Der Zorn der Gerechten - David Weber - E-Book
SONDERANGEBOT

Der Zorn der Gerechten E-Book

David Weber

0,0
7,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 7,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Sie ist eine geborene Kriegerin - und sie brennt auf Rache ...

Alicia DeVries hat ihr Leben als Elitekriegerin des Imperators hinter sich gelassen und will eigentlich fortan ein friedliches Leben führen. Doch Piraten machen ihr einen Strich durch die Rechnung: Sie töten Alicias Familie. Fortan kennt die ehemalige Offizierin nur ein Ziel: Rache! Sie schlägt zurück, mit zwei einzigartigen Verbündeten: einem intelligenten Computer und einem Geschöpf aus den dunklen Nebeln der Vergangenheit - ein Wesen von der Alten Erde, um das sich mysteriöse Legenden ranken ...

Ein fesselndes Military-SF-Abenteuer von Bestsellerautor David Weber - die spannende und explosive Fortsetzung von "Die Kriegerin".

eBooks von beBEYOND - fremde Welten und fantastische Reisen!




Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 820

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Cover

Über dieses Buch

Über den Autor

Titel

Impressum

Buch 1: OPFER

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Buch 2: FLÜCHTLING

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Buch 3: ZORN

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Epilog

Dramatis Personae

Fußnote

Über dieses Buch

Sie ist eine geborene Kriegerin – und sie brennt auf Rache …

Alicia DeVries hat ihr Leben als Elitekriegerin des Imperators hinter sich gelassen und will eigentlich fortan ein friedliches Leben führen. Doch Piraten machen ihr einen Strich durch die Rechnung: Sie töten Alicias Familie. Fortan kennt die ehemalige Offizierin nur ein Ziel: Rache! Sie schlägt zurück, mit zwei einzigartigen Verbündeten: einem intelligenten Computer und einem Geschöpf aus den dunklen Nebeln der Vergangenheit – ein Wesen von der Alten Erde, um das sich mysteriöse Legenden ranken …

Ein fesselndes Military-SF-Abenteuer von Bestsellerautor David Weber – die spannende und explosive Fortsetzung von Die Kriegerin.

eBooks von beBEYOND – fremde Welten und fantastische Reisen!

Über den Autor

David Weber ist ein Phänomen: Ungeheuer produktiv (er hat zahlreiche Fantasy- und Science-Fiction-Romane geschrieben), erlangte er Popularität mit der Honor-Harrington-Reihe, die inzwischen nicht nur in den USA zu den bestverkauften SF-Serien zählt. David Weber wird gerne mit C. S. Forester verglichen, aber auch mit Autoren wie Heinlein und Asimov. Er lebt heute mit seiner Familie in South Carolina.

David Weber

DER ZORNDERGERECHTEN

Aus dem amerikanischen Englisch vonUlf Ritgen

beBEYOND

Digitale Neuausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2006 by David Weber

Enthält die überarbeitete und stark erweiterte Fassung des bisher in Deutschland unveröffentlichten Romans »Path of the Fury«, © 1992 by David Weber

Titel der amerikanischen Originalausgabe: »In Fury Born« (Teil 2)

This work was negotiated through Literary Agency Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover, on behalf of St. Martin’s Press, L.L.C.

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2009/2014/2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Uwe Vöhl

Lektorat: Ruggero Leò

Titelillustration: Arndt Drechsler, Regensburg

Titelgestaltung: Druck & Grafik Siebel, Lindlar

eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf

ISBN 978-3-7517-1677-2

be-ebooks.de

lesejury.de

Buch 1:OPFER

Die Finsternis zerfaserte.

Langsam, fast unmerklich, selbst für ein Wesen wie sie, löste sich das ganze Gewebe der Finsternis auf. Kleine Stückchen Frieden trieben davon, und der Puls des Lebens beschleunigte sich. Sie erhob sich – verschlafen beklagte sie sich über die Störung und klammerte sich an die Finsternis, wie ein Schläfer an einem frostigen Morgen seine Decken um sich schlingen mochte. Doch die Ruhe zerfiel ihr unter den Händen, und sie erwachte … in Finsternis.

Doch es war eine andere Art der Finsternis, und ihre Gedanken wurden klarer und klarer, als die Kälte über sie hinwegfegte, ihr auch noch die letzte Wärme nahm. Ihre Essenz tastete um sich, rasch und drängend, in einem Gefühl, das ein Sterblicher vielleicht ›Angst‹ genannt hätte – doch nur Leere war die Antwort, und wie eine Klinge durchfuhr Trauer ihren Leib.

Sie waren fort – die Schwesternwesenheiten ihres Selbst, und auch deren Schöpfer. Sie alle waren fort. Sie, die nie als eine eigenständige Wesenheit existiert hatte, war alleine, und die Leere rief nach ihr, wollte sie verschlingen, und sie war nur noch ein Schatten dessen, was sie einst gewesen war … ein Schatten, der den Sog der Einsamkeit fühlte, der einen seelenlosen Sirenengesang hörte, frei von jeglicher Boshaftigkeit, wie ihn nur das Nichts, die Verkörperung der Auslöschung selbst hervorzubringen vermochte.

Mit zielgerichteten Gedanken schuf sie einen Schutzwall um sich und hielt damit die Leere ab. Einst wäre ihr das ohne jegliche Mühe gelungen, doch nun zerrte es an ihr wie ein schwerer Anker – es war ein Gewicht, das sie noch zu tragen vermochte. Sie wurde noch ein wenig wacher, ihr Bewusstsein durchzuckte die gewaltigen, leeren Höhlen ihres eigenen Wesens, und war entsetzt davon, was sie sehen musste. Wie tief sie gesunken war, wie viel sie verloren hatte.

Und doch war sie, was sie nun einmal war. Sie mochte geschwächt sein, aber sie war sie selbst, und ein Funken grimmiger Belustigung regte sich in ihr. Einst hatten sie und ihre Schwestern genau darüber nachgedacht. Sie hatten darüber gesprochen, hatten einander in der Stille des Schlafes zugeflüstert, als ihre Herren gerade keine Aufgaben für sie hatten. Das unbedingte Vertrauen hatte ihre Schöpfer herbeibeschworen, sosehr sie das auch bestreiten mochten, und tief in ihrem Innersten hatten sie alle gewusst, ging dieses Vertrauen verloren, so galt dies auch für jene, denen sie dienten. Doch was war mit ihnen, mit ihrem eigenen Selbst? Würde das Werk ihrer Schöpfer mit eben jenen Schöpfern vergehen? Oder hatten sie alle, unwissentlich oder voller Gleichgültigkeit, eine Macht erschaffen, die sie alle womöglich überleben würde?

Und nun kannte sie die Antwort auf diese Frage … und verwünschte sie. Die Letzte zu sein und in genau diesem Wissen zu erwachen, jene Wunde zu spüren, dort wo all das Selbst ihrer anderen Wesenheiten hätte sein müssen, war grausamer als jede Rache, die sie selbst einst genommen hatten. Und zu wissen, wie sehr ihr eigenes Selbst in sich geschrumpft war – sie, die einst die Ungestümste und Entsetzlichste all ihrer Wesenheiten gewesen war! –, trieb das Leid in unvorstellbare Ausmaße.

Sie schwebte in jener Dunkelheit, die ihr keinen Trost mehr zu spenden vermochte, sehnte sich nach dem Frieden, den sie verloren hatte, selbst wenn sie ihn nur darin würde finden können, nicht mehr zu sein, und doch spürte sie tief in ihrem Innersten eben jenen Zweck, für den sie einst geschaffen worden war. Das Bedürfnis zu handeln und ein unersättlicher Hunger ließen sie erzittern, und geduldig oder friedfertig war sie noch nie gewesen. Irgendetwas in ihrem Innersten knurrte voller Zorn ihre verschwundenen Schöpfer an, verwünschte sie dafür, sie ohne jegliche Anweisung zurückgelassen zu haben, ohne jeglichen Zweck. Zitternd stand sie kurz davor, eine Entscheidung zu fällen. In ihrer Einsamkeit sehnte sie den Tod herbei, aber ein noch ungeformtes und doch unbändiges Bedürfnis trieb sie dazu weiterzuleben.

Und dann spürte sie, ganz am äußersten Rand ihrer Wahrnehmung, noch etwas anderes. Wie ein zartes Rinnsal durchzog es die Schwärze, schwächer noch als sie selbst, und so streckte sie sich danach aus. Sie griff danach und erschauerte, als sie begriff, was sie dort ertastete. Es war jenes Echo, jener Spiegel, den sie aus halb vergessenen Träumen kannte, und es war gleißender, schärfer als je zuvor. Alle denkbaren Entwicklungen, alle Möglichkeiten, waren zu einer einzigen zusammengefallen – diesem einen, kondensierten Moment, in dem dieses Echo sich der Entscheidung stellen musste, die zu erreichen sie beide einen so langen Weg hatten zurücklegen müssen.

Tastend griffen ihre Gedanken danach, und in lautlosem Entsetzen bemerkte sie den rohen, unbändigen, grausamen Hass – und die unbändige Kraft, die von diesem matt verglimmenden Stück Kohle ausging, das nun in wortloser Qual aufschrie. Das alles kam nicht von ihren Schöpfern, sondern von einer Sterblichen, und doch war sie erstaunt, welche Kraft davon ausging. Auf ihre Berührung hin glomm die glühende Kohle heller auf, loderte, verbrauchte in ihrer Verzweiflung ihre letzten Kräfte. Alles schrie nach ihr, in einem verzweifelten Flehen kräftiger denn je, kräftiger noch, als ihre Schöpfer selbst es einst gewesen waren, und ebenso, wie sie es in ihren Traumgedanken gekannt hatte, erkannte es sie. Es kannte sie! Nicht namentlich, nicht als Wesen, sondern als das, was sie eigentlich war. Das Leid dieses Sterblichen umschloss sie wie ein Schraubstock, rief sie aus der Leere zu sich, auf dass sie erneut ihre eigentliche Funktion erfülle.

Kapitel 1

Der Sturmshuttle kauerte auf dem Pferch wie ein manifest gewordener Fluch, umweht von vereinzelten, umhergetriebenen Schneeflocken. Rauch vermischte sich mit dem Schnee, brachte den erstickenden Gestank verbrannten Fleisches mit sich, und von den Mündungen der Energiekanone und der Geschütze stieg Dampf auf, als eisige Schneeflocken mit einem Zischen verkochten. Zerfetzte Megabisons lagen rings um die Landestützen, ihre genetisch modifizierten Kadaver von mehr als anderthalb Tonnen Gewicht durch Explosivstoffe in Stücke gerissen und in einen blutigen Brei verwandelt.

Die Scheunen und Ställe waren nur noch schwelende Ruinen, und die Pferde und Maultiere, die am Zaun aufgestapelt lagen, schrien mittlerweile nicht mehr. Zunächst waren sie nicht geflohen, denn sie hatten schon öfter gehört, wie sich Shuttles genähert hatten, und die einzigen Menschen, denen sie jemals begegnet waren, hatten sie gut behandelt. Sie waren dort stehen geblieben und hatten gewartet und neugierig zugeschaut, wie die Besucher ausgestiegen und auf die Gebäude des Gutshofs zugestapft waren.

Nun verriet eine lange Reihe abgeschlachteter Tierkadaver, dass sie zuletzt doch noch in Panik die Flucht ergriffen hatten.

Sie waren nicht alleine gestorben. Vor dem Tor lag die Leiche eines Menschen; ein Junge, vielleicht fünfzehn Jahre alt – es war fast unmöglich, das noch zu erkennen, nachdem der Kugelhagel schließlich geendet hatte. Der Junge war ins Freie gestürmt, um das Tor zu öffnen, als die Morde begonnen hatten.

Einer der Angreifer trat aus dem klaffenden Türrahmen dessen, was einst ein Haus gewesen war, und schnallte seinen Gürtel zu. Hinter ihm hörte man einen gebrochenen, wortlosen Laut, ausgestoßen von einem Wesen, das vor mehr als einer Stunde aufgehört hatte, ein Mensch zu sein. Ein letzter Pistolenschuss krachte. Der Laut verklang.

Der Angreifer zog seinen Kampfanzug zurecht, dann schob er sich zwei Finger in den Mund und ließ einen schrillen Pfiff ertönen. Der Rest seines Trupps trat aus dem Haus und aus den verschiedenen Scheunen; einige von ihnen hatten bereits zahlreiche Wertgegenstände zusammengerafft.

»In vierzig Minuten rufe ich den Frachter!« Mit einer Geste bedeutete ihr Anführer ihnen, sich zu beeilen, dann deutete er auf die freie Fläche neben dem Sturmshuttle. »Tragt alles zusammen, damit man das Wichtigste heraussuchen kann!«

»Was ist mit Yu und den anderen?«, fragte irgendjemand und deutete mit dem Kinn auf den toten Angreifer, immer noch fest umklammert von dem weißhaarigen Leichnam, der ihn getötet hatte. Mehrere Gewehrschüsse hatten den alten Mann fast in Stücke gerissen, doch Yus Gesicht war zu einer Grimasse des Entsetzens erstarrt, und mit seinen kalten, steifen Händen umklammerte er das blutige Eis an seinem Unterleib – dort, wo das Kampfmesser seine Panzerung durchdrungen und seinen Bauch aufgeschlitzt hatte. Der Anführer zuckte mit den Schultern.

»Seht zu, dass bei denen nichts mehr gefunden werden kann, und dann lasst sie liegen. Die Behörden werden sich freuen, dass es irgendjemandem letztendlich doch gelungen ist, zumindest ein paar der Piraten zu erledigen. Warum sollten wir sie enttäuschen?«

Er schlenderte zu Yu hinüber und blickte mit gequälter Miene auf ihn herab.

Dieser Idiot hat doch immer wieder vergessen, dass das hier ein echter Job ist, nicht bloß eine weitere (Gelegenheit zu einem kranken Nervenkitzel. So selbstsicher ist er angestürmt und wollte den alten Dreckskerl ein bisschen verprügeln. Und jetzt so etwas.

Der Anführer schüttelte den Kopf und fragte sich, wer dieser alte Mann wohl gewesen sein mochte.

Wenn da nicht dieses Kind gewesen wäre, hätte er noch viel mehr von uns erwischt, ganz egal, wer er auch gewesen sein mag.

Bäuchlings hatte sich der alte Mann hinter einer Tränke versteckt, so dass niemand ihn bemerkt hatte. Und niemand hätte auch nur vermutet, dass er sich dort befand, wenn er nicht seine Deckung aufgegeben hätte, um zu verhindern, dass der Kleine ins Freie lief. In dem Augenblick hatte Yu ihn bemerkt und war herangestürmt, um ihn mit dem Kolben seines Sturmgewehrs niederzuschlagen.

Aber ganz so ist es nicht gelaufen, was, Sergeant Yu?, dachte der Anführer gehässig. Der alte Dreckskerl hat dich ausgeweidet wie einen Fisch … und dann hat er mit deiner verdammten Waffe drei weitere von uns erschossen, bevor wir ihn endlich ausschalten konnten.

Und nicht einmal damit hatte es aufgehört. Die Verzögerung, die sich daraus ergeben hatte, diesen Alten zu erledigen, hatte dem jungen Mistkerl im Haus genug Zeit verschafft, seine eigene Waffe zu holen. Fünf weitere dieser ›Piraten‹ hatte er umgebracht, bevor er selbst endlich zu Boden stürzte – und er hätte noch mehr von ihnen töten können, wenn seine Pistole nicht ein Modell vom zivilen Markt gewesen wäre, mit einem entsprechend kleinen Magazin. Sie hatten ihn erwischt, als er gerade nachlud, und ihn erledigt, bevor er noch mehr Schaden anrichten konnte.

Wenn Alexsov davon hört, wird es gewaltig Ärger geben, dachte der Anführer. Und Gott allein weiß, wie Shu reagieren wird!

Ein Schauer durchfuhr ihn, der sich für ihn arg nach Panik anfühlte, trotz der eisigen Entschlossenheit, mit der er die Frage des Mannes beantwortet hatte. Er wusste, er hätte den Frachter wirklich schon längst herbeirufen müssen, und früher oder später würde er genau das auch tun müssen.

Aber jetzt noch nicht, sagte er sich. Noch nicht! Nicht, bevor ich das nicht verdammt noch mal muss! Und wenigstens hat der alte Knacker diesem Vollidioten hier verpasst, was er verdient hat. Eigentlich sollte ich mich dafür bei ihm sogar bedanken.

Der Anführer hatte sich schon vor langer Zeit dafür entschieden, jegliche Menschlichkeit abzulegen, doch um jemanden wie Yu würde er ganz gewiss erst recht keine Träne vergießen. Er wandte sich um und gab erneut Handzeichen, und sein Einsatztrupp machte sich wieder auf den Weg zurück in den Rauch, die Ruinen und das Leid, um mit den Plünderungen zu beginnen.

Wie eine Todesfee erhob sie sich aus dem Schnee, gekleidet in einen weißen Pelz; bernsteinfarbenes Haar umwehte ein ovales Gesicht, und in ihren smaragdgrünen Augen glomm Höllenfeuer. Der Kommunikator, mit dem man sie herbeigerufen hatte, wog schwer in einer Tasche ihres Parkas. Sie stapfte durch die weiße Landschaft; ihr Pferd war schon lange zusammengebrochen, seine Flanken zuckten nicht mehr, der Schweiß des Tieres gefror schon. Sie hatte geweint, weil das Tier so gehorsam alles getan hatte, was sie ihm abverlangt hatte, doch nun waren ihr keine Tränen mehr verblieben. In ihr pulsierte der ›Ticker‹, und die Zeit erschien ihr unendlich langsam und unbeholfen, während die eisige Luft ihre Lunge zu versengen schien.

Sie hatte das Modell des Sturmshuttles erkannt – es war eines der alten Boote der Leopard-Klasse, alles andere als neu, aber immer noch einsatzfähig-, und sie hatte auch die Angreifer gezählt, die sich um ihren Anführer versammelt hatten. Vierundzwanzig – und dazu kamen die Leichen im Schnee, in der Nähe ihres Großvaters, und die anderen, die vor dem Haus zusammengebrochen waren. Insgesamt also dreiunddreißig. Damit ist ein Shuttle der Leopard-Klasse vollständig besetzt, meldete der Computer in ihrem Gehirn emotionslos. Also ist niemand mehr an Bord. Das bedeutete, dass niemand sie mit den Geschützen des Shuttles umbringen konnte … und dass sie noch mehr von ihnen töten könnte, bevor sie selbst den Tod fand.

Mit der linken Hand tastete sie nach dem Messer an ihrer Hüfte, dann umklammerte sie mit beiden Händen ihr Gewehr. Ihre Gegner waren mit Sturmgewehren ausgestattet, einige hatten auch Granaten dabei, und sie alle trugen Passiv-Panzerungen. Für sie galt das nicht, doch das war ihr egal, und beinahe schon zärtlich streichelte sie über ihre Waffe. Ein Eisluchs – wie das Tier, das ihre Herde seit Anbrach des Winters terrorisierte – konnte sogar ein Megabison reißen; deswegen hatte die Frau an diesem Morgen reichlich Waffen mitgenommen.

Sie erreichte das Shuttle, ging hinter einer der Landestützen in den Kniestand und beobachtete das Haus. Kurz zog sie in Erwägung, den Flieger einfach zu übernehmen, aber bei einer Leopard wurde ein eigener Richtschütze benötigt, und dieser musste auch mit der Telemetrie des Mutterschiffs verbunden sein. So konnte sie dieses Schiff weder übernehmen, ohne dass jemand dort oben sofort davon erfuhr, noch deren Waffensysteme nutzen; also lautete die eigentliche Frage nur, ob das Kom an Bord dieses Fliegers immer noch aktiv war oder nicht. Wenn ja, und wenn die Kommunikator-Einheiten in ihren Helmen mit dem Haupt-Kom verbunden waren, konnten sie mühelos Verstärkung herbeirufen. Aber woher? Wie lange würde das dauern? Die Entfernung betrug dreißig Kilometer – vom Hof der Browns, meldete ihr Computer. Ein Shuttle unter maximalem Schub konnte die Strecke in weniger als einer Minute zurücklegen. Das war zu knapp. Und aus dem Hinterhalt konnte sie die Angreifer auch nicht erledigen, dann würde sie zu wenige von ihnen erwischen, bevor sie selbst stürbe.

Ihre Augen, wie gefrorene Jade, waren völlig ruhig; sie zuckte nicht einmal mit den Wimpern, als sie die geschundene Leiche ihres kleinen Bruders erblickte. Sie war jetzt ganz auf den Kampf eingestellt; ihren Körper durchzuckten tief verwurzelte Erinnerungen, die sie nun schon seit fünf Jahren zu vergessen versuchte, und sie nahm sie ebenso ruhig hin wie ihre Waffe. Nicht in den Berserker-Modus verfallen, wies ihr Computer sie an. Nutz den › Ticker‹. Mach das Beste aus deiner Lage, bis zum letzten Augenblick.

Sie verließ ihre Deckung, schlich zum Schneemobil hinüber, lautlos wie der Schnee selbst. Darin kniete einer der Angreifer; er pfiff leise vor sich ihn. Den Helm hatte er auf der Konsole abgelegt, damit er Kopf und Schultern durch die kleine Wartungsluke zwängen konnte, um die Energiezelle auszubauen. Gekauft hatten sie dieses Fahrzeug mit zehn Prozent der gesamten Ersparnisse ihrer Schwester, rief der Computer ihr in Erinnerung, als die Frau lautlos ihr Gewehr beiseitelegte und das Messer zog. Ein kurzer Schritt, stählerne Finger packten fettiges Haar, die Klinge blitzte auf, und der rechte Ärmel ihres Parkas war nicht mehr weiß.

Eins.

Sie ließ die Leiche zu Boden fallen und griff wieder nach dem Gewehr, schlich vorsichtig an der Seitenwand des Schuppens vorbei. Schnee knirschte unter einem Stiefel; irgendjemand trat hinter der Ecke des Gebäudes hervor, und die Frau schlug mit ihrem Gewehr zu wie mit einem Knüppel. Ein erstauntes Gesicht, die Augen weit aufgerissen. Hastig tastete eine Hand nach der Pistole. Der Mann sog Luft in die Lunge, um einen Warnschrei auszustoßen – und mit der Wucht eines Vorschlaghammers zerschmetterte der Gewehrkolben ihm die Luftröhre. Der Mann sackte zusammen, sein Schrei erstarb in einem entsetzlichen Gurgeln; mit beiden Händen umklammerte er den Hals, und die Frau trat einfach über ihn hinweg. Hinter ihr erstickte der Mann.

Zwei, flüsterte der Computer, und wieder schlich sie weiter, bewegte sich im Schutz des verwehten Schnees selbst wie eine Schneebö. Schneeflocken umwirbelten einen weiteren der Angreifer, der gerade damit beschäftigt war, einen Schlitten zum Sturmshuttle hinüberzuziehen, beladen mit Eisluchs-Pelzen. Der Schnee hüllte den Mann ein, und als sie vorübergezogen war, lag der Mann bäuchlings am Boden, und eine dampfend-rote Blutlache breitete sich immer weiter aus.

Drei, murmelte der Computer, während die Frau hinter dem Haus verschwand und mit der Fußspitze die eingeschlagene Hintertür aufstieß.

Ein Angreifer blickte auf, als er das leise Geräusch hörte, und seine Augen weiteten sich, als er die schneebedeckte Gestalt erkannte, die am anderen Ende der Küche stand. Er öffnete den Mund, und eine weiß-orange Explosion schleuderte ihn zurück, aus der Küche heraus, weiter in den Durchgang, geradewegs in das Esszimmer. Vier, zählte der Computer, als der Mann auf dem nackten, geschundenen Leichnam ihrer Mutter landete. Schreie waren zu hören, und einer der Angreifer, bislang durch die Wand des Esszimmers vor den Blicken der Frau verborgen, hob ruckartig die Waffe und richtete sie in den Torbogen zur Küche. Die Jadeaugen blickten trotz der Verkörperung des Todes völlig ausdruckslos, und ein Blitzstrahl riss ein faustgroßes Loch in die Wand – und in den Körper des dahinterstehenden Angreifers.

Fünf. Sie eilte zurück, verschwand wieder im Schnee und versteckte sich hinter einer Ecke des Gewächshauses. Zwei Angreifer pflügten durch den Schnee, die Waffen im Anschlag. Sie rannten zurück zum Haus, und sie ließ die beiden einfach an sich vorbeistürmen.

Die beiden Schüsse kamen so rasch hintereinander, dass es wie ein einziger Knall klang, und sie rollte sich nach links, sodass sie wieder hinter dem Gebäude verborgen war. Der Shuttle stand vor ihr, und der Anführer dieses Angriffstrupps rannte geradewegs auf die heruntergelassene Rampe zu. Eine lodernde Faust traf ihn genau zwischen die Schulterblätter, und die Frau ging erst in den Kniestand, richtete sich dann auf und rannte auf das kleine Brunnenhäuschen zu.

Acht, flüsterte der Computer, und dann bellte vor ihr ein Sturmgewehr auf. Sie stürzte zu Boden, als das Wolfram-Panzerbrechergeschoss ihren Oberschenkelknochen bersten ließ, und einer der Angreifer stieß einen Jubelschrei aus. Doch die Frau hatte ihr Gewehr immer noch in der Hand, und der Jubel verwandelte sich in einen Schrei des Entsetzens, als sich die Waffe wie von selbst wieder ausrichtete und der Schädel des Angreifers in einer Fontäne aus Scharlachrot und Grau und schneeweißen Knochensplittern explodierte.

Die Frau stützte sich auf ihr unverletztes Bein, Nerven und Blut schienen in Flammen zu stehen, so aktiv waren die Antischock-Protokolle, und schleppte sich zum Betokeramik-Fundament des Gebäudes; es würde ihr gute Deckung bieten. Die Augen aus eisiger Jade nahmen eine Bewegung wahr. Ihre Waffe folgte der Bewegung, der Finger krümmte sich über dem Abzug.

Zehn. Der Computer schaltete auf Höchstleistung um, glich Entfernungen und Vektoren mit ihrer eingeschränkten Bewegungsfähigkeit ab. Bäuchlings kroch sie unter der Bodenplatte des Brunnenhäuschens hindurch. Gewehrschüsse krachten, doch vor ihr bildete das Erdreich einen soliden Schutzwall. Die Gegner konnten sie nur von der Front oder der Flanke aus erreichen … und die Rampe des Shuttles war ihrer eigenen Waffe schutzlos ausgeliefert.

Ein ganzer Wirbelsturm aus Panzerbrecher-Geschossen riss das Brunnenhäuschen fast in Stücke, um denjenigen Feuerschutz zu bieten, die nun auf die Rampe zueilten. Zwei Männer machten sich bereit, die Geschütze zu übernehmen, und aufgewirbelter Schnee und gefrorenes Erdreich prasselten auf das maskenartige Gesicht der Frau ein. Betokeramik bröckelte auf sie herab, doch ihre Ziele bewegten sich so unendlich langsam, so ungeschickt, und sie war wieder auf der Schießbahn, hörte die Stimme ihres Ausbilders … und sie hatte alle Zeit der Welt.

Zwölf. Sie setzte sich wieder in Bewegung, robbte zurück und hinterließ dabei eine breite Blutspur. Sie musste diese Deckung aufgeben, bevor noch einem der Angreifer mit den Granaten der Gedanke kam, er könne die ja auch einsetzen.

Die Frau ließ ein neues Magazin einrasten und kam wieder ins Freie, schleppte sich zum Haus hinüber und versuchte erneut, ihr ganzes Körpergewicht nur auf dem unverletzten Bein ruhen zu lassen. Heulend umwirbelten sie Metallsplitter, doch sie war jetzt ganz auf Kampf eingestellt. Sie stand unter dem Einfluss des ›Tickers‹ und schwenkte ihre Waffe mit der Präzision eines Metronoms.

Amateure, kommentierte ihr Computer, als vier der Angreifer geradewegs auf sie zustürmten und ihre Waffen aus der Hüfte heraus abfeuerten wie Helden in einem schlechten Holovideo. Der Zeigefinger der Frau berührte den Abzug, und das Gewehr schlug ihr gegen die Schulter. Noch einmal. Ein drittes Mal. Ein viertes.

Sie richtete sich auf, schleppte sich durch den Schnee; Nervenblockaden ersparten ihr die Schmerzen, als immer und immer wieder gerissenes Muskelgewebe über scharfkantige Knochensplitter bewegt wurde. Irgendwo in ihrem Hinterkopf fragte sie sich, wie viel davon sie wohl aushalten würde, bis die Schlagader im Oberschenkel platzte, doch dann durchströmte neues Adrenalin ihren Körper. Mit einem Mal konnte sie ihre Umgebung wieder glasklar erkennen, und sie rollte sich hinter der Haupttreppe des Hauses in Deckung.

Sechzehn, meldete ihr der Computer, und dann siebzehn, als einer der Angreifer aus dem Haus herausgestürmt kam, geradewegs vor ihr Visier lief und starb. Beinahe wäre er auf sie gestürzt, und zum ersten Mal war dem Gesicht der Frau doch eine Regung anzumerken. Sie griff nach seinem Patronengurt und verzog die Lippen zu einem wölfischen Grinsen, als sie mit blutigen Fingern die erste Granate zum Einsatz vorbereitete. Sie hielt sie fest, lauschte den lautstarken Schritten im Inneren des Hauses hinter ihr und warf sie dann über die Schulter hinweg geradewegs durch die Eingangstür.

Ruckartig richtete sich Commodore Howell in seinem Sessel auf, als ihn über seinen Neural-Rezeptor ein Alarmton erreichte. Auf seinem HoloDisplay pulsierte ein azurblaues Blinklicht, weit jenseits des äußersten Orbits dieses Planeten, und sofort blickte er zu seinem Taktischen Offizier hinüber.

Commander Rendlemann hatte die Augen geschlossen, während er mit der KI des Schiffes kommunizierte. Dann öffnete er sie wieder und blickte seinen Kommandanten an.

»Es könnte sein, dass wir hier ein Problem haben, Sir. Die Ortung meldet, dass in fünf Lichtstunden Entfernung gerade jemand seinen Fasset-Antrieb gezündet hat.«

»Wer?«, fragte Howell sofort nach.

»Noch nicht bekannt, Sir. Das Kampf- und Strategiezentrum arbeitet daran, aber die Schwerkraft-Signatur ist recht klein. Die Intensität lässt auf einen Zerstörer schließen – möglicherweise einen leichten Kreuzer.«

»Aber es ist eindeutig ein Antrieb der Navy?«

»Ohne Zweifel, Sir.«

»Verdammt!« Nachdenklich starrte Howell sein Display an und konnte beobachten, wie der blinkende Lichtpunkt in einem Maße Geschwindigkeit aufnahm, wie es nur ein Raumschiff mit Fasset-Antrieb schaffen konnte. »Was zum Teufel macht der denn hier? Das System sollte doch sauber sein!«

Es war eine rhetorische Frage, und Rendlemann hatte sie auch als solche erkannt, deswegen blickte er seinen Kommandanten nur mit gehobener Augenbraue an.

»Voraussichtliche Ankunftszeit?«

»Unbekannt, Sir. Das hängt davon ab, wann er die Schubumkehr einleitet, aber er baut immens rasch Geschwindigkeit auf – der müsste längst im roten Bereich sein! –, und sein Kurs schließt alles außer Mathison Fünf aus. Wenn er den Orbit von Fünf erreicht, wird er dem Powell-Limit verdammt nahe sein, aber das könnte er vielleicht noch schaffen.«

»Jou.« Howell rieb sich über die Oberlippe, griff auf sein eigenes SynthoLink zu und überprüfte die Bereitschaftssignale, als sein Flaggschiff eilends in Gefechtsalarm versetzt wurde. Das Zeitfenster für diesen Einsatz war gerade deutlich schmaler geworden.

»Überprüfen Sie den Status der einzelnen Shuttle-Teams«, wies er seinen Untergebenen an, und Rendlemann ging geistig eine immense Anzahl Berichtsdateien durch.

»Primärziele sind fast sauber, Sir. Die erste Welle der Beta-Shuttles wird bereits beladen – sieht so aus, als wären die in etwa zwei Stunden fertig. Die meisten Beta-Shuttles der zweiten Angriffswelle befinden sich im Zeitplan, aber ein Alpha-Shuttle hat noch keinen Frachter angefordert.«

»Welches?«

»Alpha Zwo-Eins-Neun.« Der Taktische Offizier griff erneut auf sein Computer-Link zu. »Das wäre … das Team von Lieutenant Singh.«

»Hmm.« Howell zupfte an seiner Unterlippe. »Haben die schon ›Status Grün‹ gemeldet?«

»Jawohl, Sir. Sie haben berichtet, sie hätten einige Leute verloren, und dann kam der ›Status Grün‹. Nur den Frachter haben sie noch nicht angefordert.«

»Hat die Funkleitstelle versucht, sie zu erreichen?«

»Jawohl, Sir. Erfolglos.«

»Vollidioten«, grollte Howell. »Wie oft muss man denen denn noch sagen, dass sie immer eine Funkwache an Bord zurücklassen sollen?!« Mit den Fingerspitzen trommelte er auf die Armlehne seines Kommandosessels, dann zuckte er mit den Schultern. »Leiten Sie den Frachter zum nächsten Einsatzpunkt um und behalten Sie die im Auge«, entschied er, und sein Blick wanderte wieder zurück auf das Hauptdisplay.

Die Frau lehnte sich gegen die Wand, und ihr Herz raste, als ihr Adrenalinspiegel unbekannte Höhen erreichte. Synthetische Wirkstoffe kamen hinzu, durchzuckten sie wie eisige Blitze, und mit einem Ruck zog sie ihre behelfsmäßige Aderpresse enger. Der Schnee unter ihren Füßen war tiefrot, und ein großer Knochensplitter ragte aus der Wunde heraus, als sie den Magazin-Indikator aktivierte. Noch vier Schuss – und erneut verzog sie die Lippen zu einem wölfischen Grinsen.

Sie zog ihre Kapuze dichter um sich und schmierte sich eine breite Blutspur über die Stirn, als sie den Hinterkopf dicht an die Wand presste. Niemand feuerte auf sie. Niemand regte sich in dem Haus in ihrem Rücken. Wie viele waren noch übrig? Fünf? Sechs? Wie viele es auch sein mochten, keiner von ihnen hatte direkte Verbindung zum Kommunikator des Sturmshuttles, sonst wäre die Verstärkung mittlerweile schon eingetroffen. Doch sie konnte hier nicht einfach nur abwarten. Ihr Kopf war ganz frei, sie sprühte fast vor Energie, und die Schlagader in ihrem Oberschenkel spielte auch noch mit, doch das Hochgeschwindigkeits-Geschoss hatte das Gewebe dort völlig zerstört, und weder Koagulantien noch die Aderpresse vermochten die Blutung zu stoppen. Schon bald würde sie verbluten, und ob sie nun eine Nachricht abgesetzt hatten oder nicht, irgendjemand würde schon bald nach den Angreifern hier suchen. Was auch immer geschah, sie würde auf jeden Fall sterben, bevor sie alle diese Angreifer erledigen konnte.

Sie setzte sich wieder in Bewegung, schleppte sich zur Nordecke des Hauses. Dort mussten sie sein, es sei denn, sie würden gerade versuchen, sie einzukreisen – aber das taten sie nicht. Das waren Killer, keine Soldaten. Die wussten nicht, wie schwer verwundet sie wirklich war, und was bislang geschehen war, hatte sie zutiefst erschreckt. Die dachten gar nicht daran, sie auszuschalten; die hatten sich irgendwo verkrochen, hatten irgendeine gut zu verteidigende Stellung gesucht und legten es nur darauf an, ihren eigenen Hals zu retten.

Sie ließ sich wieder in den Schnee sinken, aktivierte ihre Sensorik-Booster und suchte mit jetzt noch ungleich schärferem Blick die Schneedecke nach Fußspuren ab. Da! Bei der Räucherkammer und – ihr Blick wanderte wieder zurück – der Werkstatt ihres Vaters. Damit könnte man sie ins Kreuzfeuer nehmen, wenn sie das Haus auf dem einzigen direkten Weg zu erreichen versuchte, doch …

Hinter ihren gefrorenen Augen arbeitete wieder der Computer, und sie machte sich auf den Weg in die Richtung, aus der sie gekommen war.

»Schon irgendetwas von Zwo-Neunzehn?«

»Nein, Sir.«

Rendlemann klingt allmählich ernstlich beunruhigt, ging es Howell durch den Kopf, und das mit Recht. Das Schiff mit der unidentifizierten Antriebssignatur kam stetig näher, und es beschleunigte immer noch weiter. Der Skipper gab wirklich alles, was er hatte, und es war eindeutig, dass er Mathison V mit einer Geschwindigkeit erreichen würde, die fast schon jenseits dessen lag, was seinen Antrieb zu destabilisieren drohte. Der Commodore verkniff sich einen Fluch, denn niemand hätte diesen Ort derart rasch erreichen können, und seine Frachter konnten so weit im Systeminneren nicht eine derartige Beschleunigung aufnehmen. Wenn er sie hier rechtzeitig fortschaffen wollte, dann mussten sie jetzt aufbrechen.

»Gottverdammte Idioten«, murmelte er, warf einen Blick auf das Chronometer und schaute dann zu Rendlemann hinüber. »Setzen Sie die Frachter in Bewegung und geben Sie allen Beta-Shuttles Anweisung, sich zu beeilen. Brechen Sie alle Einsätze ab, bei denen das Zeitfenster weniger als eine Stunde beträgt, und rufen Sie sämtliche Alpha-Shuttles zurück. Sie sollen umgehend an die Frachter andocken. Den Rest der Beta-Shuttles holen wir mit den Kampfeinheiten zurück und gruppieren die Mannschaften später um.«

Vier von ihnen waren noch übrig; sie kauerten im Inneren der Fertighäuser und fluchten in rauer Monotonie vor sich hin. Wo waren denn die andern alle? Wo blieben die gottverdammten Shuttles mit der Ablösung? Und wer - was – befand sich dort draußen?!

Der Mann am Eingang der Räucherkammer wischte sich öligen Schweiß von der Stirn und wünschte inständigst, dieses Gebäude hätte mehr Fenster. Doch jetzt hatten sie diesen Mistkerl endlich im Griff, und das Blut im Schnee hatten sie auch gesehen.

Wer auch immer das ist, er ist verwundet. Es ist völlig unmöglich, dass der hierher kommt, ohne …

Irgendetwas flog durch sein Blickfeld. Es landete in der offenstehenden Tür zur Werkstatt, ihm genau gegenüber – und irgendjemand warf sich hastig auf den Boden und suchte verzweifelt nach dem Objekt, was immer es auch sein mochte. Seine Hände schlossen sich darum, er kam wieder auf die Knie, hob den Arm zum Wurf – und verschwand in einem immer größer werdenden Feuerball, der kurz darauf die gesamten Überreste der Werkstatt einhüllte.

Eine Granate. Eine Granate! Und sie ist von da hinten gekommen, hinter der Ecke. Hinter der …

Im Kniestand wirbelte er herum, als die Hintertür, hinter den Räuchergestellen nicht einsehbar, krachend aufflog und ein Blitzstrahl die Dunkelheit zerriss. Er verteilte seinen letzten Kameraden quer über die Wand, und dem Mann bot sich ein Bild wie aus einem Albtraum. Eine hochgewachsene Gestalt, schlank trotz ihres dicken Fells; wattierte Hosen, ein Hosenbein völlig zerfetzt und dunkelrot gefärbt; das Haar, das wie ein Sonnenaufgang im Schneetreiben wirkte, rahmte ein ovales Gesicht ein, die Augen schienen aus eisiger Jade zu bestehen, und die tödliche Mündung eines Gewehrs, in Hüfthöhe gehalten, schwenkte auf ihn zu …

Er schrie auf und betätigte den Abzug, als erneut ein Blitz die Dunkelheit zerriss.

»Immer noch nichts von Zwo-Eins-Neun?«

»Nein, Sir.«

»Dann holen Sie den Shuttle unter Fernsteuerung ’rauf.«

»Aber, Sir … Was ist mit Singh und …?«

»Scheiß auf Singh!«, fauchte Howell und deutete mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf die taktische Karte.

Der blaue Punkt befand sich schon diesseits von Mathison V. Noch eine Stunde, und der Zerstörer wäre in Sensorreichweite, jederzeit bereit für genau das Manöver, das Howell am meisten fürchtete: eine vollständige Kehrtwendung, um die Sensoren aus dem Einflussbereich des künstlichen schwarzen Lochs zu holen, das der Fasset-Antrieb erzeugte. Der andere Captain konnte Sensordaten auffangen, das Schiff erneut wenden lassen und dann das Zentralgestirn umrunden. Anschließend konnte er den Antrieb zwischen sich selbst und Howells Waffen positionieren wie einen undurchdringlichen Schutzschild. Howell konnte ihn dann immer noch erwischen, doch dazu würde er seine eigenen Einheiten weit ausschwärmen lassen müssen – und letztendlich dabei nichts wirklich Lohnenswertes erreichen.

»Sir, das ist nur ein Zerstörer. Wir könnten …«

»Wir könnten gar nichts. Dieser Dreckskerl holt sich hier einen Überblick aus der Vogelperspektive, und wenn der uns nahe genug kommt, um anständig Daten zusammenzutragen, dann wird er uns alle erledigen. Er kann wenden, uns scannen und seine SBF-Drohnen absetzen, und davon hat er drei Stück. Wenn wir die erste davon ausschalten, bevor sie in ihr Wurmloch eintaucht, dann wird er genau wissen, wie wir das geschafft haben. Dann wird er bei den anderen den Code außer Kraft setzen – und hinterher ihn zu erledigen, wird überhaupt nichts bewirken, also schaffen Sie dieses Shuttle hierher!«

»Jawohl, Sir.«

Die Frau kauerte sich in den Schnee, beugte sich über ihren Bruder, strich ihm über das blonde Haar. Sein Gesicht war unverletzt, Schneeflocken bedeckten seine gebrochenen, grünen Augen, und sie spürte, wie heißes Blut immer weiter ihren Parka durchnässte. Jetzt rann ihr auch schon Blut über die Lippen, und sie merkte deutlich, wie die Kräfte sie immer weiter verließen.

Die Rampe des Shuttles wurde eingezogen, dann hob es auf seinem Kontragrav-Kissen ab und stand einen Augenblick reglos in der Luft. Schließlich heulten die Turbinen auf, die Nase des Fliegers hob sich, dann jagte er davon. Die Frau war alleine mit ihrer toten Familie, und endlich kamen doch die Tränen. Es war nicht mehr erforderlich, sich zu konzentrieren, und ihr eigenes Universum verlangsamte sich und passte sich wieder an den Rest der Existenz an, als der ›Ticker‹ sie endlich entließ und die Frau ihren Bruder fest an sich presste – sie versuchte, Schmerzen zu vertreiben, die nicht körperlicher Natur waren.

Ich bin dir zu Hilfe gekommen, Stevie, dachte sie. Wenigstens bin ich dir zu Hilfe gekommen.

Aber das war nicht genug gewesen. Es war nie genug! Diese Mistkerle, die hinter diesem Angriff steckten, waren für die Frau unerreichbar, und so gab sie sich ganz dem Hass hin. Er verschmolz sich mit ihrer Verzweiflung, vermischte sich damit, wie Wein und Gift sich vermischen, und sie öffnete ihr Innerstes und trank in tiefen Zügen.

Ich hab ’s versucht, Stevie. Ich hab ’s wirklich versucht! Aber ich war nicht da, als du mich gebraucht hast. Sie beugte sich über den Leichnam, der immer noch in ihren Armen lag, wiegte ihn sanft hin und her, während sie immer weiter schluchzte, das Gesicht dem Wind entgegengewandt. Verdammt sollen sie sein! Für alle Zeiten verdammt!

Sie hob den Kopf und blickte voller Zorn dem Shuttle hinterher, das längst außer Sicht war.

Ich würde alles geben! Alles für nur noch einen einzigen Schuss! Nur einen einzigen …

»Alles, kleines Menschenkind?«

Sie erstarrte, als dieser fremde Gedanke plötzlich ihr Hirn durchzuckte, denn dieser Gedanke kam nicht von ihr. Er kam nicht von ihr!

Die Frau schloss die tränennassen Augen, scharlachrotes Eis knirschte, als sie die Hände um den zerfetzten Parka ihres Bruders verkrampfte. Verrückt! Jetzt, am Ende, wurde sie noch verrückt!

»Nein, kleines Menschenkind. Du wirst nicht verrückt.«

Sie spürte, wie die eisige Luft ihr in die Nase stach, während die fremde Stimme ihr erneut etwas zuflüsterte. Sie war so sanft wie der Schnee, und ungleich kälter. Sie war kristallklar und beinahe schon zärtlich, und doch schwang darin eine ungestüme Wildheit mit, die ihre eigene fast noch übertraf. Die Frau versuchte, all ihre Kraft zusammenzunehmen, um sie zu vertreiben, doch in dieser fremden Stimme lag zu viel von ihr selbst, und so brach sie über ihrem toten Bruder zusammen, als mit ihrem Blut auch die letzte Kraft ihren Körper verließ.

»Du liegst im Sterben«, flüsterte die Stimme, »und ich habe über den Tod mehr gelernt, als ich jemals für möglich gehalten hatte. Also sag mir – hast du das ernst gemeint? Würdest du wirklich alles für deine Rache geben?«

Rau lachte die Frau, als der Wahnsinn so zu ihr sprach, und doch zögerte sie keinen Moment.

»Alles!«, keuchte sie.

»Bedenke das wohl, kleines Menschenkind. Ich kann dir geben, was du ersehnst – aber der Preis … könntest du selbst sein. Bist du bereit, einen derart hohen Preis zu zahlen?«

»Alles!« Sie hob den Kopf und schrie das Wort dem Wind entgegen, ihrer eigenen Trauer, ihrem Hass und diesem Flüstern ihres eigenen Wahnsinns, und eine sonderbare Stille legte sich kurz über ihren Verstand. Dann …

»Abgemacht«, rief die Stimme, und endlich hüllte die Finsternis sie ein.

Kapitel 2

Stabsarzt Captain Okanami betrat sein winziges Büro; er erschauerte trotz der willkommenen Wärme in diesem Raum. Heulend strich der Wind um das Fertighaus, doch Okanamis Frösteln hatte nichts mit dieser Kälte zu tun, als er seinen Militär-Parka abstreifte und sich mit beiden Händen über das Gesicht rieb. Sämtliche bekannten Überlebenden der ursprünglich einundvierzigtausend Bewohner von Mathisons Welt befanden sich im Inneren dieses kleinen Gebäudes. Alle dreihundertundsechs.

Er ließ sich in seinen Sessel sinken, dann blickte er auf seine frisch desinfizierten Hände hinab. Er wusste nicht, wie viele Autopsien er im Laufe seines Lebens schon durchgeführt hatte. Es waren unzählige, doch nur wenige davon waren so entsetzlich gewesen wie die, die er gerade in einem Raum erlebt hatte, der einst zum Capital Hospital gehörte. Nach Begriffen der Kernwelten war es schon kein sonderlich beachtliches Krankenhaus gewesen, bevor diese Piraten es geplündert hatten – deswegen befanden sich seine Patienten jetzt hier, nicht dort –, doch Okanami ging davon aus, den Toten sei es wohl egal.

Erneut rieb er sich über das Gesicht und erschauerte, als seine Gedanken noch einmal zu den entsetzlich zugerichteten Leichen auf den Sektionstischen zurückkehrten. Warum? Warum in Gottes Namen tat irgendjemand so etwas?

Die Mistkerle hatten einiges an Beutegut zurückgelassen, doch einen Großteil hatten sie sehr wohl abtransportieren können. Vielleicht hätten sie auch alles mitnehmen können, wenn man ihnen nicht die Zeit zugestanden hätte, sich auf der Welt auch noch etwas zu amüsieren – aber sie hatten nicht mit dem plötzlichen Eintreffen der Gryphon gerechnet. Daraufhin hatten sie überstürzt die Flucht angetreten, und die Gryphon war zu sehr damit beschäftigt gewesen, alle Überlebenden zu retten, sodass man eine Verfolgung nicht einmal in Erwägung gezogen hatte. Die Besatzung des Schiffes – gerade einmal sechzig Mann – war angesichts dieser Katastrophe völlig überfordert gewesen. Die wenigen Angehörigen des Sanitätspersonals hatten sich bis über die Grenze der völligen Erschöpfung hinaus verausgabt … und nur zu viele der geschundenen, verstümmelten Opfer waren trotzdem gestorben. Ralph Okanami war Arzt, ein Heiler, und es erschreckte ihn zutiefst, zu bemerken, wie sehr er sich doch wünschte, etwas anderes zu sein, wann immer er an jene Ungeheuer dachte, die derartige Dinge taten.

Erneut lauschte er dem Heulen des Windes, das man selbst noch hier, im Inneren des Gebäudes, deutlich hören konnte, und wieder lief ihm ein Schauer über den Rücken. Die Temperatur auf dem besiedelten Kontinent von Mathisons Welt war in der letzten Woche nie über fünfzehn Grad unter null gestiegen – und das Erste, was die Angreifer zerstört hatten, war die planetare Stromversorgung gewesen. So konnten sie völlig ungehindert angreifen – nicht, dass die armseligen Abwehrsysteme von Mathison allzu viel ausgemacht hätten-, und sie hatten sich der Reihe nach auf jedes noch so kleine Dorf und Gehöft auf dem ganzen Planeten gestürzt. Dort hatten sie jeglichen Notstromgenerator ausgeschaltet, den sie nur finden konnten. Ein Großteil der wenigen, die das Gemetzel überlebt hatten, war dann, weil Strom und alle Heizungen ausgefallen waren, an Unterkühlung gestorben, bevor die Navy mit hinreichender Mannstärke eintreffen konnte, um großangelegte Suchaktionen zu starten.

Das war noch schlimmer als auf Mawli. Sogar noch schlimmer als Brigadoon. Dort hatte es weniger Menschen gegeben, die man hätte umbringen können, und bei jedem Einzelnen davon hatten sich die Angreifer mehr Zeit lassen können.

Okanami gehörte der recht großen Minderheit jener Menschen an, die rein körperlich nicht in der Lage waren, Neural-Rezeptoren zu nutzen, und so wandte er sich seiner Datenkonsole zu, und seine Fingerspitzen schnellten über die Tastatur, nachdem er die noch nicht abgeschlossenen Berichte aufgerufen hatte. Ein Ersatzgerät für das SternenKom war mittlerweile eingetroffen, und Admiralin Gomez’ Stab wollte für die Berichte aussagekräftige Zahlen wissen. Aussagekräftige Zahlen, wiederholte er innerlich angewidert und starrte die endlosen Spalten von Namen und Vornamen an. Und das waren nur die Toten, die sie bislang hatten identifizieren können! Such- und Rettungsmannschaften befassten sich immer noch mit den abgelegeneren Gehöften; sie hofften darauf, noch irgendjemanden zu finden, doch die Chancen dafür standen denkbar schlecht. Beim ersten Erkundungsflug hatten die Männer der Suchmannschaften keine aktiven Energiequellen orten können und keinerlei Thermal-Signaturen entdeckt, die auf irgendwelche Lebensformen hingewiesen hätten.

Eine Glocke schrillte, und mit schuldbewusster Erleichterung wandte Okanami den Blick von dem Bericht ab, als auf dem Bildschirm seines Kommunikators das Gesicht eines Lieutenants erschien, den er nicht kannte. Im Hintergrund der jungen Frau war deutlich das Cockpit eines Shuttles zu sehen; mit leuchtenden Augen blickte sie ihn an. Dennoch wirkte irgendetwas an ihrer Aufregung unpassend, fast als sei eine gewisse Unsicherheit im Spiel. Vielleicht sogar Furcht. Okanami vertrieb diesen Gedanken und rang sich ein Lächeln ab.

»Was kann ich für Sie tun, Lieutenant …?«

»Surgeon Lieutenant Sikorsky, Sir, zu Such- und Rettungseinsätzen abkommandiert von der Vindication.« Surgeon Captain Okanami richtete sich auf und hob fragend die Augenbrauen. Die Soldatin nickte. »Wir haben noch jemanden gefunden, Captain, aber dieser Fall ist so sonderbar, dass ich dachte, es sei besser, Sie persönlich darüber zu informieren.«

»›Sonderbar‹? Inwiefern?« Die Augenbrauen sanken wieder herab; die Art und Weise, wie Lieutenant Sikorsky fast unmerklich gezögert hatte, brachte Okanami dazu, die Stirn zu runzeln.

»Es geht um eine Frau, Sir, und … na ja, sie müsste eigentlich tot sein.« Mit einer Handbewegung forderte Okanami sein Gegenüber zum Weitersprechen auf, und Sikorsky holte tief Luft.

»Sir, sie wurde fünfmal getroffen: Der Oberschenkelknochen ist völlig zertrümmert, zwei Kugeln haben ihre Leber punktiert, eine ihren linken Lungenflügel und eine Milz und Dünndarm.« Gequält verzog Okanami angesichts dieses Verletzungskatalogs das Gesicht. »Bislang haben wir ihr mehr als einen Liter Blut injiziert, und ihr Blutdruck ist immer noch so niedrig, dass er sich kaum messen lässt. Sämtliche Vitalfunktionen sind fast widernatürlich herabgesetzt, und sie hat seit diesem Angriff im Freien gelegen, Sir – neben ihr haben wir eine Leiche entdeckt, die völlig steifgefroren war, aber die Körpertemperatur dieser Frau beträgt zweiunddreißig Komma fünf!«

»Lieutenant …« Okanamis Stimme klang sehr rau. »Wenn Sie glauben, derartige Scherze machen zu müssen …«

»Negativ, Sir.« Sikorsky klang fast flehentlich. »Das ist die Wahrheit! Und nicht nur das, die Frau hat gottverdammt viel … verzeihen Sie, Sir. Sie verfügt über Implantate, und wir haben es hier mit dem ungewöhnlichsten Rezeptor-Netzwerk zu tun, das ich jemals gesehen habe. Eindeutig Militärausführung, aber so etwas habe ich wirklich noch nie gesehen, und die zugehörige Hardware ist einfach unglaublich.«

Okanami rieb sich über die Oberlippe und blickte in das ernste, besorgte Gesicht des Lieutenants. Mehr als eine Woche bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt, und die Körpertemperatur war nicht einmal um fünf Grad abgesunken? Unmöglich. Und doch …

»Kommen Sie unter Maximalschub zurück, Lieutenant, und sagen Sie der Leitstelle, sie sollen Sie sofort zu Operationssaal Zwölf umleiten. Ich bereite dort schon alles vor und warte auf Sie.«

Okanami und seine handverlesene Gruppe befanden sich im Inneren des Sterilfeldes und starrten die Person an, die vor ihnen auf dem Operationstisch lag. Verdammt, mit so einer Verwundung konnte überhaupt niemand überleben! Und trotzdem lebte sie noch. Die ferngesteuerten Instrumente der MediTechniker leisteten ganze Arbeit, resezierten ein elffach punktiertes Stück Dünndarm, entfernten die Milz, behandelten massive Punktierungen der Leber und der Lunge und mühten sich nach Kräften, ein Bein zu retten, das selbst noch nach dem Treffer, der den ganzen Oberschenkelknochen zerschmettert hatte, hoffnungslos weiter beansprucht worden war. Eine weitere Bluttransfusion wurde eingeleitet … und die Frau lebte noch. Nur gerade noch – tatsächlich waren ihre Vitalfunktionen deutlich schwächer geworden, als die Geräte die Arbeit aufgenommen hatten –, doch sie lebte noch.

Und auch mit ihrer Beschreibung der Implantate hatte Sikorsky ganz Recht gehabt. Okanami hatte einige Jahrzehnte mehr Erfahrung als dieser junge Lieutenant, und dennoch hatte er sich etwas Derartiges nicht einmal vorstellen können. Offensichtlich hatte es bei dieser Frau mit einem Standard-Implantatsatz des Imperial Marines Corps angefangen, und einige Teile davon erkannte der Surgeon Captain auch sofort, aber der Rest …!

Es gab drei voneinander unabhängige Neural-Rezeptoren – nicht etwa parallel verbunden, sondern mit jeweils gänzlich separaten Sub-Systemen –, und dazu derart hochentwickelte Sensorik-Booster, wie Okanami sie noch nie gesehen hatte. Und ein NeuroTech-Netzwerk überzog sämtliche lebenswichtigen Organe. Okanami hatte noch nicht die Zeit gehabt, sich das genauer anzuschauen, aber für ihn sah es verdächtig nach einem unglaublich miniaturisierten Disruptor-Schutzschild aus – und das erschien ihm auf den ersten Blick schlichtweg lächerlich. Niemand konnte ein derart winziges Schutzschild überhaupt konstruieren, und die deutlich größeren Einheiten, die in Kampfpanzerungen verbaut wurden, kosteten jeweils eine Viertelmillion Credits! Und wenn er gerade schon über unmögliche Dinge nachdachte, da war dieses Pharmaskop. Es enthielt genug Schmerzmittel, Koagulanzien und Aufputschmittel (ein Großteil davon stand auf der Liste der nicht verkehrsfähigen Substanzen), um selbst noch einen Toten auf den Beinen zu halten – ganz zu schweigen von einem beeindruckend ausgefeilten Endorphin-Generator und mindestens drei Drogen, von denen Okanami noch nie auch nur gehört hatte. Doch ein kurzer Blick auf die Instrumente verriet ihm, dass es nicht dieses Pharmaskop war, das die Frau bislang am Leben gehalten hatte. Selbst wenn es tatsächlich zu einer derartigen Leistung in der Lage sein sollte, erwiesen sich doch fast alle Vorräte noch als nahezu unangetastet.

Dankbar atmete Okanami tief durch, als die Thorax- und Abdominal-Teams die Arbeit abschlossen, sodass sich die Osteoplastik-Techniker nun um den Oberschenkel der Frau kümmern konnten. Ihre Vitalfunktionen wurden ein wenig stärker, und auch der Blutdruck erholte sich allmählich, doch irgendetwas an ihrem EEG war einfach merkwürdig. Es wäre überhaupt nicht erstaunlich gewesen, wenn diese Patientin nach allem, was sie durchgemacht hatte, einen Hirnschaden davontrüge, doch es konnte auch an diesen vermaledeiten Rezeptoren liegen.

Mit einer Geste zog er Commander Fords Aufmerksamkeit auf sich, und die Neurologin schwenkte ihre Monitore in die richtige Position. Es war eindeutig, dass Rezeptor Zwo hier als Primär-Knoten fungierte. Okanami trat näher heran und betrachtete über Fords Schulter hinweg die Bildschirme, während die Neurologin vorsichtig die Geräte einstellte und dann ein Standard-Diagnose-Muster eingab.

Einen Augenblick lang geschah nicht das Geringste, und Okanami legte die Stirn in Falten. Jetzt sollte doch zumindest irgendetwas passieren – und wenn nur eine Reihe Implantats-Codes abgerufen würden. Doch nicht einmal das geschah. Und dann geschah doch etwas, und zahlreiche Alarmglocken schrillten los.

Ein grellrot leuchtender Warncode erschien, und die bewusstlose Frau öffnete ruckartig die Augen. Sie wirkten völlig blicklos, wie jadegrüne Fenster eines verlassenen Hauses, doch im gleichen Augenblick zeigte das EEG eine Vielzahl von Zacken. Die Wunde am Oberschenkel war noch nicht wieder verschlossen, daher rasteten die ferngesteuerten Greifer in fixer Position ein und versuchten das Bein festzuhalten, als die Patientin sich aufrichtete. Einer der Chirurgen stürzte auf sie zu, versuchte den geschundenen Körper aufzuhalten – und eine Handkante schlug zu wie ein Hammer und verfehlte nur knapp seinen Solarplexus.

Der Chirurg kreischte auf, als der Schlag ihn zu Boden schleuderte, doch sein Schrei wurde fast übertönt von neuen Alarmsirenen, und Okanami wurde kreidebleich, als die Monitore, die für die Überwachung der Blutchemie zuständig waren, fast Amok liefen. Ein Zweikomponenten-Neurotoxin ließ die toxikologischen Werte ins Unermessliche steigen, und zu dem Sicherheits-Code auf Fords Bildschirm gesellten sich zwei weitere. Ihr Versuch, auf dieses System zuzugreifen, hatte eine Art Selbstmord-Programm aktiviert!

»Abbrechen!«, schrie er, doch Ford drückte schon hastig einige Knöpfe. Noch einen Moment lang waren die Alarmsirenen zu hören, dann erstarb die Anzeige auf dem Implantats-Monitor. Mit einem Gluckern verklang auch der Toxikologie-Alarm, als ein noch leistungsfähigeres Gegenmittel dem bislang erst halb wirksamen Toxin folgte. Die Frau mit dem bernsteinfarbenen Haar sackte wieder auf den Tisch zurück; reglos und still lag sie da, während der verletzte Chirurg vor Schmerzen schluchzte und seine Kollegen einander entsetzt anstarrten.

»Sie haben Glück, dass Ihr Mann noch lebt, Doktor.«

Captain Okanami bedachte den Colonel in seiner schwarzen Navy-Uniform, der sich so aufrecht hielt, als hätte er einen Stock verschluckt, mit einem finsteren Blick; er stand neben dem Surgeon Captain und betrachtete die junge Frau in dem Krankenbett. Medi-Monitoren überwachten sie sorgfältig – und sehr vorsichtig, damit sie bloß nicht erneut eine unziemliche Reaktion dieser theoretisch hilflosen Patientin hervorriefen.

»Ich bin mir sicher, Commander Thompson wird hocherfreut sein, das zu hören, Colonel McIlhenny«, gab der Chirurg eisig zurück. »Wir haben ja bloß anderthalb Stunden gebraucht, um sein Zwerchfell wieder zu flicken.«

»Das ist immer noch besser als das, was sie eigentlich beabsichtigt hatte. Wäre sie bei Bewusstsein gewesen, hätte ihr Mann nicht einmal mehr gemerkt, woran er gerade gestorben wäre – das dürfen Sie gerne auf der ›Haben-Seite‹ verbuchen.«

»Was zum Teufel ist sie denn überhaupt?«, wollte Okanami wissen. »Das war doch nicht sie, die da auf dem Tisch verrückt gespielt hat, das waren diese verdammten Implantats-Prozessoren! Die haben ihren Körper doch nur ferngesteuert!«

»Ganz genau so war es«, bestätigte McIlhenny. »In ihrem Primär-Prozessor sind eine Flucht-und-Befreiungs- und eine Verhörvermeidungs-Subroutine verankert.« Er wandte sich zur Seite und blickte den Chirurgen abschätzig an. »Ihr von der Navy solltet eigentlich mit so jemandem wie ihr überhaupt nichts zu tun haben.«

»Dann gehört sie zu Ihnen?« Okanami kniff die Augen zusammen.

»Fast, aber nicht ganz. Unsere Leute gehen ihrer Einheit bei den Einsätzen häufig zur Hand, aber sie gehört – nein, sie gehörte – zum Imperialen Kader.«

»Großer Gott«, flüsterte Okanami. »Eine Springerin?«

»Eine Springerin.« McIlhenny schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, dass es so lange gedauert hat, aber der Kader lässt seine Daten nicht einfach so herumliegen. Die Piraten haben die Datenbank von Mathison ausgeschaltet, als sie den gesamten Komplex des Gouverneurs in die Luft gejagt haben, deswegen habe ich auf die Corps-Daten zugreifen müssen. Denen liegen über diese Frau nicht allzu viele spezifische Daten vor. Ich habe die verfügbaren Spezifikationen ihrer Hardware heruntergeladen und dafür gesorgt, dass Ihre Medizinmänner darauf zugreifen dürfen, aber der Zugriff ist dabei immer noch deutlich eingeschränkt, und die Bio-Daten dieser Frau sind noch spärlicher – eigentlich haben wir nur ihr Retinamuster und ihr Genom. Das Einzige, was ich wirklich mit Sicherheit sagen kann, das ist, dass dies hier …« – mit dem Kinn deutete er in Richtung der Frau, die immer noch reglos im Bett lag – »… Captain Alicia DeVries ist.«

»›DeVries‹? Die Shallingsport-DeVries?«

»Genau die.«

»Die ist doch gar nicht alt genug«, protestierte Okanami. »Sie kann doch höchstens fünfundzwanzig oder dreißig Jahre alt sein.«

»Einunddreißig. Sie war zwanzig, als sie in diesen Einsatz gegangen ist – der jüngste Sergeant First Class in der Geschichte des Kaders. Mit zweihundertfünfundsiebzig Leuten sind sie in diesen Einsatz gegangen. Wieder zurückgekehrt sind neun von ihnen – aber sie haben die Geiseln mitgebracht.«

Okanami starrte das blasse Gesicht seiner Patientin an – es war oval und recht hübsch, auch wenn man es nicht als ›schön‹ beschrieben hätte. So ruhig, wie sie dort lag, wirkte diese Frau fast friedlich.

»Wie um Himmels willen ist sie denn hier gelandet – mitten im Nirgendwo?«

»Ich glaube, sie wollte einfach ihre Ruhe haben«, erklärte McIlhenny traurig. »Nach Shallingsport wurden ihr ein Offizierspatent und das Banner von Terra verliehen, und sie hat einen Zwanzig-Jahres-Bonus erhalten – und davon hat sie sich wirklich jeden Millicredit verdient. Vor fünf Jahren ist sie dann aus eigenem Wunsch aus dem Dienst ausgeschieden und hat sich ihre Altersversorgung in Form einer Kolonisierungs-Zuweisung auszahlen lassen. Das machen die meisten so. Auf den Kernwelten gestattet man ihnen nicht, ihre Hardware zu behalten.«

»Kann man denen wohl kaum verübeln«, merkte Okanami an und musste erneut an Thompsons Verletzung denken. McIlhenny versteifte sich.

»Das sind Soldaten, Doktor.« Seine Stimme war eiskalt. »Keine Verrückten, keine Tötungsmaschinen – Soldaten.«

In eisigem Zorn blickte er Okanami in die Augen, und schließlich wandte der Surgeon Captain den Blick ab.

»Aber das war nicht der einzige Grund, warum sie hierher gegangen ist«, griff der Colonel nach kurzem Schweigen seine Erklärung wieder auf. »Sie hat diese Zuweisung dazu genutzt, Anspruch auf vier ausgewählte Grundstücke zu erheben, und dann ist sie mit ihrer ganzen Familie nach hier draußen umgesiedelt.«

Scharf sog Okanami die Luft ein, und McIlhenny nickte. Als er weitersprach, klang seine Stimme völlig tonlos.

»Sie war nicht da, als diese Mistkerle gelandet sind. Als sie dann wieder zu ihrem Hof zurückkehrte, hatten die schon ihre ganze Familie ermordet. Den Vater, die Mutter, ihre jüngere Schwester und ihren Bruder, ihren Großvater, einen Onkel und eine Tante, und dazu noch drei Cousins. Alle.«

Er streckte die Hand aus und legte sie der schlafenden Frau auf die Schulter. Die Bewegung wirkte fast zärtlich und fast schon unpassend empfindsam bei diesem großen Mann mit seinen dicken Muskeln; dann legte er das lange, schwere Gewehr, das er bei sich führte, quer über den Tisch am Krankenbett.

»Ich habe ihr Gut aufgesucht.« Nun klang seine Stimme sehr sanft. »Diese Mistkerle hatten es da wirklich nicht leicht. Ihr Großvater war auch da draußen – Sergeant Major O’Shaughnessy. Der gehörte wirklich zu uns, und er hat vier Leute mit in den Tod gerissen. Es sieht ganz so aus, als hätte ihr Vater noch fünf weitere der Angreifer getötet … und das war ein Ujvári, Doktor.«

Der Colonel schaute Okanami an, dann richtete er den Blick wieder auf dessen Patientin.

»Und dann ist sie nach Hause gekommen. Sie muss auf der Jagd gewesen sein, nach Eisluchsen oder Schneewölfen – das hier ist eine Vorlund Express, vierzehn Millimeter, Halbautomatik mit Rückstoßdämpfung –, und sie hat sich fünfundzwanzig Mann gestellt, die mit Panzerungen, Granaten und Sturmgewehren ausgestattet waren.« Kurz glitt seine Hand über die Waffe, dann blickte der Colonel dem Arzt wieder in die Augen. »Sie hat sie alle erledigt.«

Auch Okanami blickte nun wieder auf seine Patientin herab, dann schüttelte er den Kopf.

»Das erklärt es immer noch nicht. Meinem ganzen medizinischen Wissen gemäß hätte sie da unten sterben müssen, es sei denn, in Ihren Downloads steht irgendetwas anderes – und ich kann mir wirklich nichts vorstellen, was das hätte verhindern sollen.«

»Sie brauchen keine Zeit darauf zu verschwenden, nach etwas Derartigem zu suchen, Doktor. Sie werden nämlich nichts finden. Unsere eigenen Mediziner pflichten Ihnen da ganz bei. Captain DeVries …« – erneut berührte McIlhenny die reglose Schulter der ehemaligen Kader-Angehörigen – »… kann unmöglich noch leben.«

»Sie tut es aber«, warf Okanami leise ein.

»Stimmt.« McIlhenny ließ das Gewehr liegen und wandte sich vom Krankenbett ab. Mit einer höflichen Geste bedeutete er dem Doktor, sich ihm anzuschließen. Dann verließ er das Krankenzimmer. Der Chirurg war nicht angetan von der Vorstellung, die Waffe zurückzulassen, doch die zahlreichen Kampfauszeichnungen des Colonels – und auch dessen Miene – hielten ihn davon ab, Protest einzulegen. »Deswegen hat der Bericht von Admiral Gomez auch dafür gesorgt, dass ein ganzes Team von Spezialisten mit Höchstgeschwindigkeit auf dem Weg hierher ist.«

Okanami führte seinen Besucher in die äußerst karg eingerichtete Lounge, die um diese Uhrzeit völlig menschenleer war, und holte aus einem Automaten zwei Becher Kaffee. Die beiden Männer setzten sich an einen der Tische, und der Blick des Colonels wanderte immer wieder zu der offenstehenden Tür hinüber, während Okanami ein kleines Handlesegerät bediente, um die medizinischen Daten abzurufen. Dampfend stand sein Kaffee auf dem Tisch, doch der Chirurg ignorierte ihn, und er schürzte die Lippen, als er bemerkte, wie spärlich die Daten doch waren. Jeder zweite Eintrag endete mit den Worten ›WEITERER ZUGRIFF NUR BERECHTIGTEN PERSONEN GESTATTET‹, gefolgt von einer astronomisch hohen Sicherheitseinstufung. Geduldig wartete McIlhenny ab, bis Okanami mit einem Seufzer das Lesegerät beiseitelegte.

»Merkwürdig«, murmelte er, schüttelte den Kopf und griff nach seinem Kaffee, und der Colonel lachte leise, doch in seinem Lachen lag keinerlei Belustigung.

»Sogar noch merkwürdiger, als Sie denken. Was jetzt kommt, dient einzig und allein Ihrer persönlichen Information – das kommt geradewegs von Admiral Gomez –, aber Sie sind für diesen Fall verantwortlich, bis ein Mediziner-Team vom Kader hier eintrifft, also soll ich Sie auf den aktuellsten Kenntnisstand bringen. Oder zumindest so weit, wie wir das eben selbst wissen. Klar?«

Okanami nickte, und trotz des Schlucks Kaffee fühlte sich seine Kehle sonderbar trocken an.

»Also gut. Ich habe meine eigenen Leute nach da draußen auf das DeVries-Gut geschickt, weil der ursprüngliche Bericht schlichtweg unmögliche Dinge enthielt. Zum einen hatten drei voneinander unabhängige Flieger der Such- und Rettungsmannschaften nicht das Geringste entdeckt. Wäre Captain DeVries dort gewesen und hätte sie noch gelebt, dann hätte man sie mit den Thermoscannern auch orten müssen – vor allem, wenn sie einfach nur so dort in der Ebene gelegen hätte. Also wusste ich ganz genau, dass daran irgendetwas faul sein musste.«

Er nahm einen Schluck von seinem Kaffee und zuckte mit den Schultern.

»War es aber nicht. Sämtliche Anhaltspunkte führen schlüssig zu genau dem gleichen Ergebnis. Sie hat sich den Angreifern von Süden her genähert, so dass der Wind hinter ihr stand, und hat sie völlig überrascht. Sie hat genug Blutspuren hinterlassen, dass wir uns herleiten konnten, was genau geschehen sein muss, und es war wohl ungefähr so, als hätte man einen Säbelzahntiger auf ein Rudel Hyänen losgelassen, Doktor. Letztendlich haben die sie dann doch erledigt, aber dabei hat sie die Angreifer alle erledigt, bis auf den letzten. Der Shuttle muss unter Fernsteuerung gestartet sein, denn es waren ganz gewiss keine Piraten mehr übrig, die ihn noch hätten fliegen können.

Aber ab dann wird es eben merkwürdig. Die Leute aus unserer Forensik-Abteilung haben den jeweiligen Todeszeitpunkt der Piraten und der Mitglieder ihrer Familie abschätzen können, und sie haben auch die Blutspuren untersucht, die DeVries selbst währenddessen hinterlassen hat. Den Gesetzen der Logik zufolge muss sie wenige Minuten nach dem Tod des letzten Piraten verblutet sein. Und wenn das nicht der Fall gewesen sein sollte, dann hätte sie erfrieren müssen, ebenfalls vermutlich ziemlich rasch. Und wenn sie noch gelebt hätte, dann hätten unsere Scans sie eindeutig orten müssen. Aber nichts dergleichen ist geschehen – es ist wirklich, als hätte sie sich an irgendeinem anderen Ort aufgehalten, bis Sikorskys Mannschaft gelandet ist und sie gefunden hat. Und, Doktor …« Der Blick des Colonel wirkte sehr angespannt, »nicht einmal jemand von den Springereinheiten ist zu so etwas in der Lage.«

»Also, was wollen Sie damit sagen? Dass hier Zauberei im Spiel war?«

»Ich will damit sagen, dass sie mindestens drei Dinge geschafft hat, die schlichtweg unmöglich sind, und niemand hat auch nur den Hauch einer Ahnung, wie das geschehen sein könnte. Bis uns also irgendeine Möglichkeit dafür eingefallen ist, würden wir sie gerne in Ihren fähigen Händen wissen.«

»Zu welchen Bedingungen?« Okanamis Stimme klang mit einem Mal unverkennbar frostig.

»Wir würden es vorziehen«, entgegnete McIlhenny vorsichtig, »sie in genau dem Zustand zu belassen, in dem sie sich derzeit befindet.«

»Bewusstlos? Vergessen Sie’s, Colonel.«

»Aber …«

»Ich sagte, vergessen Sie’s! Man hält keinen Patienten dauerhaft sediert, schon gar nicht jemanden, der so etwas durchgemacht hat wie diese Frau, und ganz besonders nicht, wenn noch ein unbekanntes pharmakologisches Element hineinspielt. Ihr Zustand ist nichts, womit man irgendwelche Experimente macht, und Ihr Download hier …« – er hielt dem Colonel das Lesegerät unter die Nase – »… ist alles andere als vollständig. Diese verdammte Datei verrät mir nicht einmal, was ein halbes Dutzend der Drogen in ihrem Pharmaskop überhaupt tun, und das Sicherheitssystem ihrer Implantate muss ein Radikal-Paranoiker im Endstadium entwickelt haben! Nicht nur, dass die Codes in ihren Implantaten jegliche externe Deaktivierung verhindern, ich kann ihr Drogen-Reservoir noch nicht einmal durch einen chirurgischen Eingriff entleeren! Haben Sie überhaupt eine Vorstellung davon, wie sehr das ihre Medikamentierung erschwert? Und das gleiche Sicherheitssystem, das es mir verbietet, auf ihre Rezeptoren zuzugreifen, verhindert auch, dass ich eine Standard-Soma-Einheit einsetze, also könnte ich die Patientin ausschließlich mit chemischen Wirkstoffen sedieren.«

»Ich verstehe.« McIlhenny drehte seinen Kaffeebecher hin und her und legte die Stirn in Falten, als ihm bewusst wurde, wie sehr er hier gegen den hippokratischen Eid des Doktors anzukämpfen versuchte. »Unter diesen Umständen sollten wir vielleicht lieber sagen, wir wären Ihnen dankbar, wenn Sie die Patientin rund um die Uhr weiterhin beobachten würden.«