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Die Spione Anton Zilwicki und Victor Cachat sind auf den Planeten Mesa gekommen, um die Machenschaften des verbrecherischen Mesanischen Alignments aufzudecken. Ein gefährlicher Auftrag, denn ihnen heften sich nicht nur gnadenlose Alignment-Agenten an die Fersen, sie geraten auch mitten in die eskalierende Auseinandersetzung zwischen den Herrschern von Mesa, ihren brutal unterdrückten Sklaven und den Nachkommen befreiter Sklaven. Der Planet ist ein Pulverfass - und nur eins ist sicher: Es wird explodieren!
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Seitenzahl: 560
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Mai 1922 P.D.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Oktober 1922 P.D.
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Personenverzeichnis
David WeberEric Flint
DIEREBELLENVON MESA
Roman
Aus dem amerikanischen Englisch vonDr. Ulf Ritgen
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Deutsche Erstausgabe
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2014 by Words of Weber, Inc. & Eric Flint
Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Cauldron of Ghosts«
Originalverlag: Baen Books
Published by Arrangement with Baen Books, Wake Forest, NC, USA
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur
Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln
Titelillustration: Arndt Drechsler, Regensburg
Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München
E-Book-Produktion: Urban SatzKonzept, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-1550-9
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Für Jim Baen, der Autoren Chancen gegeben hat.
»Ich rate Ihnen dringend, zu kapitulieren, aber es würde mir nicht gerade das Herz brechen, wenn Sie’s lassen.«
Colonel Donald Toussaint,Royal Torch Army
Triêu Chuanli gehörte zu den Topleuten – genau wie Victor Cachat, aber das war ihre einzige Gemeinsamkeit. Chuanli war Unterboss in einem der vielen Verbrechersyndikate Mesas, Victor Cachat einer der Topagenten, vielleicht sogar der Topagent der Republik Haven, momentan in Mesas Hauptstadt Mendel undercover im Einsatz. Cachat war nicht das erste Mal in Mendels Zweierbezirken, von denen Chuanlis Oberboss, Jürgen Dusek, Neu-Rostock beherrschte, und Chuanli traf er auch nicht zum ersten Mal. Er sah genauso aus, wie Victor ihn in Erinnerung hatte: schlank und etwas kleiner als der Durchschnitt. Was Cachat selbst anging, halfen Chuanli seine Erinnerungen wenig: Für diesen Einsatz hatte Victor ein neues Aussehen und, sozusagen, eine neue DNA bekommen. Chuanli, der sein Gegenüber also vermeintlich zum ersten Mal traf, war entspannt und höflich, ja, er wirkte mit seinem Auftreten in jeder Hinsicht wie ein Gentleman. Allerdings kam er Victor nicht mehr ganz so aalglatt vor wie bei ihrer letzten Begegnung. Vielleicht irritierte es Chuanli ein wenig, sich mit einem Mann im selben Raum zu befinden, der noch besser aussah als er selbst.
Mittlerweile hatte sich Victor an sein neues Äußeres gewöhnt. Mit der für ihn so charakteristischen Flexibilität hatte er rasch erkannt, dass extrem gutes Aussehen in mancherlei Hinsicht bereits von sich aus Tarnung war. Das Gleiche galt auch für extreme Hässlichkeit: Eben weil das betreffende Äußere andere Menschen so effektiv blendete oder abstieß, nahmen sie einen nicht wahr.
Die Nanotechniker von Beowulf hatten Victor jene Sorte guten Aussehens verpasst, das man bei Models fand, nicht bei Vid-Stars. Letztere standen in dem Ruf, umwerfend zu sein, das schon. Aber sie besaßen in der Regel Gesichtszüge, die zwar zweifellos attraktiv waren, aber eben doch von einem abstrakten Schönheitsideal so weit abwichen, dass sie jedem Betrachter den Eindruck echter Persönlichkeit vermittelten. Anders war das bei Models: Persönlichkeit zu verkörpern war nicht ihre Aufgabe, weshalb sie sozusagen stumm waren, also gar keine eigene Persönlichkeit besaßen. Models sollten eine derart idealisierte Schönheit ausstrahlen, dass nichts an ihnen von dem ablenkte, was wirklich zählte – nämlich die Attraktivität der Waren, die sie zur Schau stellten.
Kurz gesagt: Models waren austauschbar, sie glichen einander wie ein sprichwörtliches Ei dem anderen. Und auch ein wirklich gut aussehendes Ei war letztendlich eben doch bloß ein Ei. Ein Passant mochte eine derart gut aussehende Person im Vorbeigehen bemerken und bewundern, so wie er beispielsweise eine besonders hübsche Blume bemerkte und bewunderte. Aber wenn man den Passanten eine Stunde später auffordern würde, besagte Blume zu beschreiben, hätte er dabei wahrscheinlich größere Schwierigkeiten.
Na ja … die Blütenblätter waren rot. Und die Blume hatte … hm, tja, eben … einen Stängel, halt.
Na ja … er war blond und hatte blaue Augen. Und seine Gesichtszüge waren … hm, tja, nun … ebenmäßig halt.
Das nämlich, Körpergröße, Augen- und Haarfarbe, waren die einzigen Merkmale, die sich auch bei Models leicht beschreiben ließen. An der Körpergröße ließ sich nur schwer beziehungsweise nicht viel ändern, aber Victors neues Ich war ja ohnehin nur durchschnittlich groß. Der Rest war kein Problem: Er hatte stets alles Notwendige dabei, um Haar- und Augenfarbe innerhalb von Sekunden zu wechseln. Und da Victor nun einmal Victor war, hatte er das ausgiebig geübt: im Simulator ebenso wie in Trainingseinheiten in der Realität.
»Nun, die Lage in Unter-Radomsko ist zweifellos nervend«, meinte Chuanli gerade und reagierte damit auf die entsprechenden Bemerkungen, mit denen Victor das Gespräch eröffnet hatte. »Aber wir sind das gewohnt. Wir leben mittlerweile seit Jahrzehnten damit. Das ist eines jener Probleme, bei denen jede nur erdenkliche Möglichkeit der Heilung stets unangenehmer scheint als die Krankheit selbst.«
Victor nickte. »Ja, das verstehe ich gut. Aber die Gefahr, die von Krankheiten ausgeht, hängt ja auch stets eng mit dem … nun, nennen wir es: Umfeld zusammen.«
Er trug mit seinem Dockhorn-Akzent derart dick auf, dass es schon ans Groteske grenzte. Zur Karikatur eines Dockhorners fehlte jedenfalls nicht mehr viel. Victor legte es gezielt darauf an, Chuanli zu suggerieren, es mit einem Fremdweltler zu tun zu haben, der in Wahrheit nur so tue, als stamme er von Dockhorn.
Ob ihm Erfolg beschieden war, stand noch nicht fest, denn die Aussichten dafür konnte nicht Victor beeinflussen, sie stiegen und fielen vielmehr mit Chuanli. Denn Victor machte es perfekt, was in gewisser Weise bemerkenswert war: Nachdem es ihm früher beinahe unmöglich erschienen war, seinen (völlig natürlichen) Nouveau-Paris-Akzent zu verbergen, war es jetzt überhaupt kein Problem für ihn, seinen Tonfall nach Lust und Laune anders einzufärben.
Doch der schönste übertriebene Dockhornzungenschlag, den man sich denken konnte, nutzte nichts, wenn Chuanli mit diesem Akzent nicht hinreichend vertraut war, um den Unterschied zwischen echt und übertrieben zu bemerken. So kultiviert der Mann auch auftrat: Er war nun einmal ein Gangster, der in eine sehr kleine Welt hineingeboren und dort aufgewachsen war … und in ihr auch sein ganzes bisheriges Leben verbracht hatte. Auch ein kultivierter mesanischer Zweier war und blieb nun einmal ein mesanischer Zweier.
Victor ging davon aus, dass Chuanli das gesamte Gespräch mitschneiden ließ. Sollte er der Ansicht sein, die Angelegenheit wäre wichtig genug, könnte er den Mitschnitt dann später immer noch von einem Sprachexperten begutachten lassen.
»Dem Umfeld«, wiederholte Chuanli völlig tonlos. »Und damit meinen Sie …?«
»Ich meine damit das politische Umfeld. Vor allem beziehe ich mich darauf, dass die derzeitige soziale Lage auf Mesa – um genau zu sein: in den Zweierbezirken hier – kurz davorsteht, das Schicksal eines Kartenhauses bei einem kräftigen Windstoß zu teilen. Bei einem ausgewachsenen Orkan, sollte ich wohl besser sagen.« Er legte die Stirn in Falten, als sei ihm plötzlich ein überraschender Gedanke gekommen. »Es gibt doch Orkane hier auf Mesa, oder?«
Chuanli schenkte ihm ein ausgesprochen dünnes Lächeln, von Herzlichkeit keine Spur. »An den Küsten sogar reichlich. Aber hier in Mendel befinden wir uns auf der Hochebene – auf der Mesa, eben. Das Heftigste, was uns hier an Wind trifft, ist wohl …« Er blickte zu einem der beiden Leibwächter hinüber, die hinter ihm an der Wand standen. »Wie würdest du das nennen, Stefan? Eine steife Brise?«
Der Leibwächter verzog seine fleischigen Lippen zu einem höhnischen Grinsen. »Brise? Von wegen! Ein laues Lüftchen vielleicht! Dagegen kann ein echter Mann mühelos anpinkeln.«
Sein Grinsen zeigte unmissverständlich, wie sehr er an der Männlichkeit von Chuanlis Besucher zweifelte.
Victor erwiderte das Grinsen, ein Gesichtsausdruck, der bei ihm eher nicht selbstverständlich war. Aber nach mehreren Stunden ausgedehnten Trainings im Simulator hatte er sein entsprechendes Mienenspiel perfektioniert. Von Herzlichkeit war auch hier keine Spur: Es war das Grinsen eines Raubtiers. Eines Haifischs.
»Gegen den Wind, von dem ich hier rede, können Sie ganz gewiss nicht anpinkeln, glauben Sie’s mir! Der hat sogar einen eigenen Namen: Wir nennen ihn Manticore. Als der durch mein Heimatsystem gefegt ist, hat er alles niedergewalzt. Na ja, zumindest alles, worauf sich die Initialen OFS oder die Logos der transstellaren Konzerne mit Firmensitz Mesa befanden.«
Die Anspannung im Raum veränderte sich schlagartig: von freundlich, aber nur leidlich interessiert zu interessiert, und das mit steigender Tendenz.
Davon aber verriet Chuanlis Tonfall nichts. Der Gangster klang noch genauso wie zu Beginn des Gesprächs: ruhig und entspannt.
»Ich wusste gar nicht, dass der Wind aus Manticore auch in Dockhorn weht. Wenn ich astrografisch jetzt nicht gerade völlig daneben liege, ist das System doch gute fünfhundert Lichtjahre weit vom Sternenimperium entfernt – und eine direkte Wurmloch-Verbindung gibt es auch nicht.«
»Da haben Sie recht. Aber eigentlich stamme ich gar nicht aus Dockhorn. Dieses System ist für meine Geschäftspartner und mich derzeit lediglich eine günstige Ausgangsbasis.«
»Und Ihre Geschäftspartner sind …«
Victor winkte ab. »Darauf brauchen wir jetzt noch nicht einzugehen. Unsere Besprechung, Mr. Chuanli, dient nicht dazu, Sie zu etwas zu überreden. Stattdessen werde ich Sie beizeiten durch praktische Ergebnisse überzeugen. Ich wollte Sie lediglich aus reiner Höflichkeit wissen lassen, dass meine Partner und ich die Geschäftsmöglichkeiten im Bezirk Unter-Radomsko zu erkunden gedenken. Keines unserer Projekte sollte Ihren Interessen oder Geschäftsfeldern im Wege stehen. Wir hoffen auf gute Beziehungen zu Mr. Dusek und Ihnen.«
Er erhob sich und nickte Chuanli höflich zu, dann schenkte er auch dem Leibwächter Stefan ein Nicken. Den anderen Leibwächter ignorierte er geflissentlich.
»Ich wüsste es sehr zu schätzen, wenn mich jemand aus dem Gebäude hinausführen würde«, sagte er. Dieses Mal fiel sein Lächeln völlig natürlich aus. »Sonst würde ich mich womöglich verirren.«
Chuanli erwiderte das Lächeln. »Das kann ich Ihnen beinahe sogar versprechen.« Er deutete auf die Tür hinter Victor. »Draußen wartet der Junge, der Sie hierhergeführt hat. Er bringt Sie zurück zum Ausgang.«
Besagter Junge stellte sich als Ambros vor. Offenkundig war sein atemberaubend leistungsstarkes Gedächtnis, was dreidimensionale Labyrinthe betraf, längst nicht mehr so gut, kamen Namen ins Spiel: Auf dem Hinweg hatte er Victor noch erzählt, er heiße Thanh.
Möglicherweise war das aber mit Absicht geschehen. Dass Zweiern nur begrenzt Kultiviertheit zugestanden werden konnte, hieß ja nicht, dass es in ihrer Gesellschaft an Zwischentönen und Feinheiten fehlte. Möglicherweise ließ der Junge Victor auf diese Weise wissen, dass er sich nicht bestechen lasse. Genauer gesagt: dass er sich sehr wohl bestechen lassen würde, was Victor aber außer Spesen nicht das Geringste einbrächte.
Kurz gesagt: ein prima Bursche. Victor war ihm einst sehr ähnlich gewesen, als er im Alter von zehn Jahren das mehr als magere Einkommen seiner Familie aufgebessert hatte. Damals hatte er den Laufburschen für die Gangster in seinem Slumviertel von Nouveau Paris gegeben. Man machte seinen Job, man hielt den Mund – und ließ man sich bestechen, ließ man den Boss umgehend davon wissen, damit er nur ja nicht auf die Idee käme, man habe Heimlichkeiten vor ihm.
In Nouveau Paris war es vielleicht nicht ganz so einfach wie in Neu-Rostock, jemanden spurlos verschwinden zu lassen, aber bewerkstelligen ließ sich das hier wie dort.
»Diese Kleinigkeit hat er zu erwähnen vergessen«, meinte Thandi zu Stephanie und Cary. Säuerlich blickte sie auf die reglos daliegende Karen Steve Williams hinab – deren Körper deutlich kürzer war, als Thandi erwartet hatte.
»Dürfte ziemlich schwierig werden, es so aussehen zu lassen, als würden wir bloß eine Freundin nach Hause schaffen, die so betrunken ist, dass wir sie stützen müssen – bei jemandem ohne Unterschenkel«, fuhr sie fort. »Ach, was soll’s. Wenn man mit Vi … Philip Watson zusammenarbeitet, lernt man ganz rasch zu improvisieren.«
Sie blickte sich im Raum um. Nachdem sie dort nichts entdeckte, was sich irgendwie nutzen ließ, steuerte sie zielstrebig zu dem kleinen Badezimmer hinüber, das unmittelbar an den Multifunktionsraum angrenzte. Die badtypischen Einrichtungen waren, wie sich herausstellte, entweder defekt oder die Frauen, die sich in diesem Apartment versteckten, sparten Geld, indem sie sich einer uralten Technik bedienten, um sich abzutrocknen: Sie verwendeten Handtücher – ein echter Glücksfall.
Hergestellt wurden derartige Relikte vergangener Zeiten immer noch, wenngleich nicht in allzu großer Stückzahl, was auch auf eine Reihe anderer Nutzgegenstände zutraf, die es schon seit unvordenklicher Zeit gab, Reitgerten beispielsweise. Thandi war darüber während ihres letzten Aufenthaltes auf Beowulf ganz zufällig gestolpert. Angesichts der auf diesem Planeten üblichen Laisser-faire-Haltung Moralvorstellungen gegenüber hatte sie die Gelegenheit dann gleich dazu genutzt, in einem Spezialgeschäft ihre Spielzeugsammlung ein wenig zu erweitern.
An den Reitgerten oder anderen Züchtigungswerkzeugen wie Peitschen, Stöcken und Ruten in der dortigen Auslage hatte sie kein persönliches Interesse. Wenn sie in der richtigen Stimmung war, lagen ihre sexuellen Vorlieben zwar tatsächlich ein wenig abseits der Norm, aber Sadomasochismus gehörte nicht dazu – aber selbst wenn: Victor hätte sich strikt geweigert, bei dieser Spielart der Lust mitzumachen.
Sie griff nach den beiden Handtüchern und rollte sie eng zusammen. »Wenn wir das irgendwie verdeckt bekommen«, meinte sie, während sie wieder in den Wohnraum zurückkehrte, »könnte man die Handtuchrollen für normale Beine halten. An den Beinstümpfen befestigen müssen wir sie allerdings auch noch, und wenn wir sie festbinden müssen. Das dürfte keine angenehme Sache werden, ginge dann aber nicht anders.«
Glücklicherweise fand sich noch mehr aus unvordenklicher Zeit, das sich nutzen ließ. Manche Dinge waren einfach so perfekt auf ihren Zweck zugeschnitten, dass es keinerlei Bedarf für moderneren Ersatz gab. »Wir haben noch etwas Panzerband«, sagte Stephanie. Kurz wühlte sie in einer kleinen Kiste, die in einer Ecke des Raumes stand, dann streckte sie Thandi eine Rolle Klebeband entgegen – oder besser: die kärglichen Reste einer Rolle Klebeband. Für gutes, altes Panzerband gab es in einem derart alten und verfallenen Gebäude wie diesem hier zahlreiche Verwendungsmöglichkeiten.
Langsam und vorsichtig, um die schwer verwundete Frau nicht aus ihrem schlafgleichen Dämmerzustand zu reißen, befestigte Thandi die zusammengerollten Handtücher mit dem Klebeband an Karens Beinstümpfen. Dann wickelte sie die Rebellin behutsam in ihre Bettdecke und hob sie mühelos hoch.
»Kann ich Ihnen irgendwie zur Hand gehen?«, erkundigte sich Cary. Thandi schüttelte den Kopf. Sie benötigte keine Hilfe dabei, Karen zu tragen – das wäre nicht einmal dann der Fall gewesen, wenn die Frau deutlich besser ernährt und unversehrt gewesen wäre.
»Nö, das kriege ich hin. Zeigen Sie mir bloß, wo ich langgehen muss, und halten Sie mir sämtliche Türen auf.«
Auf dem Weg zum Eingang des Gebäudes kamen sie an nur einer einzigen Überwachungskamera vorbei. Es war natürlich möglich, dass es noch weitere, gut getarnte gäbe. Thandi bezweifelte jedoch, dass Mesas Obrigkeit beim Kerngeschäft, der Überwachung der Bevölkerung, anders als zeit- und ressourcensparsam vorginge und derlei Schnörkel verwendete. Die eine Kamera, an der sie vorbeikamen, wirkte obendrein, als wäre sie nicht funktionstüchtig.
Doch unnötige Risiken einzugehen war nie sinnvoll. Also achtete Thandi sorgsam darauf, nicht in das Aufzeichnungsgerät zu blicken, und verzog den ganzen Weg über mürrisch das Gesicht. Und genau unter der Überwachungskamera murmelte sie hörbar laut: »Das nächste Mal kannst du selber sehen, wie du nach Hause kommst, du blödes Stück! Ich bin’s wirklich langsam leid!«
Wie alle Wohntürme in Mendels Zweierbezirken besaß auch das Apartmenthaus, in dem die drei Frauen sich eingemietet hatten, mehr als zweihundert Stockwerke. Doch ihr Apartment war eines der schlechtesten im ganzen Gebäude, was bedeutete: Es befand sich in einem der untersten Geschosse und bot auch nur einen miesen Ausblick – eine Gasse, die Wartungszwecken diente. Trotzdem dauerte es noch drei Minuten, bis Thandi mit ihrer Last und ihre Begleiterin das Gebäude verlassen konnten, was einzig und allein daran lag, dass der direkte Weg zum Ausgang durch die Reste einer wohl schon vor Jahren zusammengebrochenen Mauer versperrt wurde. Da sie keine tragende Funktion erfüllt hatte, sah der Vermieter keinerlei Grund, sich des Problems anzunehmen – es gab ja schließlich noch mindestens vier weitere Möglichkeiten, den Ausgang zu erreichen. Und wenn der Schutt den Mietern in den untersten Etagen Unannehmlichkeiten bereitete: Na und?
Thandi hatte bereits ein Taxi zum Wohnturm bestellt. Ihr eigener Fluglaster wäre bei diesem Unterfangen ein wenig zu auffällig gewesen, und der Fahrer des Taxis rechnete nicht nach Minuten ab. Er hieß Bertie Jaffarally, und Victor hatte ein ordentliches Honorar gezahlt, damit ihm dieser Fahrer jederzeit und rund um die Uhr zur Verfügung stünde.
Thandi erschien diese Vorgehensweise recht unvorsichtig. »Zwischen ihm und dir besteht doch bereits eine Verbindung«, hatte sie Victor gegenüber angemerkt.
Doch er hatte nur den Kopf geschüttelt. »Ja, und? Zwischen dir und mir besteht auch ohnehin eine Verbindung. Oder hast du schon diesen kleinen Hinterhalt auf der Straße vergessen, der so herzerfrischend schiefgelaufen ist? Wo Tote und Verwundete quer über die Straße verstreut herumgelegen haben? Meinst du vielleicht, das hätte niemand mitbekommen?«
»Na ja … die Passanten, klar. Aber das heißt doch nicht, dass die Obrigkeit …«
»Aber selbstverständlich, Thandi! Wir reden hier von einem mesanischen Zweierbezirk. Das bedeutet: reichlich Armut im Untergeschoss und ein Überschuss an Geld in den Händen der herrschenden Kreise. Glaub bloß nicht, all die Sicherheitsdienste von Mendel – und von denen gibt es mindestens neun Stück! – hätten nicht ungefähr eine Fantastillion Leute, die insgeheim auf deren Gehaltsliste stehen – oder denen sie zumindest hier und dort im Austausch für Informationen ein bisschen Geld zustecken. Ich wette, dass keine Stunde nach dem Vorfall eine Meldung an mindestens einen dieser Sicherheitsdienste ergangen ist – wahrscheinlich eher an drei oder vier.«
»Das scheint dir aber nicht sonderlich viel auszumachen«, gab Thandi zurück.
Er zuckte mit den Schultern. »Tut’s auch nicht, und zwar, weil ich bestens vertraut bin mit den drei Hauptsätzen der Thermosicherheit.«
»Das denkst du dir doch gerade aus!«
»Nein, tu ich nicht, ganz bestimmt nicht! Hauptsatz Nummer eins: Das Bedürfnis jeder Art von Obrigkeit nach Informationen folgt ohne zeitliche und räumliche Einschränkungen stets einer geraden Linie. Dieses Gesetz behält bis zum Wärmetod des Universums seine Gültigkeit. Hauptsatz Nummer zwei: Die Bereitschaft genannter Obrigkeit gegenüber Weisungsbefugten, das dafür erforderliche Budget bereitzustellen, hält sich räumlich und zeitlich betrachtet in sehr engen Grenzen. Daraus ergibt sich zwangsläufig Hauptsatz Nummer drei, der sich unmittelbar auf unsere aktuelle Lage auswirkt: Die Menge an Informationen, die von Sicherheitskräften zusammengetragen wird, ist ungleich größer als die vorhandene Kapazität, besagte Informationen auszuwerten. Im Endeffekt ersticken sie also an ihrem eigenen Sicherheitsbedürfnis.«
Mittlerweile war Thandi richtig aufgebracht. »Das ist doch Unfug! Das hieße ja, Sicherheit in jedweder Form wäre schlichtweg unmöglich – und dass das nicht stimmt, weißt du genauso gut wie ich!«
»Ja, aber Sicherheit ist nur trotz dieser Neigung aller Spielarten von Sicherheitsdiensten möglich, nicht wegen. Eigentlich braucht es nämlich dazu nur Agenten, die wissen, wie man Daten vorselektiert, und die keine Angst davor haben, das auch zu tun. Natürlich gibt es solche Agenten, aber …«
Er hauchte kurz auf seine Fingernägel, polierte sie an seinem Revers und musterte sie dann eingehend. »Leute wie wir sind nun einmal verdammt rar. Thandi, ich erkläre dir doch auch nicht, wie man sich bei einem Handgemenge verhält. Vielleicht solltest du in Zukunft davon absehen, mir zu erklären, wie nachrichtendienstliche Tätigkeit funktioniert.«
Entgegenzusetzen hatte sie dem … wenig, Tendenz gegen null.
Also hatte sie nachgegeben und sich Berties Taxis bedient. Das war auf jeden Fall bequemer als die Alternativen, die ihr hatten einfallen wollen. Und falls sie tatsächlich beobachtet würden – und dessen war sich Thandi absolut sicher, und einem anderen Sicherheitsdienst gemeldet würden …
Thandi wusste, was Victor dazu sagen würde: Na und? Da wird bloß wieder einmal eine betrunkene oder zugedröhnte Zweierin von einer Freundin nach Hause gebracht. Manchmal kann man sich nun einmal am besten in aller Öffentlichkeit verstecken.
Victor besaß das Potenzial, Thandi so richtig auf die Palme zu treiben. Nur gut, dass sie ihn so sehr liebte – sonst hätten ihm dieselben Hände, die beim Stoßen und Reißen mühelos mit zweihundertundsiebzig Kilogramm zurechtkamen, schon längst die Luftröhre zerquetscht.
»Wollen Sie jetzt den ganzen restlichen Tag ins Leere starren?«, verlangte Yana zu wissen. Sie stemmte die Hände in die Hüften – und ließ sie sofort wieder sinken: absolut dämlich, diese neue Angewohnheit! Nur leider standen ihr jetzt, wo sie der nötigen Tarnung wegen, um als Angehörige von Hakims Oberschicht durchzugehen, körpermodifiziert war, üppige Hüften zur Verfügung. Das aber machte es schwer, gegen diese sich aufdrängende Geste anzukämpfen.
Anton Zilwicki blickte auf und lächelte. »Tue ich nicht, nicht ins Leere. Vielmehr habe ich nachgedacht: über die unendliche Weisheit des großen Barden.«
»Welches großen Barden? Sagen Sie jetzt nicht, Sie geben Ihren Computern jetzt schon Eigennamen! Anton, das wird kein gutes Ende mit Ihnen nehmen, glauben Sie’s mir!«
»Nein, nein, das ist der Beiname eines antiken Dichters und Dramatikers namens William Shakespeare. Ich habe gerade an eine Zeile aus einem seiner berühmtesten Dramen gedacht: Etwas ist faul im Staate Dänemark.«
Er zog einen Datenchip aus der Konsole, schob seinen Sessel zurück und stand auf. »Beinahe sogar im wortwörtlichen Sinne. Die Ratten verlassen das sinkende Schiff namens Mesa. Da bin ich mir inzwischen ganz sicher. Ich habe sieben verschiedene Korrelationen durchführen lassen, und alle führen zum gleichen Ergebnis. Na ja … zumindest wenn man den Begriff ›gleich‹ relativ weit fasst.«
Yana wusste, von welchen Ergebnissen er sprach. Angenehm an der Zusammenarbeit mit Anton und Victor war, dass sie Sicherheit nie als Selbstzweck verstanden. Zwar überstiegen die mathematischen Grundlagen für Antons Berechnungen Yanas Verständnis bei weitem, aber sie wusste durchaus, wonach Anton Ausschau hielt.
»Und was heißt ›relativ weit‹ in diesem Fall?«, fragte sie.
Er verzog das Gesicht. »Sagen wir’s mal so: Ich erkenne ein Muster. Es ist undeutlich, zugegeben, und wenn ich versuchte, meine Ergebnisse vor Fachpublikum zu präsentieren, würden die meisten Auswertungsexperten behaupten, ich halluziniere. Sie würden sagen, mein sogenanntes Muster sei nicht mehr als das statistische Gegenstück zu Pünktchen, die einem jeden von uns vor den Augen flimmern, wenn man etwas zu lange anstarrt. Und wäre ich Verteidiger oder Staatsanwalt und legte diese Daten bei Gericht vor, entzöge man mir sofort wegen akuter Inkompetenz die Zulassung … dankenswerterweise aber bin ich kein Anwalt und wir nicht vor Gericht.«
Yana nickte. »Schon okay, Anton. Wenn ich wetten müsste, würde ich alles auf Sie setzen, und die anderen Experten könnten mich mal. Wenn Sie sagen, da gibt es ein Muster, dann ist das so. Aber haben Sie auch schon etwas gefunden, was sich in konkretere Zahlen übersetzen lässt?«
»Ach verdammt, ich habe noch nicht einmal grobe Schätzungen!« Er schüttelte den Kopf. »Es könnte hier um bloß ein paar tausend Leute gehen, oder um … einhunderttausend? Vielleicht auch noch mehr – möglicherweise eine Viertelmillion.« Finster betrachtete er den Datenchip in seiner Hand. »Aber es sollte mich doch sehr überraschen, wenn es nicht letztendlich um eine eher überschaubare Anzahl Personen geht. Die besten Zahlen kann ich bislang aus den Meldungen über tödliche Unfälle ableiten. Dergleichen lässt sich von Natur aus deutlich schlechter verschleiern als Stellenangebote oder Einkaufstouren – vorausgesetzt natürlich, hier versucht tatsächlich jemand, einen ganz bestimmten Sachverhalt zu verschleiern, nämlich die Flucht ganz bestimmter Personen von Mesa. Das heißt aber auch, von der Annahme ausgehen, dass nicht Mesas gesamte Obrigkeit mit dem Alignment unter einer Decke steckt und gerade dabei ist, einen gewaltigen Schwindel abzuziehen. Diese Annahme erscheint mir berechtigt. Denn wir haben es hier ja nicht mit einem ausgewachsenen Polizeistaat zu tun, was bedeutet, dass man mit Betrug im großen Stil echte Probleme bekommt. Man geht ständig das Risiko ein, damit das gesamte System zu korrumpieren. Und dieses Risiko wächst, je mehr Zeit verstreicht.«
»Und von was für einem gewaltigen Schwindel reden Sie?«
»Zum Beispiel, dass tödliche Unfälle gemeldet werden, die sich in Wahrheit niemals ereignet haben. Oder umgekehrt: dass tödliche Unfälle vollständig unter den Teppich gekehrt werden. Für Ersteres müssen … ach, jede Menge Leute mitspielen: die Ersthelfer, die Meditechniker, die Polizei – von den Medien ganz zu schweigen. Aber so etwas totzuschweigen ist noch schwieriger. Wenn man nicht zuvor ein totalitäres System etabliert und damit dann eine ganz eigene Büchse der Pandora öffnet, stolpert man ständig über seine eigenen Lügen.«
Yana runzelte die Stirn. »Ich … glaube, ich verstehe, was Sie meinen. Wenn man jemanden durch einen tödlichen Unfall aus dem Weg räumen will, dann muss man dafür einen echten Unfall arrangieren – idealerweise auch einen, bei dem wirklich jemand zu Tode kommt. Und zugleich braucht man eine logische Erklärung dafür, warum anschließend nicht die Leiche der Person vorliegt, die man bei diesem Manöver verschwinden lassen wollte.«
»Ganz genau. Man könnte einen Luxusdampfer in die Luft jagen – so wie das mit der Magellan passiert ist. Dann schiebt man die Schuld den Ballroom-Terroristen in die Schuhe. Nachdem nur wenige Leichen geborgen werden konnten, muss man die Passagierliste anhand von leichter manipulierbaren Computeraufzeichnungen rekonstruieren. Oder man sprengt einen Shuttle genau über den Ganymed-Schluchten, dem wahrscheinlich zerklüftetsten und unzugänglichsten Territorium des gesamten Planeten. Leichen konnten da keine geborgen werden.«
Yana schürzte die Lippen. »Wie viele Opfer hat diese Magellan-Sache gefordert? Dreitausend?«
»Ein paar weniger – und nur etwas mehr als einhundert Leichen konnten geborgen werden. Dennoch kommt man, wenn man die Identität aller Vermissten und mutmaßlich ums Leben Gekommenen anhand der Computerdaten rekonstruiert, auf mehr als zwotausendsiebenhundert Opfer. Selbstverständlich würde es sich nur bei einem winzigen Prozentsatz um Personen handeln, die man hat verschwinden lassen. Die weitaus meisten Vermissten sind tatsächlich Opfer des Anschlags.«
»Warum betonen Sie das so? Man sollte doch annehm … Oh! Jetzt verstehe ich, was Sie meinen! Sie beziehen sich auf das, was Sie gerade eben gesagt haben: dass es, wenn man nicht gerade einen Polizeistaat zur Hand hat, gar nicht so leicht ist, Leute verschwinden zu lassen!«
»Genau. Dafür müsste man …« Einen Moment lang dachte Anton angestrengt nach. »Ha! Das wäre natürlich eine Möglichkeit! Wir sollten überprüfen, ob jemand – und zwar vermutlich niemand besonders Wichtiges – aus dem Ressort überlebt hat, das für Passagiere und Mannschaft zuständig war … keine Ahnung, wie so etwas an Bord eines Luxusdampfers heißt.«
Yana brauchte nicht allzu lange, um auch diesem Gedankengang zu folgen. »Stimmt, man müsste einfach nur jeden aus dem Weg räumen, der den offiziellen Vermisstenlisten widersprechen könnte. Aber … was ist mit dieser Shuttle-Sache da über den Ganymed-Schluchten? Da kann man doch unmöglich … ach so!«
Anton lächelte. »Selbstverständlich kann man! Man muss nur dafür sorgen, dass die Personen, die man verschwinden lassen will, keine engeren Angehörigen haben. Idealerweise auch keine besonders guten Freunde und dergleichen.«
»Genau. Weil dann niemand einen größeren Aufstand macht, wenn die Suche nach den Leichen abgebrochen wird, nachdem eine Fortsetzung der Suche … wie werden sie es wohl ausdrücken? Ja, genau: als zu riskant eingeschätzt wurde.«
Sie tauschte einen Blick mit Anton, der sie erwartungsvoll ansah. Ihr ging auf, dass sie den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht hatte. Nach einem Moment des Schweigens schüttelte sie den Kopf und fuhr überrascht fort: »Aber wenn Sie recht haben, dann genügen ja nicht einmal solche Großereignisse wie die Sache mit der Magellan, um Personen in vier- oder sogar fünfstelliger Anzahl verschwinden zu lassen. Und der Shuttle etwa reicht auch nur als Erklärung für bestenfalls zwanzig Personen. Dafür bräuchte es also verdammt viele rätselhafte Shuttle-Unglücke, und das wiederum würde ganz bestimmt Misstrauen wecken. Auf eine derart maßgeschneiderte Art und Weise kann man also nicht Tausende von Leuten verschwinden lassen.«
»Ganz genau … und das wiederum legt einige ziemlich beunruhigende Schlussfolgerungen nahe. Falls ich recht habe und es das von mir vermutete Muster gibt: Was passiert, wenn die Hintermänner oder Verantwortlichen dafür tatsächlich Menschen in derart großer Zahl verschwinden lassen wollen?« Anton schloss die Finger um den kleinen Chip. »Wir müssen das so rasch wie möglich Victor vorlegen. Ist der Gassenjunge, den er angeheuert hat, greifbar?«
»Der Kleine wahrscheinlich nicht, aber irgendwo drückt sich bestimmt wenigstens einer seiner anderen Helfershelfer herum. Ich finde ja immer noch, Victor muss verrückt sein, sich so einer Gossenbande zu bedienen.«
Anton lachte leise. »Seine eigene Baker-Street-Spezialeinheit! Sie sollten seine Entscheidungen nicht so sehr in Frage stellen, Yana. Auf seinem Fachgebiet ist Victor besser als jeder andere. Wenn er sagt, dass eine Verbindung wirklich sicher ist, dann glaube ich ihm das auch.«
»Stimmt ja, Anton, stimmt! Ich würde mit ihm darüber genauso wenig diskutieren wie mit einer Schlange über die beste Art, durchs Gelände zu gleiten – selbst dann nicht, wenn ich die Schlange für völlig verrückt halten würde.«
Zehn Minuten später gingen sie von Bord. Allem Anschein nach stand der Hakim-Granden wieder einmal der Sinn nach einem ausgedehnten Einkaufsbummel. Mittlerweile fanden derlei Ausflüge regelmäßig statt.
Gemäß den Raumhafenvorschriften hatten ihr Begleiter und sie das Gelände durch ein Tor auf Bodenniveau zu verlassen, bevor sie eine der Luftverkehrsspuren nutzen durften. Auf dem Gelände unmittelbar hinter diesem Tor hatte sich – wie immer – eine größere Gruppe von Bettlern versammelt. Die meisten davon waren noch recht jung, denn die Zweier hatten schon vor langer Zeit gelernt, dass sich Fremdweltler deutlich eher von Kindern anschnorren ließen.
Die meisten Besucher ignorierten die Bettler und ließen ihr Fahrzeug aufsteigen, sobald sie das Tor hinter sich hatten. Doch die Hakim-Grande schien ein (vermutlich höchst perverses) Vergnügen daraus zu ziehen, den weniger Wohlhabenden höchstpersönlich ein wenig Geld zukommen zu lassen. Und so beugte sie sich, wie jedes Mal, ein wenig aus dem Fenster ihres Fahrzeugs, um einigen Kindern Kreditchips in die schmutzigen Händchen zu drücken.
Obendrein war merkwürdig, dass die Grande die Chips nicht einfach in die Luft warf und zuschaute, wie sich die Kinder darum balgten. Ihr Vorgehen war höchst unhygienisch.
Nun ja, sie konnte sich gewiss die besten Antiseptika und Präventivmedikamente leisten. Und vermutlich gab ihr diese Methode das Gefühl, eine Heilige zu sein.
Sozusagen. Schon drei Tage nach ihrem Eintreffen hatte einer der Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes, der sich um den Luftverkehr kümmerte, der üppig gebauten Hakim-Granden den Spitznamen ›Tittenengel‹ verpasst.
An diesem Tag übertraf sich Yana selbst. Zusätzlich zu dem üblichen Schmuck, den Kunstgegenständen und der äußerst kostspieligen Kleidung hatte sie auch noch eine gestreifte Coramin-Echse von einer der Welten im Astophel-System erstanden. Anton fand das Tier wirklich entsetzlich hässlich – ganz zu schweigen davon, dass es fünfzig Zentimeter lang war und an die zwanzig Kilogramm wog. Doch eines ließ sich nicht bestreiten: Die Haut des Tieres funkelte tatsächlich wie ein Regenbogen.
»Was frisst so ein verdammtes Viech eigentlich?«, fragte er und blickte seine ›Herrin‹ vom Fahrersitz aus über die Schulter hinweg an.
»Zwerge, hat man mir gesagt. Das war der Hauptgrund, mein Echschen zu kaufen.«
»Das mit dem üppigen Busen nehmen Sie mir immer noch übel, oder?«
Das kleine Mädchen, das nach dem Chip mit den darauf verborgenen Daten griff, hieß Lily Berenger. Sie war zwar erst neun Jahre alt, aber sehr gut ausgebildet. Sobald sie von anderen Kinder umringt war, ließ sie den Chip fallen, kreischte auf und bückte sich, um ihn aufzuheben. Augenblicklich ließ sie den Chip im Mund verschwinden und begann sofort einen Kampf mit einem anderen Mädchen – als würden sie sich um genau dieses Objekt streiten.
Besagtes andere Mädchen hieß Magda Yunkers und war Lilys beste Freundin. Zudem arbeitete sie ebenfalls für Hasrul.
Der Streit dauerte eine ganze Weile und sah für jeden Zuschauer ernst genug aus. Ebenso wie alle anderen, die trotz ihres jungen Alters schon Teil des organisierten Verbrechens waren, legten auch Lily und Magda Wert darauf, stets erstklassige Arbeit zu leisten. Die anderen Kinder, die sie immer noch umringten, feuerten sie natürlich nach Kräften an: Die eine Hälfte tat es, weil sie einfach Spaß dabei hatten, einen Kampf zu beobachten, und die andere Hälfte, weil sie Teil der Inszenierung waren.
Letztendlich erwies sich Lily als ›Siegerin‹ des Gefechts. Zwei andere Freunde im Schlepptau, stapfte sie auf die nächstgelegene Transportröhre zu. Genau wie während des ganzen ›Kampfes‹ verbarg sie auch jetzt noch den Chip in ihrer Wange. Sollten Sicherheitskräfte oder Polizei sie anhalten und befragen, würde sie den Chip augenblicklich verschlucken. Wenn die Ordnungshüter nicht zufälligerweise eine Magenpumpe mit sich führten und diese umgehend zum Einsatz brächten, würden die Verdauungssäfte den Chip auflösen, bevor er entdeckt oder gar ausgelesen werden könnte.
Yana hielt Victor zwar für (zumindest ansatzweise) verrückt, weil er bereit war, auf Kinder zu bauen. Doch er wusste genau, was er da tat. Schon zweimal zuvor hatte er eine solche Gruppe Slumkinder zu seinen Helfershelfern gemacht. Nach dem ersten Mal hatte er die Techniker der Systemsicherheit angewiesen, zur Datenweitergabe jenes Material zu entwickeln, das er seitdem stets verwendete.
Das besonders Nützliche daran war dessen leichte Formbarkeit. Mühelos ließ es sich in praktisch jede nur erdenkliche Form gießen: Kreditchips, altmodische Münzen, Kaugummi – einmal hatte Victor sogar einen Spielzeugflugwagen daraus gemacht. Und ganz egal, welche Form man dem Material gegeben hatte: Nach gerade einmal zwei Minuten in einem Kindermagen hatte es sich vollständig in seine Moleküle zersetzt – und nicht eine der dabei entstehenden Verbindungen war in irgendeiner Weise ungewöhnlich oder gar exotisch. Selbst wenn also der Mageninhalt des betreffenden Kindes einer genauesten Untersuchung unterzogen würde, gäbe es keinerlei Spuren, die an der Unschuld des Kindes Zweifel aufkommen ließen.
Victor hatte einen guten Grund, für derlei Einsätze auf Kinder zurückzugreifen: Er war mit der Denkweise von Straßenkindern aus Slums bestens vertraut. Genauso hatte er früher selbst gelebt. Natürlich würden auch Slumkinder unter der Folter irgendwann brechen – das galt für praktisch jeden. Aber gerade Straßenkinder wie diese hingen einem übertriebenen, beinahe schon romantisch verklärten Ehrbegriff an. Wer des Königs Münze nimmt, ist des Königs Mann – diese Denkweise war für sie ganz selbstverständlich. Und sie blieben auch dabei, solange der betreffende König sie anständig behandelte. Straßenkinder tratschten nicht, und sie verrieten ihren König nicht. Zumindest nicht für Geld.
Auch Gangsterbosse wie Dusek und Chuanli verstanden die Denkweise von Straßenkindern – genau deswegen nutzen sie diese ja auch als Fremdenführer in ihren Labyrinthen. Wenn dadurch nun der Eindruck entstünde, patriotische Geheimagenten und allein auf den eigenen Vorteil bedachte Gangster hätten so manches gemeinsam, na ja … nichts Neues für Victor Cachat.
Zu gegebener Zeit – deutlich rascher, als man erwarten sollte – brachte Lily den Chip zu Hasrul Goosens. Dieser wiederum ging damit direkt zu Victor, obwohl Hasrul normalerweise einen der toten Briefkästen genutzt hätte, die Victor extra für ihn eingerichtet hatte.
Die anderen toten Briefkästen, die er ursprünglich für Carl Hansen und dessen Zweierrebellen vorbereitet hatte, konnte Hasrul nicht nutzen: Sie waren für Kinder schlichtweg nicht geeignet. Wenn ein Kind, das ganz offensichtlich auf der Straße lebte, plötzlich in einen Fahrstuhl stieg oder über einen Fischmarkt streunte, würde das automatisch Verdacht erregen, und was, bitte, sollte ein Straßenbengel in einer automatisierten Wahrsagekabine?
Doch Hasrul wollte mit eigenen Augen sehen, zu welchem Ergebnis der Gefallen führte, den er von Achmed – unter dem Namen kannte er Victor – eingefordert hatte. Also steuerte er geradewegs das konspirative Geschäft an, das von Steph Turner geführt wurde – wobei ›geradewegs‹ selbstverständlich nur im übertragenen Sinne zu verstehen war. Hasrul war es durchaus gewohnt, die Zweierbezirke auf längst vergessenen Korridoren unter der Oberfläche des Planeten zu durchqueren. Kein mesanischer Sicherheitsdienstler könnte ihm durch dieses subplanetare Labyrinth folgen, und auch wenn dort unten einige Gefahren lauerten, hielten sie sich doch in Grenzen: In den Korridoren unter den Straßen der Stadt lauerten zwar Raubtiere in Menschengestalt, doch ein verdrecktes Gossenkind, dessen Kleidung sich bestenfalls marginal von Lumpen und Fetzen unterschied, war nicht deren natürliche Beute. Die größte Gefahr bestand darin, jemand gänzlich anderem in die Arme zu laufen: Dort unten lebten bemerkenswert viele Verrückte. Doch die meisten davon waren harmlos, und Hasrul war sich recht sicher, schneller laufen zu können als die, auf die harmlos zu sein nicht zutraf.
Dieses Mal gab es überhaupt keine Schwierigkeiten.
Hasrul rechnete schon damit, der Mann, den er nur als Achmed kannte, werde ihm eine Standpauke zum Thema ›unnötige Verstöße gegen die Sicherheitsbestimmungen‹ halten. Doch Achmed sagte kein Wort, als Steph den Jungen in die hinteren Räumlichkeiten der Boutique führte.
Kein Wort – außer: »Wolltest wohl deine Mutter besuchen, was? Keine Panik, Kleiner, der geht’s prächtig.«
Auf diese Weise bestärkte er Hasrul noch darin, ihm all seine Treue zu schenken – was dieser ohnehin schon tat. Der Junge kam gar nicht auf die Idee, genau dieses Ansinnen könne der Grund für Achmeds unerwartete Reaktion sein … Aber er war schließlich auch erst zwölf Jahre alt. Für sein Alter war er bemerkenswert gerissen, so wie das bei Kindern gar nicht so selten der Fall war. Aber er war eben kein Geheimagent.
Die Medi-Einheit schien Hasrul geradewegs einer Welt voller Zauber und Magie zu entstammen. Er wusste natürlich, dass es Geräte wie dieses tatsächlich gab, aber gesehen hatte er noch nie eines. Für Zweier – ausgenommen die wenigen, die so richtig wohlhabend waren – bedeutete medizinische Versorgung, dass sie früher oder später zu einem Arzt oder einer Krankenschwester vorgelassen würden, die zumindest eine gewisse Ausbildung vorzuweisen hätten … aber eben nur sehr wenige entsprechende medizinische Gerätschaften. Und wenn es überhaupt welche gab, dann waren sie ganz gewiss nicht auf dem neuesten Stand.
Hasrul blickte auf seine Mutter hinab, die in der schalenförmigen Behandlungsliege ruhte. Genauer gesagt wurde ihm dieser Blick durch einen Bildschirm ermöglicht, den Achmed eigens eingeschaltet hatte.
»Schläft sie?«, fragte Hasrul.
»Nicht ganz«, antwortete Achmed. »Eigentlich liegt sie im Koma, aber dieses Koma wurde eben künstlich herbeigeführt, und es wird genauestens überwacht, was dabei geschieht.«
Der Junge blickte auf, und seine gewöhnlich völlig teilnahmslose Miene verriet nun echte Besorgnis. »Aber es geht ihr gut, ja?«
Beruhigend legte ihm Achmed eine Hand auf die Schulter. »Ihr geht’s bestens, Hasrul. Sie war ja nicht verletzt oder so etwas in der Art. Bei ihr hatten sich bloß verschiedene unschöne Krankheiten gleichzeitig zu Wort gemeldet – darunter auch eine schwere Bronchitis und chronische Erschöpfung. Alles zusammengenommen ist das eine wirklich gefährliche Mischung, aber das lässt sich leicht behandeln.«
Als Hasrul hinter sich ein kaum wahrnehmbares Geräusch hörte, warf er einen Blick über die Schulter und stellte fest, dass ein Mann, den er nicht kannte, den Raum betreten hatte.
Anscheinend wusste der Neuankömmling, was es mit Hasruls Mutter auf sich hatte – oder er hatte einen Teil ihres Gespräches mitangehört und daraus seine Schlussfolgerungen gezogen. »Das Ding funktioniert wirklich, Kleiner, glaub’s mir!«, sagte er. Dann hob er das rechte Knie an und klatschte mit der Hand darauf. Die Bewegung fiel ein wenig ungelenk aus, doch das Klatschen war deutlich zu hören. »Noch vor ein paar Wochen hat dieses Knie ausgesehen wie ein mittelgroßer Klumpen Gehacktes. So gut wie neu ist es zwar immer noch nicht, aber das wird schon noch, wenn erst mal …« Mit dem Kinn deutete er in Richtung der Medi-Einheit. »Wenn deine Mutter da rauskommt und ich wieder rein kann.« Mit einem fröhlichen Grinsen setzte er hinzu: »Wir nutzen das Ding schichtweise – Callie, deine Mama, ich und die Neue. Ich heiße übrigens Teddy.«
»Was ist denn mit deinem Knie passiert?«, erkundigte sich Hasrul.
Mit dem Daumen deutete Teddy auf Achmed. »Die Freundin vom Boss hat’s mir zu Klump geschossen.«
»Warum das denn?«
»Na ja, damals war Achmed noch nicht unser Boss. Wir hatten da … öhm …«
»… eine kleinere Meinungsverschiedenheit«, ergänzte Achmed gelassen.
In dem Augenblick betrat eine Frau den Raum. Hasrul blickte zu ihr auf.
Und auf. Und auf. Er kannte sie zwar nicht, aber er wurde das Gefühl nicht los, dass …
»Wenn man vom Teufel spricht«, bemerkte Teddy und warf der unbekannten Frau das gleiche fröhliche Grinsen zu. »Nicht böse gemeint, Evelyn.«
»Hab ich auch nicht so aufgefasst«, gab sie zurück, doch dabei wandte sie den Blick nicht einen Sekundenbruchteil von Hasrul ab.
»Du musst der Junge sein, mit dem Achmed immer und überall angibt«, sagte sie. »Hasrul, richtig? Ich bin Evelyn del Vecchio.«
Er nickte. Zu Treue und Loyalität gesellte sich nun Beklommenheit. Vor Achmed selbst hatte Hasrul nie sonderlich viel Angst gehabt. Aber dessen Freundin …
»Freut mich sehr, Sie kennenzulernen«, sagte er mit fester Stimme. Jegliche andere Form von Reaktion erschien ihm in diesem Moment unklug.
»Na, das ist wohl der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt«, meinte Victor später, nachdem er dazu gekommen war, Antons Zusammenfassung der Daten durchzuschauen. An einer eigenen Datenauswertung versuchte er sich gar nicht erst. Zum einen ging die dafür erforderliche Mathematik weit über sein eigenes Können hinaus. Und wenn man Anton im Team hatte: Warum sollte man sich dann selbst mit derlei Dingen befassen? Das wäre ja, als hätte man einen Sternekoch an seiner Seite, würde aber trotzdem darauf beharren, immer und überall selbst am Herd zu stehen. »Jetzt geht’s bald so richtig los.«
Thandi hatte sich über Victors Schulter gebeugt und so die gleiche Zusammenfassung überflogen. »Wie kommst du denn darauf? Anton sagt doch bloß, dass die Ratten allmählich das sinkende Schiff verlassen. Und er meint selbst, dass die Daten, die ihn darauf schließen lassen, alles andere als eindeutig sind.«
»Wenn Anton sagt, da gebe es ein Muster, ist auch eines da, uneindeutige Daten hin oder her. Und die Sache ist doch die: Wir reden hier nicht vom üblichen Pragmatismus von Ratten, wenn ein Schiff zu sinken droht. Wir reden hier von Ratten, die Fanatiker sind und an einem Langzeitplan arbeiten. Man schmiedet doch nicht sechs Jahrhunderte lang Ränke, bloß um dann letztendlich nur Reißaus zu nehmen.«
Victors Gesichtsausdruck war für Thandi schwer zu deuten: Sie glaubte, so etwas wie Stolz zu erkennen, nein, besser: die Selbstsicherheit, mit der nur ein absoluter Fachmann zu urteilen und Lageeinschätzungen vorzunehmen vermochte, gepaart mit … nun, ja, mit einem Anflug von Schuldbewusstsein.
»Was mich so erschreckt«, erklärte er sich gleich darauf, »ist … nun, dass ich so zu denken verstehe wie diese Ratten – nur, das eigentlich absolut undenkbar sein sollte, was sie denken, und ich denke es trotzdem, zumindest annähernd, fürchte ich. Ergibt das irgendeinen Sinn?«
Doch ja, Thandi konnte ihm durchaus folgen. »Also … was denkst du gerade, was so undenkbar ist?« Sie schüttelte den Kopf. »Meine Herren, was für ein schräger Satz! Noch einmal anders: Was glaubst du, was das Alignment jetzt vorhat?«
»Sich einfach zu verstecken, Thandi, ist für sie gar nicht möglich. Sie müssen jegliche, jemals vorhandenen Beweismittel zerstören, wie es schon die ganze Zeit über ihre Standard-Vorgehensweise ist. Und das Muster, das Anton gefunden hat, passt wie die Faust aufs Auge zu etwas, was mir seit einiger Zeit Kopfschmerzen bereitet.«
»Nämlich?«
»Du hast doch die Nachrichten verfolgt, nicht wahr?«
»Ja, klar. Geht es um die Magellan?«
»Und um diesen Shuttle, der angeblich über den Ganymed-Schluchten abgestürzt ist. Falls du das für einen tragischen Unfall gehalten hast, wärest du viel leichtgläubiger, als ich gedacht habe. Nein, Thandi, das war ebenso gezielte Sabotage wie auf dem Luxuskreuzfahrer. Und dann lautet die nächste Frage: Wer steckt dahinter? Allgemein wird die Schuld dem Ballroom zugeschoben, aber ich bin überzeugt davon, dass das nicht stimmt.«
Thandi schüttelte den Kopf. »Nein, natürlich nicht. Saburos und Jeremys Einweisung diesbezüglich, also was die Frage angeht, wie viele Aktivisten der Ballroom auf Mesa hat, war sehr ausführlich. Zwar wurden selbstverständlich keine Namen genannt, weil …«
»Erstens, weil wir die überhaupt nicht zu wissen brauchen, also bestand keinerlei Grund, gegebenenfalls durch unnötige Informationen die Sicherheit der betreffenden Personen zu kompromittieren. Und zweitens gab es ohnehin nicht viele Namen zu nennen.« Victor wedelte mit Antons Datenchip. »Eines ist daher glasklar: Der Ballroom hat nicht genug Leute vor Ort für so etwas wie diese Magellan-Sache.«
»Also meinst du, das Ganze ist ein gezielter Akt der Provokation.« Thandis Tonfall nach war das unmissverständlich eine Feststellung, keine Frage.
»Ja, aber … etwas stimmt daran nicht.«
Thandi runzelte die Stirn. »Was meinst du denn? Mir scheint das Ganze doch ziemlich typisch«, und leierte dann auch sofort das üblicherweise vorgetragene Szenario herunter: »Die bösen Terroristen vom Ballroom arbeiten rund um die Uhr daran, immer schlimmere Schurkereien auszuhecken. Die Untaten sind allesamt gegen das Volk gerichtet und so grauenhaft, wie sie nie zuvor auch nur ersonnen wurden … bla, bla, bla«, und wechselte wieder in den normalen Tonfall: »Was stimmt denn daran nicht?«
Victor lachte leise in sich hinein. »Stimmt, so klingt es ziemlich typisch. Aber es stimmt etwas daran nicht, und zwar, dass ständig darauf herumgeritten wird, zu was der Ballroom alles in der Lage ist, verstehst du? Es wird ständig und ohne Unterlass betont. Das aber ist genau das Gegenteil davon, wie man eigentlich mit revolutionären oder allgemein mit oppositionellen Gruppen umgeht. Was das betrifft …«, er räusperte sich, »… kenne ich mich ein wenig aus, schließlich wurde ich von Oscar Saint-Just persönlich ausgebildet. Er war ein Unmensch, keine Frage, aber rein fachlich gesehen, hatte er etwas auf dem Kasten.«
Nun grinste Thandi. »Na, jetzt bin ich aber gespannt: eine Lektion darüber, wie man Missetaten begeht, vorgetragen von einem Meister seines Fachs!«
»Spotte ruhig, aber dir wird das Lachen gleich vergehen! Bei Propaganda gegen solche inneren Feinde ist Fingerspitzengefühl und die richtige Wortwahl entscheidend: Einerseits sollte die Schändlichkeit des Gegners betont werden, aber andererseits gilt es dessen staatszersetzende Möglichkeiten, seine Macht, herunterzuspielen. Man will doch nicht das gegnerische Image noch verbessern, indem man deren Können betont, um Gottes willen!«
»An Gott glaubst du doch überhaupt nicht.«
»Sehr witzig«, meinte Victor und fuhr dann fort: »Aber im Ernst: Ziel kann nicht sein, sich selbst als machtlos hinzustellen und so auch noch Werbung für den Gegner zu machen, sozusagen die Bevölkerung auf folgende Idee zu bringen: Wow! Wenn die echt so gut sind, dann sollte ich vielleicht bei denen mitmachen! Verstehst du, was ich meine?«
Nachdenklich runzelte Thandi die Stirn. »Jetzt, wo du es so sagst …« Sie blickte zum Wandbildschirm hinüber. »Die Meldungen über den Ballroom wirken beinahe … na ja, Lobeshymne ist nicht das richtige Wort, aber …«
»… aber trifft es, denn abschätzig ist nicht, was man über den Ballroom verlauten lässt«, griff Victor ihren Gedanken auf. Er schüttelte den Kopf. »Da stimmt was ganz gewaltig nicht, Thandi! Die richtige Taktik, die richtige Reaktion auf einen Terrorakt besteht in Herabsetzung und Hohn. Es müssen einfach Worte wie ›feige‹ fallen, auch wenn der Begriff ›feiger Terrorismus‹ ein völlig idiotischer Pleonasmus ist.«
»Okay, so weit verstanden. Und was heißt das jetzt für uns?«
Er stand auf und musterte mit kritischem Blick den Raum, Wände, Decken, Türstürze, alles. »Das bedeutet, wir sollten froh sein, dass Andrew diese Press-Emitter mitgebracht hat. Ab sofort schlafen alle im untersten Untergeschoss – genau da, wo er die Dinger aufgestellt hat.«
Endlich begriff Thandi, worauf er hinauswollte. »Himmel noch mal! Meinst du wirklich, die könnten derart skrupellos sein?«
Er warf ihr jene Sorte Blick zu, die sich nur mit ungerührt und unterkühlt beschreiben ließ – ein Blick, den Victor Cachat besser beherrschte als jeder andere, dem Thandi je begegnet war. »Wir reden hier von den Leuten, die seit mehr als einem halben Jahrtausend Millionen und Abermillionen von Menschen zu Sklaverei und einem Leben voller Agonie und Brutalität verdammt haben. Selbstverständlich sind diese Leute derart skrupellos!«
In einer leidlich luxuriösen Hotelsuite anderenorts in Mendel fasste eine Enthüllungsjournalistin, die gemeinhin als eine der besten der gesamten Solaren Liga angesehen wurde, ihre eigenen Vermutungen gerade in Worte.
»Daran, Verehrtester, stinkt wirklich alles zum Himmel!«, stellte Audrey O’Hanrahan nachdrücklich fest. »Glauben Sie tatsächlich, Sie könnten mir einen Bären aufbinden, wie es so schön heißt, oder besser«, setzte sie neu an, als sie Unverständnis für diese alte Redewendung bei ihrem Gegenüber vermutete, und lachte dabei rau, »ein Mantikor? Das haben wir doch hier vor uns, stimmt’s? Ein Fabelwesen, aus den Körperteilen verschiedenster Tiere auf hanebüchene Weise zusammengebastelt, das Sie mir jetzt als echtes Tier unterzujubeln versuchen. Aber so leichtgläubig bin ich nicht!«
Der mesanische Presseoffizier, der O’Hanrahan über den kleinen Schreibtisch in ihrer Suite hinweg anblickte, wirkte zutiefst verletzt. Oder besser gesagt: Er gab sich redlich Mühe, so zu wirken. O’Hanrahan war sich recht sicher – und das gleich aus einer Vielzahl von Gründen, dass seine Entrüstung gespielt war.
»Audrey«, setzte er an und wählte seinen Tonfall mit Bedacht. Es war ein Tonfall, der an die Vernunft des Gegenübers appellierte, unterlegt mit der richtigen Menge Geduld für Uneinsichtige und einem Anklang daran, dass sich jede Geduld, auch die des Geduldigsten, irgendwann erschöpfte. »Ich versichere Ihnen …«
Sie winkte ab. »Ersparen Sie mir das, Kyle! Warum blasen Sie diese sogenannte Ballroom-Bedrohung derart auf? Und für wie dumm halten Sie mich, darauf hereinzufallen? Haben Sie es schon vergessen: Ich war das, die über die Zeit unmittelbar nach der Green-Pines-Sache berichtet hat, ich!«
Sofort widersprach er: »Jetzt mal halblang! Sie sind doch erst hier eingetroffen, nachdem …«
»Ich bin früh genug vor Ort gewesen! Und es war ja auch nicht so, als wären Ihre Sicherheitskräfte sonderlich diskret vorgegangen. Da hat es keinerlei Schwierigkeiten gegeben, deren Vorgehensweise genauestens zu dokumentieren. Rücksichtslos und brutal war das Vorgehen, und ich habe alles dokumentiert!«
Audrey war jetzt so wütend, dass sie sicher gleich platzte – so jedenfalls erlebte Kyle Fraenzl sie gerade.
»Sie alle können sich verdammt glücklich schätzen, dass meine Produzenten mich davon überzeugt haben, zumindest das erdrückendste Beweismaterial aus den Aufzeichnungen nicht zu senden«, schleuderte sie ihm entgegen. »Aber davon einmal abgesehen: Sie – ja, Sie persönlich! – haben mir immer und immer wieder versichert, wie gründlich und, jawohl!, vollständig Mesas Sicherheitskräfte den Ballroom aufgespürt und vernichtet hätten. Das waren Ihre Worte, nicht etwa meine! Um genau zu sein, haben Sie damals behauptet – und ich zitiere hier wieder lediglich Ihre eigenen Worte, nicht einmal klägliche Reste seien noch verblieben. Wobei ich mir erlaube anzumerken, dass mir das schon damals reichlich albern erschien!«
Kyle Fraenzl erstarrte förmlich vor Entrüstung. Es war dringend nötig, derart dick aufzutragen, denn diese Entrüstung war nach wie vor nur aufgesetzt. O’Hanrahans Geduldsfaden mit dem Pressesprecher riss.
»Jetzt kommen Sie schon, Kyle! Es hat doch keinen Sinn, mir etwas vorzuspielen, also lassen Sie es gefälligst! Wir wissen doch beide, dass nur eines von beidem die Wahrheit sein kann: Entweder Sie haben damals gelogen, oder Sie lügen jetzt. Was ist es denn nun?«
Er rümpfte die Nase und blickte aus dem Fenster.
»Dort draußen gibt es nichts zu sehen – außer endlosem Nieselregen!«, erklärte sie ihm unerbittlich. »Wir befinden uns in eintausend Metern Höhe. Also hören Sie mit der Zeitschinderei auf. Lügen in der Vergangenheit, Lügen in der Gegenwart – nach Lügen in der Zukunft frage ich ja gar nicht! Dass die kommen, ist ja jetzt schon klar! Aber womit habe ich es hier und jetzt zu tun?«
Fraenzl war das Unglück beschieden, schon in der Vergangenheit mit Audrey O’Hanrahan zu tun gehabt zu haben. Das Mesanische Direktorat für Kultur und Information hatte ihn ihr nach dem Green-Pines-Desaster als Kontaktmann zugewiesen, und schon damals war O’Hanrahan nicht gewillt gewesen, ihm Glauben zu schenken. Wie jetzt. Andere Medienfritzen verstanden wenigstens, dass sie zumindest so zu tun hätten, als glaubten sie an den Wahrheitsgehalt seiner Verlautbarungen – zwinker-zwinker, kniep-kniep, Sie verstehen schon! Sie wollten ja auch darauf hoffen dürfen, über offizielle Stellen noch auf Informationen zugreifen zu können. Aber für Audrey O’Hanrahan galt das natürlich nicht! Das Schlimmste daran: Er wusste genau, dass es überhaupt keinen Sinn hatte, ihr auszuweichen – sie würde nachbohren und nachbohren. Dummerweise war sie außerhalb des Mesa-Systems entschieden zu bekannt, als dass man auch nur in Erwägung hätte ziehen können, sie auflaufen zu lassen, bis sie aufgäbe. Wenn er so etwas versuchte, würde er damit der gesamten Galaxis lauthals verkünden, es müsse dafür einen wirklich guten Grund geben – und O’Hanrahan damit eine noch bessere Bühne für ihre Berichte. Sie stand nun einmal in dem Ruf, eine integre Journalistin zu sein – ganz zu schweigen davon, dass sie sich nicht einmal bei den Mächtigsten der Mächtigen scheute, geradewegs ans Eingemachte zu gehen. Das Letzte, was Mesa derzeit, in diesem historischen Moment, gebrauchen konnte, wäre jene Sorte PR-Desaster, wie es eine Audrey O’Hanrahan herbeiführen konnte. Also blieben Kyle Fraenzl nur zwei Möglichkeiten: Entweder seine Antworten auf ihre Fragen bargen ein zumindest vernünftiges Mindestmaß an Wahrheitsgehalt, oder er rauschte hier und jetzt verschnupft ab.
Er persönlich hätte sich ja für das verschnupfte Abrauschen entschieden. Ja, genau einen solchen Abgang konnte er eigentlich kaum erwarten. Aber er hatte seine Anweisungen vom Direktor für Kultur und Information persönlich erhalten.
»Was auch immer Sie tun«, hatte ihm Direktor Lackland gesagt, »lassen Sie O’Hanrahan auf keinen Fall einfach stehen! Mein Leben wäre weiß Gott schöner, hätte sie nicht ihre Nase in diese Angelegenheit hineingesteckt, aber das lässt sich nun einmal nicht mehr rückgängig machen. Den Eindruck zu erwecken, wir würden ihr etwas vorenthalten, können wir uns also nicht leisten. Dann schlägt sie nämlich dermaßen Radau, dass es mehr Schaden anrichtet als alles andere. Jedes dritte Wort, dass sie in ihrer Berichterstattung verwendet, wäre dann ›ausweichend‹, ›heuchlerisch‹ oder ›verlogen‹.«
Also hatte Fraenzl nur eine Möglichkeit: seinen Anweisungen buchstabengetreu zu folgen – so schlecht ein gewisser Kyle Fraenzl dann auch dastünde.
»Im Nachhinein betrachtet …«, er räusperte sich, »waren wir möglicherweise überoptimistisch.«
»Möglicherweise?«
Ihr Ton troff vor Sarkasmus, und Fraenzl biss die Zähne zusammen. Augen zu und durch.
»Na gut, wir waren überoptimistisch.«
»Na, so etwas! Mit dem Wörtchen ›über‹ hat man es wohl auf Mesa! Sie waren übereilt überoptimistisch, wo Ihre Sicherheitskräfte nach Green Pines übereifrig waren, wobei … übereifrig ist natürlich geschönt: Ihr Vorgehen war blutrünstig. Und jetzt wollen Sie mich davon überzeugen, mich, eine Zeugin des Geschehens, dass sie nicht nur überaktiv, sondern mit der ihnen gestellten Aufgabe überbeansprucht und überfordert waren und, nachdem sie einmal Blut geleckt hatten, bei all dem Hauen und Stechen, Töten und Morden vollkommen den Überblick verloren hatten und nichts, aber auch gar nichts erreicht haben? Da hat sich ja dann wohl Ihr Sicherheitsdienst selbst übertroffen!«
Fraenzl ertappte sich dabei, die Journalistin mit finsteren Blicken nachgerade zu durchbohren. Der Sarkasmus dieser Frau war ja wohl kaum noch zu übertref … Er lief puterrot an vor Wut.
Sie aber lächelte ihn breit an, und das Lächeln hatte etwas von dem, was sie gerade den Sicherheitskräften des Planeten unterstellt hatte: etwas Übereifriges, das zeigte, wie sehr sie Blut geleckt hatte.
»Sie sollten ein wenig auf Ihren Blutdruck achtgeben, Kyle«, sagte sie. »Abgesehen davon möchte ich Sie natürlich nicht überstrapazieren, aber ich warte immer noch auf eine Antwort.«
Als Fraenzl schließlich ging, hatte ihm O’Hanrahan ein offizielles Eingeständnis abgepresst: Die Lageeinschätzung der Planetaren Sicherheitsdienste nach dem Green-Pines-Zwischenfall sei, zumindest was das Zerschlagen der Ballroom-Terrorzellen auf Mesa betreffe … aufgrund einer gewissen Voreingenommenheit optimistisch verzerrt gewesen. Das war die Formulierung, die er letztendlich wählte, nachdem ihm beinahe ›übertrieben‹ und ›überschätzt‹ herausgerutscht wären. Aber Worte mit ›über‹ gingen ja nun gar nicht!
Die Unfähigkeit von Regierungsvertretern, Fehler einzugestehen – Gleiches galt für Unternehmenssprecher, die eigentlich nur eine Unterart der gleichen Spezies waren, überraschte Audrey O’Hanrahan stets aufs Neue. Ein einfaches ›Okay, wir haben uns geirrt‹ oder ›Jou, das haben wir richtig verbockt‹ würde langfristig viel weniger Schaden anrichten als jenes schönfärberische Wortgeklingel, auf dem sie in derlei Situationen unweigerlich bestanden.
Aufgrund einer gewissen Voreingenommenheit optimistisch verzerrt. An dieser Formulierung würde sie sicher noch jede Menge Spaß haben!
Sie stieß sich vom Schreibtisch ab und trat ans Fenster. Als Chefreporterin von Der Wahrheit auf der Spur, dem meistgesehenen Enthüllungsjournalismus-Magazin auf Alterde war sie mit einem großzügigeren Spesenkonto ausgestattet als andere. Daher hatte sie sich den Luxus leisten können, ein Zimmer mit Blick auf eine echte Landschaft statt auf Straßenschluchten zu mieten, die den Großteil des modernen Stadtkerns ausmachten. Von ihrem derzeitigen Aufenthaltsort aus konnte O’Hanrahan bis zum Rand der Hochebene blicken, auf der Mendel lag.
Zumindest hätte sie bis dorthin blicken können, wäre es nicht bedeckt und regnerisch gewesen. Das schlechte Wetter störte sie aber eigentlich nicht, denn nicht der Anblick war für sie entscheidend, sondern tatsächlich der Ausblick: Sie hatte schon vor langer Zeit festgestellt, dass den Blick schweifen lassen zu können ihr dabei half, sich zu konzentrieren.
Gedankenverloren drehte sie eine ihrer kastanienbraunen Locken um den Zeigefinger und kniff die kristallblauen Augen zusammen. Sie dachte über ihren Auftrag auf Mesa nach – ihren wahren Auftrag, der zu den schwierigsten Aufgaben gehörte, mit denen man sie je betraut hatte.
Dreißig T-Jahre hatte Audrey O’Hanrahan darauf verwendet, sich einen Ruf als gewissenhafte und unvoreingenommene Reporterin zu erarbeiten. Jetzt galt sie als Speerspitze des Enthüllungsjournalismus in der Solaren Liga, wenn nicht gar im gesamten von Menschen besiedelten Weltraum. Immer wieder hatte sie es bewiesen: Wenn Audrey O’Hanrahan sagte, etwas sei wahr oder gelogen, dann konnte man sich auf diese Aussage verlassen. Wie jedem anderen unterliefen auch ihr hin und wieder Fehler, gar keine Frage. Doch jeder Fehler, den sie machte, wurde umgehend in aller Öffentlichkeit eingestanden und richtiggestellt. Vor allem aber konnte man sich darauf verlassen, dass ihre Berichte unparteiisch waren. Niemand hatte sie je beschuldigt, sie sei tendenziös, um auf diese Weise eine vorgefasste Meinung zu untermauern oder Seilschaften gegenüber loyal zu sein … zumindest niemand, der dabei nicht offenkundig eigennützige Zwecke verfolgt hätte.
Natürlich gab es, so wie bei jedem anderen Menschen auch, einige Facetten ihrer Persönlichkeit und ihres Privatlebens, die sie ganz für sich behielt – zum Beispiel, dass sie einer mesanischen Alpha-Linie entstammte.
Dieser Gedanke entlockte ihr ein leises Lächeln. Ihr sorgsam designter Genotyp verschaffte ihr gewisse … Vorteile gegenüber den reinblütigen Menschen in ihrem Umfeld. Doch auch sie hatte hart und lange arbeiten müssen – jahrelang!, um sich ihre aktuelle Vertrauensstellung ebenso zu verdienen wie ihren Ruf als Skandalmacherin. Das vielleicht Ironischste an der ganzen Sache: Sie war wirklich eine Skandalmacherin. Sie lebte dafür, Doppelzüngigkeit, Korruption und Machtmissbrauch zu enthüllen. Es mochte eigentümlich erscheinen, dass ein Mensch, der sein ganzes Leben der ältesten, bestverborgenen Verschwörung in der Geschichte der Galaxis widmete, so dachte und handelte. Doch Audrey O’Hanrahan verabscheute Gier, Habsucht und Selbstverliebtheit, die so oft hinter Korruption und Ränkespielen standen. Und gerade dass ihr Abscheu so aufrichtig war, dass sie jede ihrer Reportagen mit so viel Leidenschaft vorantrieb, war eine ihrer großen Stärken: Nur so hatte sie sich ihren voll und ganz verdienten und zu recht gefürchteten Ruf erarbeitet.
Die Medaille hatte eine Kehrseite: den verborgenen Grund, weswegen es für das Alignment so wichtig war, dass Audrey O’Hanrahan allgemein als jemand anerkannt war, der unbequeme Wahrheiten aussprach und ein David war, der sogar Riesen erschlug.
Wie stets waren ihre Anweisungen im eigentlichen Sinne nicht vage gewesen, sondern ließen vielmehr … ausreichend Handlungsspielraum. Obwohl ihre Verbindung nach Mesa bestens abgesichert gewesen war, hatten ihre Vorgesetzten von übermäßig klaren, ausdrücklichen Befehlen abgesehen. Das, zu diesem Schluss war Audrey O’Hanrahan schon vor langer Zeit gekommen, gehörte zu den Gütesiegeln eines wahren Verschwörers. An sich erschien ihr ein solches Vorgehen auch sinnvoll, selbst wenn es den Leuten im Einsatz gelegentlich die Arbeit ein wenig erschwerte. Trotzdem: Sie entstammte einer Alpha-Linie. Zwischen den Zeilen zu lesen, hatte sie ungefähr zur gleichen Zeit gelernt wie Sprechen. Na ja, zumindest war sie eine Meisterin darin, als sie ihren High-School-Abschluss in der Tasche hatte und als Agentin für den aktiven Einsatz angeworben worden war. Die grundlegenden Parameter ihres Einsatzes waren ihr klar, und sie fand interessant, dass man ihr dieses Mal auffällig präzise Anweisungen erteilt hatte: Sie sollte eine kleine Suite in einem mittelpreisigen Hotel namens Huntington Arms buchen. Warum, so fragte sie sich, legte man Wert darauf, dass sie gerade in diesem Hotel unterkam? Derlei Entscheidungen überließ man ansonsten ganz ihr.
Doch allmählich wurden ihr die Gründe für diese Entscheidung klarer. Und allmählich glaubte sie auch zu verstehen, warum ihre Vorgesetzten ihr all die anderen konkreten Anweisungen erteilt hatten.