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Europa, 1944: In einem letzten Aufbäumen setzt das Deutsche Reich seine modernste und tödlichste Waffe ein. Zehntausend V2-Raketen mit tonnenschwerem Sprengkopf sollen auf England niedergehen. Schon jetzt gibt es Tausende Opfer unter der Bevölkerung. Der Deutsche Rudi und die Engländerin Kay sind Feinde. Ein Ziel jedoch eint sie: Sie wollen den Wahnsinn beenden.
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Seitenzahl: 412
Das Buch
November 1944. Das Deutsche Reich steht vor der Niederlage. In einer Großoffensive setzt es seine modernste Waffe ein – die V2. Tausende dieser ballistischen Raketen mit schwerem Sprengkopf werden auf England abgeschossen. Radar und Aufklärer können sie nicht orten – wie aus dem Nichts stürzen sie mit Überschallgeschwindigkeit auf London herab.
Der Ingenieur Rudi Graf hat mit seinem Freund Wernher von Braun einst davon geträumt, einmal eine Rakete zum Mond zu schicken. Jetzt findet er sich im besetzten Holland wieder, wo er die technische Aufsicht über die Abschüsse hat. Vom Krieg ist er längst desillusioniert. Inzwischen ermittelt gar ein NS-Führungsoffizier wegen Sabotageverdacht gegen ihn.
Kay Caton-Walsh, Offizierin im Frauenhilfsdienst der britischen Luftwaffe, entkommt einem V2-Einschlag nur knapp. Als kurz darauf 160 Menschen von einer der Raketen getötet werden, vor allem Frauen und Kinder, meldet sie sich freiwillig zu einer lebensgefährlichen Mission. Zusammen mit Kameradinnen wird sie im befreiten Belgien abgesetzt. Dort sollen sie die mobilen Startplätze ausfindig machen und zerstören.
Das Schicksal wird Kay und Rudi schließlich aufeinandertreffen lassen.
Der Autor
Robert Harris wurde 1957 in Nottingham geboren und studierte in Cambridge. Seine Romane Vaterland, Enigma, Aurora, Pompeji, Imperium, Ghost, Titan, Angst, Intrige, Dictator, Konklave, München und zuletzt Der zweite Schlaf wurden allesamt internationale Bestseller. Er lebt mit seiner Familie in Berkshire.
ROBERT HARRIS
VERGELTUNG
ROMAN
Aus dem Englischen vonWolfgang Müller
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Die Originalausgabe erscheint unter dem TitelV2bei Hutchinson, London
Copyright © 2020 by Canal K Limited
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe byWilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Eisele Grafik·Design, München, unter Verwendung von Alamy Stock Foto / Baarssen Fokke
Herstellung: Helga Schörnig
Satz: Schaber Datentechnik, Austria
ISBN 978-3-641-24010-3V002
www.heyne.de
FürSonny Mehta
1942–2019
An jenem Samstagmorgen Ende November 1944 lagen in dem Lokschuppen im holländischen Seebad Scheveningen drei ballistische, je fünfzehn Meter lange Raketen: in stählernen Betten, die öligen Decken zurückgeschlagen, und an Monitore angeschlossen wie verhätschelte Patienten einer Privatklink. Die Techniker in den formlosen, grauen Drillich-Overalls des deutschen Heeres kümmerten sich um sie.
Der Winter, der sechste in diesem Krieg, war streng wie immer. Die Kälte drang vom Betonboden noch durch die dicksten Stiefelsohlen und schien in Fleisch und Knochen zu steigen. Einer der Männer trat einen Schritt von seiner Werkbank zurück und stampfte mit den Füßen auf dem Boden auf, um den Kreislauf in Schwung zu halten. Er war der einzige, der keine Uniform trug. Der dunkelblaue Anzug aus Vorkriegszeiten, die Stiftekollektion in der Brusttasche und die schon etwas fadenscheinige karierte Krawatte wiesen ihn als Zivilisten aus – auf Mathematiklehrer hätte man getippt oder einen jungen Dozenten einer Naturwissenschaft. Nur wenn man das Öl unter den abgekauten Fingernägeln bemerkt hätte, wäre man vielleicht auf den Gedanken gekommen: ah, richtig, ein Ingenieur.
Er konnte die Brandung der Nordsee hören, die Wellen, die in kaum hundert Meter Entfernung unentwegt auf den Strand schlugen, die kreischenden, im Wind schaukelnden Möwen. Erinnerungen kamen hoch, zu viele Erinnerungen, wie er fand. Er war versucht, die Gehörschützer aufzusetzen, um die Geräusche auszublenden. Aber dann wäre er noch mehr aufgefallen. Außerdem hätte er sie ohnehin alle fünf Minuten abnehmen müssen, weil er dauernd irgendeine Frage beantworten musste – über das Triebwerk, die Druckbeaufschlagung im Alkoholtank oder die elektrische Verkabelung, mit der die Rakete von Bodenstrom auf interne Energieversorgung umgeschaltet wurde.
Er machte sich wieder an die Arbeit.
Es war kurz vor halb elf, als an der Rückseite des Schuppens eine der großen, stählernen Rolltüren zur Seite geschoben wurde und der Soldat daneben Haltung annahm. Mit einem kalten Regenschwall betrat Oberst Walter Huber, Kommandeur des Artillerieregiments, den Schuppen. Er wurde von einem Mann begleitet, der einen langen, schwarzen Ledermantel trug, auf dessen Revers die silbernen SS-Insignien prangten.
»Graf!«, rief der Oberst.
Dreh dich weg, war Grafs erster Gedanke. Nimm den Lötkolben, und beug dich über die Werkbank, als hättest du alle Hände voll zu tun.
Aber Huber konnte man nicht entrinnen. Seine Stimme dröhnte, als befände er sich auf dem Exerzierplatz. »Hier haben Sie sich also verkrochen! Da ist jemand, der Sie kennenlernen möchte.« Seine hohen Lederstiefel knarzten, als er mit scharfen Schritten die Werkstätte durchquerte. »Sturmscharführer Biwack vom Nationalsozialistischen Führungsstab«, sagte er und führte den Fremden herein. »Sturmscharführer, das ist Doktor Rudi Graf von der Heeresversuchsanstalt Peenemünde. Er ist unser technischer Verbindungsoffizier.«
Biwack hob den Arm zum Hitlergruß, den Graf argwöhnisch erwiderte. Er hatte zwar schon von den NSFOs gehört, aber noch nie einen getroffen. Sie waren Kommissare der Nazipartei, die erst vor kurzem auf Befehl des Führers installiert worden waren und den Kampfgeist der Truppe stärken sollten. Die Sorte Fanatiker, die erst nach der letzten Patrone aufgab. Je schlimmer die Lage wurde, so schien es, desto mehr wurden es.
Der SS-Mann musterte Graf von Kopf bis Fuß. Er war um die vierzig, nicht unsympathisch. Er lächelte sogar. »Sie sind also eins von diesen Genies, die uns den Krieg gewinnen?«
»Das bezweifle ich.«
»Graf weiß alles über die Rakete«, sagte Huber schnell. »Er kann Sie einführen.« Er wandte sich an Graf. »Sturmscharführer Biwack gehört ab jetzt zu meinem Stab. Er hat die höchste Sicherheitsfreigabe. Sie können sich ihm ganz anvertrauen.« Er schaute auf seine Uhr. Graf spürte, dass er sich so schnell wie möglich verabschieden wollte. Huber war alte preußische Schule, Artillerieoffizier aus dem ersten Weltkrieg – die Sorte Offizier, die nach dem Attentat auf Hitler unter Verdacht geraten war. Einen Nazispion mit dem Ohr an seinem Schlüsselloch war das Letzte, was er brauchen konnte. »Einer von Seidels Zügen führt in einer halben Stunde den nächsten Start durch. Ich schlage vor, Sie schauen sich das zusammen an.« Er nickte knapp und aufmunternd. »Sehr schön.« Dann drehte er sich um und war verschwunden.
Biwack zuckte die Achseln und schnitt eine Grimasse. Diese alten Haudegen. Was soll man da machen? Dann nickte er zu der Werkbank und fragte Graf: »Woran arbeiten Sie da?«
»An einem Umformer, aus der Steuerungseinheit. Die mögen die Kälte überhaupt nicht.«
»Wer mag die schon?« Biwack stemmte die Fäuste in die Hüften und sah sich um. Sein Blick blieb an einer der Raketen hängen. Die V2. Vergeltungswaffe 2. »Mein Gott. Wunderschön. Ich habe natürlich schon von ihr gehört, aber ich habe noch nie eine gesehen. Den Start gleich würde ich mir sehr gern anschauen. Irgendwelche Einwände?«
»Natürlich nicht.« Graf nahm Hut, Schal und Regenmantel von der Hakenleiste neben der Tür.
Vom Meer her wehten Regenböen durch die Seitenstraßen mit den verwaisten Hotels. Der Landungssteg war schon im vorigen Jahr niedergebrannt. Die geschwärzten Eisenpfähle ragten zwischen den weißen Schaumkronen der anbrandenden Wellen hervor wie die Masten eines Schiffswracks. Der Strand war mit Stacheldraht und Panzersperren übersät. An der Außenwand des Bahnhofs hingen einige zerfetzte Touristenplakate aus der Vorkriegszeit, auf denen noch zwei elegante Frauen zu erkennen waren, die gestreifte Badeanzüge und Glockenhüte trugen und sich einen Ball zuwarfen. Die Bevölkerung des Ortes war vertrieben worden. Außer Soldaten waren hier keine anderen Menschen zu sehen; außer Armeelastern und einigen großen Zugmaschinen für die V2 auch keine anderen Fahrzeuge.
Unterwegs berichtete Graf die wesentlichen Fakten. Um der feindlichen Luftwaffe kein Ziel zu bieten, wurden die Raketen im Schutz der Dunkelheit aus den deutschen Fabriken hierhertransportiert: mit Zügen, zwanzig Raketen pro Lieferung, zwei oder drei Lieferungen pro Woche, alle bestimmt für den Angriff auf London. Antwerpen würde mit der gleichen Menge bombardiert werden, aber von deutschem Boden aus. Die SS hatte ihre eigene Stellung in Hellendoorn. Die Batterien in Den Haag hatten den Befehl, die Raketen binnen fünf Tagen nach Eintreffen abzufeuern.
»Warum die Eile?«
»Je länger sie Nässe und Kälte ausgesetzt sind, desto mehr Störungen treten auf.«
»Gibt es viele davon?« Beim Gehen schrieb Biwack Grafs Antworten in ein kleines Notizbuch.
»Ja. Zu viele.«
»Warum?«
»Die Technik ist revolutionär. Wir müssen sie also ständig weiterentwickeln. Seit dem Prototyp haben wir schon über sechzigtausend Modifizierungen vorgenommen.« Eigentlich sei es kein Wunder, dass so viele Raketen versagten, wollte er noch hinzufügen, sondern dass überhaupt welche abhoben. Aber er ließ es bleiben. Der Anblick des Notizbuchs gefiel ihm gar nicht. »Warum machen Sie sich so viele Notizen, wenn ich fragen darf? Schreiben Sie einen Bericht?«
»Nein, ich will nur sichergehen, dass ich auch alles richtig verstehe. Arbeiten Sie schon lange an den Raketen?«
»Sechzehn Jahre.«
»Sechzehn Jahre! Wenn ich Sie mir so anschaue … Wie ist das möglich? Wie alt sind Sie?«
»Zweiunddreißig.«
»So alt wie Professor von Braun. Sie waren mit ihm in der Heeresversuchsanstalt Kummersdorf, richtig?«
Graf warf ihm einen kurzen Seitenblick zu. Er hatte also Wernher und ihn überprüft. Ihm wurde etwas mulmig zumute. »Richtig.«
Biwack lachte. »Ihr seid alle so jung, ihr Raketenburschen.«
Sie hatten die Stadtstraßen hinter sich gelassen und gingen nun durch die grünen Vororte. Scheveningen war von Wäldern und Seen umgeben. Vor dem Krieg musste es hier ziemlich schön gewesen sein. Hinter ihnen dröhnte eine Lastwagenhupe und scheuchte sie an den Straßenrand. Sekunden später brummte der Laster an ihnen vorüber – auf dem hydraulischen Tieflader lag eine V2, vorn die Ruder, dann der lange Korpus und schließlich, hinten über die Ladefläche hinausragend, der Nasenkegel mit dem Gefechtskopf und einer Tonne Sprengstoff. Tanklaster mit Tarnanstrich folgten dicht dahinter. Graf legte die Hände trichterförmig um den Mund und brüllte Biwack ins Ohr: »In den Tanks, das ist Ethanol … Flüssigsauerstoff … Wasserstoffperoxyd … Das kommt mit den gleichen Zügen wie die Raketen. Betankt wird erst am Abschussort.«
Nachdem das letzte Begleitfahrzeug hinter der nächsten Kurve verschwunden war, gingen sie weiter. »Haben Sie keine Angst vor feindlichen Bombern?«, fragte Biwack.
»Natürlich, Tag und Nacht. Bis jetzt hatten wir Glück. Sie haben uns noch nicht entdeckt.« Graf schaute zum Himmel. Die Meteorologen der Wehrmacht sagten für dieses Wochenende eine Schlechtwetterfront über Nordeuropa voraus. Graue, schwere Regenwolken. Das würde die Royal Air Force am Boden halten.
Sie waren schon einige Zeit durch den Wald gegangen, als sie einen Kontrollposten erreichten. Ein Schlagbaum versperrte den Weg, daneben stand ein Wachmann. Graf schaute in den Wald zu einem Hundeführer, der mit einem großen Deutschen Schäferhund an der Leine durch die tropfnasse Vegetation stapfte. Der Hund hob das Bein und starrte ihn an. Einer der SS-Wachleute schulterte seine Maschinenpistole und streckte die Hand aus.
Egal, bei wie vielen Starts Graf sie schon passiert hatte, den Wachen schien es jedes Mal aufs Neue Spaß zu machen, ihn so zu behandeln, als hätten sie ihn noch nie zuvor gesehen. Er griff in die Innentasche und holte die Brieftasche heraus, öffnete sie und zückte den Ausweis. Dabei rutschte eine kleine Fotografie heraus und fiel auf den Boden. Bevor er reagieren konnte, hatte Biwack sich gebückt und sie aufgehoben. Er betrachtete das Foto und lächelte. »Ist das Ihre Frau?«
»Nein.« Graf war es unangenehm, das Foto in den Händen des SS-Mannes zu sehen. »Sie war meine Freundin.«
»War?« Biwack machte das professionell teilnahmsvolle Gesicht eines Bestattungsunternehmers. »Mein Beileid.«
Er gab Graf das Foto zurück, der es behutsam wieder in die Brieftasche schob. Er spürte, dass der SS-Mann auf weitere Erläuterungen wartete, die er ihm aber nicht geben wollte. Der Schlagbaum hob sich.
Die nun vor ihnen liegende Straße mit den pittoresken Straßenlaternen lud zu einem Spaziergang oder einer Radtour ein. Sie war dicht mit Bäumen gesäumt und lag unter einem Dach aus Tarnnetzen. Auf den ersten Blick wirkte der Wald menschenleer. Als sie weiter hineingingen, konnte man jedoch die links und rechts abzweigenden Wege einsehen, wo zwischen den Bäumen versteckt das Kerngeschäft des Regiments abgewickelt wurde: Zelte, in denen Ausrüstung lagerte und Tests durchgeführt wurden, jede Menge Fahrzeuge, ein Dutzend unter Tarnplanen verborgene Raketen. Die feuchte Luft wehte Stimmengewirr, das Wummern von Generatoren, das Heulen von Maschinen zur Straße herüber. Biwack war stehen geblieben, hatte wissbegierig ein paar Fragen gestellt und ging jetzt mit forschen Schritten weiter. Zu ihrer Linken fiel das Gelände ab. Durch die Blätter war die stumpf wie Zinn glänzende Wasserfläche eines Sees zu sehen, in dem sich eine Insel mit einem verzierten Bootshaus befand. Hinter einer Kurve hob Graf die Hand. Biwack blieb stehen.
In zweihundert Meter Entfernung, inmitten der Straße und wegen der ausgefransten, grün-braunen Tarnplane nicht sofort zu erkennen, ragte eine V2 senkrecht in die Höhe. Sie stand völlig allein auf der Abschussplattform und war nur durch ein Elektrokabel mit einem Stahlmast verbunden. Ringsherum rührte sich nichts. Oberhalb des Flüssigsauerstofftanks trat lautlos ein dünner Dampfstrahl aus, der in der dunstigen Luft wie Atemluft kondensierte. Es war, als wären sie im Dschungel einem riesigen majestätischen Tier über den Weg gelaufen.
»Können wir nicht näher ran?«, fragte Biwack mit ehrfurchtsvoll gedämpfter Stimme.
»Jeder Schritt weiter wäre nicht mehr sicher.« Graf zeigte nach vorn. »Sehen Sie die Begleitfahrzeuge, die da etwas abseits stehen? Das heißt, die Abschussmannschaft ist schon in den Splittergräben.« Er zog seine Gehörschützer aus der Manteltasche. »Hier, setzen Sie die auf.«
»Und was ist mit Ihnen?«
»Mir tut das nichts mehr.«
Biwack machte eine wegwerfende Handbewegung. »Dann halte ich das auch aus.«
Eine Hupe ertönte. Ein aufgeschreckter Wildvogel flatterte aus dem Gebüsch und flüchtete mit hektisch schlagenden Flügeln. Ein echter Überlebenskünstler, dachte Graf. Die Soldaten machten Jagd auf sie, um damit ihre Essensrationen aufzubessern. Das heisere, panische Kreischen des Vogels passte zum Klang der Hupe.
»Leer wiegt sie vier Tonnen«, sagte Graf. »Vollbetankt zwölfeinhalb. Bei der Zündung fließt der Treibstoff schwerkraftgetrieben. Das sorgt für acht Tonnen Schubkraft – immer noch leichter als die Rakete.«
Eine Lautsprecherstimme zählte: »Zehn … neun … acht …«
Funken, die in der Dämmerung wie Glühwürmchen leuchteten, sprühten unter der Rakete hervor. Plötzlich verschmolzen sie zu einem einzigen grellorange Flammenstrahl. Blätter, Zweige, Steine und Dreck wurden aufgewirbelt und flogen über die Lichtung. Graf drehte sich um und brüllte Biwack zu: »Jetzt wird auf die Turbopumpe umgeschaltet und der Schub steigt auf fünfundzwanzig …«
»… drei … zwei … eins!«
Grafs letzte Worte wurden von einem ohrenzerfetzend krachenden Donnern verschluckt. Er presste sich die Hände an die Ohren. Der Versorgungsschlauch fiel herunter. Die von der Turbopumpe in die Brennkammer gepresste Mischung aus Alkohol und Flüssigsauerstoff verbrannte – eine Tonne in sieben Sekunden. Das sorgte – das behaupteten sie jedenfalls in Peenemünde – für das lauteste Geräusch, das auf der Erde je von Menschenhand verursacht worden sei. Die Vibrationen ließen Graf von Kopf bis Fuß erzittern. Heiße Luft schlug ihm ins Gesicht. Die Bäume rundum leuchteten im grellen Lichtschein.
Zunächst wirkte die Rakete wie abgewürgt, wie ein Sprinter in den Blöcken im Sekundenbruchteil nach dem Startschuss. Dann hob sie ruckartig ab und schoss auf einem fünfzehn Meter langen Flammenstrahl senkrecht in die Höhe. Ein donnernder Knall rollte über die Baumwipfel am Himmel entlang. Er legte den Kopf in den Nacken, betete, dass sie nicht explodieren möge, und zählte im Geist mit. Eine Sekunde … zwei Sekunden … drei Sekunden … Nach exakt vier Sekunden Flugzeit, in einer Höhe von zweitausend Metern, wurde eine Zeitschaltuhr in der Steuerungseinheit aktiviert, und die V2 ging in einem Winkel von siebenundvierzig Grad in Schräglage. Die Notwendigkeit dieses Manövers bedauerte er immer wieder. In seinen Träumen flog sie vertikal hinauf zu den Sternen. Dann verschwand der rot glühende Flammenstrahl in den tief hängenden Wolken, und sie war auf dem Weg nach London.
Er nahm die Hände herunter. Im Wald herrschte wieder Stille. Das schon weit entfernte Brummen der V2 verstummte schnell. Jetzt waren nur noch Vogelgezwitscher und der auf die Bäume prasselnde Regen zu hören. Die Mitglieder der Abschussmannschaft kamen aus den Gräben und gingen zur Startrampe. Zwei der Männer trugen einen Asbestschutzanzug. Ihre Bewegungen waren so ungelenk wie die von Tiefseetauchern. Langsam nahm nun auch Biwack die Hände von den Ohren. Sein Gesicht war rot angelaufen, die Augen strahlten in einem unnatürlichen Glanz. Zum ersten Mal an diesem Morgen fehlten dem Nationalsozialistischen Führungsoffizier die Worte.
Fünfundsechzig Sekunden nach dem Start, in einer Höhe von siebenunddreißig Kilometern und bei einer Geschwindigkeit von viertausend Kilometern pro Stunde, schaltete ein Beschleunigungssensor an Bord die Treibstoffzufuhr zum V2-Triebwerk ab. Gleichzeitig wurde ein Schalter aktiviert, der den Sprengkopfzünder scharf machte. Die jetzt antriebslose Rakete flog nun ballistisch und folgte der gleichen parabolischen Flugbahn wie ein von einem Katapult in die Luft geschleuderter Stein. Sie legte immer noch an Geschwindigkeit zu. Der Kurs war auf eine Peilung von 260 Grad Westsüdwest eingestellt. Der Zielpunkt war Charing Cross Station, die nominell exakte Mitte der Stadt. Jeder Einschlag innerhalb eines Radius von acht Kilometern galt als Treffer.
Etwa im gleichen Augenblick kam in einer Wohnung in der Warwick Court, einer ruhigen, schmalen Straße in unmittelbarer Nähe der Chancery Lane in Holborn, etwa eineinhalb Kilometer von Charing Cross entfernt, eine vierundzwanzigjährige Frau namens Kay Caton-Walsh aus dem Bad. Sie hieß mit Vornamen eigentlich Angelica, aber jeder nannte sie Kay, nach Caton. Sie war in ein kurzes, rosa Badetuch gehüllt, das sie von einem Landausflug mitgebracht hatte, und hielt einen Kulturbeutel mit Seife, Zahnbürste und ihrem Lieblingsparfüm L’Heure Bleue von Guerlain in der Hand. Den Duft hatte sie sich großzügig hinter die Ohren und innen auf die Handgelenke getupft.
Sie genoss das Gefühl des Teppichs unter den nackten Sohlen. Wann sie sich zuletzt dieses kleinen Luxus erfreut hatte, wusste sie nicht mehr. Sie ging durch den Korridor ins Schlafzimmer. Im Bett lag ein schnauzbärtiger Mann, der eine Zigarette rauchte und sie durch halb geschlossene Augen betrachtete. Sie legte den Kulturbeutel in ihren kleinen Reisekoffer und ließ das Badetuch fallen.
»Mein Gott, was für ein Anblick!« Der Mann lächelte, rutschte ein bisschen höher und schlug das Daunenbett und die anderen Decken zur Seite. »Komm!«
Kurz war sie versucht, aber dann musste sie daran denken, wie seine schwarzen Bartstoppeln kratzten, wenn er noch nicht rasiert war, und wie er frühmorgens immer nach Tabak und abgestandenem Alkohol roch. Außerdem zog sie es vor, sich auf ihr Vergnügen freuen zu können – ihrer Erfahrung nach war Sex mindestens so sehr eine Sache des Kopfes wie des Körpers. Sie hatten immer noch den Nachmittag, den Abend, die Nacht und vielleicht – schließlich könnte es für einige Zeit das letzte Mal sein – den nächsten Morgen. Sie erwiderte sein Lächeln und schüttelte den Kopf. »Ich besorge uns jetzt erst mal Milch.« Enttäuscht ließ er sich aufs Bett zurückfallen, und sie hob ihre Unterwäsche vom Teppich auf – pfirsichfarben und brandneu, eigens in Erwartung dessen gekauft, was die Engländer in ihrer eigentümlichen Art als »schmutziges Wochenende« bezeichneten. Warum bloß haben wir solche Redewendungen, fragte sie sich. Wir sind wirklich ein sonderbares Völkchen. Sie schaute aus dem Fenster. Die meisten Anrainer hier in der Warwick Court zwischen den Anwaltskammern Lincoln’s Inn und Gray’s Inn waren Kanzleien. Ein merkwürdiger Ort für eine Wohnung, dachte sie. Es war ein ruhiger Samstagmorgen. Es hatte zu regnen aufgehört, die Wintersonne schien schwach. Sie konnte den Verkehr auf der Chancery Lane hören. Sie erinnerte sich an den Lebensmittelladen an der Ecke gegenüber. Da würde sie hingehen. Sie zog sich an.
Einhundertsechzig Kilometer östlich hatte die V2 ihre maximale Höhe von dreiundneunzig Kilometern und damit den Rand der Erdatmosphäre erreicht. Mit einer Geschwindigkeit von etwa fünfeinhalbtausend Kilometern pro Stunde flog sie unter einer Hemisphäre von Sternen, bis die Schwerkraft sie allmählich wieder einfing. Die Nase neigte sich langsam und wies abwärts in Richtung Nordsee. Abweichungen von Kurs oder Flugbahn durch Querwinde und Turbulenzen beim Wiedereintritt in die Atmosphäre wurden von zwei Kreiselinstrumenten, die auf einer Plattform unmittelbar unterhalb des Sprengkopfs montiert waren, erfasst und mittels elektrischen Signalen an die vier Ruder in den Heckflossen korrigiert. In der Sekunde, wo Kay den zweiten Strumpf überstreifte, passierte die Rakete fünf Kilometer nördlich von Southend-on-Sea die englische Küste, und als Kay sich ihr Kleid über den Kopf zog, überflog sie Basildon und Dagenham. Um 11:12 Uhr, etwa vier Minuten und einundfünfzig Sekunden nach dem Start, schoss die Rakete mit fast dreifacher Schallgeschwindigkeit – zu schnell, als dass man sie vom Boden aus sehen könnte – steil nach unten in die Warwick Court.
Das mit Überschallgeschwindigkeit fliegende Objekt verdichtete die Atmosphäre. In dem winzigen Bruchteil der Sekunde bevor der Nasenkegel der V2 das Dach des viktorianischen Wohnblocks berührte und bevor sich das Vier-Tonnen-Geschoss durch alle fünf Etagen bohrte, nahm Kay – jenseits eines Gedankens und weit jenseits jeder Möglichkeit, einen solchen zu artikulieren – eine Veränderung des Luftdrucks wahr, eine Vorahnung von Gefahr. Durch die Wucht des Aufpralls schlugen die beiden von einer Siliziumkappe geschützten Metallkontakte des Zünders gegeneinander, schlossen den elektrischen Kreislauf und lösten die Detonation von einer Tonne hochexplosivem Amatol aus. Das Schlafzimmer schien in Dunkelheit zu verdampfen. Kay hörte den Krach der Explosion und des zerfetzenden Stahls und Mauerwerks, mit dem der Rumpf und Bruchstücke des Nasenkegels Stockwerk um Stockwerk durchschlugen. Sie hörte das ohrenzerreißende Prasseln, mit dem um sie herum Teile des Deckenputzes auf den Boden schlugen, und einen Augenblick später den verzögerten Doppelknall vom Durchbrechen der Schallmauer, gefolgt vom rauschenden Lärm der einschlagenden Rakete.
Die Druckwelle riss sie von den Beinen und schleuderte sie gegen die Schlafzimmerwand. Sie fiel auf die Seite, war mehr oder weniger bei Bewusstsein, außer Atem, aber sonderbar gelassen. Sie wusste genau, was sie getroffen hatte. So ist das also, dachte sie. Die Frage war jetzt, ob die unterirdische Detonationswelle die Fundamente so erschüttert hatte, dass das Gebäude in sich zusammenstürzen würde. Staub verdunkelte den Raum. Sie nahm einen Luftzug wahr, dann ein Flattern im Halbdunkel nicht weit von ihr. Sie streckte die Hand aus und berührte den Teppich, spürte Glassplitter und zog die Finger schnell wieder zurück. Das Fenster war geplatzt. Die Vorhänge bewegten sich. Draußen schrie eine Frau. Alle paar Sekunden lösten sich Brocken aus dem Mauerwerk und fielen krachend nach unten. Sie konnte den tödlich süßen Duft von Gas riechen.
»Mike?« Keine Antwort. Sie versuchte es noch einmal, lauter. »Mike?«
Mühsam setzte sie sich auf. Der Raum war in eine Art Zwielicht getaucht. Pulverisierte Partikel von Ziegelsteinen und Deckenputz wirbelten durch den blassgrauen Lichtstreifen, der durch das Fensterloch hereinfiel. Der umgestürzte Schminktisch, herumliegende Stühle und Gemälde warfen fremdartig geformte Schatten. Über dem hölzernen Kopfteil des Betts verlief ein gezackter Riss bis zur Decke. Sie wollte aufstehen, holte tief Luft und atmete dabei viel Staub ein. Hustend umklammerte sie einen der Vorhänge, zog sich daran hoch und stolperte dann durch den Schutt zum Bett. Ein Stahlträger war heruntergefallen und lag auf dem Fußteil der Matratze. Große Brocken aus Putzträgern und mit Pferdehaar vermischtem Mörtel lagen über die Daunendecke verstreut. Kay musste sie mit beiden Händen von seinem Oberkörper schieben. Der Kopf lag von ihr abgewandt. Die Daunendecke war grellrot. Kay berührte sie. Es war kein Blut, sondern Ziegelstaub. »Mike?« Sie fühlte am Hals seinen Puls, und sofort, als hätte er sich nur blöd gestellt, drehte er ihr den Kopf zu und schaute sie mit großen dunklen Augen aus einem unnatürlich weißen Gesicht an. Sie küsste ihn und streichelte seine Wangen. »Bist du verletzt? Kannst du dich bewegen?«
»Glaube schon. Mit dir alles in Ordnung?«
»Bestens. Kannst du aufstehen, Liebling? Irgendwo tritt Gas aus. Wir müssen hier weg.«
Sie schob ihre Hände unter einen seiner Arme, packte das harte, muskulöse Fleisch und zog. Er wippte mit den Schultern vor und zurück und versuchte sich aufzusetzen, wobei er vor Schmerzen das Gesicht verzerrte. »Da ist was auf meinen Beinen.«
Sie ging zum Fußende und versuchte den Stahlträger anzuheben. Jedes Mal wenn sie ihn bewegte, stöhnte er durch die zusammengebissenen Zähne. »Um Himmels willen, hör auf!«
»Entschuldige.« Sie fühlte sich hilflos.
»Los, geh raus, Kay. Schnell. Sag Bescheid, dass hier Gas austritt.«
Sie konnte den Anflug von Panik in seiner Stimme hören. Er hatte ihr einmal erzählt, dass er seinen schlimmsten Augenblick als Pilot nicht im Kampf erlebt habe, sondern nach der Bruchlandung eines anderen Piloten. Dessen Beine seien eingeklemmt gewesen, und sie seien nicht nahe genug an ihn herangekommen, dass sie ihn hätten befreien können. Der Mann sei bei lebendigem Leib verbrannt. Ich wünschte bei Gott, ich hätte ihn erschießen können, hatte er gesagt.
In der Nähe ertönte die Bimmel eines Feuerwehrwagens.
»Ich hole Hilfe. Und ich komme wieder. Versprochen.«
Sie stakste durch den Schutt hinaus auf den Gang. Der dicke Teppich lag unter Putzmörtel begraben. Der Gasgeruch war hier stärker, das Leck befand sich anscheinend in der Küche. Der Boden des Gangs schien leicht abschüssig zu sein. Durch einen etwa handbreiten Riss in der Wand, der bis zur Decke hinaufreichte, drang Tageslicht herein. Sie schloss die Wohnungstür auf, drehte am Griff und zog. Sie ließ sich nicht öffnen. Kay ruckelte heftig, bis sich die Tür aus dem Rahmen löste und sie plötzlich schwankend vor einem sechs Meter tiefen Loch stand. Sie stieß einen Schrei aus. Der Flur im ersten Stock und die Außenwand des Wohnblocks waren verschwunden. Zwischen Kay und der Hülle des hohen Gebäudes gegenüber, das kein Dach mehr aufwies und anstatt Fenstern nur noch Löcher, war nichts. Die Straße unten war von einer Schuttlawine aus Ziegelsteinen, Rohren und zerbrochenen Möbeln verschüttet. Obenauf lag eine Kinderpuppe. Von einem Dutzend kleiner Feuer stieg Rauch auf.
In einiger Entfernung stand ein Löschwagen. Inmitten einer Szenerie, die einem Schlachtfeld glich, lud die Mannschaft Leitern aus und entrollte Wasserschläuche. Blutverschmierte, staubbedeckte Menschen lagen ausgestreckt auf dem Boden. Andere saßen benommen, mit herunterhängendem Kopf da. Die behelmten Männer vom Zivilschutz bewegten sich zwischen den Opfern hin und her. Etwas abseits lagen zwei zugedeckte Leichen. Passanten gafften. Kay stützte sich am Türrahmen ab, lehnte sich hinaus, so weit es ging, und rief um Hilfe.
*
Laut den Aufzeichnungen des London County Council wurden von der später so bezeichneten »Warwick-Court-Rakete« sechs Menschen getötet und 292 verletzt, die meisten von herumfliegenden Gesteinsbrocken in der Chancery Lane. Unter den Toten waren die Krankenschwester Vicki Fraser, 30, die Anwaltssekretärin Irene Berti, 19, und der Heizungsmonteur Frank Burroughs, 65. Die wenigen Fotografien, die die Zensurbehörde zur Veröffentlichung freigab, zeigten ausgefahrene Feuerwehrleitern, die in das zerstörte Gebäude hineinragten, dessen obere Stockwerke fehlten, und einen kleinen, hageren, seltsam aussehenden Mann in den Fünfzigern, der einen schwarzen Mantel und einen Homburg trug und sich zwischen den Geröllhaufen hindurchquetschte: ein Arzt, der zufällig vorbeigekommen war und sich erboten hatte, in das unsichere Gemäuer zu klettern; der Mann, der, nachdem Kay fünf Minuten verzweifelt um Hilfe gerufen hatte, die Leiter hinaufkletterte und ihr und den Rettungskräften in die Wohnung folgte.
Beim Betreten des Schlafzimmers nahm der Arzt wie bei einem gewöhnlichen Hausbesuch höflich den Hut ab und fragte mit schottischem Akzent leise: »Wie heißt er?«
»Mike«, sagte Kay. »Mike Templeton.« Und fügte dann, weil sie wollte, dass er respektvoll behandelt würde, hinzu: »Air Commodore Templeton.«
Der Arzt ging zum Bett. »Spüren Sie Ihre Beine, Sir?«
Einer der Feuerwehrleute sagte: »Sie sollten jetzt ins Freie gehen, Missus. Wir kümmern uns um ihn.«
»Was ist mit dem Gas?«
»Wir haben die Hauptleitung schon abgestellt.«
»Ich würde gern bleiben.«
»Tut mir leid, das geht nicht. Sie haben getan, was Sie konnten.«
Ein anderer Feuerwehrmann nahm sie am Arm. »Kommen Sie, meine Liebe. Keinen Streit jetzt. Die Bude kann jeden Augenblick einstürzen.«
»Alles gut, Kay!«, rief Mike. »Tu, was sie sagen.«
Der Arzt drehte sich um. »Ich sorge schon dafür, dass er gut versorgt wird, Mrs Templeton.«
Mrs Templeton! Sie hatte ganz vergessen, dass sie eigentlich nicht hier sein dürfte.
»Natürlich. Entschuldigen Sie. Ich verstehe.«
Sie war schon fast an der Tür, da rief Mike: »Nimm deinen Koffer mit!«
Den hatte sie ganz vergessen. Er lag immer noch auf der Ottomane am Fuß des Betts, über und über mit Staub und Mörtel bedeckt, stummer Zeuge ihrer Treulosigkeit. Wahrscheinlich hatte Mike das schon die ganze Zeit nervös gemacht. Sie wischte den Dreck vom Koffer, klappte die Schnappverschlüsse zu und folgte dem Feuerwehrmann zur Vordertür. Er setzte den Fuß auf die oberste Sprosse der Leiter, nahm ihr den Reisekoffer ab und warf ihn jemand zu, der unten stand. Dann stieg er ein paar weitere Sprossen hinab, streckte die Hände aus und bedeutete ihr zu folgen. Als sich die Leiter unter ihrer beider Gewicht durchbog und ins Schwanken geriet, musste sie die Augen schließen. Sie spürte seine festen Hände um ihre Taille. »Na los, das schaffen Sie schon.« Sie machten auf jeder Sprosse eine kurze Pause, während sie langsam abwärtsstiegen. Gerade als sie die letzte Sprosse erreichten, wurde sie ohnmächtig.
Als Kay wieder zu sich kam, kniete eine Krankenschwester vor ihr, hielt ihr das Kinn und tupfte Jod auf ihre Schläfe. Sie stöhnte und drehte den Kopf zur Seite. Die Hand hielt dagegen. »Alles in Ordnung, meine Liebe. Nicht bewegen. Ist gleich vorbei.« Etwas Scharfes drückte gegen ihren Rücken. Als die Schwester fertig war und Kay sich umschaute, sah sie, dass sie an einem Hinterrad des Löschfahrzeugs lehnte. Inzwischen standen zwei weitere Leitern an dem ausgebombten Gebäude, und drei Männer mit Stahlhelm standen nebeneinander auf den obersten Sprossen und stützten eine Trage ab, die von einem halben Dutzend Feuerwehrleuten herabgelassen wurde. Die Schwester sah ihren Blick. »Gehört der zu Ihnen?«
»Glaube schon.«
»Na los, kommen Sie.«
Sie streckte eine Hand aus und half Kay aufstehen. Sie legte ihr den Arm um die Schulter, als sie zusammen am Fuß der Leiter standen.
Die Trage näherte sich langsam dem Boden. Die Männer riefen sich Kommandos zu, um die Trage in der Waagerechten zu halten. Kay erkannte ihn an den schwarzen, lockigen Haaren. Er war in eine Decke gewickelt. Als er den Boden erreichte, wandte er den Kopf um und sah sie. Sein Gesicht war schmerzverzerrt. Langsam schob er die Hand unter der Decke hervor und hob den Daumen in ihre Richtung. Sie umfasste seine Hand mit beiden Händen.
»War das eine V2?«, fragte er.
Sie nickte.
Er lächelte schwach. »Verdammt komisch.«
Kay drehte sich zu der Schwester um. »Wohin wird er gebracht?«
»Ins Barts. Wollen Sie mitfahren?«
»Gerne.«
Er zog seine Hand weg. Sein Gesichtsausdruck war plötzlich abweisend. Als wäre er ein Fremder. Er schaute hinauf zum Himmel. »Lieber nicht«, sagte er.
Sie standen unter tropfenden Tannenzweigen. Graf rauchte eine Zigarette, Biwack hielt das offene Notizbuch in der Hand. Graf hatte gleich nach dem Start nach Scheveningen zurückkehren wollen, aber Biwack hatte darauf bestanden, die Arbeit des Regiments zu protokollieren. Sie sahen, wie ein halbes Dutzend Mitglieder der Abschussmannschaft die elektrischen Leitungen aufrollten, den Mast abbauten und den Startplatz aufräumten. Die Abschussplattform selbst war ein niedriges, robustes Metallgestell, das auf hydraulischen Beinen stand, im Durchmesser so groß wie die V2, nicht größer als ein Couchtisch. In der Mitte befand sich ein pyramidenförmiger Strahlabweiser.
»Wie schwer ist das Gestell?«
»Etwa eineinhalb Tonnen.«
Die Männer zogen einen Einachsanhänger zur Abschussplattform und schoben ihn darunter. Sie arbeiteten wortlos und schnell, um das Risiko zu minimieren, von einem feindlichen Flugzeug entdeckt zu werden. Irgendwo im Wald wurde der Motor eines Panzers gestartet. Dann stiegen einige schmutzig braune Abgaswolken in die Luft, und ein gepanzertes Halbkettenfahrzeug tauchte langsam aus dem Boden auf.
»Was ist das?«
»Der Feuerleitwagen. Bei den Starts bleibt er im Splittergraben.«
Das Fahrzeug rumpelte durch das Unterholz auf sie zu und hielt an. Bei laufendem Motor wurde die Abschussplattform am Schleppteller des Kettenfahrzeugs befestigt. Die Männer stiegen auf die Kotflügel und hielten sich an der Panzerung fest. Der Motor heulte auf, und sie fuhren davon. Binnen einer Minute war alles verschwunden. Abgesehen von dem schwachen Geruch nach verbranntem Treibstoff und den seltsamen Brandflecken an den umstehenden Bäumen, erinnerte nichts daran, dass hier jemals eine Rakete abgehoben hatte.
Biwack schien das genauso beeindruckt zu haben wie die Rakete selbst. »Das ist alles? Mein Gott, das Ding kann man ja tatsächlich von überall aus abfeuern.«
»Ja, solange der Untergrund ausreichend eben und fest ist. Ein paar Quadratmeter auf einem Parkplatz oder einem Schulhof reichen.« Noch vor einem Jahr hätte Graf sich nicht vorstellen können, dass sie die Rakete so problemlos abfeuern könnten. Allerdings hätte er damals auch nicht geglaubt, dass sie Tausende V2 in Massenfertigung herstellen könnten. Der furchterregende Erfindergeist war eine ständige Überraschung.
»Das muss doch ein herrliches Gefühl für Sie sein«, sagte Biwack. »Etwas, woran Sie seit Ihrem sechzehnten Lebensjahr arbeiten, verwandelt sich schließlich in eine Waffe, die unser Vaterland verteidigt.«
Eine seltsam vielsagende Bemerkung. Graf warf Biwack einen schnellen Seitenblick zu, aber dessen Gesicht blieb ausdruckslos. »Natürlich.« Er nahm einen letzten Zug von seiner Zigarette, warf sie auf den Waldboden und trat sie aus. »Machen wir uns auf den Rückweg.«
Sie waren kaum fünfzig Meter auf der Straße gegangen, da hörten sie den wie panisch heulenden Motor des zurückkehrenden Feuerleitwagens. Er wendete in scharfem Tempo und bremste dann abrupt ab. Die Passagiere auf den Kotflügeln waren verschwunden. Die Seitentür schwang auf, und der diensthabende Feldwebel der Abschussmannschaft streckte den Kopf heraus. Er hieß Schenk, ein Veteran der Ostfront, der durch Erfrierungen beide Ohren verloren hatte. »Wir haben einen Notfall an Startplatz dreiundsiebzig, Doktor Graf. Leutnant Seidel sagt, Sie sollen sofort kommen.« Er streckte die Hand aus, um Graf beim Hochsteigen zu helfen, zögerte aber beim Anblick Biwacks. »Ist in Ordnung«, sagte Graf. »Er gehört zu mir.« Schenk zog auch den SS-Mann nach oben und schlug die Tür zu.
»Haben Sie nicht etwas vergessen, Feldwebel?«, sagte Biwack.
Schenk schaute ihn von oben bis unten erst verblüfft, dann belustigt an. Langsam hob er den Arm. »Heil Hitler.«
Das Gefährt setzte über den Straßenrand zurück, machte dann einen Satz vorwärts und geriet dabei in eine gefährliche Schräglage. Graf hielt sich an einem der beiden verankerten Drehsitze fest, Biwack wurde von Schenk aufgefangen. Wie ein Oberkellner in einem eleganten Restaurant zeigte der Feldwebel mit spöttisch ausgestreckter Hand auf den zweiten Sitz. Sie rumpelten durch das Gestrüpp zurück auf die Straße.
Die Sitze waren so eingebaut, dass der Offizier, der den Abschuss leitete, und sein Stellvertreter den Startplatz überblicken konnten. An der Rückseite des Innenraums befanden sich oberhalb der Schaltpulte schmale Schlitze, durch die sie die Straße sehen konnten. Biwack untersuchte die Drehknöpfe und Schalter. Anscheinend wollte er eine weitere Einweisung durch Graf, dem jedoch der Kopf vor bösen Vorahnungen schwirrte und der Sinn nicht nach noch mehr Fragen stand. Wir haben einen Notfall. Wie oft hatte er diese Worte in diesem Monat gehört?
Sie wurden so durchgeschüttelt, dass Graf in der stickigen Kabine schlecht wurde. Er klammerte sich mit beiden Händen an den Sitz. Ein paar Minuten später erreichten sie eine Kolonne Tanklaster, die am Straßenrand stand. Schenk fuhr langsamer. Die Soldaten lungerten mit den Händen in den Hosentaschen unter den Bäumen. Rauchen war in der Nähe von Treibstoff verboten. Das Halbkettenfahrzeug hielt an. Erleichtert sprang Graf ins Freie und atmete die kalte, feuchte Luft ein.
Leutnant Seidel wartete schon auf ihn. Das Regiment verfügte über drei Batterien mit je drei schießenden Zügen à zweiunddreißig Mann. Seidel befehligte die zweite Batterie. Er war etwa in Grafs Alter und kam ebenfalls aus Berlin. Wenn sie nicht zu müde waren, spielten sie abends im Kasino manchmal Schach. Über Politik redeten sie nie. Seidel blickte düster. »In der Steuerungseinheit ist Feuer ausgebrochen.«
»Haben Sie den Strom abgeschaltet?«
»Ja. Kommen Sie, ich zeige es Ihnen.«
Sie gingen vor den Feuerleitwagen und schauten die Straße hinunter. In etwa zweihundert Meter Entfernung stand die Rakete und war zum Start bereit. Seidel gab ihm ein Fernglas. Graf stellte auf die V2 scharf. Direkt unter dem Sprengkopf drang Rauch aus, der vom Wind verweht wurde.
»Ist sie betankt?«
»Ja. Randvoll. Deshalb haben wir den Startplatz geräumt. Anscheinend ist der Defekt erst in letzter Minute aufgefallen.«
Graf nahm das Fernglas herunter. Er strich sich übers Kinn und zupfte mit Daumen und Zeigefinger an seiner Nase. Er hatte keine Wahl. »Tja, dann muss ich mir das jetzt wohl genauer angucken.«
»Wollen Sie wirklich?«
»Ich habe das verdammte Ding gebaut«, sagte er und versuchte sich an einem Scherz. »Vor einer Explosion habe ich, ehrlich gesagt, gar nicht so viel Angst. Nur vor der verfluchten Magirus-Leiter. Bis ich da oben bin.« Da war sogar etwas dran. Er hasste Höhen.
Seidel klopfte ihm auf den Arm. »Also gut. Ich brauche zwei Freiwillige.« Er zwinkerte Graf zu und sah sich um. Er deutete auf zwei Soldaten. »Ihr zwei da. Tragt die Leiter zum Gerät.«
Sie nahmen Haltung an. Im Gesicht waren sie plötzlich bleich. »Ja, Leutnant.«
»Ich brauche ein Paar Handschuhe«, rief Graf ihnen hinterher. »Und Werkzeug für die Steuerungseinheit.« Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass Biwack ihrem Gespräch zuhörte. Er wandte sich wieder an Seidel. »Übrigens, das ist Sturmscharführer Biwack. Er ist unser neuer Nationalsozialistischer Führungsoffizier.«
Seidel lachte, wie wenn das noch zu Grafs Scherz gehörte, aber als Biwack jetzt mit Hitlergruß die Hacken zusammenschlug, erstarrte sein Lächeln. Er erwiderte den Gruß. »Was genau ist Ihre Aufgabe in unserem Regiment, Sturmscharführer?«
»Die Hebung der Moral. Die Männer daran zu erinnern, wofür sie kämpfen.«
Seidels Mundwinkel senkten sich. Er nickte. »Leuchtet ein.«
Graf hob wieder das Fernglas und studierte die Rakete. Bildete er sich das nur ein, oder war der Rauch dichter geworden? Es war nicht die Hitze direkt unterhalb des Sprengkopfs, die ihm Kopfzerbrechen bereitete. Solange die Zünder nicht scharf waren, war Amatol nicht gefährlicher als eine Tonne gelber Lehm. Aber die Nähe vom Treibstoff zur Raketenspitze änderte die Sache. Er hatte schon Treibstofftanks explodieren sehen. Einmal hatte er miterlebt, wie es vor seinen Augen drei Männer in Stücke gerissen hatte. Und da hatte es sich um einen kleinen Versuchstank gehandelt, während die V2 achteinhalb Tonnen Alkohol und Flüssigsauerstoff in ihrem Bauch trug. Er versuchte, sich die Bilder aus dem Kopf zu schlagen. »Wir vergeuden Zeit«, sagte er. »Befehlen Sie den Männern, dass sie sich mit der Leiter beeilen sollen.«
Er machte sich auf den Weg zur Rakete. Als er Schritte hinter sich hörte, drehte er sich um und sah Biwack, der zu ihm aufschloss.
»Ich würde mir das gern anschauen.« Biwack ging jetzt neben ihm. »Der Leutnant glaubt anscheinend, ich wär so ein Bürohengst aus dem Braunen Haus. Ich habe immerhin zwei Jahre im Osten gekämpft. Den Männern als gutes Beispiel voran, verstehen Sie?«
»Wie Sie wollen.« Graf ging schneller.
Die V2 war ein Monstrum, etwa siebenmal so groß wie er, und in diesem Augenblick kam sie ihm sogar noch größer vor. Beim Gehen nahm er den Hut ab und schaute hinauf. Er war sich sicher, dass der Umformer das Problem war. In Peenemünde hatten sie festgestellt, dass die Rakete dazu neigte, gegen Ende des Flugs wegen der Hitze beim Wiedereintritt zu explodieren, also hatten sie zum Schutz des oberen Teils eine Metallmanschette angebracht. Aber irgendwie schien das Winterwetter die Kondensation zu verstärken, was wiederum zu Kurzschlüssen führte. Man löste ein Problem und schuf gleichzeitig ein neues.
Die Leiter lag auf einem Hänger, der von einem kleinen Lastwagen gezogen wurde. Der Fahrer hielt an der Rakete, sprang aus dem Führerhaus und machte sich sofort an der Leiter zu schaffen. Sie ähnelte der von Feuerwehrleuten: dreiteilig und ausziehbar. Der andere Soldat reichte Graf einen Werkzeugkasten. Beide Männer sahen immer wieder besorgt zu dem Rauch hoch. Graf nahm ein paar kleine Schraubenschlüssel, einen Schraubendreher und eine Taschenlampe und stopfte sich alles in die Manteltaschen.
Die Männer fuhren die Leiter bis kurz an die Klappe aus, unter der die Steuerungseinheit schwelte. Dann machten sie sich auf den Rückweg zu ihren Kameraden – erst mit gesetzten Schritten, aber schon bald in immer schnellerem Lauf. Graf schaute ihnen hinterher. Schlaue Burschen, dachte er. Er nahm seinen Hut ab und zog Asbesthandschuhe über.
Er stellte den Fuß auf die unterste Sprosse und machte sich daran, nach oben zu klettern. Der untere, robustere Teil der Leiter stand noch fest auf dem Boden, aber während er von einem Abschnitt zum nächsten kletterte, wurde die Leiter schmaler und wackeliger. Außerdem wurde der Wind stärker und wehte ihm den Mantel um die Beine. Er blickte starr nach oben und tat den nächsten Schritt erst, wenn er mit beiden Füßen fest auf der Sprosse darunter stand. Er kletterte an den Teilen der Rakete vorbei, wo der Motor, der Sauerstofftank und der Alkoholtank untergebracht waren. An der Stelle, wo der Rumpf sich verjüngte und in den Nasenkegel überging, befand sich Sektor zwei der Steuerungseinheit.
Aus der Klappe quoll weiterhin Rauch. Er musste den rechten Handschuh ausziehen, um mit dem Schraubendreher die Türklappe aufschrauben zu können. Als er die Klappe öffnete, schwappte ihm eine ätzenden Schwade entgegen. Er drehte den Kopf zur Seite, damit er den Qualm nicht einatmete. Die Bewegung hatte zwangsläufig zur Folge, dass er nach unten schaute. Auf die Straße, die Versorgungsfahrzeuge, die etwas weiter weg postierten Soldaten. All das geriet in sein Blickfeld, und sofort schien ihm alle Kraft aus Armen und Beinen zu weichen. Er klammerte sich mit beiden Händen an die Leiter, bis er seine Nerven wieder so weit im Griff hatte, dass er die nackte Hand von der Sprosse lösen und sich den Handschuh wieder überziehen konnte.
Er griff in die Eingeweide der Rakete. Seine Augen brannten, hustend drehte er den Kopf hin und her. Er kannte das Innenleben des Geräteraums so gut, dass er sich auch mit verbundenen Augen darin zurechtgefunden hätte. Er bewegte die Hand vom Zündernetzteil abwärts über die Filterschaltung zum Hauptverteiler. Er zog einen der Schraubenschlüssel aus der Tasche und tastete damit nach den beiden Schrauben, mit denen der Umformer befestigt war. Nach einer Weile hatte er sie gefunden und gelöst. Er packte den Umformer mit beiden Händen, zog ihn aus der Halterung und hob ihn ins Freie. Dabei spürte er im Gesicht die Wärme, die vom Metall abstrahlte. Er schickte einen Warnruf nach unten zu Biwack und schleuderte den Umformer so weit weg, wie er konnte.
Sofort verflüchtigte sich der Rauch. Er schaltete die Taschenlampe ein und leuchtete in den Geräteraum. Der Großteil der dicken Gummischicht, mit der die Hauptleitungen überzogen waren, war geschmolzen. Die Holzverschalung im Geräteraum war verkohlt. Sonst konnte er keine ernsthaften Schäden erkennen. Er schloss den Geräteraum. Sehr langsam stieg er die Leiter hinunter, wobei er sorgsam jeden Blick nach unten vermied.
Wieder auf festem Boden, empfingen ihn mehrere Dutzend Männer, die zu Fuß und in Lastwagen zum Startplatz der V2 gekommen waren – nicht nur Seidel und die Abschussmannschaft, sondern auch Oberst Huber persönlich, der vorn in seinem Dienstwagen saß. Biwack beugte sich über den ausgebrannten Umformer, um ihn genauer unter die Lupe zu nehmen. Er wollte ihn hochheben, ließ ihn aber trotz Lederhandschuhen sofort wieder fallen. Das Ding war noch zu heiß.
»Ist das Gerät schwer beschädigt?«, fragte Seidel.
Graf zog die Handschuhe aus und ging in die Hocke, um Luft zu schöpfen. »Soweit ich das sehen konnte, ist die Rakete gar nicht beschädigt. Nur der Umformer.«
»Was schlagen Sie vor?«
»Die Treibstofftanks ablassen. Und dann zurück in die Werkhalle für ein paar elektrische Tests.«
»Warum bauen wir nicht einfach einen neuen Umformer ein?«
»Könnten wir, aber warum das Risiko eingehen?«
»Sie meinten doch, dass sonst nichts beschädigt ist«, sagte Biwack.
Graf richtete sich auf. »Wahrscheinlich nicht, stimmt. Aber absolut sicher können wir uns erst sein, wenn wir die Bordelektrik überprüft haben.«
»Wie lange dauert es, den Treibstoff abzulassen?«
»Gut zwei Stunden.«
»Sie verlieren also einen halben Tag, und London kann sich einen gemütlichen Nachmittag machen. Angenommen, Sie lassen starten … Was kann im schlimmsten Fall passieren?«
»Ein Fehlstart«, sagte Graf. Allmählich fiel es ihm immer schwerer, seine Verärgerung zu verbergen – eine Stunde in Scheveningen, und schon war der NSFO ein Experte. »Oder andernfalls auch vom Kurs abkommen. Dann hätten wir hunderttausend Reichsmark verschwendet.«
Huber gesellte sich zu ihnen. »Also, meine Herren. Was haben Sie entschieden?«
»Doktor Graf empfiehlt, den Start abzubrechen«, sagte Seidel. »Herr Sturmscharführer Biwack scheint anderer Meinung zu sein.«
»Beachten Sie mich gar nicht«, sagte Biwack und wedelte mit seinem Notizbuch. »Ich bin hier bloß Beobachter.«
Huber schaute zu der Rakete und dem verkohlten Umformer, dann zu Graf und schließlich zu Biwack und seinem Notizbuch. Fast konnte man das Räderwerk in seinem Hirn arbeiten hören. »Im Krieg muss man Risiken eingehen«, sagte er schließlich. »Das ist das Wesen des Nationalsozialismus.« Er nickte Seidel zu. »Ersetzen Sie das Bauteil, und fahren Sie mit den Startvorbereitungen fort.«
Graf wandte sich angewidert ab. Jetzt hätte er sich zur Nervenberuhigung gern eine Zigarette angezündet. Stattdessen blieb ihm – wie schon so oft in Peenemünde – nichts anderes übrig, als während der letzten Vorbereitungen nervös auf dem Startplatz umherzulaufen. Ein Kradfahrer holte aus dem Techniklager einen neuen Umformer, und einer der Unteroffiziere aus der Abschussmannschaft kletterte schnell die Leiter hinauf, um ihn einzusetzen. Der Geräteraum wurde verschlossen, die Leiter eingefahren und abtransportiert, die Stromversorgung wieder angeschlossen. Eine Hupe ertönte. Die Männer gingen in den Splittergraben in Deckung. Seidel, Huber, Biwack und Graf bahnten sich im Gänsemarsch ihren Weg zu der Stelle, wo das Dach vom Feuerleitwagen aus dem Gestrüpp ragte. Der Wagen stand am unteren Ende der Schräge, die aus dem Splittergraben hinausführte.
Die Tür des engen gepanzerten Fahrzeugs wurde geschlossen. Es war kalt, weil die Dachluke zunächst noch offen blieb. Aus dem Lautsprecher kam die Meldung der Radarstation in Den Haag, dass sich im Umkreis von fünfzig Kilometern keine feindlichen Flugzeuge befänden. »Klar zum Abschuss.«
»Wie ist der genaue Ablauf?«
Graf drückte sich in eine Ecke und überließ es Seidel, Biwacks Notizbuch zu füllen. »Der Schießschalter hat fünf Einstellungen. Wir sind jetzt bei Einstellung eins …«
Der Feldwebel, der den Abschuss überwachte, schob den Kopf durch die Dachluke ins Freie, um die Rakete im Blick zu haben. »Abschuss frei.«
»Zehn … neun …«
Bei Einstellung zwei schlossen sich die Ventile der Treibstofftanks, und es wurde Pressluft in den Flüssigsauerstofftank gepumpt.
»Acht … sieben … sechs …«
Bei Einstellung drei wurde eine Mischung aus Wasserstoffperoxyd und Kaliumpermanganat in die Turbopumpe gedrückt, um die Zündung zu starten. Der Zünder in Form eines Hakenkreuzes begann sich zu drehen und versprühte wie ein Feuerrad einen kreisrunden Funkenregen.
»Fünf … vier.«
Bei Einstellung vier ließen die beiden Haupttreibstofftanks ihren Inhalt in die Brennkammer. Unter dem Heck der Rakete breitete sich donnernd eine flackernde Flamme aus.
»Drei … zwei … eins …«
»Zündung!« Der Feldwebel zog den Kopf ein und schloss die Luke.
Bei Einstellung fünf schaltete die Turbopumpe auf volle Kraft und presste den Treibstoff mit hohem Druck in die Brennkammer. Der Feuerleitwagen zitterte. Der Lärm drückte auf den Solarplexus und schien von dort in den ganzen Körper abzustrahlen. Aufgewirbelter Dreck aus dem Wald prasselte auf das Dach. Graf hielt sich die Ohren zu und betete.
In diesem Augenblick stand Kay mit ihrem Reisekoffer in der Hand an der Ecke Chancery Lane und Warwick Court und schaute dem Krankenwagen hinterher, der sich zwischen den vielen Leuten hindurchschlängelte, um so schnell wie möglich zum Barts Hospital zu gelangen. Seit die Rakete eingeschlagen hatte, waren sechsundsiebzig Minuten vergangen. Die Straße war mit Überlebenden und Schaulustigen verstopft. Der Fahrer läutete die Bimmel, um sich Platz zu verschaffen. Die Menschen sahen sich suchend um, wichen auf den Gehweg aus, zogen andere kurz mit und traten dann wieder auf die Fahrbahn.
Der Krankenwagen verschwand schließlich aus ihrem Blickfeld. Das Bimmeln verstummte. Aber auch jetzt rührte sie sich noch nicht vom Fleck. Ihr Gehirn arbeitete anscheinend mit halber Kraft. Es konnte sich nur mit einer Sache auf einmal befassen.
Lieber nicht. Hatte er das ernst gemeint? Hätte sie darauf bestehen sollen, mit ins Krankenhaus zu fahren?
Die Rakete über der Nordsee hatte mittlerweile die Hälfte der Strecke zurückgelegt und funktionierte perfekt. Die beiden Kreiselinstrumente – das eine kontrollierte die Neigung, das andere die Seitenstabilität – arbeiteten mit 30000 Umdrehungen pro Minute und hielten die V2 stabil auf ihrer Flugbahn.
Kay fiel auf, wie sehr sie ohne Mantel in ihrem dünnen Kleid zitterte. Erst jetzt sah sie sich genauer um. Alle Schaufenster in der Chancery Lane waren zerborsten – ebenso die meisten Fenster in den oberen Stockwerken und die der Automobile, die verlassen kreuz und quer auf der Straße standen und lagen. Auf der breiten Fahrbahn drängten sich die Leute zwar, aber sie waren merkwürdig bewegungslos – wie im West End bei Nacht, wenn sie nach den Theatervorstellungen noch auf ihre Freunde warteten, über das gerade gesehene Stück diskutierten oder beratschlagten, wohin man jetzt noch gehen solle. Kay sah viel Blut, auf Gesichtern, auf der Kleidung, in kleinen Flecken auf dem Pflaster. Ein älteres Paar saß mit den Füßen im Rinnstein auf dem Gehweg und hielt sich an den Händen. Ein kleiner Junge klammerte sich an einen leeren Kinderwagen und weinte. Überall lagen Glassplitter, Ziegelsteine und aus dem Mauerwerk herausgebrochene Steinbrocken herum. Sie bemerkte ein seltsam aussehendes dünnes und flaches Stück Metall vor sich auf dem Boden und hob es auf. Es war noch warm. Sie nahm an, dass es zur Rakete gehörte, ein Teil des Rumpfs oder des Heckruders. Sie legte es vorsichtig wieder auf den Boden. Jemand sagte etwas zu ihr, aber als sie so weit war, dem Sprecher ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden, war er schon wieder weg.
Nach einer Weile ging sie in die Richtung los, in die der Krankenwagen gefahren war.
Das Barts Hospital lag in der City von London, so viel wusste sie. Wenn sie Mike schon nicht sehen konnte, könnte sie wenigstens draußen vor dem Eingang auf ihn warten. Sie hatte das alles noch nicht richtig durchdacht.