36,99 €
Magisterarbeit aus dem Jahr 2009 im Fachbereich Germanistik - Sonstiges, Note: 2,3, Universität Duisburg-Essen, Sprache: Deutsch, Abstract: Die vorliegende Magisterarbeit befasst sich mit dem Phänomen des Zufalls in den ersten beiden Kriminalerzählungen Dürrenmatts „Der Richter und sein Henker“ (1952) und „Der Verdacht. Ein Kriminalroman“ (1953), sowie mit dem vierten Roman „Das Versprechen. Requiem auf den Kriminalroman“ (1958). Die der Arbeit zu Grunde liegende These ist, dass dem literarischen Zufall eine Sonderstellung im Werk des Autors zukommt, sowohl als Kompositionsprinzip sowie als Ereignis und als Bestandteil der Gedankenwelt der Figuren. Aus rein pragmatischer Sicht war es nicht möglich eine ausführliche Behandlung aller vier Erzählungen im Rahmen des der Arbeit vorgegeben Umfang zu gewährleisten. Um andererseits nicht auf der Oberfläche verhaften zu bleiben, musste eine Erzählung ausgeklammert werden. Dass dabei die Wahl auf die genannten Erzählungen, unter Ausschluss des dritten Romans „Die Panne“, fiel, lässt sich damit begründen, dass die drei Erzählungen als Kriminaltrilogie über die ausschlaggebende Rolle des Zufalls in der Welt und dem menschlichen Leben eine Einheit bilden, während „Die Panne“ außen vor bleibt. So bilden zunächst der „Der Richter und sein Henker“ und „Der Verdacht“ eine Einheit, da sie als Fortsetzungsromane unmittelbar hintereinander geschrieben wurden. Protagonist beider Romane ist der Kommissar Bärlach und auch temporal, im Hinblick auf die erzählte Zeit, stellt die Erzählung „Der Verdacht“ eine Kontinuität zu vorhergegangen her. Durch zwei konträr zueinander angelegte Antagonisten Bärlachs akzentuiert Dürrenmatt eine jeweils andere Zufallsproblematik, die den komplementären Charakter der beiden Erzählungen ausmacht. „Das Versprechen“ bildet den Schlussstein bei der Auseinandersetzung des Autors mit der Gattung der Kriminalerzählung mittels des Zufalls. Noch stärker als in den vorangegangenen Erzählungen, wird der Zufall hier zur strukturbestimmenden Kategorie. Hartmut Kircher, der an dieser Stelle stellvertretend für die in der Forschung vorherrschende Meinung herangezogen werden soll, geht davon aus, dass die ersten beiden Romane den letzten vorbereiten. „Der Zufall stellt eine Art zyklischer Verbindung zwischen den drei Texten her.“ Dieser These schließt sich die vorliegende Arbeit an.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Impressum:
Copyright (c) 2013 GRIN Verlag GmbH, alle Inhalte urheberrechtlich geschützt. Kopieren und verbreiten nur mit Genehmigung des Verlags.
Bei GRIN macht sich Ihr Wissen bezahlt! Wir veröffentlichen kostenlos Ihre Haus-, Bachelor- und Masterarbeiten.
Jetzt beiwww.grin.com
1. Vorwort
2. Theoretische Überlegungen – Der literarische Zufall
2.1. Der Zufall im Werk Friedrich Dürrenmatts
2.2. Typologisierungsversuch des Zufalls in den Kriminalerzählungen Dürrenmatts
3. „Der Richter und sein Henker“
3.1. Die zweite Vorgeschichte – Die „Wette“, ein „Spiel“
3.2. Die erste Vorgeschichte – Ein „Alltagsverbrechen“
3.3. Bärlach. Der „unerbittliche Schachspieler“
3.4. Das „Spiel“ findet sein Ende – „Dann waren Sie der Richter und ich der Henker“
3.5. Abschließende Gedanken und Ausblicke
4. „Der Verdacht“ – wie Hans Bärlach vom Zufall verlassen wird.
4.1. Drei Vorgeschichten.
4.2. Die Detektion – „Das Mögliche und das Wahrscheinliche sind nicht dasselbe.“
4.3. „Zweiter Teil“ – Ankunft in der Kälte „Sonnensteins“
4.4. Die Überwältigungsgeschichte
4.5. Abschließende Gedanken und Ausblicke
5. „Das Versprechen“
5.1. Der Fall Gritli Moser – „Die Gerechtigkeit hat gesiegt“
5.2. Matthäi nimmt die Detektion auf
5.3. Wahnsinn als System: Raubfische fängt man mit etwas „Lebendigem“
5.4. Abschließende Gedanken und Ausblicke
6. Nachwort
7. Literaturangaben
1. Vorwort
Die vorliegende Magisterarbeit befasst sich mit dem Phänomen des Zufalls in den ersten beiden Kriminalerzählungen Dürrenmatts „Der Richter und sein Henker“ (1952) und „Der Verdacht. Ein Kriminalroman“ (1953), sowie mit dem vierten Roman „Das Versprechen. Requiem auf den Kriminalroman“ (1958).[1] Die der Arbeit zu Grunde liegende These ist, dass dem literarischen Zufall eine Sonderstellung im Werk des Autors zukommt, sowohl als Kompositionsprinzip sowie als Ereignis und als Bestandteil der Gedankenwelt der Figuren.
Aus rein pragmatischer Sicht war es nicht möglich eine ausführliche Behandlung aller vier Erzählungen im Rahmen des der Arbeit vorgegeben Umfang zu gewährleisten. Um andererseits nicht auf der Oberfläche verhaften zu bleiben, musste eine Erzählung ausgeklammert werden. Dass dabei die Wahl auf die genannten Erzählungen, unter Ausschluss des dritten Romans „Die Panne“, fiel, lässt sich damit begründen, dass die drei Erzählungen als Kriminaltrilogie über die ausschlaggebende Rolle des Zufalls in der Welt und dem menschlichen Leben eine Einheit bilden, während „Die Panne“ außen vor bleibt.
So bilden zunächst der „Der Richter und sein Henker“ und „Der Verdacht“ eine Einheit, da sie als Fortsetzungsromane unmittelbar hintereinander geschrieben wurden. Protagonist beider Romane ist der Kommissar Bärlach und auch temporal, im Hinblick auf die erzählte Zeit, stellt die Erzählung „Der Verdacht“ eine Kontinuität zu vorhergegangen her. Durch zwei konträr zueinander angelegte Antagonisten Bärlachs akzentuiert Dürrenmatt eine jeweils andere Zufallsproblematik, die den komplementären Charakter der beiden Erzählungen ausmacht.
„Das Versprechen“ bildet den Schlussstein bei der Auseinandersetzung des Autors mit der Gattung der Kriminalerzählung mittels des Zufalls. Noch stärker als in den vorangegangenen Erzählungen, wird der Zufall hier zur strukturbestimmenden Kategorie. Hartmut Kircher, der an dieser Stelle stellvertretend für die in der Forschung vorherrschende Meinung herangezogen werden soll, geht davon aus, dass die ersten beiden Romane den letzten vorbereiten. „Der Zufall stellt eine Art zyklischer Verbindung zwischen den drei Texten her.“[2] Dieser These schließt sich die vorliegende Arbeit an.
Die Wahl des Themas ist dadurch legitimiert, dass in der jüngeren Dürrenmatt- Forschung vor allem die Aufmerksamkeit auf das zu Lebzeiten des Autors unterschätzte epische Spätwerk fällt. Ján Jambor geht dabei davon aus, dass es wichtige Zusammenhänge zwischen Dürrenmatts Spätwerk und seinen früheren Romanen, unter anderem bezüglich des Zufalls, gebe. Somit kann die Untersuchung der Grundlagen und Anfänge Dürrenmatts epischen Werks auch neue Impulse und Bereicherungen für die Beschäftigung mit dem Spätwerk geben.[3]
Seit den 70er Jahren versucht die literaturwissenschaftliche Germanistik, den Zufall in den Texten Dürrenmatts systematisch zu erforschen. 1971 erscheint die Studie Ulrich Profitlichs „Der Zufall in den Komödien und Detektivgeschichten Dürrenmatts“, die, wie dem Titel zu entnehmen, die Zufallsproblematik in der epischen Kriminalliteratur aus den 50er Jahren berücksichtigt. Die fünf Jahre später erscheinenden Arbeit Wlodzimierz Bialiks „Der Zufall in der Detektivgeschichte Friedrich Dürrenmatts“, die später zum Bestandteil der Dissertation „Die Ästhetisierung der Kategorie des Zufalls im deutschsprachigen Roman des 20. Jahrhunderts“ wird, erhebt die Problematik zum Hauptgegenstande der Untersuchung.
Ebenfalls in den 70er Jahren erscheinen die Untersuchungen von Donald G. Daviau (1972) und Bodo Fritzen (1974). Sie sind aber nur bedingt von Interesse, da sie keine Typologisierungsversuche mit sich bringen, die auf die epische Kriminalliteratur des Autors übertragbar wären.
In den 80er Jahren erscheint dann ein Artikel David Rocks „A Wager Lost – some Thoughts on the Role of Chance in Dürrenmatt“ (1987). Tatsächlich werden hier alle vier Kriminalerzählungen Dürrenmatts bedacht, jedoch beschränkt sich der Autor auf die inhaltliche Ebene und skizziert nur einige Gedanken über die Rolle des Zufalls. Von einer Typologisierung kann nicht die Rede sein. Ebenfalls in den 80er Jahren veröffentlicht Edgar Marsch „Die Kriminalerzählung. Theorie – Geschichte – Analyse.“ (1983). Wenn auch diese Veröffentlichung vornehmlich der Kriminalerzählung als solcher gewidmet ist, findet sich hier ein längerer, sehr aufschlussreicher Abschnitt über die Demontage des klassischen Kriminalromans. Alle vier Kriminalerzählungen Dürrenmatts werden bedacht und unter Berücksichtigung Dürrenmatts theatertheoretischer Schriften und der besonderen Rolle des Zufalls analysiert.
1993 veröffentlicht Nae-Keum Lee ihre deutlich umfangreichere Dissertation „Friedrich Dürrenmatts Konzeption des Zufalls unter besonderer Berücksichtigung der ‚Physiker’“. Als Grundmodell der Zufallkonzeption zieht die Autorin jenes im Titel erwähnte Stück heran. Allerdings ist auch diese Arbeit wenig von Interesse, da die anderen Stücke Dürrenmatts nur bedingt berücksichtigt werden und die epische Literatur gar nicht bedacht wird. Die Ergebnisse Nae-Keum Lees beziehen sich fast ausschließlich auf „Die Physiker“ und lassen sich methodologisch nicht auf die Kriminalliteratur des Autors anwenden.
Die jüngste Studie, „Die Rolle des Zufalls bei der Variation der klassischen epischen Kriminalliteratur in den Bärlach-Romanen Friedrich Dürrenmatts“ von Ján Jambor, erschien im Jahr 2007. Der vielversprechende Titel kann die evozierten Erwartungen erfüllen. Nach einer detaillierten literaturtheoretischen und -historischen Einführung in die epische Kriminalliteratur als solche werden die Ergebnisse dieser Einführung auf das epische Werk Dürrenmatts übertragen. In einem weiteren Schritt kommt es zu einer methodologischen Einführung in die Problematik der Analyse und Interpretation des Zufalls in Dürrenmatts Texten. Im finiten Schritt wird die Analyse der Bärlach Romane „Der Richter und sein Henker“ und „Der Verdacht“ vollzogen.[4]
Blättert man die Sekundärliteratur zur Frage der Kriminalgeschichte nur oberflächlich durch, stellt man unmittelbar fest, dass das Hineinkonstruieren des literarischen Zufalls in diesem Genre als illegitim gilt. Wenn der Zufall doch Einzug hält, dann darf er keineswegs ausschlaggebende Rolle in der Aufklärung des Verbrechens spielen. In der kausalbedingten, präparierten und schematisierten heilen Welt des Detektivromans trägt der Detektiv durch logische Schlussfolgerungen immer den Sieg davon.
Kriminalromane mussten Dürrenmatt deshalb faszinieren, weil in ihnen die Stimmigkeit der Welt bis zum Exzess geführt wird, was für einen nicht naiven Menschen wie Dürrenmatt natürlich ein Absurdum sein muss. Die Möglichkeit, das traditionelle Kriminalschema zu parodieren, reizte Dürrenmatt und erwies sich zugleich als Entspannung und Erholung von seiner dramaturgischen Arbeit. Dabei nahm Dürrenmatt im Laufe der Beschäftigung mit dem Genre immer stärker Anstoß an den Konventionen der Gattungsstruktur, indem er seine eigene Weltsicht der des klassischen Kriminalromans gegenüber stellte.
Was bewegte Dürrenmatt also, sich trotz seines der Gattungskonvention widersprechenden Weltbilds, sich mit dem Genre auseinanderzusetzen?
Aus der Entstehungsgeschichte der drei Kriminalerzählungen geht hervor, dass ihr unmittelbarer Anlass Anfang der 50er Jahre eine schwierige finanzielle Situation war, bedingt durch mehrere Faktoren: Die wirtschaftlich nicht ausreichenden Einnahmen als Theaterkritiker für die „Weltwoche“, die Auflösung des Kabaretts „Cornichon“ als eine vertraglich gesicherte Einnahmequelle, der notwendige Spital-Aufenthalt Dürrenmatts, bei dem Diabetes diagnostiziert wurde und der Krankenhausaufenthalt seiner schwangeren Frau.
Die Entwürfe hatten essentiell ein Gestaltungsprinzip zur Grundlage: Ihre Thematik musste direkt verleger- und indirekt publikumswirksam sein, um dem Autor das nötige Geld einzubringen. Der Bestseller der damaligen Zeit hieß in der Schweiz Kriminalroman. Populär war schon in den 30er Jahren „Der Wachtmeister Studer“ von Friedrich Glauser. Den sensationellen Erfolg aber verbuchte 1950/51 die vom Rundfunk ausgestrahlte Kriminalserie „Inspektor Wäckerli“.[5]
In den Selbstaussagen Dürrenmatts findet man zudem einige sich widersprechende Selbstaussagen über seine Hinwendung zur Gattung.
„Wie besteht ein Künstler in einer Welt der Bildung, der Alphabeten? Eine Frage, die mich bedrückt, auf die ich noch keine Antwort weiß. Vielleicht am besten, indem er Kriminalromane schreibt, Kunst da tut, wo sie niemand vermutet. Die Literatur muss so leicht werden, daß sie auf der Waage der heutigen Literaturkritik nichts mehr wiegt: Nur so wird sie wieder gewichtig.“[6]
Diese ältere und damit aber entstehungsgeschichtlich näher an den Kriminalerzählungen liegende Aussage steht im Gegensatz zu den Überlegungen Friedrich Dürrenmatts kurz vor seinem Tod, die durch Michael Haller dokumentiert sind. Hier treten gattungsästhetische und –philosophische Motive deutlich in den Hintergrund und die Reflexionen des Autors bekommen einen programmatischen, aber auch etwas bitteren Charakter.
„[…] ich kann heute schreiben was ich will […]. Das kann ich mir heute leisten. […] Ich schreibe heute keine Kriminalromane mehr. Ich habe sie geschrieben, als ich es nötig hatte zu schreiben. Heute kann ich schreiben, was ich will.“[7]
Der Wahrheitsgehalt der Selbstaussagen des Autors soll aber nicht Gegenstand der hier vorliegenden Untersuchung sein. Von Interesse sind sie aber dennoch in allen drei zu untersuchenden Kriminalerzählungen, da beide Positionen hier wieder auftauchen werden, indem der Autor sie zum Gegenstand des Romans macht.
Bevor aber mit der Analyse der Erzählungen in chronologischer Reihenfolge begonnen werden kann, ist diesem Teil der Arbeit ein theoretisches Kapitel vorangestellt, welches sich wiederum aus vier Teilen zusammensetzt. Während sich der erste und zweite Teil mit dem literarischen Zufall an sich auseinandersetzt, eine Begriffsbestimmung von Zufall und Kontingenz vorgenommen werden soll und historische Veränderungen innerhalb der romanspezifischen Verwendung des Zufalls dargestellt werden, ist der dritte und vierte Teil der charakteristischen Verwendung des literarischen Zufalls im Werk Friedrich Dürrenmatts gewidmet. In einem kurzen Abriss sollen zunächst die den Zufall betreffenden theatertheoretischen Ideen und weltanschaulichen Konzepte des Autors skizziert werden und dann unter Berücksichtigung des bereits dargestellten Forschungsstandes ein Typologisierungsversuch des Zufalls vorgenommen werden.
Darüber hinaus geht die vorliegende Arbeit davon aus, dass das Genre der Detektiverzählung Dürrenmatt über den finanziellen Aspekt hinaus reizen musste, da es auf Grund seines Vernunftglaubens als literarische Ausprägung am stärksten mit dem vom Autor propagierten Weltbild bricht. Indem die Analyse neben den Hauptaspekt des literarischen Zufalls auch die idealtypische Kriminalerzählung in die Untersuchung einbezieht, soll nachgewiesen werden, dass Dürrenmatt geschickt zwischen Gattungsinnovation und Linientreue zum Genre wechselt. Damit konnte Dürrenmatt den gattungskonventionellen Erwartungen seiner Leser einerseits nachkommen und gleichzeitig mit diesen brechen.
„Auch der Zufall ist nicht unergründlich:
er hat seine Regelmäßigkeit“
(Novalis)
2. Theoretische Überlegungen – Der literarische Zufall
Versucht man in der Literatur und Forschung eine einheitliche Begriffsbestimmung für das Phänomen Zufall im Allgemeinen zu finden, wird man sich sehr schwer tun. Dies hängt vor allem mit der Ambivalenz und Ambiguität des Phänomens selbst zusammen.[8]
Der Zufall ist eine Kategorie der Wirklichkeitserfahrung. Sie muss sich mit der eingeschränkten Erklärbarkeit von Koinzidenzen abfinden. Die meisten einschlägigen Lexika stimmen mit dieser Definition überein, da auch für sie im Zusammentreffen von Ereignissen das Wesen des Zufalls liegt.[9]
„Zufall, Begriff für alles, was nicht notwendig oder beabsichtigt geschieht; das Zusammentreffen von nicht absehbaren Ereignissen. Setzt man die absolute Gültigkeit des Kausalprinzips voraus, d.h. ein Weltmechanismus, nach dem alle Geschehnisse vorausbestimmt sind, so wird das Zufällige zur bloßen Erscheinungsform des Notwendigen.“[10]
Niemand wird bestreiten, dass der Zufall primär als individuelle Erlebniskategorie erfahren wird. Zugleich ist der Zufall aber ein komplexes und diffiziles Problem der philosophischen Wirklichkeitserklärung, in der die Kontingenz schon seit Aristoteles diskutiert wird. Aristoteles gilt als wichtigster philosophischer Klassiker der griechischen Frühgeschichte, der sich mit dem Zufallsbegriff auseinandersetzt, während die Annahme, auch die Topik beschäftige sich mit dem Zufall, eine moderne Assoziation ist.[11]
Doch schon das lateinische Wort contingit hat wieder zahlreiche Bedeutungen. Als ursprüngliche Bedeutung von Kontingenz wird oft das Nicht- oder Andersseinkönnen genannt. Immanuel Kant setzte wahrscheinlich erstmals die Begriffe Zufall und Kontingenz gleich.[12] Michael Makropoulus findet aber dennoch eine einfache und bündige Definition, wenn er sagt, kontingent sei, was auch anders möglich ist.[13]
In Leibnitz’ Kontingenzlehre wird deutlich, dass es sich dabei um einen Grenzbereich zwischen Logik und Ontologie handelt. Das Zufällige ist hier noch ein Mögliches, das wirklich wird, weil es dem göttlichen Willen entspricht. Sowohl die klassische idealistische Philosophie, als auch deren materialistische Weiterführung und Aufhebung haben sich mit diesem Problem auseinander gesetzt.[14]
Als autonome Komponente der objektiven Wirklichkeit findet der Zufall Eingang in die mimetische Darstellung der Kunst. Dabei ist der erzählte Zufall der dargestellten Welt keineswegs identisch mit dem der objektiven Wirklichkeit.[15]
In der folgenden Arbeit wird nur der Zufall, der den Figuren auf der Ebene der Handlung begegnet, mit einbezogen. Der methodologische Zufall, der sich auf die offene Struktur des literarischen Werkes oder unmotiviertes Verhalten der Figuren beziehen würde, bleibt außen vor.
Betrachtet man den Forschungsstand zum Thema des literarischen Zufalls, fällt zunächst auf, dass das Angebot an literarischen Veröffentlichungen recht bescheiden ist. Abgesehen von vier umfangreichen Arbeiten, deren Erscheinungen bereits weiter zurück liegen und auf die in Kürze eingegangen werden soll, gibt es nur wenige Bücher und einige Abhandlungen, die meist den literarischen Zufall auf einen bestimmten Autor und ein bestimmtes Werk beziehen. Richard Kühnemund[16] beschäftigt sich mit Shakespeare, Norbert Kaul[17] und Christel Krauß[18] mit Aristoteles und Paul Valéry. Peter Hermann[19] untersucht ihn bei Kleist, Ulrich Profitlich, Edgar Marsch und … tun dies, wie schon aufgeführt, bei Dürrenmatt, Hans Mayer[20] bei Camus und Peter Handke, um nur einige zu nennen.
Die erste dem Problem gewidmete umfangreiche Veröffentlichung ist die von Ernst Nef „Der Zufall in der Erzählkunst“ (1970). Im ersten Teil dieser monographischen Untersuchung wurde ein Versuch zur Definierung des literarischen Zufalls unternommen und im zweiten Teil auf seine geschichtlichen Tendenzen eingegangen.
Zentrale These der Arbeit ist die Annahme, der literarische Zufall sei ein legitimes Mittel der Erzählkunst.[21] Seiner Definition folgend, wären Koinzidenzen von Begebenheiten als literarischer Zufall zu verstehen, wenn sie zum Fortgang der Handlung beitrügen und weder direkt vom Erzähler noch unmittelbar in der Handlung hergeleitet würden.[22]
Ernst Nef beschäftigt sich exemplarisch mit bekannten Romanen von Voltaire über Kleist, Eichendorff, Fontane, Döblin und vielen mehr. In einzelnen Kapiteln untersucht er die Rolle der akzidentiellen Begebenheiten und ihren Einfluss auf die Personen sowie die überinhaltlichen Bedeutungen. Im zweiten Teil kommt Ernst Nef zu dem Schluss, ein gemeinsamer Nenner der literarischen Zufälle im Laufe der Geschichte sei ihre allmähliche Säkularisierung. Dies stehe im Zusammenhang mit der Weltanschauung des Verfassers selbst, was Ernst Nef zu der Behauptung führt: „Erzählweisen haben ideologischen Charakter.“[23]
Wlodzimierz Bialik weist aber zu Recht darauf hin, „[…] daß die Erzählweise […] auch als unbewußte, mit literarischen Mitteln geäußerte Ideologie betrachtet werden muß.“[24] Den bewusst oder unbewusst intendierten ideologischen Charakter kann der Rezipient nicht bestimmen. Er kann die im Werk enthaltenen Hinweise lediglich dekodieren.
Die These der Säkularisierung des erzählten Zufalls ist eine populäre Annahme, die sich auch bei anderen Autoren, namentlich z.B. Klaus-Detlef Müller oder Erich Köhler finden lässt. Erich Köhlers Arbeit „Der literarische Zufall, das Mögliche und Notwendige“ (1973) soll als weiterer interessanter Schritt für die Untersuchung dieses Phänomens gewertet werden. Anders als Ernst Nef verzichtet Erich Köhler auf monographische Untersuchungen. Erich Köhler ist Romanist und als solcher beruft er sich in seiner Studie vornehmlich auf Werke der französischen Literatur. Die ersten drei Kapitel widmen sich dem Zufall in seinem literaturgeschichtlichen Wandel. Er beginnt im Altertum bei den Mythen, erstreckt sich über den höfischen Roman bis hin zur späten Aufklärung, etc. Insgesamt meint er, drei Epochen ausmachen zu können: Erstens die der Providenz, welche mit der radikalen Säkularisierung endet. [25] Zweitens die der Kausalität und Kontingenz, in der die Ideologie des Bürgertums auf die Kausalität setzt, „[…] die den Zufall als bloß undurchschautes Glied in der lückenlosen Kausalkette, oder aber als individueller Motor der Entwicklung in eine Teleologie des unaufhaltsamen Aufstiegs integriert.“[26] Am Ende steht das Zeitalter der Absurdität, beginnend mit der Modernen. Anders als bei Ernst Nef endet aber bei Erich Köhler das Vorhandensein des Zufalls in der Erzählkunst nicht mit der Modernen.
Maßgebliche Bedeutung hat Erich Köhlers These, dass jeder Zufall die Negation eines vorgegebnen Ordnungsprinzips darstellt und erst durch die Anwendung dieses Ordnungsprinzips als solcher erkannt werden kann.[27] Auch Ernst Nef pflichtet dieser These bei und leitet daraus ab, dass, da die moderne Erzählkunst sich jeglichen Ordnungsprinzips entledigt hätte, auch der Zufall nicht mehr darstellbar sei.[28] Einerseits stimmt Erich Köhler dem zu, das Ordnungsprinzip als Maß für den Zufall sei tatsächlich verschwunden, habe sich aber lediglich in Unordnung verkehrt, in Absurdität und werde somit zum Konstitutiven.[29]
In einem weiteren Kapitel bearbeitet der Autor die Rolle des Zufalls in der Geschichte und entfernt sich damit vom literarischen Zufall. Am Ende der Untersuchung gelingt Erich Köhler allerdings mit einem Kapitel über literaturwissenschaftliche Folgerungen zum ursprünglichen Thema zurückzukehren. Ableitbare Dialektik von Zufall und Notwendigkeit der allgemeinen Geschichte werden auf die Literaturwissenschaften übertragen.[30]