraft?

Siglinde nahm mich am Arm und zog mich um die Ecke auf den Hauptweg, der das Gut mit den äußersten Weiden im Norden verband. »Manchmal könnte ich ihn«, keuchte sie, »wenn er nicht so genial wäre. Er hat Palas auf einem verrotteten Bauernhof in Ungarn entdeckt. Als er bei uns anfing, erzählte er mir, dass er ein Fohlen kennt, das etwas für uns wäre, einen Gazal. Wir sind hin und haben ihn gekauft, halb verhungert und struppig, und haben ihn gekört. Inzwischen erreichen uns Anfragen aus Amerika wegen seines Samens. Bei guter Fütterung kann so ein Hengst hundertmal im Jahr decken ...«

In freier Wildbahn schaffte er gerade mal zwölf Stuten. Siglinde glitzerte das Geld in den Augen.

»Arabal war auch so einer, auch so eine Entdeckung Hajos. Ein Mu’niqi, hat er immer gesagt. Hässlich wie die Nacht, aber schnell. Seine Fohlen würden in Iffezheim gewinnen. Darauf hätte er sein letztes Hemd verwettet. Aber ... tja ... den hat uns, wie gesagt, vor drei Wochen jemand vergiftet. Aus der Traum. Hajo versteht sein Sach, aber er ist ein Träumer.«

Das schien mir knapp daneben. Hier tobte nur der uralte Machtkampf zwischen Mann und Frau darum, wer die biologische Reproduktion in den Fingern behielt. Siglinde beanspruchte auch die Verfügungsgewalt über den genetischen Reichtum des Gestüts, nachdem sie als einziges Kind Friedrich Gallions die ökonomische Leitung so gut wie sicher hatte. Leider hatte sie einen genialen Zuchtwart, der nicht nur wusste, welches Pferd mit welchem zu paaren war und was dabei herauskam, sondern auch, dass Siglinde ihn wollte. Er ließ sie an langer Longierleine um sich herumtraben und hielt sie mit der Peitsche auf Abstand. Bevor er seine Chefin nahm, musste sie sich seinen Wünschen beugen lernen. Das alte Unbehagen stellte sich ein. Ich wusste es wieder. Wir waren auf dem Gallion’schen Hof. Da war es nie um etwas anderes gegangen als darum, wer die Gewalt hatte über die Samentöpfe.

»Und wie«, fragte ich, »wie wurde dieser Hengst Arabal vergiftet?«

»Mit Eibe, am helllichten Tag auf der Weide. Es war ...«

Ein fürchterlicher Schrei gellte. Siglinde fand schneller als ich die Richtung und rannte los. Ich hinterher. Scheiß Pömps! Sie stieß die Schiebetür zum Schulstall auf.

Im jähen feuchten Dunkel des alten Gebäudes mit seinem geschwärzten Kopfsteinpflaster im Stallgang leuchteten irre die rosa-hellblauen Teenager-Klamotten von drei Mädchen auf, zwei völlig verscheucht, die dritte kreischend und um sich schlagend, sobald sich eine ihrer Freundinnen näherte.

Die Pferde kreiselten in ihren Boxen und keilten knallend gegen die Wände. Ich sah, wie Siglinde nach einer Mistgabel griff, als könnte sie damit den kreischenden Horror beenden. Mir klirrten die Ohren. Die Nerven schrillten. Ohne zu überlegen, fing ich die Fäuste des Mädchens ab und ohrfeigte sie mit aller Kraft. Der Schrei verröchelte. Das Mädel fiel in sich zusammen.

Stille ächzte durch den Stall. Die Pferde standen und spitzten die Ohren. Auf dem kalten Pflaster des Stallgangs lag ein dickliches Mädchen im nabelfreien Kurz-Shirt und Schlagjeans von vielleicht dreizehn Jahren, eines jener Mädchen, die überall dort auftauchen, wo mehr als zwei Pferde beisammenstehen, um einen Liebling mit Brot, Zucker oder Möhren zu erfreuen. Mir kehrte die Besinnung zurück und damit die Angst, ich könnte mit meinem Schlag den lebenswichtigen Halsnerv getroffen haben. Aber das Mädchen lebte. Allerdings hatte sie die Augen ins Hirn verdreht.

»Ein Notarzt muss her.«

Allerlei gestiefelte und ungestiefelte Leute waren mittlerweile in den Schulstall gestürzt, die Augen noch schreckgeweitet von dem irrsinnigen Geschrei. Siglinde stellte die Mistgabel wieder an die Wand neben der Tür der Sattelkammer und atmete aus. »Ein Notarzt ... ja. Mein Gott.« Sie wandte sich an die herumstehenden Leute. »Holt einer mal Dr. Hilgert. Ich habe ihn vorhin irgendwo gesehen.«

Jemand ging. Siglinde strich sich die Locken aus dem Gesicht und gewann plötzlich ihre Linie wieder.

»Was macht ihr überhaupt hier?«, fuhr sie die beiden anderen Mädels an, die sich wie zwei Schafe an die gegenüberliegende Boxenwand drückten.

»Wir haben nichts gemacht! Ehrlich nicht. Julia wollte nur Prinz ein paar Möhren geben.«

»Ich habe euch schon hundert Mal gesagt, ihr sollt Prinz in Ruhe lassen«, fuhr Siglinde auf. »Das ist kein Pferd zum Streicheln. Wann begreift ihr das endlich? Er schlägt euch noch mal tot. Raus hier jetzt. Alles raus, aber ein bisschen plötzlich. Und ich will euch hier morgens nicht mehr sehen. Eure Reitstunde ist am Nachmittag.«

Mir dröhnten die Ohren. Ich hatte vergessen, wie schnell in Reitställen gebrüllt wurde, wenn irgendetwas schiefging. Das war es, was mich anwiderte, auch wenn ich einsah, dass man in dem von Missverständnissen geprägten Miteinander von Mensch und Pferd schon mal brüllte, um einen Unfall zu verhindern. Dreizehnjährige Mädchen begriffen selten, dass Reiten ein reiner Machtsport war und kein Tierliebhaben.

»Wir brauchen einen Notarzt«, meldete ich mich wieder. Das Mädchen war kalkweiß und ihre Haut trotz der sommerlichen Temperaturen bedenklich frostig. Mein Handy war leider mit der Handtasche im Wohnhaus geblieben.

»Ach ja«, sagte Siglinde, blickte kurz auf die Halbleiche am Boden und verließ den Stall.

Auch leichte Klapse auf die Backe brachten das wie knochenlos hingeworfene Mädel nicht zu Bewusstsein. Die Umstehenden mutmaßten, sie habe einen Huftritt von Prinz abgekriegt. »Prinz« stand an der Boxentür schräg gegenüber. Im Dunkel dahinter zeigte ein riesenhaftes Pferd sein Hinterteil. Auf jeden Fall hatte Julia einen Schock erlitten. Jemand schlug frische Luft vor. Jeweils drei vergriffen sich auch sofort an den jeansbehosten Beinen. Ich griff der Bewusstlosen unter den Achseln hindurch, legte ihren Unterarm vor den Bauch und hob sie an. So ließ sich das Kind bequem vor die Stalltür schaffen und auf eine Bank betten.

Von der Arsbrücke kam auch schon langen Schrittes ein gestiefelter Mann mit grauen Schläfen und blassem Bürogesicht, Dr. Hilgert, Vingener Kinderarzt und Autoliebhaber. So manches Vingener Kind hatte sich von ihm auf die Mandeln schauen lassen und war ihm dann sonntags zur Hand gegangen, wenn er unter seinem Opel Kapitän lag und nach Schraubenschlüsseln tastete.

Er legte den Zeigefinger an den Puls des Mädels. »Wahrscheinlich ein Hitzschlag. Diese Mädchen trinken alle zu wenig.«