Der zweite Schlaf - Robert Harris - E-Book
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Der zweite Schlaf E-Book

Robert Harris

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Beschreibung

Der Untergang der Welt, wie wir sie kennen – der neue große Roman von Robert Harris

England ist nach einer lange zurückliegenden Katastrophe in einem erbärmlichen Zustand. Der junge Priester Fairfax wird vom Bischof in ein Dorf entsandt, um dort die Beisetzung des mysteriös verstorbenen Pfarrers zu regeln. In der Umgebung finden sich besonders häufig jene verbotenen Artefakte aus vergangener Zeit – Münzen, Scherben, Plastikspielzeug –, die der Pfarrer akribisch gesammelt hat. Hat diese ketzerische Leidenschaft zu seinem Tod geführt?

Robert Harris’ erster Roman »Vaterland« war ein Ereignis. Seine Berühmtheit wuchs mit historischen Politthrillern wie »Pompeji« und seiner groß angelegten Cicero-Trilogie (»Imperium«, »Titan«, »Dictator«). Ob nun Antike oder jüngere Neuzeit (»Intrige«, »Konklave«, »München«) – auch wenn in seinen Büchern faktenfeste und erfundene Historie sich mischen, so muss man den vordergründigen Mantel nicht weit lüpfen, und die hintergründige Aktualität scheint auf. Robert Harris schreibt letztlich immer über das Hier und Jetzt.

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Seitenzahl: 471

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Das Buch

England im Jahr 1468 Unseres Auferstandenen Herrn: Ein klerikales Regime regelt das gesellschaftliche Leben, streng darauf bedacht, allen Irrwegen gegenzusteuern. Der junge Priester Fairfax wird vom Bischof von Exeter in ein kleines Dorf entsandt, um dort die Beisetzung des mysteriös verstorbenen Pfarrers zu regeln. In der Gegend finden sich häufig Artefakte aus der Zeit vor der großen Katastrophe. Der Besitz gilt als Ketzerei und wird hoch bestraft, aber im Pfarrhaus stößt Fairfax auf eine große Sammlung dieser verbotenen Dinge. Hat eine archäologische Leidenschaft zum Tod des Pfarrers geführt? Je tiefer Fairfax in die Geheimnisse der abweisenden Dörfler eindringt, desto mehr werden seine festen Vorstellungen – von sich selbst, seinem Glauben und der wahren Geschichte seiner Welt – auf die Zerreißprobe gestellt.

Der Autor

Robert Harris wurde 1957 in Nottingham geboren und studierte in Cambridge. Seine Romane Vaterland, Enigma, Aurora, Pompeji, Imperium, Ghost, Titan, Angst, Intrige, Dictator, Konklave und zuletzt München wurden allesamt internationale Bestseller. Er lebt mit seiner Familie in Berkshire.

ROBERT HARRIS

DER ZWEITE SCHLAF

ROMAN

Aus dem Englischen vonWolfgang Müller

Die Originalausgabe erscheint unter dem Titel

The Second Sleep

bei Hutchinson, London

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2019 by Canal K Limited

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe byWilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: Eisele Grafik Design

Covermotiv: Trevillion Images / Evelina Kremsdorf; Bigstock / dimonika

Herstellung: Helga Schörnig

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN 978-3-641-24009-7V002

www.heyne.de

Für Sam

Bis zum Ende der Frühen Neuzeit waren für die Menschen in Westeuropa die meisten Nächte in zwei größere Schlafabschnitte unterteilt … Der erste Abschnitt wurde gewöhnlich als »erster Schlaf« bezeichnet … Der folgende Abschnitt wurde »zweiter Schlaf« oder »Morgenschlaf« genannt … Beide Phasen waren ungefähr gleich lang, wobei der Mensch irgendwann nach Mitternacht eine Zeitlang wach war, bevor er wieder einschlief.

A. Roger Ekirch, In der Stunde der Nacht: Eine Geschichte der Dunkelheit

Es war unmöglich, in den Feldern und Gärten der Stadt mehr als ein oder zwei Fuß tief zu graben, ohne auf irgendeinen großen Soldaten des Imperiums zu stoßen, der dort schon seit einem Zeitraum von fünfzehnhundert Jahren in stiller, unaufdringlicher Ruhe lag. Meistens fand man ihn auf der Seite liegend in einer ovalen Aushöhlung im Kalkstein, wie ein Küken in der Schale; seine Knie bis zur Brust angezogen, manchmal mit Überresten seines Speers am Arm, einer Fibel oder Brosche aus Bronze an Brust oder Stirn, einer Urne zu seinen Knien, einem Krug an der Kehle, einer Flasche am Mund … Es war so lange her, dass sie gelebt hatten, ihre Zeit war der gegenwärtigen so ungleich, ihre Hoffnungen und Motive waren von den unsrigen so weit entfernt, dass sich zwischen ihnen und den Lebenden eine allzu breite Kluft auszudehnen schien, als dass sie auch nur ein Geist hätte überwinden können.

Thomas Hardy, Der Bürgermeister von Casterbridge

KAPITEL 1

Das versteckte Tal

Am Spätnachmittag des neunten Tages im April des Jahres Unseres Auferstandenen Herrn 1468, einem Dienstag, suchte ein einsamer Reiter seinen Weg. Sollten Sorgen die Züge des jungen Mannes verdunkelt haben, so hatte er zugegebenermaßen allen Grund dazu. Seit mehr als einer Stunde war er in der wilden, altertümlichen Moorlandschaft im Südwesten Englands, die seit den Tagen der Sachsen als Wessex bekannt war, keiner Menschenseele mehr begegnet. Es würde bald dämmern, und wer nach Beginn der Sperrstunde im Freien aufgegriffen wurde, lief Gefahr, die Nacht im Kerker zu verbringen.

In der Marktstadt Axford hatte er haltgemacht und nach dem Weg gefragt. Vor einer Schenke, über deren Eingang ein Schild mit dem Bild eines Schwans prangte, hatten einige grobschlächtige Burschen vor ihrem Bier gesessen und grinsend seine vornehme Sprechweise nachgeäfft. Sie hatten ihm versichert, er müsse nur immer auf die untergehende Sonne zuhalten, dann werde er sein Ziel schon erreichen.

Inzwischen hegte der Reiter den Verdacht, dass ihm die Dörfler einen ihrer beliebten Streiche gespielt hatten. Er hatte kaum die Mauern des Stadtgefängnisses passiert, wo drei Übeltäter in ihren Galgenkäfigen verwesten, und war über den Fluss in offenes Land gelangt, als sich im Westen schwere Wolken vor die untergehende Sonne schoben. Die Spitze von Axfords hohem Kirchturm war schon lange hinter dem Horizont versunken. Die abschüssige Straße schlängelte sich durch menschenleere, dunkle und hügelige Wälder sowie wilde, mit gelben Ginsterbüschen besprenkelte Heide, bevor sie sich im Zwielicht verlor.

Kurz darauf kündigte, wie es in diesen Teilen des Landes oft geschah, eine plötzlich eintretende Stille einen Wetterumschwung an. Die Vögel verstummten. Sogar der Schwarm riesiger Rotmilane, der ihn auf den letzten Meilen begleitet hatte, stellte sein unangenehm schrilles Kreischen ein. Graue, nasskalte Nebelschwaden stiegen aus dem Moor auf und legten sich um den Reiter. Zum ersten Mal seit er frühmorgens aufgebrochen war, spürte er das Verlangen, seinen Namenspatron, der das Jesuskind auf dem Rücken über den Fluss getragen hatte, laut um Beistand anzurufen.

Schließlich wand sich die Straße einen bewaldeten Hang hinauf. Je weiter es bergauf ging, desto schmaler wurde sie, bis sie nur noch ein besserer Feldweg war – zerfurchte braune Erde, die locker mit Steinen, gelben Kieseln und mattblauen Schieferscherben bedeckt war, über die das Regenwasser rann. Von den steilen Böschungen zu beiden Seiten stieg der Duft von wilden Kräutern auf, von Lungenkraut, Zitronenmelisse, Knoblauchsrauke. Die Zweige hingen so tief in den Weg, dass er sich ducken und sie mit dem Arm abwehren musste, worauf frisches kaltes Wasser auf seinen Kopf herabregnete und in den Ärmel lief. Etwas kreischte im Halbdunkel und blitzte smaragdgrün auf. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, obwohl er sogleich erkannte, dass es sich um nichts Unheilvolleres als einen gewöhnlichen Sittich handelte. Erleichtert schloss er die Augen.

Als er sie wieder öffnete, sah er ein bräunliches Objekt vor sich. Zuerst hielt er es für einen umgestürzten Baum. Er wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht und beugte sich im Sattel vor. Eine Gestalt, die in einer mönchsgleichen Sackleinenkutte mit Kapuze steckte, schob einen Handwagen vor sich her. Der Reiter drückte die Knie in die Flanken seines Pferds und schloss zu dem Gespann auf. »Gott sei mit dir!«, rief er der seltsamen Erscheinung zu. »Ich bin fremd in der Gegend.«

Die Gestalt schob den Wagen noch energischer vorwärts, was den Reiter nötigte, den mit Wollballen beladenen Karren abermals zu überholen. Diesmal jedoch stellte er sein Pferd quer und versperrte den schmalen Weg. Er löste die Halsschnur seines Umhangs. »Ich will Euch nichts Böses. Mein Name ist Christopher Fairfax.« Dann zog er den nassen Umhang etwas herunter und hob das bärtige Kinn, um dem Mann den weißen Kragen zu zeigen. »Ich bin ein Mann Gottes.«

Durch den Regen schauten aus einem nassen, schmalen Gesicht zusammengekniffene Augen zu ihm hoch. Langsam und widerwillig zog der Mann die Kapuze nach hinten und entblößte einen vollkommen kahlen Schädel. Das Wasser rann über die glänzende Glatze, in deren Mitte ein sichelförmiges, blutrotes Muttermal zu sehen war.

»Ist das die Straße nach Addicott St George?«

Der Mann kratzte sich am Mal und blinzelte mit den Augen, als versuchte er krampfhaft, sich zu erinnern. Schließlich sagte er: »Meint Ihr Adcut?«

Der triefend nasse Fairfax verlor allmählich die Geduld. »Ja, gut, also dann … Adcut.«

»Nein. Ihr müsst wieder zurück. Eine halbe Meile. Da teilt sich der Weg. Ihr müsst den anderen nehmen.« Der Mann musterte Fairfax von Kopf bis Fuß. Ein wissender Ausdruck breitete sich auf seinem Gesicht aus – eine behäbige, bäuerliche Verschlagenheit, als taxierte er auf dem Markt ein Stück Vieh. »Ihr seid jung für einen Priester.«

»Und doch alt genug, glaube ich!« Fairfax rang sich ein Lächeln ab und verbeugte sich. »Friede sei mit dir.«

Er zog am Zügel, wendete die alte graue Stute und ritt den glitschigen Weg vorsichtig wieder nach unten, bis er die Stelle fand, wo die Straße sich gabelte. Wenn man nicht zuvor darauf aufmerksam gemacht wurde, konnte man die Gabelung unmöglich sehen. Diese Schurken in Axford hatten ihn also absichtlich in die Irre geschickt. Wenn sie gewusst hätten, dass er Priester war, hätten sie das niemals gewagt. Er sollte den Sheriffs vor Ort Bescheid geben. Richtig, genau das würde auf dem Rückweg tun. Diese dumpfen Bauernschädel würde er die ganze Härte des Gesetzes spüren lassen – Gefängnis, Geldstrafe, ein Tag am Pranger, beworfen mit Steinen und Kot …

Der andere Weg war noch steiler. Von beiden Seiten, keine sechs Fuß über ihm, neigten sich uralte, schon dicht belaubte Bäume einander zu, als hätten sie etwas zu besprechen. Die verflochtenen Zweige sperrten das Licht aus. In diesem nasskalten Tunnel schien schon Nacht zu herrschen. Die Stute fand mit den Hufen keinen Halt auf dem rutschigen Untergrund, und schließlich verweigerte sie jeden weiteren Schritt. Er schlang ihr die Arme um den Hals und flüsterte ihr ins Ohr. »Komm schon, May!« Das griesgrämige, altersstarre Biest, mehr Maultier als Pferd, wollte jedoch nicht, und so musste er schließlich absteigen und es am Zügel führen.

Zu Fuß fühlte er sich noch schutzloser. Für seine Auslagen trug er zwanzig Pfund bei sich, die der Dekan ihm am Vorabend Münze für Münze in die Hand gezählt hatte. Nicht wenige Reisende waren schon für die Hälfte ermordet worden. Durch den Matsch schlitternd, führte er die Stute bergauf. Was für ein köstlicher Witz, dachte er bitter. Der Bischof mochte nur selten lächeln, was aber nicht hieß, dass es ihm völlig an einem gewissen Sinn für Humor mangelte. Einen Mann ins dreißig Meilen entfernte, hinterste Eck der Diözese zu schicken, mit solch einem Auftrag, auf solch einem klapprigen Gaul …

Er sah seine Kollegen vor sich, die sich wie immer zu ihrem frühen Abendbrot versammelt hatten: wie sie im Kapitelhaus vor dem riesigen Kaminfeuer auf den langen Bänken saßen, wie der Bischof den schmalen, grauhaarigen Kopf zum Tischgebet senkte, wie sein Gesicht im Schein des Feuers wie eine Auster glänzte und wie seine kleinen, dunklen Augen vor boshafter Freude funkelten. »Und zu guter Letzt lasst uns beten für unseren Bruder Christopher Fairfax, der Gott heute Abend fern von uns dient … in einem weit entfernten Land!«

Das armselige Gurgeln des nahen Baches empfand er als Gelächter.

Doch plötzlich – er war der Verzweiflung schon nahe – schien am Ende des überwucherten Weges etwas blass Glänzendes auf. Und nur Minuten beschwerlichen Zerrens später trat er hinaus in das letzte Licht des Tages und stellte fest, dass er sich auf dem Kamm eines Hügels befand. Rechter Hand fiel das Gelände steil ab. Niedrige Trockensteinmauern umschlossen kleine Wiesen, worauf Kühe, Schafe und Ziegen grasten. Die wackeligen Holzställe hatten vom Winter gegerbt die Farbe von Zinn angenommen. Im Talgrund sah er in etwa einer Meile Entfernung einen Fluss und eine Brücke. Dahinter drängten sich um einen rechteckigen steinernen Kirchturm die zumeist strohgedeckten Häuser einer kleinen Ansiedlung. Vereinzelt stiegen fedrige, weißgraue Rauchfahnen auf und verloren sich im dunkleren Grau des Himmels. Die niedrigen Wolken über den Hügeln ringsum zogen schnell dahin, wie Wellen, die auf See vor einem Sturm flohen. Es hatte aufgehört zu regnen. Er bildete sich ein, den Rauch aus den Schornsteinen riechen zu können. Er stellte sich Licht, Wärme, Gesellschaft, Essen vor, und in der feuchten, frischen Abendluft erwachten seine Lebensgeister aufs Neue. Sogar Mays Laune hatte sich so weit gebessert, dass sie ihn ohne Gegenwehr aufsteigen ließ.

Als sie schließlich ins Dorf hineintrotteten, war es schon fast dunkel. Mays Hufeisen klapperten auf der steinernen Bogenbrücke, die über den Fluss führte, und platschten dann durch den Matsch auf der schmalen Dorfstraße. Von seiner hohen Warte im Sattel aus konnte er in die kleinen, weiß getünchten Häuser zu beiden Seiten der Straße sehen. Manche verfügten über schmale Vorgärten mit weißen Holzzäunen. Bei den meisten aber trat man aus der Tür gleich auf die Straße. In einigen Fenstern schien Kerzenlicht, in einem sah er flüchtig ein rundes, blasses Mondgesicht, das schnell wieder hinter dem Vorhang verschwand. An dem überdachten Friedhofstor hielt er an und schaute sich um. Ein gepflasterter Weg führte durch den Friedhof bis zur Pforte der Kirche. Sie stand, so seine Vermutung, seit bestimmt tausend, wenn nicht gar tausendfünfhundert Jahren unverrückt an dieser Stelle. Um die Stange auf der Kirchturmspitze wickelte sich auf halber Höhe die nasse rot-weiße Standarte Englands und des heiligen Georgs.

Jenseits der Mauer auf der anderen Seite des Friedhofs stand ein schiefes zweistöckiges, reetgedecktes Gebäude. Auf der Türschwelle konnte er jetzt die Umrisse einer schwarz gekleideten, hageren Frauengestalt ausmachen, die eine Laterne in der Hand hielt und in seine Richtung schaute. Für einige Augenblicke beobachteten sie sich gegenseitig über die von Flechten überwucherten Gräber hinweg. Dann hielt sie die Lampe etwas höher und schwenkte sie hin und her. Er hob die Hand, drückte der Stute die Knie in die Seiten und ritt um den Friedhof herum auf die wartende Gestalt zu.

KAPITEL 2

Priester Fairfax lernt Pfarrer Thomas Lacy kennen

Die Frau führte ihn aus der Diele unverzüglich nach oben zu Pfarrer Lacy. Sie hatte ihm kaum Zeit gelassen, seine Tasche abzustellen, den tropfnassen Umhang abzulegen und die schmutzigen Stiefel auszuziehen. Von den Stunden im Sattel steif und o-beinig, folgte er ihr die schmale Holztreppe hinauf.

Über die Schulter hinweg unterrichtete sie ihn darüber, dass sie Agnes Budd sei, die Haushälterin, und dass sie schon den ganzen Tag auf ihn gewartet habe. In ihrer Ehrerbietung klang ein tadelnder Unterton mit.

Er musste sich bücken, um durch die niedrige Tür zu treten. In der Schlafkammer war es kalt, und es roch nach Bleichkalk. Durch das weit geöffnete Fenster blickte man in die bläuliche Abenddämmerung hinaus. Auf den Bodendielen unter den Bleiglasscheiben hatte sich Regenwasser gesammelt. Der schwarze Sargdeckel lehnte an einer Kommode, den Sarg selbst hatte man auf das Bett gesetzt. Auf den Nachttischen links und rechts des schweren Holzbettes standen Kerzen, auf einem lagen außerdem ein Buch und eine Brille – als hätte der tote Mann gerade seine Lektüre beendet. Die Kerzenflammen zitterten in der Zugluft.

Vorsichtig näherte er sich dem Sarg und schaute hinein. Der lange, schmale Leichnam war fest in ein papiernes weißes Leinentuch gewickelt und mit Sägemehl bestreut. Er wirkte wie eine Larve kurz vor dem Schlüpfen. Das Gesicht war von einem weißen Spitzentaschentuch bedeckt. Fairfax sah die Haushälterin an. Sie nickte. Er nahm die beiden oberen Zipfel des Taschentuchs zwischen Daumen und Zeigefinger und hob es an.

Fairfax hatte in seinem kurzen Leben schon viele Leichen gesehen. Das war im gegenwärtigen England kaum zu vermeiden. Zur Abschreckung in Eisenkäfigen aufgehängt wie die elenden Gesetzlosen in Axford. Nachts und besonders im Winter vor Türen oder auf Brachland abgelegt, bis sich jemand herabließ, den Nachtmeister zu bezahlen, dass er sie beim Kotsammeln mit wegschaffe. Beim letzten Ausbruch von Fleckfieber hatte er Säuglingen die letzte Ölung gespendet, gleich nachdem er deren Großeltern die Augen zugedrückt hatte. Aber noch nie hatte er einen solchen Leichnam zu Gesicht bekommen. Die Nase war gebrochen, die Augenhöhlen blutunterlaufen. Quer über der Stirn klaffte ein tiefer Riss. Das rechte, zerfetzte Ohr sah aus, als hätte es jemand halb abgebissen. Man hatte sich bemüht, die Entstellungen unter weißem Bleierzpulver zu verbergen, dennoch schimmerten die Wunden grünlich durch. Die Wirkung war grotesk. Lacy trug keinen Bart; lediglich graue Stoppeln bedeckten sein Gesicht, was für einen Geistlichen ungewöhnlich war.

Fairfax beugte sich hinunter und wollte seine Stirn berühren, um ihn zu segnen, schrak aber schnell wieder zurück, da ihm madiger Verwesungsgestank in die Nase stach. Der alte Priester hätte eigentlich schon längst in seinem Grab liegen müssen.

»Wie lange ist es jetzt her, dass er gestorben ist?«

»Eine Woche, Hochwürden. Es war die ganze Zeit über ziemlich warm.«

»Und um wie viel Uhr soll die Beerdigung stattfinden?«

»Um elf, Hochwürden.«

»Nun, das wird wohl keine Minute zu früh sein.« Er legte das Taschentuch wieder auf das zerstörte Gesicht, trat einen Schritt zurück und bekreuzigte sich. »Friede sei mit ihm. Möge unser treuer Diener des Herrn in den Armen Christi seine Ruhe finden. Amen.«

»Amen«, sagte die Haushälterin.

»Helft mir, Mrs Budd. Schließen wir den Sarg.«

Sie hoben den schweren Sargdeckel zum Bett und legten ihn auf die Holzkiste. Gutes, solides Schreinerhandwerk, dachte Fairfax. Passgenau, damit nichts von dem strengen Geruch nach außen drang; ehrliche englische Eiche, schwarz gestrichen; die Messinggriffe an den Seiten das einzige Gepränge. Agnes zog einen Lappen aus dem Schürzenbund und staubte den Deckel ab. Für eine Weile betrachtete er mit ihr schweigend den Sarg. Dann bemerkte sie das Regenwasser unter dem Fenster. Sie brummte etwas, ging zu der Lache und wischte sie auf, hielt den Lappen durchs Fenster und wrang ihn über dem Garten aus.

Als sie das Fenster schließen wollte, sagte er: »Wir sollten es lieber offen lassen.«

Auf dem Treppenabsatz holte er sein Schnupftuch hervor und tat so, als schneuzte er sich. Der üble Geruch lag ihm immer noch auf der Zunge. »Die Verletzungen im Gesicht … Armer Kerl! Wie hat er sich die zugezogen?«

»Bei einem Sturz, Hochwürden.«

»Das muss ein wahrhaft ungewöhnlicher Sturz gewesen sein.«

»An die hundert Fuß tief, haben sie gesagt.«

»Sie?«

»Die ihn gefunden haben, Hochwürden. Captain Hancock, unser Küster Mr Keefer, der Schmied Gann und noch andere.«

»Zu welcher Tageszeit war das?«

»Letzten Dienstag hat er am Nachmittag seine dicken Stiefel angezogen, ist mit der Handschaufel aus dem Haus gegangen und nicht mehr zurückgekommen. Die Suchmannschaft hat ihn dann am Mittwochabend nach Hause gebracht.«

»Ist er oft zu Fuß unterwegs gewesen?«

»Ja, Hochwürden. Er ist fast überallhin zu Fuß gegangen. Geritten ist er nur noch selten. Sein Pferd hat er schon vor ein paar Jahren verkauft.« Sie ging vor ihm die Treppe hinunter und führte ihn in die Wohnstube. Das kümmerliche Feuer im Kamin schaffte es nicht, die Kälte aus dem Raum zu vertreiben. Der Tisch war für eine Person gedeckt. »Soll ich jetzt das Abendessen auftragen, Hochwürden?«

Noch eine Stunde zuvor hatte er einen Bärenhunger verspürt. Jetzt drehte ihm der Gedanke an Essen den Magen um. »Vielen Dank, aber ich will mich erst noch um mein Pferd kümmern.«

Schon auf dem Weg zur Haustür plante er seinen morgigen Rückzug. Er versuchte sich an den Namen der Schenke in Axford zu erinnern. Das Swan Inn, richtig. Wenn die Beerdigung also um elf stattfände, dann könnte er das Dorf um ein Uhr mittags wieder verlassen und wäre leicht bis zum Abendessen dort.

Die Haustür wies ein neues, noch glänzendes schweres Schloss auf. Er öffnete sie und trat in den kleinen Garten hinaus. Die feuchte, glasige Abendluft roch nach nassem Gras und Holzrauch. May war verschwunden. Er hatte sie am Gartentor zurückgelassen. Hatte er sie nicht richtig festgebunden? Er ließ den Blick durch das dunkle Dorf schweifen. Nirgends ein Licht. Die tiefe ländliche Stille lag wie Watte auf seinen Ohren.

»Macht Euch keine Sorgen, Hochwürden«, sagte Agnes hinter ihm. Die Stimme in der Stille ließ ihn zusammenzucken. »Sicherlich hat Rose Euer Pferd schon in den Stall gebracht.«

»Sehr freundlich. Richtet ihr meinen Dank aus.«

Er ärgerte sich, wusste aber nicht recht, warum. Er hob seine Tasche auf und folgte der Haushälterin zurück in die Wohnstube.

»Wenn Ihr erlaubt, Mrs Budd«, sagte er und bemühte sich um einen geschäftsmäßigen Ton. »Da wären noch einige Fragen zu klären.« Er stellte die Tasche auf den Tisch und kramte den Federkasten und einige Bogen Papier heraus. »Das Wichtigste zuerst …« Er lächelte, um ihr die Befangenheit zu nehmen. »Habt Ihr Tinte im Haus?«

»Welche Fragen meint Ihr?« Sie sah ihn argwöhnisch an.

Er fragte sich, wie alt sie wohl war. Fünfzig vielleicht. Blass, reizlos, das Haar schon fast grau, gerötete Augen, wahrscheinlich vom Weinen. Wie der Kummer uns doch altern lässt, dachte er und verspürte plötzlich Mitleid. Wir armen sterblichen Kreaturen. Wie verletzlich wir doch sind bei all unsrem vergeblichen Bemühen um Haltung.

»Zu meinen Pflichten gehört, die Trauerrede auf Pfarrer Lacy zu halten. Eine nur selten leichte Aufgabe, selbst wenn man den Verstorbenen gekannt hat. Und noch vertrackter, wenn einem der Betreffende völlig unbekannt war. Ich benötige nur ein paar einfache Auskünfte.« Das hörte sich an, als wäre das Ganze ein vertrautes Problem für ihn, obwohl er in Wahrheit in seinem ganzen Leben weder eine Beerdigung geleitet noch eine Grabrede verfasst hatte. »Also – gibt es hier Tinte? Ein Priester wird doch sicherlich Tinte im Haus haben.«

»Ja, Hochwürden, selbstverständlich hatte er Tinte. Jede Menge.« Sie klang beleidigt und verließ das Zimmer.

Fairfax setzte sich an den Tisch, umfasste die Kanten und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Über dem Kamin hing ein einfaches Holzkreuz. Die schiefen Wände flackerten im Licht der Kerzen in einem stumpfen Orangebraun. Die Decke hing in der Mitte durch. Dennoch strahlte der Raum eine antike Gediegenheit aus, so als befände er sich schon seit Jahrhunderten hier und könne durch nichts erschüttert werden. Er stellte sich die Generationen von Priestern vor, die genau auf diesem Platz gesessen haben mussten – wahrscheinlich Aberdutzende. Heute unbekannt und vergessen, hatten sie in diesem abgelegenen Tal in aller Stille Gottes Werk verrichtet. Der Gedanke an die unbesungene Hingabe erfüllte ihn mit Demut, sodass er sich bei Agnes’ Rückkehr bemühte, nach außen selbst etwas Demut zu zeigen. Er stand auf, holte ihr einen Stuhl, damit sie sich ihm gegenüber an den Tisch setzen konnte, und sprach sie freundlich an.

»Verzeiht mir, ich sollte das eigentlich wissen, aber wie lange war Hochwürden Lacy der Pfarrer Eurer Gemeinde?«

»Im Januar waren es genau zweiunddreißig Jahre.«

»Zweiunddreißig Jahre?« Fairfax hatte selten von einer derart langen Amtszeit gehört. »Fast ein Drittel eines Jahrhunderts. Ein ganzes Leben!« Er tauchte die Feder in das Tintenfass und machte sich eine Notiz. »Hatte er Familie?«

»Einen Bruder, aber der ist schon vor Jahren gestorben.«

»Und wie lange wart Ihr in seinen Diensten?«

»Zwanzig Jahre.«

»Euer Mann auch?«

»Nein, Hochwürden, ich bin schon seit langem Witwe. Aber ich habe noch eine Nichte – Rose.«

»Die sich um mein Pferd gekümmert hat?«

»Sie lebt mit uns hier im Pfarrhaus. Mit mir, wie ich ja jetzt wohl sagen muss.«

»Und was wird nun aus Euch, jetzt, wo Pfarrer Lacy tot ist?«

Betroffen sah er, dass sich ihre Augen mit Tränen füllten. »Ich weiß nicht. Das kommt alles so plötzlich. Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Vielleicht möchte der neue Pfarrer uns ja behalten.« Sie schaute ihn erwartungsvoll an. »Ihr vielleicht?«

»Ich?« Der Gedanke, einmal selbst an einem solchen Ort begraben zu liegen, war so abwegig, dass er beinah laut aufgelacht hätte. Aber das wäre zu grob gewesen, also riss er sich zusammen. »Nein, Mrs Budd. Im Kreis des Bischofs gehöre ich zu den niederen Mitgliedern. Ich bin mit Aufgaben in der Kathedrale betraut und habe den Weg hierher nur angetreten, um die Beerdigung durchzuführen. Aber ich werde der Diözese über die Lage hier Bericht erstatten.« Er machte sich wieder eine Notiz und lehnte sich dann zurück. Er nuckelte am Federstiel und musterte sie. »Warum leitet nicht ein Priester aus der Gegend die Trauerfeier?«

Die gleiche Frage hatte er schon Bischof Pole gestellt, als der ihn tags zuvor beauftragt hatte, die Zeremonie abzuhalten. Er hatte sich natürlich diplomatisch ausgedrückt, da der Bischof es nicht gewohnt war, dass seine Anordnungen hinterfragt wurden. Aber der Bischof hatte sich nur über seine Papiere gebeugt und schmallippig etwas davon gemurmelt, dass Lacy ein eigenartiger Bursche und bei seinen Kollegen in den Nachbargemeinden nicht beliebt gewesen sei. »Ich kannte ihn als jungen Mann. Wir waren zusammen im Priesterseminar. Dann haben sich unsere Lebenswege getrennt.« Er hatte ihm offen in die Augen geschaut. »Das ist eine Gelegenheit für dich, Christopher. Eine einfache Aufgabe und dennoch eine, die Feingefühl erfordert. Du solltest das binnen eines Tages erledigt haben. Ich verlasse mich auf dich.«

Agnes blickte auf ihre Hände. »Mit den Gemeindepfarrern in den anderen Tälern hatte Pfarrer Lacy keinen Umgang.«

»Warum nicht?«

»Er ist seine eigenen Wege gegangen.«

Fairfax runzelte die Stirn und beugte sich leicht vor, als hätte er sie nicht richtig verstanden. »Was soll das bitte heißen, er sei seine eigenen Wege gegangen? Es gibt nur einen Weg, den der Wahrhaftigkeit. Alles andere wäre Ketzerei.«

Sie wich seinem Blick aus. »Dazu kann ich nichts sagen, Hochwürden. Über solche Dinge steht mir kein Urteil zu.«

»Wie war sein Verhältnis zu den Mitgliedern der Gemeinde hier? War er beliebt?«

»O ja.« Kurzes Verstummen. »Bei den meisten.«

»Aber nicht bei allen?«

Diesmal antwortete sie nicht. Fairfax legte die Feder beiseite und rieb sich die Augen. Er fühlte sich auf einmal müde. Nun, das war die gerechte Strafe für seinen Hochmut gegenüber dem Bischof: ein Achtstundenritt, um einen obskuren Geistlichen zu begraben, der womöglich ein Ketzer war und den ein Gutteil seiner Gemeindemitglieder offenbar nicht mochte. Zumindest würde er sich bei der Trauerrede kurz fassen können.

»Ich nehme an, in allgemeinen Wendungen zum Ausdruck bringen zu können, dass er ein gutes Leben im Dienste Gottes geführt hat und so weiter«, sagte er unsicher. »Wie alt war er?«

»Alt, Hochwürden. Sechsundfünfzig. Aber noch sehr rüstig.«

Fairfax rechnete nach. Wenn Lacy hier zweiunddreißig Jahre lang Pfarrer gewesen war, dann hatte er mit vierundzwanzig die Stelle angetreten – genau in seinem Alter. »Dann war Addicott also seine einzige Pfarrstelle?«

»Ja, Hochwürden.«

Er versuchte sich in die Lage des alten Priesters zu versetzen. Er selbst würde in einem derart verschlafenen Nest zweifellos wahnsinnig werden. Vielleicht war genau das im Laufe der Jahre hier geschehen. Während Pole in der Kirche aufsteigen konnte, war Lacy hier draußen verschimmelt. Ein Idealist, den die Einsamkeit in einen Misanthropen verwandelt hatte. »Ein Drittel eines Jahrhunderts. Er muss gern hier gelebt haben.«

»O ja, sehr gern. Er wäre nie von hier weggezogen.« Agnes stand auf. »Ihr werdet hungrig sein, Hochwürden. Ich habe Euch etwas zubereitet.«

KAPITEL 3

Fairfax geht früh zu Bett und macht eine verstörende Entdeckung

Agnes trug ein einfaches Abendessen auf, einen Eintopf aus Hase und Schafsherz und einen Krug mit starkem, dunklem Ale, das Pfarrer Lacy, wie sie sagte, selbst gebraut habe. Er bat sie, ihm Gesellschaft zu leisten, aber sie entschuldigte sich. Sie müsse noch das Essen für den Leichenschmaus vorbereiten. Das Mädchen Rose hatte er unterdessen immer noch nicht zu Gesicht bekommen.

Zunächst stocherte Fairfax lustlos in dem Essen herum. Durch ein seltsames Paradox der Verdauung wuchs sein Appetit jedoch mit jedem zögernden Bissen, sodass er schließlich die ganze Portion verschlungen hatte. Er tupfte sich mit seinem Schnupftuch den Mund ab. Jede Erfahrung erfüllte einen Zweck, den nur Gott kannte. Er musste das Beste aus seiner Lage machen. Nichts weniger erwartete der Bischof von ihm, und zumindest hätte er beim Essen im Kapitelhaus eine gute Geschichte zu erzählen.

Um es sich ein wenig wärmer zu machen, stand er auf und warf noch ein kleines Holzscheit ins Feuer. Er kehrte zum Tisch zurück, schob den Teller beiseite und nahm die Bibel und das Gebetbuch aus der Tasche. Dann zündete er sich mit einem Streichholz seine Pfeife an und setzte sich wieder. Erst jetzt nahm er richtig Notiz von dem Tintennapf – genauer, dem gläsernen Tintenfass. Er hob es hoch und hielt es gegen das Kerzenlicht. Das dicke Glas war an den Seiten geriffelt und hatte eine seltsame Form. Es war drei Zoll lang und ein Zoll breit. Der Boden wölbte sich auf zwei Dritteln der Länge nach oben, sodass sich die Tinte an den Seiten bequem in der Vertiefung sammeln konnte. So etwas hatte er noch nie gesehen. Es war offensichtlich antik. Er fragte sich, woher der alte Priester es hatte.

Er stellte das Tintenfass wieder auf den Tisch und machte sich ans Schreiben.

Bis auf das Ticken der großen Standuhr in der Diele störte nichts die Stille. Er vertiefte sich in seine Arbeit. Als Letztes vor seiner Himmelfahrt hatte Jesus die Apostel angewiesen, in der Stadt zu bleiben und in innerer Einkehr auf die Ankunft des Herrn zu warten. Hatte Lacy nicht genau das getan? War er nicht demütig an dem ihm zugewiesenen Ort geblieben und hatte darauf gewartet, dass Gott sich ihm zeigte? Daraus ließ sich etwas machen.

Ungefähr nach einer Stunde kehrte Agnes zurück und räumte den Tisch ab. Dann kam sie noch einmal aus der Küche, um ihm zu sagen, dass sie jetzt schlafen gehe. »In Pfarrer Lacys Arbeitszimmer habe ich ein Bett für Euch hergerichtet.« Mit einem Löschhütchen machte sie sich daran, die Kerzen zu löschen.

Er überlegte, wie spät es jetzt wohl war. Neun? Um diese Zeit versammelte er sich üblicherweise mit den anderen in der Marienkapelle zum Nachtgebet. Obwohl er sonst nie so früh zu Bett ging, beschwerte er sich nicht. Die Trauerrede konnte er auch morgen noch fertigstellen. Außerdem hatte er Exeter im Morgengrauen verlassen, weshalb seine Knochen nun vor Müdigkeit ächzten. Er verstaute seine Habseligkeiten in der Tasche und klopfte dann innen an der Kaminwand Asche und Tabakreste aus dem Pfeifenkopf.

Das Arbeitszimmer, in das Agnes ihn führte, war kleiner als die Wohnstube und bei weitem nicht so aufgeräumt. Eine der beiden Kerzen, die sie in der Hand hielt, stellte sie für ihn an den Rand des Schreibtischs. Das gezogene Talglicht zischte und spritzte. Das gelbe Licht beleuchtete ein Sofa mit einem dünnen Kissen und einer Flickendecke, die zweifellos Agnes an endlosen Winterabenden genäht hatte. Im Schatten hinter dem Lichtschein konnte er undeutlich gut gefüllte Bücherregale, Schriftstücke und Kirchengerät ausmachen. Die Vorhänge waren schon zugezogen.

»Ich hoffe, das ist bequem genug. Oben sind nur zwei Kammern. Rose und ich teilen uns eine, in der anderen liegt der Pfarrer.« Zögerlich fügte sie hinzu: »Aber wenn Euch das lieber wäre, könnten wir den Sarg auf den Boden stellen.«

»Nein, nein«, sagte er schnell. »Für die eine Nacht reicht das völlig.« Er setzte sich auf das Sofa. Es war hart und unnachgiebig. Er lächelte. »Ich versichere Euch, nach dem heutigen Tag würde ich selbst im Stehen schlafen können. Gott befohlen, Mrs Budd.«

»Gott befohlen, Hochwürden.«

Er hörte sie die Vordertür abschließen und dann die knarzenden Treppenstufen nach oben gehen. Ihre Schritte gingen über seinen Kopf hinweg. Er sprach sein Nachtgebet (In Deine Hände, o Herr …) und legte sich dann auf das Sofa. Eine Minute später setzte er sich schon wieder auf. Mindestens ein Quart vom starken Ale des alten Priesters drückte auf seine Blase. Er musste sich unbedingt erleichtern und tastete unter und neben dem Sofa nach einem Nachttopf, griff aber nur in Spinnweben.

Er nahm die Kerze, ging in die Diele und holte seine Stiefel, die neben der Haustür standen. Er trug sie an der Wohnstube und dem Arbeitszimmer vorbei zur Küche im hinteren Teil des Hauses. Warmer Backgeruch hing in der Luft. Verschiedene Speisen waren mit Küchentüchern bedeckt, wahrscheinlich der von Agnes vorbereitete Leichenschmaus. Er setzte sich auf den Stuhl neben der Hintertür und zog sich die Stiefel an.

Draußen herrschte vollkommene Dunkelheit und Stille. Er war das stündliche Glockenläuten und die Lichter einer Domstadt gewohnt, Stimmen beim Abendgebet und schlurfende Schuhe, die Geräusche aus den Kanaldocks, wenn die Seeleute vor den patrouillierenden Sheriffs flohen. Angesichts des hiesigen Nichts schwindelte ihn fast – als wandelte er schwankend am Rand der Ewigkeit.

Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe.

Es war aussichtslos, den Abort zu suchen. Er machte vorsichtig ein paar Schritte nach vorn, stellte den Kerzenständer ins nasse Gras, hob den Priesterrock hoch, zog die Unterhose herunter, stellte sich breitbeinig hin und pisste weiß der Himmel wohin. Der kräftige Strahl bohrte sich in die Erde und machte ein platschendes, unmissverständliches Geräusch, das man bestimmt noch auf der anderen Talseite hören konnte, von den Schlafkammern im ersten Stock gar nicht zu reden. Er stellte sich vor, wie Agnes und Rose ängstlich lauschten, und musste sich wieder zusammenreißen, um nicht laut loszuprusten.

Er schüttelte den letzten Tropfen ab, brachte seine Kleidung wieder in Ordnung, nahm die Kerze und stapfte zurück zur Hintertür. Das Holz war so alt wie das Haus, aber ihm fiel auf, dass das Schloss so neu war wie das an der Vordertür. Wie viele Städter hing er der romantischen Vorstellung an, dass die Menschen auf dem Lande ihre Türen nie abschlossen. Das war in Addicott St George offensichtlich nicht der Fall.

Er ging zurück in Pfarrer Lacys Arbeitszimmer, zog die Soutane aus, legte sich wieder hin und schlief sofort ein.

*

Etwas weckte ihn. Was, konnte er nicht sagen. Im Zimmer war es so dunkel, dass es keine Rolle spielte, ob er die Augen offen oder geschlossen hielt. Ein beängstigendes Gefühl, als stellte man plötzlich fest, blind oder lebendig begraben zu sein. Die Kerze war niedergebrannt, also musste er mehrere Stunden geschlafen haben. Wahrscheinlich hatte ihn sein Körper wie üblich nach dem ersten Schlaf geweckt.

Fairfax glaubte eine Männerstimme zu hören, ein unverständliches Murmeln. Er lauschte angestrengt. Eine Pause, dann wieder die gleiche Stimme. Er stützte sich auf den Ellbogen. Jetzt wurde die erste von einer zweiten Stimme unterbrochen. Zwei Männer unterhielten sich. Er erkannte den singenden Zungenschlag der Dörfler: tief, unscharf, fast melodisch. Wie das Summen von Bienen. Sie befanden sich unmittelbar vor seinem Fenster.

Er erhob sich vom Sofa und verlor orientierungslos kurz das Gleichgewicht. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen, stieß aber sofort mit dem Knie gegen den Schreibtisch. Er unterdrückte einen Fluch, rieb sich das Knie, streckte dann beide Arme aus und tastete sich an der Wand entlang, bis er Stoff berührte. Wie ein Maulwurf wühlte er sich mit den Händen in den Vorhang hinein und tastete sich weiter, bis er den Saum erreichte. Er zog den Vorhang zur Seite und strich mit den Handflächen über die kalten, rautenförmig eingefassten Glasscheiben, bis er den Griff fand. Er öffnete das Fenster und steckte den Kopf hinaus.

Die Männer waren weitergegangen. Zur Rechten entfernten sich leicht abschüssig zwei schwankende Lichter in die Dunkelheit. Er nahm an, dass er auf den Weg schaute, der am Pfarrhaus entlang zur Kirche führte. Hinter den beiden Laternen sah er weitere, schwächere Lichtpunkte, manche reglos, einige wenige in Bewegung. In der Ferne bellte ein Hund. Er konnte rollende Wagenräder hören.

Über ihm knarzten die Bodendielen.

Er schloss das Fenster und tastete sich durchs Zimmer zur Tür. Als er sie aufriss, sah er Agnes, die gerade mit einer Kerze in der Hand die letzte Treppenstufe erreicht hatte. Das Haar hatte sie auf Lockenpapier gewickelt. Bei seinem Anblick zog sie den Mantel, den sie über dem Nachthemd trug, fest zusammen. »Hochwürden, Ihr habt mir vielleicht einen Schrecken eingejagt!«

»Wie viel Uhr ist es, Mrs Budd? Seltsam, dass alle auf den Beinen sind.«

Sie wandte sich zu der großen Standuhr um und hielt die Kerze vor das Ziffernblatt. »Es ist zwei Uhr, Hochwürden. Alles normal, wie immer.«

»In Exeter ist es Brauch, dass man zwischen dem ersten und dem zweiten Schlaf auf seinem Zimmer bleibt. Die Leute hier sind sogar draußen auf der Straße. Was ist mit der Sperrstunde? Haben die keine Angst vor der Peitsche?«

»Hier bei uns kümmert sich niemand um Sperrstunden.« Sie vermied es sorgsam, ihn anzusehen.

Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er in Unterzeug vor ihr stand.

Er trat einen Schritt zurück ins Arbeitszimmer und sagte aus dem Halbdunkel: »Verzeiht mein unschickliches Auftreten. Dieses Herumwandern mitten in der Nacht, das ist ganz und gar neu für mich. Könnte ich vielleicht noch eine Kerze bekommen? Oder auch zwei, wenn Ihr sie entbehren könnt?«

»Wartet hier, ich hole welche.« Sie ging mit immer noch abgewandtem Kopf an ihm vorbei in die Küche. Er tastete nach seinem Priesterrock, streifte ihn sich schnell über und machte mit seinen vom Schlaf ungelenken Fingern ein paar Knöpfe zu.

»Hier sind die Kerzen, Hochwürden.« Sie legte sie vor der Tür zum Arbeitszimmer auf den Boden.

Er hob die beiden Kerzen auf, schloss die Tür, zündete eine davon an und setzte sie auf den Ständer, der auf dem Schreibtisch stand. Anstatt wie üblich eine nächtliche Andacht zu halten, beschloss er, sich etwas Inspiration für seine Trauerrede zu holen. Was vermittelte ein besseres Bild von einem Menschen als seine Bibliothek? Er machte sich an die Inspektion der Regale.

Pfarrer Lacy besaß wenigstens hundert Bücher, und manche waren richtige Antiquitäten. Besonders stach die bemerkenswerte Sammlung von Büchern jener Armee von Gelehrten hervor, die ihr Leben dem Studium der Apokalypse gewidmet hatten. Fairfax fuhr mit dem Finger über die Buchrücken: Der Sündenfall … Die Sintflut … Die Zerstörung von Sodom und Gomorrha … Der Zorn Gottes über Babylon … Die zehn Plagen Ägyptens … Die Heuschrecken des Abgrunds … Der feurige Pfuhl … Unser Pfarrer Lacy muss ein schwermütiger Bursche gewesen sein, dachte er. Kein Wunder, dass ihn seine Kollegen gemieden haben.

Er nahm aufs Geratewohl einen Band aus dem Regal. Die sieben Engel mit den Schalen des Zorns. Eine Untersuchung der Offenbarung des Johannes, Kapitel 16. Der Band schlug wie von selbst an einer angestrichenen Stelle auf:

Und er hat sie versammelt an einen Ort, der da heißt auf hebräisch Harmagedon.

Und der siebente Engel goss aus seine Schale in die Luft; und es ging aus eine Stimme vom Himmel aus dem Stuhl, die sprach: Es ist geschehen.

Und es wurden Stimmen und Donner und Blitze; und ward ein solches Erdbeben, wie solches nicht gewesen ist, seit Menschen auf Erden gewesen sind, solch Erdbeben also groß.

Und aus der großen Stadt wurden drei Teile, und die Städte der Heiden fielen.

Er klappte das Buch zu und stellte es zurück ins Regal. Eine solche Sammlung hätte in die Bibliothek des Bischofs gepasst; in einem kleinen Pfarrhaus in einem abgeschiedenen Dorf kam sie ihm allerdings seltsam vor. Er nahm die Kerze hoch und ging zum nächsten Regal, wo sein Blick sofort an einem Bord mit kleinen, blassbraunen Lederbänden hängen blieb. Er hielt die Flamme näher an die Buchrücken – Protokolle und Schriften der Gesellschaft für Altertumsforschung. Augenblicklich war er hellwach. Obwohl er zur Zeit der Prozesse noch ein Knabe gewesen war, erkannte er den Namen sofort. Die Gesellschaft war für ketzerisch erklärt, ihre Mitglieder eingesperrt, ihre Publikationen beschlagnahmt und öffentlich verbrannt und die bloße Benutzung des Worts Altertumsforschung verboten worden. Er erinnerte sich an das große Freudenfeuer, das die Priesterseminaristen mitten in Exeter entzündet hatten. Es war tiefer Winter gewesen, und die Hitze hatte die Stadtbewohner ebenso beeindruckt wie der fanatische Eifer der Seminaristen. Und trotzdem stand er jetzt vor einer noch erhaltenen Sammlung der Arbeiten der Gesellschaft – und das ausgerechnet in einem Nest wie Addicott St George!

Für eine Weile starrte Fairfax das Regal entgeistert an. Neunzehn Bände mit einer schmalen Lücke, wo der zwanzigste entnommen worden war. Was bedeutete das für seine morgige Aufgabe? Lacy war ein Ketzer, da gab es nicht den geringsten Zweifel. Durfte ein Ketzer wissentlich in geweihter Erde beigesetzt werden? Sollte er der fortgeschrittenen Verwesung zum Trotz die Beisetzung verschieben und neue Anweisungen vom Bischof einholen?

Er dachte sorgfältig darüber nach. Er war ein besonnener junger Mann. Der Fanatismus einiger seiner jüngeren Priesterkollegen mit ihren zerzausten Haaren und Bärten und wilden Augen war ihm fremd. Wie Wasserhunde einen Trüffel, so erschnüffelten sie gierig jede Blasphemie. Er bevorzugte schnelle und diskrete Anweisungen. Deshalb hielt er es für das Schlaueste, wie geplant fortzufahren und so zu tun, als wüsste er von nichts. Niemand konnte ihm das Gegenteil beweisen, und mit seinem Gewissen vor Gott und dem Bischof konnte er – falls nötig – auch später noch ins Reine kommen.

Nachdem er das geklärt hatte, setzte er die Untersuchung des Arbeitszimmers fort. Zwei weitere Bürgerregale waren zur Gänze mit ähnlich irregeleiteten Schriften gefüllt. Er fand Monografien über Grabstätten, Artefakte, Inschriften, Denkmäler vor. Es erstaunte ihn, dass der alte Priester das alles so schamlos ausstellte – als existierte das Tal in seiner einzigartigen geografischen Abgeschiedenheit und seiner Verachtung für die Sperrstunde außerhalb von Zeit und Gesetz. Er stieß auf einen Wälzer über die Ruinenstätten Englands mit dem Titel Antiquis Anglia, verfasst von einem Dr Nicholas Shadwell, »Präsident der Gesellschaft für Altertumsforschung«. Zwar reizte es ihn, sich den Band genauer anzusehen, aber er zwang sich, schnell an dem Regal vorbeizugehen. Stattdessen wandte er sich mit der Kerze in der Hand der Vitrine zu, die in der Ecke stand.

Die Stirnseite des etwa brusthohen Holzkastens war mit antikem Glas versehen, wie er gleich bemerkte, da es vollkommen klar und glatt war und nicht die Wellenschlieren von modernem Glas aufwies. Rechts oben in der Ecke hatte die Scheibe einen Sprung. Auch die Regalböden waren aus feinstem Glas. Im Schein der Kerze sah es aus, als schwebten die Objekte auf den Glasböden wie von Zauberhand gehalten in der Luft. Der Besitz all dieser Gegenstände war illegal: Münzen und Plastikbanknoten aus dem Elisabethanischen Zeitalter, Schlüssel, Ringe aus Gold, Kugelschreiber, Glasgeschirr, ein Souvenirteller anlässlich einer königlichen Hochzeit, schmale Blechdosen, ein Bündel Plastiktrinkhalme, eine Plastikwindel mit ausgebleichten Bildern von Störchen mit Säuglingen im Schnabel, weißes Plastikbesteck, Plastikflaschen jeder Form und Art, zusammengesteckte Plastikbauklötzchen in leuchtendem Gelb und Rot, eine Spule mit grünblauer Angelschnur aus Plastik, eine fleischfarbene Plastikpuppe ohne Augen und – im obersten Bord auf einem durchsichtigen Plastikständer – offenbar der Stolz der Sammlung: eines jener Geräte, die von den Vorfahren benutzt wurden, um sich auszutauschen.

Fairfax hatte schon Fragmente davon gesehen, aber noch nie ein so perfekt erhaltenes Exemplar. Er fühlte sich zu dem Objekt hingezogen. Diesmal konnte er nicht widerstehen. Er öffnete die Vitrine und nahm es heraus. Es war dünner als sein kleiner Finger, kleiner als seine Hand, schwarz, glatt und glänzend, gefertigt aus Plastik und Glas. Es lag ziemlich schwer in der Hand und fühlte sich angenehm solide an. Er fragte sich, wem das wohl gehört hatte und wie es in den Besitz des Priesters gelangt war. Welche Bilder es einst wohl übermittelt hatte? Und welche Geräusche es produziert hatte? Er drückte auf den Knopf auf der Vorderseite, als könnte es wie durch ein Wunder zum Leben erwachen, aber die glänzende Oberfläche blieb entschieden schwarz und tot. Er konnte lediglich das im Kerzenschein geisterhafte Spiegelbild seines Gesichts sehen. Er drehte es um. Auf der Rückseite prangte das endgültige Symbol für die Hybris und Blasphemie der Vorfahren – ein angebissener Apfel.

KAPITEL 4

Mittwoch, 10. April: Ein überraschender Zwischenfall bei der Beerdigung

Fairfax blies die Kerzen aus, legte sich wieder hin und zog die Flickendecke bis zum Kinn hoch. Im Dunkeln fiel es ihm leichter, sich die Symbole für die Ketzerei des alten Priesters aus dem Kopf zu schlagen. Tatsächlich war er so müde, dass sich trotz allen Störungen das harte Sofa unter ihm aufzulösen schien und er schon bald tief und regelmäßig atmete.

Im zweiten Schlaf träumte er mehr als im ersten, auch wenn er sich später an nichts mehr erinnern konnte – bis auf den einen Traum, einen immer wiederkehrenden Albtraum, den er schon seit der Zeit träumte, wo seine Eltern und seine Schwester am Schweißfieber gestorben waren und man ihn in die Obhut seines Onkels gegeben hatte. In dem Traum wurde er verfolgt. Er lief barfuß durch ein fremdes Viertel und suchte nach einer bestimmten Straße, einem bestimmten Haus, einer bestimmten Tür. Erst als er das Haus – ein ärmliches, schäbiges Gebäude in einer armen Gegend – nach stundenlanger Suche fand, das Schloss aufbrach und über die Schwelle hineinstolperte, sah er seine Familie wieder. Stumm streckten sie ihm die Hände entgegen. Und in diesem Augenblick wachte er immer auf.

Blinzelnd öffnete er die Augen. Der Raum lag im grauen Dämmerlicht. Ein vager Schmerz des Unbehagens plagte ihn. Als er den Kopf umwandte und im Halbdunkel die Vitrine mit den schwebenden Objekten sah, kehrte die Erinnerung zurück.

Er warf die Decke zur Seite und kniete sich neben das Sofa. Er faltete die Hände so fest zum Gebet, dass die Knöchel weiß hervortraten. Lieber Gott, ich danke Dir für das Geschenk eines neuen Tages. Gewähre mir die Kraft, der Versuchung zu widerstehen, und die Frömmigkeit, Deiner Herrlichkeit heute und in alle Ewigkeit zu dienen. Amen.

Er stand auf und mied sorgsam den Anblick der Bücherregale und der Vitrine. Er zog die Vorhänge auf und öffnete das kleine Fenster. Die Luft war kühl, feucht, still. Am Ende des Weges konnte er die Kirche mit ihrer schlaffen Fahne sehen, dahinter das Dorf und jenseits davon, unter dem bedrohlich tiefen und grauen Himmel, die wie Wellen steil aufsteigenden grünen Flanken des Tals, die mit dem flauschigen Weiß von Schafen betupft waren.

Auf dem kleinen Tisch neben dem Fensterbrett standen eine Waschschüssel, ein Krug Wasser und ein kleiner Spiegel. Daneben lagen ein Handtuch und ein Stück altmodischer schwarzer Seife, die nach Pottasche stank. Er konnte sich nicht überwinden, sie zu benutzen – der künstliche Geruch würde ihn den ganzen Tag ans Priesterseminar erinnern, an die morgendliche Kälte, wenn er bibbernd in Unterzeug vor der Wasserpumpe angestanden hatte, bis er endlich an der Reihe war. Er spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht, fuhr sich mit den nassen Händen durch Haar und Bart und begutachtete dann sein Aussehen im Spiegel. Wie alle Priester hatte er sich den Bart lang wachsen lassen. Er war wie sein Haar dicht und schwarz, und er achtete darauf, ihn nach der Mode eckig zu schneiden. Und doch schien er seinem Erscheinungsbild keinerlei Ernsthaftigkeit zu verleihen. Nach einem Winter, den er hauptsächlich im Dom verbracht hatte, war seine Haut bleich und zu glatt. Aus seinen Augen sprach zu viel jugendliche Strebsamkeit. Er blickte sein Spiegelbild böse an, was aber nur lächerlich aussah.

Die Uhr in der Diele zeigte kurz nach sieben an. Aus der Küche drang das Geklapper von Töpfen und Pfannen. Er rief laut: »Guten Morgen!«, und betrat die Wohnstube, wo der Tisch bereits für sein Frühstück gedeckt war. Durch das Fenster schaute man auf den Feldweg, der dem Dorf als Hauptstraße diente. Eine Frau trug einen schweren Krug auf dem Kopf. Wahrscheinlich kam sie gerade vom Gemeindebrunnen. Ein Mann in einem Arbeitskittel führte einen Maulesel an der Leine. Die beiden begrüßten sich und gingen zusammen weiter. Fairfax sah ihnen hinterher, bis sie aus seinem Blickfeld verschwunden waren.

Er hörte hinter sich ein Geräusch und drehte sich um. Eine junge Frau stellte einen Teller auf den Tisch. Er hatte sie nicht hereinkommen hören. Aus irgendeinem Grund hatte er sich Mrs Budds Nichte als schlichtes, grobschlächtiges Landei vorgestellt. Stattdessen war sie schlank, hatte ein blasses ovales Gesicht, große blaue Augen und üppiges, mit einer blauen Schleife zusammengehaltenes schwarzes Haar, das ihren grazilen, langen, weißen Hals betonte. Die Tatsache, dass sie Trauerkleidung trug, machte sie sogar noch anziehender.

Als er sich von seiner Überraschung erholt hatte, sagte er aufgekratzt: »Guten Morgen! Ihr müsst Rose sein. Was für ein angenehmer Anblick an so einem grauen Tag!«

Sie drehte sich um und ergriff wortlos die Flucht. Er hatte sie wohl zu offensichtlich angestarrt.

Als für Fairfax feststand, dass sie nicht zurückkommen würde, setzte er sich an den Tisch und blickte reumütig auf den Teller mit kaltem Hammelfleisch und Käse. Das war seine Tragödie: Als ein Mensch voller Leidenschaft war es ihm verwehrt, diese auszuleben. Folglich fehlte es ihm an jeglichem Geschick und jeglicher Erfahrung mit Frauen. In der Domgesellschaft hatte er ausschließlich mit Männern Umgang, da dem geistlichen Stand als wichtigste Auflage Keuschheit verordnet war. Vor sich selbst konnte er nicht leugnen, dieses Verbot zu bedauern, aber er rang mit sich um seine Einhaltung und hatte natürlich nie daran gedacht, es infrage zu stellen. Und doch hieß es, dass vor der Apokalypse die meisten Priester in England verheiratet gewesen seien – und dass man in den Jahrzehnten zuvor sogar Frauen gestattet habe, die heilige Kommunion zu spenden! Das war fraglos nicht die lässlichste aller Blasphemien, die Gottes Zorn über die Welt gebracht hatten.

Wieder öffnete sich die Tür. Er hoffte, die Scharte auswetzen zu können, und drehte sich erwartungsvoll um. Aber es war nur Agnes mit einer Kanne Tee.

»Guten Morgen, Hochwürden.«

»Guten Morgen, Mrs Budd.«

»Etwas Tee? Pfarrer Lacy mochte Cornish am liebsten, aber wir haben auch Highland, wenn Ihr den lieber mögt.«

»Cornish ist völlig in Ordnung.« Sie schenkte ihm vorsichtig ein, wobei sie mit der freien Hand den Deckel festhielt. »Ich befürchte, Eure Nichte erschreckt zu haben.«

»Achtet nicht auf sie. Sie ist so scheu wie ein Rehkitz.«

»Dennoch, ich hätte mich ganz gern mit ihr unterhalten.« Er fügte schnell hinzu: »Über ihr Leben, das sich nun auf so traurige Weise verändern wird.«

»Das wird wohl, Gott sei’s geklagt, nicht möglich sein.«

»Wieso das?«

»Sie spricht nicht.«

»Wie bitte? Nie?«

»So ist es. Sie ist ohne diese Gabe zur Welt gekommen.«

Sein täppisches Benehmen war ihm nun noch peinlicher. »Tut mir sehr leid, das zu hören.«

»Es ist Gottes Wille, Hochwürden.«

»Wie alt ist sie?«

»Achtzehn.«

Nachdem Agnes das Zimmer verlassen hatte, nahm Fairfax seine Schale Tee in beide Hände und versuchte sich vorzustellen, wie es dem armen Mädchen jetzt, ohne ihr Heim, ergehen würde. Würde sie zu ihrer Familie zurückkehren? Und würde die eine Stumme, die ihrem guten Aussehen zum Trotz wohl kaum zu verheiraten wäre, überhaupt zurücknehmen? Vielleicht sollte er ja – nur so ein Gedanke – den Bischof fragen, ob nicht die Möglichkeit bestehe, dass er, Fairfax, die Pfarre übernehme. Er stellte sich vor, wie sie zu dritt in dem Haus lebten. Mit seiner Sanftmut würde er schließlich ihr Vertrauen gewinnen. An den langen Winterabenden könnte er sie vielleicht unterrichten und so ihr Gebrechen überwinden. Und der tägliche Kampf, der Versuchung zu widerstehen, würde ihn näher zu Gott bringen. Wäre das denn ein so schlechtes Leben?

Bis Fairfax seinen Tee ausgetrunken hatte, war er hinlänglich davon überzeugt, dass sein Schicksal diese unwahrscheinliche – und wahrhaft selbstquälerische – Wendung nehmen würde. Mit frischem Appetit nahm er sein Frühstück in Angriff.

*

Er holte seine Tasche aus dem Arbeitszimmer, zog die Tür fest zu, bekreuzigte sich und ging zurück in die Wohnstube, um die Arbeit an seiner Rede zu beenden. Seit den Entdeckungen, die er zwischen dem ersten und zweiten Schlaf gemacht hatte, war die Aufgabe wesentlich anspruchsvoller geworden. Zwei Stunden mühte er sich ab, die Lehren der Kirche mit den neuen Erkenntnissen über Pfarrer Lacy in Einklang zu bringen. Er blies sich in die Hände, um sie aufzuwärmen. Er rauchte eine zweite Pfeife. Gelegentlich machte er eine Pause und schaute zum Fenster hinaus. Es wurde nicht heller. Im Gegenteil, es wurde dunkler. Schließlich fing es an zu regnen – nicht das weiche Nieseln wie am Vortag, sondern ein ausgewachsener Wolkenbruch, der aufs Dach prasselte und wie ein Wasserfall über die Dachrinne hinausschoss.

Agnes schleppte den ganzen Morgen Platten mit Essen in die Kirche. Schließlich brachte sie ihm eine weitere Kerze. Irgendwo in der Ferne tat es einen gewaltigen Schlag, dessen Nachhall sich durchs Tal wälzte.

Er hob den Kopf. »War das Donner?«

»Ohne Blitze? Das kann nicht sein, Hochwürden. Die sprengen im Steinbruch.«

»Bei dem Wetter?«

Sie sagte nichts darauf, weil sie von etwas abgelenkt wurde, was sich draußen vor dem Fenster abspielte. Fünf Männer, die ihre Kapuze gegen den Regen tief heruntergezogen hatten, verließen durch das Seitentor den Friedhof. Vier trugen einen dunklen Feiertagsanzug, in dem sie sich nicht wohlzufühlen schienen, einer trug den roten Talar eines Küsters. Sie gingen schnell über die Straße auf das Pfarrgebäude zu.

»Sie kommen ihn holen«, sagte Agnes mit tonloser Stimme. »Ist wohl so weit.«

Sie ging zur Vordertür, um die Männer hereinzulassen. Fairfax hörte ihre Stimmen, gedämpft, respektvoll, und ihre Stiefel, mit denen sie auf dem Plattenboden aufstampften, um den Matsch und das Wasser abzuklopfen. Dann Schritte auf der Treppe. Agnes tauchte wieder in der Tür zur Wohnstube auf, hinter ihr der Mann im roten Talar. Fairfax stand auf.

»Hochwürden, das ist George Keefer, unser Küster«, sagte sie und trat beiseite, um ihn durchzulassen.

Fairfax erkannte den Mann sofort an der Glatze mit dem sichelförmigen Muttermal. Keefer streckte die Hand aus. »Ihr habt uns also gefunden, Hochwürden.«

»Sieht so aus.« Fairfax schüttelte die klobige, feuchte Hand.

Agnes schaute überrascht. »Ihr kennt Euch?«

»Wir haben uns gestern auf der Straße getroffen«, sagte Fairfax.

»Ich hätte Euch ja selbst hergeführt, aber ich musste die Wolle vor Einbruch der Dunkelheit in der Mühle abliefern«, sagte Keefer. Von oben war Hämmern zu hören. Er blickte zur Decke. »Ich habe die Anweisung gegeben, den Sarg zuzunageln. Ist jetzt schon eine Woche her. Wer ihm die letzte Ehre erweisen wollte, hat das schon getan. Stimmt doch, oder, Agnes?«

»Ihr seid der Küster«, sagte sie kalt.

Aufgrund des kahlen Schädels fiel es Fairfax schwer, Keefers Alter zu schätzen. Zweifellos war er jünger, als er aussah. Vielleicht Mitte zwanzig. Wie auch immer, jedenfalls gefiel ihm Keefers Verhalten nicht, und er hatte gute Lust, ihn für seine Unfreundlichkeit am gestrigen Tag zu rügen, vor allem eingedenk ihrer beider Stellung: Er war geweihter Priester, Keefer nur Küster. Der Mann musste erkannt haben, dass Fairfax auf dem Weg zu Pfarrer Lacys Beerdigung gewesen war. Aber das gedämpfte Hämmern über ihm erinnerte ihn daran, dass er sich um Wichtigeres zu kümmern hatte als um seine Würde.

»Ich denke, Mr Keefer, wir sollten nun den Ablauf der Trauerfeier festlegen.« Er warf einen Blick in seine Notizen. »Als Lieder habe ich ›Aus des Vaters Herz geboren‹ und ›Ein feste Burg ist unser Gott‹ ausgewählt. Es sei denn, Pfarrer Lacy hatte ein Lied, das er besonders mochte.«

Keefer zuckte die Achseln. »Wüsste nichts dergleichen.«

»Dann wäre das geklärt. Für die Lesung aus der Schrift habe ich den ersten Brief an die Korinther ausgewählt: Wir werden nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden. Eine übliche und passende Wahl für den Anlass.«

»Wie Ihr wünscht.«

»Wer wird lesen?«

Keefer kratzte sich am Kopf. »Lady Durston ist sicher da. Die erste Bank ist traditionell für die Familie Durston reserviert. Sie kannte den Pfarrer so gut wie jeder andere.«

»Gut, dann fragt diese Lady Durston. Könnte es sein, dass sonst noch jemand etwas sagen möchte?«

»Wir reden hier nicht gern vor anderen Leuten.«

Die ersten Schläge der Totenglocke beendeten das Gespräch. Sollte es irgendwo in der Christenwelt noch trübseligere Klänge geben, so hoffte Fairfax, sie nie hören zu müssen. Nach jedem dumpfen Läuten folgte eine Pause, die drei, vier Sekunden andauerte, dann folgte der nächste Glockenschlag – die Aufforderung an den Toten: beharrlich, unausweichlich, unerbittlich.

»Wie viel Uhr ist es, Mrs Budd?«, fragte Fairfax.

Sie schaute über die Schulter in die Diele. »Viertel vor elf, Hochwürden.«

»Dann sollten wir anfangen. Lasst mich jetzt bitte allein.«

Nachdem Mrs Budd und Keefer gegangen waren, öffnete Fairfax seine Tasche und nahm sein Ornat heraus. Er zog sich die weiße Albe über den Kopf und strich sie bis hinunter zu den Knöcheln glatt. Dann streifte er sich die grüne und goldene Kasel über die Schultern. Er entfaltete die Stola, küsste sie und legte sie sich um den Hals. Der schwere, bestickte Stoff war steif und noch ungewohnt. Fairfax war erst an Michaeli ordiniert worden und spürte ein nervöses Kribbeln, das er sofort unterdrückte. Wenn er nicht einmal in einem kleinen, rückständigen Kaff einen einfachen Gottesdienst abhalten konnte, wie wollte er dann auf eine Karriere im Klerus hoffen? Er nahm das Gebetbuch, die Bibel und seine Notizen und trat in die Diele hinaus.

Die Leichenträger mühten sich noch damit ab, den Sarg die schmale Treppe hinunterzuschaffen. Dazu mussten sie ihn fast senkrecht aufrichten. Er stieß gegen die Wände und das Geländer. Jeden Augenblick konnte er bersten, und der alte Priester würde in einer Wolke aus Sägemehl die Treppe hinunterpoltern. Agnes stand mit Rose hinten in der Diele. Sie hielt sich die Hand vor den Mund. Beide Frauen trugen eine schwarze Haube.

Fairfax drückte sich an Keefer vorbei, der hilflos Anweisungen verteilte, und ging ein paar Stufen die Treppe hinauf. Er stützte den Sarg an der Seite ab. »Wo ist der Kopf? Er muss mit dem Kopf voraus das Haus verlassen.« Als der Sarg stabilisiert war – zwei Männer hielten das eine, zwei das andere Ende –, ließ er los und öffnete die Tür.

Fairfax betete zu Gott, dass der Heilige Geist über Pfarrer Lacy kommen möge – was in diesem Augenblick höchstwahrscheinlich noch nicht der Fall war –, und ging hinaus in den böigen Regen. Bei drei wuchteten die Leichenträger den Sarg auf die Schultern und traten schwankend hinter ihm ins Freie. Es folgten Keefer sowie Agnes und Rose, die die Tür abschloss. Langsam bewegte sich die kleine Trauergemeinde durch den Garten und weiter über den matschigen Weg voller Pfützen auf das Friedhofstor zu. In die Mauer waren Haken eingelassen, an denen Pferde festgemacht waren. Daneben standen ein Pony mit einer kleinen Kutsche und zwei Maultiere mit einem Planwagen. Die Glocke läutete. Fairfax’ Messgewand blähte sich wie ein Segel im Wind. Er kam sich wie ein gestrandeter Seemann vor, der verzweifelt versuchte, das Ufer zu erreichen.

Sie gingen durch das Tor, vorbei an tropfnassen Grabsteinen und dem Loch des frisch ausgehobenen Grabes, bis sie das schützende Vordach der Kirche erreichten. Nach einer kurzen Pause, in der die Träger das Gewicht des Sargs verlagerten, traten sie über die durch jahrhundertelangen Gebrauch durchgetretene