Des Katers Kern - Auerbach & Keller - E-Book

Des Katers Kern E-Book

Auerbach & Keller

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Beschreibung

Berge, Seen und schönster Sonnenschein - im österreichischen Plutzerkogel ist die Welt noch in Ordnung. Hier an der Genussakademie sollen gestresste Großstädter das Nichtstun lernen. In Entspannungskursen dürfen die Teilnehmer der Akademie Katzen durch Dauerstreicheln zum Schnurren bringen. Doch ausgerechnet in dieser malerischen Bilderbuchkulisse wird eine Leiche gefunden. Pippa Bolle mischt sich ein, tappt aber zunächst im Dunkeln. Alles wirkt so friedlich. Bis ein Kater Pippa Bolle auf eine heiße, aber nicht ungefährliche Spur bringt ...

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Das Buch

Im österreichischen Plutzerkogel sollen gestresste Großstädter an der Akademie Sinnenschmaus lernen, dass Nichtstun auch sehr schön sein kann. Ausgerechnet in dieser ländlichen Idylle, inmitten von blauen Seen und hohen Berggipfeln, taucht jetzt ein Toter auf – sehr ungünstig fürs Geschäft. Hobbydetektivin Pippa Bolle reist auf Wunsch einer Freundin nach Österreich, um vor Ort undercover zu ermitteln.

Zur Tarnung hütet sie das Haus des Kursleiters und kümmert sich um dessen Kater. Mit Hilfe von Katzen sollen die Kursteilnehmer lernen, sich zu entspannen: Wer sie am schnellsten zum Schnurren bringt, gewinnt. Und ausgerechnet ein Kater ist es dann auch, der Pippa Bolle auf eine heiße Spur bringt …

Von den Autorinnen sind in unserem Hause bereits ­erschienen:

Unter allen Beeten ist Ruh’

Dinner for one, murder for two

Tote Fische beißen nicht

Ins Gras gebissen

Tote trinken keinen Whisky

Des Katers Kern

Auerbach & Keller

Des Katers Kern

Ein neuer Fall für Pippa Bolle

List Taschenbuch

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ISBN 978-3-8437-1301-6

Originalausgabe im List Taschenbuch

List ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin.

1. Auflage Juli 2016

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016

Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, München

Titelabbildung: © Gerhard Glück

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Für Margit,unser schönstes Stück Österreich

Personen

Pippa Bolle

… spielt mehr als eine Rolle

Karin Wittig

… schwinden schon mal die Sinne

Paul-Friedrich Seeger

… fällt aus der Rolle des Ehemanns

Akademie Sinnenschmaus

Frau Direktor Schliefsteiner

… braucht die Alm und kriegt sie auch

Tonio von Pauritz

… hat viele Gesichter und will doch nur das eine

Margit Unterweger

… würde gerne wieder backen

Karl Heinz Unterweger

… würde gerne weiter basteln

Martin Lenzbauer

… ist vom Schicksal gebeutelt und wird bedauert

Valentin Baumgartner

… kennt die passende Leibesübung für jeden Körper

Giorgio Gallastroni

… kennt den passenden Duft zu jedem Charakter

Heribert Achleitner

… leidet an der Profanität der Welt

Sigrid Sommerfeld

… beherrscht die Kunst des Streitens (und des Flirtens)

Stefan Kleindienst

… beherrscht die Kunst des Flirtens (und des Streitens)

Morris Tennant

… gräbt Entscheidendes aus

Sarah MacDonald

… fängt Entscheidendes ein

Beppo Sonnbichler

… ist bedient, wenn er nicht bedient

Kursteilnehmer

Jodokus Lamberti

… sucht ein Hobby und findet es auch

Ilsebill Lamberti

… bildet mit Jodokus ein unschlagbares Gespann

Bernhard Lipp

… wird vermisst (aber nicht von der Richtigen)

Oliver Mieglitz

… rätselt, warum er nur Zweiter ist

Amelia Dauber

… errät, warum sie Erste wurde

Falko Schumacher

… braucht Spannung für sich und seinen Laptop

Tobias Jauck

… weiß nicht, was er will

Livia Riegler

… weiß genau, was sie will

Ricarda Lehmann-Jauck

… will klare Verhältnisse

Karsten Knöller

… arrogante Schale, weicher Kern

Axel von Meinrad

… macht aus Mücken Elefanten

Belinda Schultze

… will doch nur den Besten für die Tochter

Waldemar Schultze

… ist entspannt, solange die Kalorien stimmen

Naomi Schultze

… steht auf Romantik, aber ohne rosarote Brille

Einheimische

Jasmin Lenzbauer

… ist nie da, aber allgegenwärtig

Nina Lenzbauer

… hat einen Schutzengel

Otto, der Kater

… ist dann mal weg

Renate Lipp

… lässt sich inszenieren

Lukas Lipp

… selige Unschuld

Thea Wolfgruber

… wohnt nebenan – und ganz nahe dran

Leopold »Poldi« Pommer

… betreibt ein Schlaraffenland für Schilcherfreunde

Maxi Frühwirt

… weiß, dass Klappern zum Handwerk gehört

Josefa Schliefsteiner

… besitzt eine Alm mit spektakulärer Kälberwiese

Jovan Glantschnig

… spielt das Lied der Freundschaft

Edmund »Eddi« Krois

… ist glücklich, wenn er buddeln kann

Aloisia Krois

… sorgt für Hygiene und konserviert Leben

Sonja Öttinger

… sitzt im Vorzimmer und ist loyal

Chefinspektor Fuchshofer

… ist eine Zierde für die österreichische Polizei

Prolog

Frau Direktor Schliefsteiner stand im ersten Stock der »Akademie Sinnenschmaus« am geöffneten Fenster ihres Büros und sah hinunter in den Innenhof. Die fünf Teilnehmer des Kurses »Befreiendes Malen« hatten Staffeleien aufgebaut und versuchten unter Anleitung des Dozenten Heribert Achleitner, eine Sitzgruppe aus Metallmöbeln auf ihre Leinwände zu bannen. Achleitner schritt von Staffelei zu Staffelei, korrigierte hier eine Schraffur, dort eine Pinselführung. Alles sah perfekt aus – es sei denn, man wusste, dass sich ursprünglich zwölf Teilnehmer angemeldet hatten.

Gertrude Schliefsteiner straffte sich und drehte sich dann zu ihrem Kurskoordinator Martin Lenzbauer um, der wie ein Häuflein Elend auf einem Stuhl vor ihrem Schreibtisch hockte. »Nein, Sie lassen mich nicht im Stich«, sagte sie, »Sie tun das einzig Richtige.«

Lenzbauer wollte gerade antworten, als Schliefsteiners Sekretär Tonio von Pauritz den Kopf zur Tür hereinsteckte. Er nickte dem Besucher seiner Chefin zu und vermeldete: »Frau Unterweger ist eingetroffen, Frau Direktor.«

Gertrude Schliefsteiner unterdrückte ein Schmunzeln. Stets um Einhaltung einer nur ihm wichtigen Etikette bedacht, blockierte ihr Vorzimmerherr die Tür zu ihrem Büro, um erst dann Eintritt zu gewähren, wenn Frau Direktor bitten ließ.

Nicht zum ersten Mal war er mit seiner Inszenierung bei Margit Unterweger an die Falsche geraten: Ohne eine weitere Einladung abzuwarten, drängte sie sich an ihm vorbei und ließ sich schwer atmend neben Lenzbauer auf einen Stuhl fallen.

»Habt ihr gesehen, was am Fenster unserer Akademie­küche …« Sie rang sichtlich um Fassung und fuhr sich durch die raspelkurzen feuerroten Haare. »So eine Unverschämtheit! Wenn ich herausfinde, wer das …« Sie schlug mit der Faust auf den Tisch und fauchte: »Der lernt mich kennen!«

»Wieder ein Drohbrief?«, fragte Gertrude Schliefsteiner besorgt.

Margit Unterweger winkte ab. »Wenn es das nur wäre. Aber nein, das reicht nicht mehr, das kriegt ja die Öffentlichkeit nicht mit. Salmonellen-Bäcker steht an der Scheibe! Damit es auch bloß jeder sieht. Mit Sprühfarbe, riesengroß! In Knallrot! Karl Heinz hat fast der Schlag getroffen, als er es entdeckt hat.«

Während Gertrude Schliefsteiner auf diese Neuigkeit mit Sprachlosigkeit reagierte, fragte Lenzbauer: »Es geht ihm doch gut? Ich meine, weil Sie allein zur Besprechung gekommen sind.«

»Mein Mann versucht gerade, die verdammte Sprühfarbe von der Scheibe zu entfernen. Wir können das doch nicht stehenlassen, bis Aloisia zum Putzen kommt! Was sollen unsere Gäste denken?« Margit Unterweger wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. »Wir haben einen Ruf zu verlieren!«

Tonio von Pauritz kam herein und legte einen Stapel Blätter auf den Schreibtisch seiner Chefin. »Weitere Absagen. Für die nächste Kurseinheit sieht es gar nicht gut aus, Frau Direktor.«

»Das habe ich befürchtet«, murmelte Gertrude Schliefsteiner. »Und bei alldem steht mir auch noch bevor, unserem geschätzten Herrn Achleitner mitzuteilen, dass sein bereits laufender Kurs Therapeutisches Schreiben ab morgen gestrichen wird. Mangels Teilnehmern.« Mit einem Anflug von Galgenhumor fügte sie hinzu: »Oder möchte mir das vielleicht einer der hier Anwesenden abnehmen?«

Sie sah die entsetzten Blicke der anderen nicht, da ein lautstarker Streit draußen ihre Aufmerksamkeit fesselte: Die zwei Dozenten des Flirtkurses durchquerten wild gestikulierend und debattierend den Innenhof. Während Frau Direktor Schliefsteiner das Schauspiel draußen beobachtete, atmete sie kontrolliert ein und aus, um eine äußere Ruhe zu demonstrieren, die sie innerlich nicht annähernd empfand.

Was war bloß los? Sigrid Sommerfeld und Stefan Kleindienst waren seit einiger Zeit wie Hund und Katz. Wie es den beiden dennoch gelang, ihren Kurs immer wieder durchzuführen, stellte nicht nur die Direktorin, sondern das gesamte Kollegium der Akademie vor ein Rätsel. Jetzt stürmten sie, ohne etwas um sich herum wahrzunehmen, zwischen den Staffeleien des Malkurses hindurch und stritten wie üblich über die Inhalte ihres laufenden Lehrgangs. Immerhin: Für die Flirtkurse hatte es bisher nicht eine einzige Absage gegeben. Unter den derzeitigen Umständen ein echter Segen.

Die Frau Direktor sah das Unheil nahen, aber bevor sie eine Warnung in den Hof hinunterrufen konnte, war es bereits geschehen: Stefan Kleindienst stieß an die Staffelei des Kunstdozenten, und die Leinwand fiel mit der bemalten Seite in den Staub. Dabei bemerkte Kleindienst, ganz auf ­Sigrid Sommerfeld konzentriert, sein Missgeschick nicht einmal. Ohne sich auch nur umzudrehen, geschweige denn sich zu entschuldigen, rannte er weiter neben seiner Kontrahentin her.

Achleitner blickte seinem Kollegen fassungslos nach und sah dann anklagend zu den Fenstern des Direktorenbüros hinauf. Gertrude Schliefsteiner unterdrückte den Impuls, sich wegzuducken, als sein Blick sie traf. Sie ahnte, was später passieren würde: Ihr stand nicht nur ein ausufernder Beschwerdemonolog des Herrn Kunstdozenten über respektvollen Umgang unter Kollegen bevor, Achleitner würde auch verlangen, Kleindienst von höchster Stelle zu einer Entschuldigung zu zwingen.

Dabei würde Achleitner mit waidwundem Blick vor ihr stehen und stundenlang mit leiser Stimme sein Dasein als verkannter Künstler beklagen – ein Vortrag, den nicht nur in der Akademie, sondern auch in ganz Plutzerkogel jeder auswendig kannte.

Zudem würde ihr das Ganze eine diplomatische Meisterleistung abverlangen, denn Kleindienst würde die Entschuldigung in seiner gewohnt lockeren Art und Weise vorbringen und Achleitner sich nicht genug gewürdigt sehen. Ein zusätzlicher Kriegsschauplatz, der sich zu den existentiellen Problemen der Akademie Sinnenschmaus gesellte, die derzeit an ihren Nerven zerrten.

»Ich weiß nicht, wie viele Hiobsbotschaften wir noch aushalten können«, sagte sie und setzte sich an ihren Schreibtisch.

Als die Direktorin die betroffenen Mienen der Besucher sah, bereute sie ihre unkluge Wortwahl. Ihre Mitarbeiter erwarteten Zuversicht von ihr, nicht Mutlosigkeit. Sie richtete sich auf in der Hoffnung, Souveränität und Optimismus auszustrahlen. »Aber wir werden schon eine Lösung für unser Problem finden. Wir brauchen einen Plan.«

»Ich habe wieder einen dieser Briefe bekommen«, murmelte Lenzbauer. Er zog ein zusammengefaltetes Blatt aus der Jackentasche und schob es in die Tischmitte.

Niemand griff danach. Sowohl die Frau Direktor als auch Margit Unterweger sahen das Papier an, als könnte es jeden Moment explodieren.

»Sie erlauben?« Tonio von Pauritz wartete die Antwort nicht ab, sondern schnappte sich das Papier, entfaltete es und las vor: »Die Akademie Sinnengraus gehört geschlossen. Werd endlich klug und such Dir eine andere Arbeit, Lenzbauer, dann wirst Du verschont. Wenn nicht, dann … Dazu ein guter Rat: keine Polizei! Einer, der es – noch! – gut mit Dir meint.«

Der elegant gekleidete Sekretär legte das Blatt auf den Tisch zurück. »Unterzeichnet mit einem dieser seltsamen Schnörkel, Frau Direktor. Wie immer.«

Der Brief sah aus, wie alle bisherigen Drohbriefe ausgesehen hatten: ein Computerausdruck in neutraler Schrift, dar­unter ein mit der Hand gezeichnetes Symbol aus ineinander verschlungenen Linien, das einem stilisierten Knoten glich.

»Sinnengraus …«, murmelte die Frau Direktor geis­tesabwesend. »Ist noch jemandem außer mir nach einem Schnaps? Herr Tonio, wären Sie so nett …«

»Abakus oder Zirberl?«

»Ganz gleich. Hauptsache, von der Alm.«

Der Sekretär flitzte ins Vorzimmer und kehrte Sekunden später mit einem Tablett zurück. Aus einer schmalen, hohen Flasche füllte er drei Schnapsgläser, die von den anderen am Tisch nach einem knappen »Wohl sein!« auf ex geleert wurden.

»Eine Schande, diesen Zirbengeist einfach nur wegzukippen«, sagte Margit Unterweger, »aber definitiv beruhigend. Gertrude, was sollen wir nur tun? Diese Drohbriefe, die Schmiererei an unserem Fenster, so viele Absagen …« Sie schüttelte den Kopf. »Ich verstehe noch immer nicht, warum die Teilnehmer meines Backkurses krank geworden sind. Der Gedanke, schuld an dieser Misere zu sein …«

Gertrude Schliefsteiner unterbrach sie mit einer Handbewegung. »Das ist Unsinn, Margit. Niemanden trifft eine Schuld. Karl Heinz, du und ich haben in unserem schönen Plutzerkogel die Akademie Sinnenschmaus gegründet, um Gelassenheit zu lehren und gestressten Menschen ein Refugium der Ruhe zu bieten. Auf diese Gelassenheit sollten wir uns besinnen.« Sie lächelte. »Wir sind erfolgreich, das ruft Neider auf den Plan. Und du weißt: Neid muss man sich schwer verdienen.«

Aber ihre Geschäftspartnerin schaffte es nicht, das Lächeln zu erwidern. Ernst erklärte Margit: »Karl Heinz und ich sind uns einig: Wir bieten dir an, dass wir uns aus der Akademie zurückziehen. Dieser alptraumhafte Backkurs im letzten Lehrgang hat unserer Reputation schwer geschadet, das kannst du nicht leugnen. Du kennst die Vorwürfe, und seit heute Morgen kann es jeder groß und deutlich an unserem Fenster lesen. Hier steht nicht nur unsere Existenz, sondern auch die aller anderen Kursleiter auf dem Spiel. Karl Heinz und ich sind bereit, die Verantwortung zu übernehmen. Bestimmt renkt sich alles wieder ein, wenn wir die Akademie verlassen haben.«

»Ihr werdet nichts dergleichen tun!«, rief Gertrude Schliefsteiner und winkte ihrem Sekretär, nachzuschenken. Sie leerte das Glas erneut und fuhr fort: »Wir sind Freunde, und wir stellen uns dem Gegenwind gemeinsam. Gerade weil wir Verantwortung für unsere Mitarbeiter tragen. Wir müssen uns für nichts schämen. Denkst du etwa, ich glaube diese haltlosen Anschuldigungen gegen dich? Du solltest mich besser kennen.«

»Und ausgerechnet jetzt ersuche ich Sie um vier Wochen Urlaub«, sagte Lenzbauer zerknirscht. »Das muss doch wirken, als würden die Ratten das sinkende Schiff verlassen. Ich habe ein schlechtes Gewissen, Frau Direktor.«

Gertrude Schliefsteiner hob abwehrend die Hand. »Ich habe es bereits deutlich gesagt, aber ich wiederhole mich gerne: Sie begleiten Ihre Tochter in die Reha, das arme kleine Würmchen. Eine Dreijährige sollte nicht ohne ihren Vater sein, nicht nach einem solchen Unfall. Sie sind alleinerziehend, und Sie erfüllen Ihre Vaterpflichten vorbildlich. Darauf dürfen Sie stolz sein. Und bis zum Antritt der Reha besuchen Sie Nina weiterhin täglich im Spital, das ist ein Befehl.«

»Aber meine Aufgaben hier … gerade jetzt …« Lenzbauer sah von der Frau Direktor zu Margit Unterweger. »Immerhin bin ich Ihr Kurskoordinator, der Ansprechpartner für die Teilnehmer. Wer soll sich denn um die Erstellung der individuellen Kurspläne kümmern, wenn ich nicht da bin?«

»Das kann Ihr Kollege Achleitner übernehmen«, bestimmte Gertrude Schliefsteiner rigoros. Sie schnappte den zweifelnden Blick ihres Gegenübers auf und lächelte beru­higend. »Die neue Aufgabe als Kurskoordinator und das Zustandekommen seines geliebten Malkurses und der Dichterwerkstatt werden ihn für die ausgefallene Kurseinheit angemessen entschädigen. Und nicht zuletzt auch herausfordern. Umso mehr wird er im Herbst seinen Nordseeurlaub genießen können, um dort einmal mehr das inspirierende Licht über dem Meer ausgiebig auf Leinwand zu bannen.«

Das Faxgerät im Nebenraum piepste. Tonio von Pauritz ging hinüber und kehrte mit einem Schreiben in der Hand zurück.

»Drei Absagen«, sagte er. »Für Ihren Backkurs, Frau Unterweger, tut mir leid. Es sind wieder Teilnehmer aus der näheren Umgebung, die abspringen. Damit steht fest: Ihr Kurs kommt auch beim nächsten Termin nicht zustande, wegen Unterbelegung.«

Gertrude Schliefsteiner erhob sich, schob ihren Sekretär aus dem Raum und schloss die Tür. Dann drehte sie sich wieder zu Lenzbauer und Margit Unterweger um. »Wir müssen etwas unternehmen. Von den anreisenden Urlaubern allein können wir nicht leben. Ihr wisst selbst: Kurse mit drei oder vier Teilnehmern rechnen sich nicht. Die Leute aus Plutzerkogel, Deutschlandsberg und Umgebung sind die Basis unserer Arbeit. Wenn sich hier Gerüchte verbreiten, die zu immer weiteren Stornierungen führen … das könnte Kreise ziehen, und das würde uns bald das Genick brechen. Es reicht nicht, die Situation auszusitzen und zu hoffen, dass sie sich irgendwann wieder bessert. Ich finde, wir sollten in die Offensive gehen: Wir schalten die Polizei ein.«

»Die Polizei, Frau Direktor?«, rief Lenzbauer und deutete auf den Brief in der Tischmitte. »Aber in sämtlichen Briefen steht: keine Polizei! Das ist eine eindeutige Warnung. An die sollten wir uns halten. Wir bringen uns sonst nur unnötig in Gefahr!«

»Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass der Schreiber dieser Briefe wirklich … gefährlich ist«, sagte Margit Unterweger langsam. »Neider wenden keine Gewalt an, die wollen verunsichern, verwirren, uns aus ihrem – beziehungsweise unserem – Bereich vertreiben.«

Gertrude Schliefsteiner verschränkte die Arme vor der Brust. »Du magst recht haben, Margit. Dennoch dürfen wir uns das nicht kampflos gefallen lassen. Ich will wissen, wer hinter diesen widerlichen Briefen steckt. Das ist Rufmord, das gehört vor Gericht.«

»Gibt es denn keine andere Möglichkeit? Man muss sich doch nur anschauen, was meiner kleinen Nina passiert ist, und schon scheidet die Polizei als Ansprechpartner aus.« Lenzbauer sah flehentlich zwischen den beiden Frauen hin und her.

»Wir könnten einen Privatdetektiv engagieren!«, schlug die Direktorin vor.

»Der dann einen Tagessatz verlangt, der uns endgültig in den Ruin treibt?« Margit schüttelte den Kopf. »Das können wir uns leider nicht leisten, Gertrude.«

»Es sei denn, er dürfte in Ihrem Haus wohnen, Herr Lenzbauer, solange Sie nicht in Plutzerkogel sind«, erwiderte die Direktorin. »Dann hätten wir wenigstens die Kosten für die Unterkunft gespart. Der Mann könnte vier ganze Wochen lang hier ermitteln und gleichzeitig Ihr Haus hüten.«

Die Miene ihres Kurskoordinators sprach Bände: Er war vom Vorschlag der Direktorin alles andere als überzeugt. »Also, ich weiß nicht, so eine fremde Person im Haus …«

»Haushüten«, sagte Margit Unterweger, und ihre Stimme klang plötzlich zuversichtlich, »das bringt mich auf eine Idee. Ich weiß, was wir tun.«

Gertrude Schliefsteiner und Martin Lenzbauer sahen sie fragend an.

»Wir brauchen weder die Polizei noch einen teuren Privatdetektiv.« Margit Unterweger rieb sich gutgelaunt die Hände. »Alles, was wir brauchen, ist Pippa Bolle.«

Kapitel 1

Spionieren? Aushorchen?« Pippa Bolle sah Margit Un­ter­­weger entgeistert an. »Deine eigenen Kollegen? Deine Nachbarn? Deine Freunde?«

»Ich verstehe, dass dich unser Auftrag beunruhigt. Wir engagieren dich weder als Haushüterin noch als Übersetzerin. Du sollst für uns nicht mehr und nicht weniger tun, als einem schmierigen Erpresser das Handwerk zu legen. Wir wollen dich als Detektivin.« Margit Unterweger nickte, als wollte sie ihrem letzten Satz zusätzlichen Nachdruck verleihen. Da Pippa nicht antwortete, fügte sie hinzu: »Ich weiß, das entspricht nicht deinen normalen Aufträgen. Wir verlangen viel von dir. Aber du kannst das. Du hast es mehr als einmal bewiesen.«

Die beiden Frauen saßen im Hinterhof der Transvaalstraße 55 im Berliner Wedding. In Pippas Wohnung im dritten Stock des Hinterhauses war es an diesem Julitag nicht auszuhalten. Kein Windhauch ging, und die Hitze staute sich in jedem Winkel ihres kleinen Büros. Da offene Fenster die Luft noch stickiger machten, hatte Pippa sich mit ihrer Besucherin in den Hinterhof geflüchtet. Das Blätterdach der mächtigen Kastanie in dem von den Seitenflügeln, Vorder- und Hinterhaus gebildeten Karree spendete willkommenen Schatten; trotzdem kämpfte Margit Unterweger mit Hilfe eines Fächers und der von Pippas Mutter Effie zubereiteten Zitronenlimonade gegen die Hitze an.

Aus den geöffneten Fenstern der umliegenden Wohnungen drangen die vertrauten Geräusche der Bewohner: Die Kasulke-Schwestern im Dritten hörten Schlagermusik und sangen fröhlich mit, während sie für ihre Kundinnen schneiderten, die Schauspielschülerinnen in der Wohnung darunter machten Sprechübungen, im Hochparterre, wo Fatma Abakay und ihre Mutter das Mittagessen zubereiteten, klapperten die Töpfe. Der Staubsauger bei den Wittigs im zweiten Stock, der während der letzten halben Stunde gebrummt hatte, wurde soeben abgeschaltet. Als Pippa zur Wohnung hinaufsah, stellte ihre Freundin Karin gerade einen Eimer aufs Fensterbrett und wies Tochter Lisa an, die Scheiben zu putzen. Die beugte sich weit aus dem Fenster und rief: »Das ist Kinderarbeit, Tante Pippa! Unter unzumutbaren Klimabedingungen!«

Ihre Mutter hatte Pippa und ihren Gast ebenfalls entdeckt und winkte. »Herzlich willkommen, Frau Unterweger! Sie haben mit diesem Wetter ein großartiges Souvenir aus der Steiermark mitgebracht! Darf ich mich mit frischem Obstsalat revanchieren? Mit ganz viel Schlagsahne?«

»Obstsalat, großartig!« Pippa machte eine einladende Handbewegung. »Bring die größte Schüssel und leiste uns Gesellschaft.«

»Schön ist es hier«, sagte Margit Unterweger. »Ich hatte es mir ganz anders vorgestellt. Viel unpersönlicher. Ich dach­te, in diesen großen Mietshäusern mit zig Wohnungen kennt kein Nachbar den anderen, aber ihr wirkt eher wie eine große Familie.«

»Daran hat meine Mutter großen Anteil. Sie wollte eine Atmosphäre wie in Hideaway, dem englischen Dorf, aus dem sie stammt. Deshalb organisiert sie regelmäßig Treffen der Hausgemeinschaft. Picknicks, Geburtstagsfeiern, ge­mein­same Ausflüge … Sie hat es geschafft, dass wir viel zu­sam­men unternehmen«, erklärte Pippa. »Wir achten aufeinander. Mit allen Vor- und Nachteilen, die das hat. Übrigens stammt das Kleid, das ich auf Anitas Hochzeit getragen habe, aus dem hauseigenen Atelier der Kasulkes. Das sind die beiden Damen, die gerade italienische Gassenhauer singen.«

»Trotzdem wäret echt juut, wenn die beeden ooch mal wat anderet trällern. Nischt als Volare und de Caprifischer, det hält ja keener aus«, mischte sich ein älterer Herr ins Gespräch. Dann verbeugte er sich galant vor Margit und warf Pippa einen auffordernden Blick zu. »Ick würd die Dame jerne bejrüßen, Pippa. Willste ma nich vorstellen?«

Pippa grinste innerlich. Der notorisch neugierige Rentner, der seit Urzeiten im ersten Stock des Seitenflügels wohnte, hatte sich während der letzten Viertelstunde betont unauffällig an sie herangearbeitet: Zuerst hatte er den blitzsau­beren Hinterhof am entgegengesetzten Ende gefegt und sie keines Blickes gewürdigt, dann war er Meter um Meter näher gekommen, bis er endlich neben ihnen stand.

»Margit, das ist mein Nachbar Ede Glasbrenner«, sagte Pippa ergeben. Sie wusste, der alte Mann würde nicht weichen, bis er seinen Willen bekam. »Ede, das ist Margit Unter­weger aus Deutschlandsberg in der schönen Weststeiermark. Ich habe sie im letzten November in Schottland kennengelernt, auf der Hochzeit von Anita und Duncan.«

»Jnädje Frau, habe die Ehre! Aber jewaltich.« Glasbrenner schnappte sich Margits Hand und schmatzte einen Kuss darauf.

Margit trug es mit Fassung. »Ein Kavalier alter Schule. Wie angenehm.«

»Bei ’ne schöne Frau wie Sie …« Ede Glasbrenner straffte die Schultern und setzte mit glänzenden Augen zu weiteren Komplimenten an.

Wie auch jeder andere, der je mit ihm geredet hatte, kannte Pippa seine Vorliebe für Frauen mit barocken Formen. Rasch stoppte sie ihn mit einer Handbewegung, bevor er Hymnen auf Margits Rundungen dichten und damit jedes andere Gespräch zum Erliegen bringen konnte. »Ede, wenn du uns bitte entschuldigst«, sagte sie streng, »Margit und ich haben etwas zu besprechen.«

»Ick jeh ja schon.« Der Rentner warf Margit einen feurigen Blick zu. »Aba wir sehen uns noch, Jnädigste.«

»Was Ede sich vornimmt, kann nicht mal Gott verhindern«, murmelte Pippa und sah Glasbrenner misstrauisch nach. Er marschierte eilig auf Gencal zu, den jüngsten Sohn der Abakays, der gerade in den Hof kam.

Margit kicherte. »Langweilig ist es hier jedenfalls nicht.« Dann wurde sie ernst und fuhr fort: »In Plutzerkogel leider auch nicht. Und genau deshalb brauchen wir dringend einen objektiven Blick auf die Vorkommnisse. Und deine unkonventionelle Art der Hilfe, Pippa.«

»Wie die aussehen soll, hast du mir gesagt. Aber nicht, wieso es so dringend ist«, erwiderte Pippa.

»Alles fing vor ein paar Wochen an«, begann Margit, »als auf einmal sämtliche Teilnehmer meines Backkurses erkrankten. Magen- und Darmprobleme, alle mussten sich übergeben. Und nicht nur das.« Bei der Erinnerung daran fächelte Margit sich hektisch Luft zu. Es regte sie sichtlich auf, darüber zu sprechen. »Einige mussten sogar ins Spital, so schlecht ging es ihnen. Natürlich konnte der Kurs nicht weitergeführt werden.«

»Aber das kann doch vorkommen, oder? Jemand schleppt einen Virus ein, steckt die anderen an … Gerade gegen diese Art von Erkrankung kann man sich kaum schützen. Da reicht auch kein ständiges Händewaschen. Eine Gruppe kann sich schnell untereinander infizieren.«

»Das stimmt. Aber jemand brachte das Gerücht in Umlauf, ich hätte verdorbene Lebensmittel benutzt. Anonyme Briefe tauchten auf, verschickt an frühere und neue Kursteilnehmer. Die Rede war von alten Eiern, Mehlwürmern und unsachgemäß gelagerten Lebensmitteln. Es hieß, wir würden uns an den hohen Kursgebühren bereichern, aber nichts davon für hochwertige Materialien ausgeben. Aus Gewinnsucht würden wir die Gesundheit unserer Kursteilnehmer riskieren.«

Margit griff nach dem Krug, schenkte sich Limonade nach und leerte ihr Glas in langen Zügen. Pippa schwieg und ließ ihr die Pause, damit die Steirerin sich sammeln und weitererzählen konnte.

»Das hat Karl Heinz und mich sehr getroffen«, sagte Margit schließlich. »Plötzlich wirst du von allen schief angesehen, es gibt Gerede … Die gesamte Akademie leidet unter den Anschuldigungen. Leute, die Kurse gebucht haben, sagen ab. Dadurch kommen viele Lehrgänge nicht zustande, und wir müssen Teilnahmegebühren zurückerstatten. Das ist ein finanzielles Desaster für uns, denn die Dozenten müssen weiterbezahlt werden, und wir haben Stornokosten für Unterkünfte außerhalb des eigenen Hauses. Es ist eigentlich Hochsaison – aber wir machen Verlust.«

»Es gingen auch Briefe an Gäste, die noch gar nicht in der Akademie eingetroffen waren?«, fragte Pippa und runzelte die Stirn. »Um neue Kursteilnehmer zu informieren, müsste der Absender aber Zugang zu euren Daten haben, oder nicht? Das kann doch nur bedeuten, dass jemand aus der Akademie …«

»Das wäre eine Möglichkeit. Und eine, vor der mir besonders graut.« Margit verzog den Mund. »Allerdings: Sehr viele unserer Kunden kommen aus der nahen Umgebung oder aus Deutschlandsberg selbst. Besonders für meine Backkurse gibt es …« Sie stockte und fuhr fort: »Gab es Wartelisten. Selbst der Kurs, in dem wir Festtagsschmuck aus Salzteig herstellen, leidet darunter. Ich hoffe, dass es ab Herbst wieder besser wird. Immerhin kann sich damit niemand vergiften.«

Pippa hatte Beispiele von Margits Kunst aus Salzteig in Schottland bewundern dürfen: reichverzierter, filigraner Christbaumschmuck wie Engel, Schneeflocken und Weihnachtsmänner. Eigens für ihren Schwiegersohn Duncan hatte Margit kleine Whiskyfässer und Dudelsäcke angefertigt, die sie mit Zuckerguss im Tartankaro seines Clans gestaltete.

»Und da man für einen ordentlich geschmückten Christbaum gut und gerne dreißig deiner wunderschönen Engel benötigt, gibt es sicher viele Interessierte in der Umgebung, die lernen wollen, wie man diese himmlischen Heerscharen herstellt«, konstatierte Pippa.

Margit lächelte stolz. »Nicht nur Christbaumschmuck, auch Österliches oder Herbstliches zu Erntedank, Geburtstagsgeschenke aller Art, Hochzeitsdekorationen oder Lieblingstiere sind im Angebot. Bei den Herren stehen Sportwagen hoch im Kurs, die sie sich in der Realität nie leisten könnten.« Erneut verdüsterte sich ihr Gesicht. »Standen. Momentan Vergangenheitsform. Wie ich schon sagte: Durch den Skandal um den Backkurs hat sich auch die Warteliste für das Salzteig-Angebot in Luft aufgelöst. Ich kann hier bei dir sitzen, weil es meine Kurse faktisch nicht mehr gibt. Die Existenz der Akademie steht auf dem Spiel.«

Die beiden Frauen zuckten erschrocken zusammen, als etwas Kleines, Dunkles in rasender Geschwindigkeit zwischen ihnen hindurchsauste und dann wieder zurückschnellte.

Pippa fuhr herum. Ungefähr zwei Meter entfernt stand Gencal Abakay und starrte sie schuldbewusst an. Von der Hand des Achtjährigen baumelte ein Jo-Jo.

»Passiert mir nicht noch mal, Pippa«, flüsterte der Junge verlegen. »’tschuldigung.«

»Fehlt gerade noch, dass wir dein Jo-Jo an den Kopf bekommen, mein Lieber«, sagte Pippa. »Könntest du bitte dort drüben spielen?«

»Mach ich!« Gencal ging zögerlich wenige Meter zur Seite und ließ sein Jo-Jo geschickt auf und ab hüpfen. Dabei schielte er aber weiter zu den beiden Frauen herüber.

»Von dort aus kann er uns wenigstens nicht treffen, so weit reicht die Schnur nicht.« Pippa wandte sich wieder Margit zu. »In den Briefen wird den Empfängern empfohlen, die Akademie zu meiden, damit ihnen kein Unglück passiert, sagst du?«

Margit zog ein paar Bogen Papier aus ihrer Handtasche und übergab sie Pippa. »Lies selbst. Diese anonymen Schreiben haben verschiedene Dozenten und einige Gäste bekommen. Sehr unerfreulich, wenn du mich fragst.«

Pippa las aufmerksam und nickte dann. »Anonyme Botschaften sind eines, aber diese Briefe enthalten ja regelrechte Drohungen. Pass auf, mit wem Du Dich in diesem Kurs einlässt … bleib zu Hause, sonst findest Du Deine Wohnung anders vor als bei Deiner Abreise … diese Warnung solltest Du beherzigen, wenn Dir Dein Leben lieb ist …«

»Erst glaubten wir, die Warnungen bezögen sich nur auf die Gefahren, denen die Teilnehmer angeblich in der Akademie ausgesetzt sind. Aber bei genauerem Hinsehen …« Margit stockte, als fiele ihr das Weiterreden schwer.

»Du redest von konkreten Drohungen gegenüber einzelnen Empfängern?« Pippa sah Margit forschend an. »Gab es denn schon Vorfälle außer den mysteriösen Magenverstimmungen?«

»Leider«, sagte Margit Unterweger mit unglücklichem Gesicht. »Die dreijährige Tochter unseres Kurskoordinators Martin Lenzbauer ist aus einem Fenster im ersten Stock der Akademie gefallen. Dort ist unser Spielzimmer. Da die Kinder sich auch außerhalb der Betreuungszeiten dort aufhalten dürfen, haben die Fenster Griffschlösser, die nur entriegelt werden, um die darunterliegende Markise zu reinigen. Oder wenn gelüftet wird. Von uns Erwachsenen. Normalerweise.«

Entsetzt griff Pippa sich an den Hals. »Du liebe Güte – ein kleines Mädchen? Ist sie schwer verletzt?«

Margit seufzte. »Uns – und ihr – reicht es. Sie fiel auf die ausgerollte Markise unseres Cafés und von dort auf das dicke Polster einer Sonnenliege. Sie hat einen komplizierten Beinbruch erlitten, der in einer Kur ausheilen soll.«

»Aber irgendjemand muss das Fenster offen gelassen haben …«

»Dieser Jemand hat sich jedenfalls bisher nicht getraut, seinen Fehler zuzugeben«, sagte Margit. »Außerdem hat ausgerechnet Lenzbauer den Brief erhalten, in dem stand, er wolle bestimmt nicht, dass noch mehr Menschen zu Schaden kommen. Natürlich hat er das eins zu eins auf den Unfall seiner Tochter bezogen.«

»Kann ich ihm nicht verdenken«, murmelte Pippa nachdenklich. Sie nahm Margits Hand. »Ich bin nicht die richtige Ansprechpartnerin. Da müssen Profis ran. Ihr solltet die Polizei einschalten.«

»Und riskieren, dass noch jemand verunglückt? Darüber würde ich gerne erst mit deinem Bruder reden. Freddy ist doch Polizist. Und hier sind wir weit genug weg von Plutzerkogel, dass niemand dort erfahren wird, wenn ich ihn um Rat frage.«

»Mein Herr Bruder ist nur leider noch weiter weg, als du glaubst«, sagte Pippa, »nämlich bei seiner Freundin Dorcas in Schottland. Und genau da will ich in ein paar Tagen ebenfalls hin.«

»Du willst Dorcas besuchen?« Margit lächelte wissend.

Pippa erwiderte das Lächeln. »Du weißt ganz genau, zu wem ich will.«

Margit hatte im letzten Winter miterlebt, wie sich Morris Tennant und Pippa anlässlich der Hochzeit von Duncan und Anita auf Kintyre begegnet waren. Der Historiker verbrachte ein Sabbatjahr auf der Halbinsel, um über Einflüsse keltischer Mönche auf die Besiedlung zu forschen. Inzwischen hatte Morris Pippa bereits zweimal in Berlin besucht, weil sie sich wegen der Verpflichtungen für ihre Haushüteragentur nicht hatte freimachen können. Ihr Gegenbesuch war seit Wochen geplant, und sie konnte es kaum noch erwarten, ihren Freund wiederzusehen. Die Möglichkeiten, die das Internet bot, waren nur ein unvollkommener Ersatz für gemeinsam verbrachte Zeit.

»Wenn du dich überreden lässt, deine Reise zu verschieben und uns zu helfen, lasse ich dich anschließend auf unsere Kosten von Graz nach Schottland fliegen«, sagte Margit und sah Pippa flehend an. »So wahr ich selbst an Höhen- und Flugangst leide!«

»Du fährst ja schwere Geschütze auf. Da kann ich ja kaum noch nein sagen.« Pippas Vorbehalte gerieten angesichts der Verzweiflung ihrer Besucherin ins Wanken. »Wie stellst du dir meinen Einsatz denn vor?«, fragte sie.

Margit Unterweger war sofort in ihrem Element. »Du reist als ganz normale Kursbesucherin an. Martin Lenzbauer begleitet seine Tochter in die Reha, in der Zeit stellt er dir sein Haus zur Verfügung. Es wirkt dann ganz so, als würdest du dort lediglich das Haus hüten, seine Blumen gießen, die Post aus dem Kasten holen und den Kater seiner Tochter betreuen. Haushüterdienste gegen freie Kurswahl: Das ist eine großartige Tarnung. Dass du dabei die eine oder andere Frage stellst, wird niemandem auffallen.«

»Ich eigne mich nicht als Spionin. Dafür habe ich zu viele Skrupel.«

»Pippa soll das Gleiche machen wie ich für dich, Opa Ede!«, schrie Gencal plötzlich direkt hinter Pippa quer über den Hof. »Als Spion arbeiten! Aber sie kann nicht. Sie hat Krupel!«

Der Junge stellte sich neben Margit und sagte mit verschwörerisch gesenkter Stimme zu ihr: »Du musst Pippa Geld geben!« Er kramte ein paar Münzen aus der Hosen­tasche. »Hier – die hab ich von Opa Ede. Weil ich sein Spion bin.«

»Ede Glasbrenner!«, rief Pippa dem alten Mann hinterher, der sich eilig vom Hinterhof zu schleichen versuchte. »Wie kannst du es wagen, ein Kind anzustiften, uns zu belauschen?«

Der Rentner zuckte verlegen mit den Schultern und verschwand ins Haus, nicht ohne Karin die Hoftür aufgehalten zu haben. Sie trug ein Tablett mit einer Schüssel Obstsalat und Dessertschalen.

»Das dürft ihr ihm nicht übelnehmen«, sagte Karin und stellte ihre Last auf dem Tisch ab. »Er hat im Auftrag der Hausgemeinschaft gehandelt.« Sie setzte sich zu den beiden Frauen und verteilte Obstsalat. »Also: Wofür wird jemand benötigt, der keine Skrupel hat? Ich bin seit drei Wochen ohne Arbeit und habe gerade jede Menge Zeit.«

»Wenn deine Freundin mitmachen will – umso besser«, flüsterte Margit Pippa zu. »Vier Augen sehen mehr als zwei, vier Ohren hören das Doppelte. Karin könnte wunderbar die Kurse besuchen, die parallel zu deinen stattfinden.«

Pippa schüttelte unwillkürlich den Kopf, erklärte Karin aber dennoch, worum es ging.

Ihre Freundin war sofort Feuer und Flamme. »Ich bin dabei!«, sagte sie und sah Pippa begeistert an. »Unser erstes gemeinsames Abenteuer seit Schreberwerder, und das ist bereits drei Jahre her! Wir gegen den großen bösen Unbekannten.«

»Aber weil wir nicht wissen, wie groß und wie böse der Unbekannte ist, stelle ich eine Bedingung.« Pippa wartete nicht auf eventuellen Protest, sondern sagte mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete: »Wir holen uns professionelle Unterstützung. Die Suche nach einem Erpresser gehört in kompetente Hände. In die eines erstklassigen Kommissars. Eines Kriminalhauptkommissars a. D., um genau zu sein. Wenn Paul-Friedrich Seeger ebenfalls zusagt, bin ich dabei.« Pippa zückte ihr Handy und wählte eine Nummer. Sie sah die beiden anderen an und grinste. »Der Erpresser mag sich für clever halten. Aber wen Seeger jagt, der lernt das Fürchten.«

Kapitel 2

Verdammt, wo bleibt der Mann?«

Mit einem Fuß stand Pippa in der Zugtür, mit dem anderen auf dem Bahnsteig des Braunschweiger Hauptbahnhofs. In einer Minute würde die Fahrt weitergehen, aber von Exkommissar Seeger fehlte noch jede Spur. Erst als sich der Bahnsteig nach und nach leerte, sah sie ihn: Er eilte am Zug entlang, den Blick konzentriert auf die getönten Fensterscheiben gerichtet.

»Bahnsteig 6, bitte einsteigen und Türen schließen«, quäkte es aus dem Lautsprecher. »Der ICE 597, Abfahrt planmäßig um 10.58 Uhr, fährt weiter über Hildesheim, Göttingen …«

»Herr Seeger! Hier!«, schrie sie, so laut sie konnte, und winkte zusätzlich mit ihrem Halstuch.

Endlich entdeckte er sie. Mit hochrotem Kopf hetzte Paul-Friedrich Seeger am Zug entlang, einen uralten Koffer mit Schnallen unter dem Arm. Mit der anderen Hand schwenkte er grüßend eine Brötchentüte. Keuchend erreichte er Pippa, hievte das Gepäckstück in den Zug und stieg ein. Sofort schloss sich die Tür, und der Zug fuhr los. Der Ruck ließ Seeger gegen Pippa taumeln, und unwillkürlich klammerte er sich an ihr fest.

»Das nenne ich mal eine herzliche Begrüßung, Herr Seeger«, sagte Pippa und grinste.

Hastig ließ Seeger sie los und trat einen Schritt zurück, noch immer schwer atmend.

»Schon mal was von Wagenstandsanzeigern gehört? Da unsere Plätze reserviert sind und wir alle im gleichen Abteil sitzen, hätten Sie sich doch gleich auf Höhe des richtigen Waggons …«

Seeger winkte ab und hob die Brötchentüte. »Ich brauchte noch Proviant, aber die Schlange war endlos lang …« Er schnaufte und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn.

»Ist ja noch mal gutgegangen«, stellte Pippa fest. »Jetzt haben Sie elf Stunden Zeit, sich von der Aufregung zu erholen. Das reicht für Frühstück, Mittag- und Abendessen. Und für die Planung unseres Vorgehens in Plutzerkogel.«

Als Pippa nach Seegers Koffer griff, wollte er sie aufhalten, aber sie marschierte los. Dabei fragte sie sich, wann er zuletzt auf Reisen gegangen war, denn dieses Gepäckstück hätte jedem Kinofilm der fünfziger Jahre als Requisite dienen können. Außerdem war es so schwer, als würde es die Backsteine für ein ganzes Einfamilienhaus enthalten.

»Was ist das hier – ein Rentnerausflug? Geht das vielleicht etwas schneller?«, nörgelte jemand hinter ihnen.

Pippa drehte sich um. Ein Mann um die dreißig stand neben Seeger und blickte sie durch seine Sonnenbrille herausfordernd an. In seinem teuren, weiten Leinenanzug mit Blume am Revers glich er einem Beau alter Schule. Seine Boutonniere bestand aus einer weißen Calla und einer violetten Edeldistel. Ein Parfüm, für die Jahreszeit zu schwer, umgab ihn wie eine Wolke. Trotz seiner abgedunkelten Brillengläser sah Pippa, dass er Seeger von oben bis unten musterte und genervt die Augen verdrehte.

»Sind Sie sicher, dass Sie sich im richtigen Wagen befinden? Dies ist die erste Klasse!«, verkündete der Mann von oben herab.

»Einen Moment, bitte. Unser Abteil ist gleich da vorne«, sagte Pippa so freundlich sie konnte, obwohl sie am liebsten deutlich patziger geantwortet hätte. Auch Seeger war anzumerken, dass er sich nur mühsam zurückhielt.

Der junge Mann schnaubte. »Wissen Sie, was? Sie lassen mich einfach vorbei. Ich habe nicht vor, die Fahrt im Gang zu verbringen.«

Grob drängte er sich an Seeger vorbei und rempelte Pippa an, als er sie passierte.

Stirnrunzelnd sah Seeger ihm nach und rief: »He, wollen Sie sich nicht …«

»Sich bei mir für seine Rüpelhaftigkeit entschuldigen? Der doch nicht«, fiel Pippa ihm amüsiert ins Wort. »Eine teure Hülle kann man kaufen, Manieren nicht. Kommen Sie.«

Der Mann musste ihren Kommentar gehört haben, denn er verharrte kurz, als überlegte er, noch etwas zu sagen. Dann eilte er mit flatterndem Sakko weiter und verschwand hinter der Trenntür zum nächsten Wagen.

»Recht hat er ja. Musste es wirklich die erste Klasse sein?«, fragte Seeger, als Pippa die Tür zum nächsten Abteil öffnete, wo Margit und Karin auf sie warteten.

Margit strahlte den Neuankömmling an. »Ich war so frei. Wir wollen doch bequem reisen, uns in Ruhe unterhalten und Pläne schmieden.« Sie schüttelte ihm herzlich die Hand. »So sieht also der Mann zur Telefonstimme aus. Pippa schwärmt wirklich in den höchsten Tönen vom legendären Kommissar Seeger.«

»Exkommissar«, murmelte Seeger sichtlich verlegen.

Margit wedelte seinen Einwand mit der Hand beiseite. »Ach was. Einmal Kommissar, immer Kommissar. Sie hören ja auch nicht heute auf zu essen, nur weil Sie gestern satt waren. Außerdem profitiere ich davon, dass Sie in Pension sind. In meiner Misere ein echter Glücksfall.« Auffordernd klopfte sie auf den Platz neben sich. »Setzen Sie sich.«

Mit vereinten Kräften wuchteten Pippa und Karin den Koffer in die Gepäckablage.

»Was haben Sie denn da drin?« Karin ächzte und ließ sich wieder in den Sitz fallen. »Eine Reise-Gefängniszelle mit Eisengitter und Old-School-Handschellen aus Metall, falls wir jemanden verhaften müssen?«

»Darf ich vorstellen: meine Freundin Karin Wittig und ihre blühende Fantasie«, sagte Pippa. »Eine Mischung, vor der sich nicht nur der Erpresser in Acht nehmen sollte.«

»Ich bin die Harmlosigkeit in Person.« Karin klimperte unschuldig mit den Wimpern. »Erst gepaart mit Pippas Neugier und ihrem Tatendrang werde ich zur Waffe. Aber jetzt mal ehrlich – was ist in dem Koffer?«

»Ein paar Utensilien zur Spurensicherung, tatsächlich Handschellen und eine professionelle elektronische Grundausstattung vom Diktiergerät bis zur Abhöranlage«, erklärte Seeger und lehnte sich zufrieden ins Polster des Sitzes zurück. »Illegal und gebraucht – aber nützlich.«

Pippa starrte auf den Koffer im Gepäckfach über Seeger und runzelte die Stirn. »Dann haben Sie Ihren Koffer mit der Kleidung aufgegeben? Neben all den Geräten hätte doch da drin höchstens noch eine Kulturtasche Platz.«

Unauffällig musterte sie den Exkommissar. Sein graues Haar war länger als während seiner Dienstzeit, was ihm etwas Verwegenes gab. Nach wie vor trug er eine seiner geliebten Manchesterhosen. Allerdings hatte er sie heute mit einem gestreiften Freizeithemd kombiniert, das lässig über den Hosenbund fiel. Die Windjacke hatte er ausgezogen und zum Koffer ins Gepäckfach gestopft. Der Ruhestand tat Seeger sichtlich gut – er war braungebrannt und wirkte durchtrainiert.

»Das Duplikat zu diesem Outfit«, der Exkommissar zeigte an sich hinunter, »hat noch reingepasst. Sollte ich wider Erwarten mehr benötigen, besorge ich es mir vor Ort – und befrage dabei gleich die Verkäuferinnen. Nichts ist informativer als die Gerüchteküche einer Kleinstadt. Beim Einkaufen von Oberbekleidung nehmen sich die Leute häufig mehr Zeit als für ein Gespräch mit dem Ehegatten.«

Margit lachte und drückte Seegers Hand. »Sie denken voraus, das gefällt mir. Großartig, dass Sie uns helfen wollen.«

Pippa lehnte sich entspannt zurück. Alle verstanden sich prächtig, und Margit hatte wieder zu gewohnter Form und Zuversicht zurückgefunden. Kein Vergleich zu der Verzweiflung bei ihrer Ankunft in Berlin. Seit Margit wusste, dass außer Pippa und Karin auch Seeger mit im Boot war, ging es ihr stündlich besser. Niemand, der nicht Bescheid wusste, hätte ihr die Sorgen, die sie drückten, noch angemerkt.

»Fragt sich, wer hier wem hilft«, sagte Seeger. »Dieser verdammte Ruhestand ist Gift für mich. Ich hätte niemals gedacht, dass ein Mensch sich derart langweilen kann.«

»Aber Sie hatten sich doch so auf die freie Zeit gefreut«, sagte Pippa verblüfft. »Endlich in Ruhe die Graureiher beobachten …«

Seeger winkte ab. »Alles andere als abendfüllend, wie ich feststellen musste. Den Herbst und Winter habe ich damit verbracht, mein neues Zuhause auf Vordermann zu bringen. Es gab einiges zu reparieren, neu zu streichen oder zu moder­nisieren.« Er zwinkerte Pippa zu. »Bei meinem Einzug hatte ich eigentlich nur die Möbel ausgetauscht. Der Geschmack der Vorbesitzerin war doch etwas anders als meiner.«

Pippa grinste. Sie erinnerte sich gut an das Häuschen in Storchwinkel, das er übernommen hatte, nachdem sein letzter Fall aufgeklärt war. Tatsächlich unvorstellbar, dass er sich zwischen Wänden mit Rosenborte und dem altrosa Teppichboden dauerhaft wohl gefühlt hätte.

»Im Frühjahr gab es natürlich einiges im Garten zu tun«, fuhr Seeger fort. »Ich bin viel spazieren gegangen oder habe endlose Stunden im Unterstand am See gehockt und Vögel beobachtet. Als ich sie alle persönlich kannte, dachte ich: Und wen kann ich jetzt observieren? Dann der Schock: Mir ist niemand eingefallen, der mich nicht meine Pension kosten würde.« Er grinste. »Darüber nachgedacht hatte ich schon lange, aber Ihr Angebot gab den letzten Anstoß. Nach Ihrem Anruf habe ich ein Gewerbe angemeldet. Als Detektiv und Privatermittler. Ich bin jetzt so etwas wie der ältere Bruder von James Bond. Zwar zuständig für private Probleme – aber ebenfalls international tätig.« Er verbeugte sich knapp. »Gestatten, mein Name ist Seeger. Paul-Friedrich Seeger.«

»Dann wird es ja nicht mehr lange dauern, bis die Damen Schlange stehen!«, sagte Karin. »Wie soll denn das Seeger-Girl aussehen?«

Seegers Gesicht lief rot an, und Margit rief aufgeräumt: »Wie Pippa! Mein Lieber, wir sollten die beiden in das einweihen, was wir zwei am Telefon ausgeheckt haben.«

Alarmiert horchte Pippa auf und registrierte, dass Seeger ihrem Blick auswich.

»Sie haben ihr noch nichts erzählt?«, fragte er Margit entsetzt.

»Aber woher denn?«, rief die. »Da wollte ich Sie dabeihaben.«

Pippa wandte sich an Karin, aber die Freundin hob abwehrend die Hände. »Ausnahmsweise unschuldig wie ein neugeborenes Baby.«

»Raus damit.« Pippa sah Margit an. »Was habt ihr … ausgeheckt?«

»Wir haben eine wundervolle Idee: Herr Seeger wird ebenfalls in Lenzbauers Haus wohnen, genau wie du«, verkündete Margit triumphierend. »Ihr gebt euch als frischgebackenes Ehepaar aus, dachten wir. Das wirkt vertrauen­einflößend. Dann erzählen die Leute euch mehr.«

»Als Ehepaar …«, wiederholte Pippa fassungslos und versuchte, Karins Prusten neben sich zu ignorieren.

»Na, verheiratet ist Pippa ja …«, sagte Karin. »Noch.«

Damit spielte sie darauf an, dass Pippa seit über zwei Jahren geduldig darauf wartete, von ihrem italienischen Gatten Leo geschieden zu werden.

Ich hätte Margit und Seeger auf keinen Fall allein mitein­ander telefonieren lassen dürfen, dachte Pippa. »Könnte nicht Karin diese Rolle übernehmen? Ihr scheint die Idee ja gut zu gefallen.«

»Für sie haben wir einen anderen Plan: Karin und du, ihr tut so, als würdet ihr euch in Plutzerkogel erst kennenlernen. Wie alle anderen Teilnehmer dieser Seminareinheit auch.« Margit nickte wie zur Bestätigung. »Auf diese Weise können wir doppelt so viel erfahren, denn einer von euch beiden werden die Leute sich bestimmt öffnen. Wenn ihr alle zusammengehört, könnte das für den Einzelfall kontraproduktiv sein. So haben wir drei Eisen im Feuer.«

Feixend stieß Karin Pippa in die Seite. »Wenn ich es genau überlege: Vielleicht kann ich dich nicht ausstehen? Mal sehen. Wenn dich jemand blöd findet oder dir misstraut, stehe ich gern parat, um über dich herzuziehen und falsche Informationen zu streuen.«

»Der nächste Halt ist Göttingen. Ich kann immer noch aussteigen«, knurrte Pippa und versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, mit Seeger allein unter einem Dach zu leben, während ihre beste Freundin woanders untergebracht war.

»Ich … vielleicht sollten wir alles doch noch mal überdenken. Wir hätten Frau Bolle vorher fragen sollen«, murmelte Seeger.

Pippa hatte durchaus bemerkt, dass er in ihrem Gesicht eine positive Reaktion gesucht und nicht gefunden hatte. Aber obwohl sie sich überrumpelt fühlte, musste sie zugeben, dass die Idee Potential in sich barg.

Sie gab sich einen Ruck und lächelte. »Wenn Sie glauben, dass diese Konstellation Erfolg verspricht, dann werden wir alles genau so machen. Sie sind hier der Fachmann.«

»Na also!« Margit blickte begeistert in die Runde. »Und jetzt hört endlich mit dem Herr Seeger und Frau Bolle auf. Ihr solltet euch schon mal daran gewöhnen, euch zu duzen, sonst fallt ihr aus Versehen noch aus der Rolle.«

»Paul-Friedrich«, sagte Seeger und streckte Pippa feierlich die Hand hin. »Meine geliebte Frau ist die Einzige, die mich nur Paul nennen darf, wenn sie das wünscht.«

Pippa nannte ihren Namen und schlug ein. »Danke, aber ich setze auf Paul-Friedrich. Liebe aber für meinen Teil jede Art von Schmeicheleien und Galanterien. Solltest du in ­dieser Hinsicht Nachhilfe brauchen …« Sie öffnete ihre Handtasche, zog einen E-Reader heraus und hielt ihn in die Höhe. »Vollgestopft mit Jane Austen. Englische Gesamtausgabe. Ich stelle auch gern eine Liste mit Lobpreisungen meiner Person zusammen. Die dürfen alle Verwendung finden, selbstverständlich besonders in der Öffentlichkeit.« Sie zwinkerte Seeger zu. »Und in möglichst glaubwürdigem Tonfall, Mr Darcy.«

Karin grinste, als sie Seegers entgeistertes Gesicht sah. »Mr Darcy ist einer der Hauptcharaktere in Jane Austens Stolz und Vorurteil und Pippas Ideal eines romantischen Helden. Bisher hat sie noch jeden Mann mit ihm verglichen.« Sie seufzte theatralisch. »Aber schon beim jährlichen Einkommen können die meisten nicht mithalten.«

Pippa knuffte ihre Freundin gutgelaunt gegen den Oberarm. »Und zufällig ist dieses Buch Thema im Literaturzirkel der Akademie. Ich fürchte, wenn Herr … Paul-Friedrich mit mir verheiratet ist, muss er es wohl oder übel auch lesen und mitkommen. Oder wir riskieren gleich zu Beginn unserer Ehe eine Krise.«

»Auge um Auge – dafür nehme ich dich mit zum Frühsport. Und das jeden Morgen. Ohne Pardon«, sagte der Exkommissar mit der Bestimmtheit, die Pippa von ihm kannte. »Wir müssen uns auch überlegen, wie wir heißen. Bolle-Seeger oder Seeger-Bolle? Oder nur Seeger?«

»Ich schlage vor, wir behalten jeder unseren eigenen Namen, das ist ja heute Gott sei Dank normal«, erwiderte Pippa. »Ich hätte zu viel Angst, dass ich nicht reagiere, wenn ich mit einem anderen Namen angesprochen werde.«

»Ihr müsst euch auch eine gemeinsame Geschichte überlegen, damit ihr nicht sofort auffliegt«, gab Margit Unterweger zu bedenken.

Die nächste Stunde verbrachten sie damit, sich verschiedene Szenarien auszudenken, verwarfen aber alle wieder, weil das unfreiwillige Ehepaar sich zu viele komplizierte Details hätte merken müssen.

»Lasst doch einfach alles, wie es ist«, sagte Karin schließlich, als ihnen nichts mehr einfiel. »Außer natürlich, dass ihr verheiratet seid. Ihr habt euch kennengelernt, als Pippa als Gesellschafterin bei einer alten Dame in der Altmark weilte. Ganz, wie es wirklich war. Dann könnt ihr keine Fehler machen, und wenn jemand nachforscht, kriegt er das sogar bestätigt.«

»Geheiratet haben wir erst vor kurzem. In Berlin. In ganz kleinem Kreis.« Seeger legte den Kopf schief. »Auf meinen ausdrücklichen Wunsch. Übrigens wollte ich lieber eine ausgedehnte Hochzeitsreise in die Karibik machen. Aber Pippa bestand auf Kursen in Plutzerkogel.«

»Das wäre Ihnen mit mir nicht passiert.« Karin schüttelte den Kopf, als hätte es diese Wahl tatsächlich gegeben. »Jamaika, Barbados,Curaçao. Sollte die Sache mit Pippa nicht gutgehen: Ich stehe bereit.«

Pippa tat, als hätte sie den Einwurf nicht gehört. »Paul-Friedrich und ich haben immer noch zwei Wohnsitze: die Stadtwohnung in Berlin und das Häuschen auf dem Land. Auf dieser Reise wollen wir entscheiden, wo wir dauerhaft leben werden. So kann sich keiner von uns verplappern.«

»Lernt noch die wichtigen Eckdaten auswendig: Wann hat der andere Geburtstag? Wann habt ihr geheiratet? Alles muss sitzen. Und das bis heute Abend«, warf Margit ein. »Ab Graz spielen wir alle unsere Rollen. Karl Heinz holt nicht nur uns vom Bahnhof ab, sondern auch weitere Kursteilnehmer. Von da an können wir uns keine Fehler mehr erlauben.«

Kurze Zeit später erreichten sie Fulda und mussten umsteigen. Der Bahnsteig war voller Menschen, denn ein anderer Zug war ausgefallen, und bis Frankfurt wollten viele Fahrgäste die Verbindung nach Graz nutzen, um weiterzukommen. Während Karin und Margit den Wagenstandsanzeiger konsultierten, entdeckte Pippa in der Menge den jungen Mann, mit dem sie nach dem Halt in Braunschweig aneinandergeraten war. Er fuchtelte mit den Armen und redete lebhaft auf einen etwa gleichaltrigen Mann ein. Sein Gegenüber lauschte aufmerksam und nickte mehrmals. Als der Zug einlief, stiegen beide bester Laune in den Speisewagen.

Sieh an, dachte Pippa, der Typ kann auch anders.

In ihrem neuen Abteil ließen sie sich Kaffee und Kuchen servieren, dann bat Seeger darum, sich die Drohbriefe ansehen zu dürfen. Er studierte sie sorgfältig. Schließlich deutete er auf das gemalte Symbol. »Wissen wir, was das sein soll?«

»Solche Zeichen habe ich in Schottland oft gesehen«, sagte Pippa. »Sie sind wohl keltischen Ursprungs. Aber was sie genau bedeuten …« Sie zuckte mit den Achseln.

»Das finden wir heraus«, murmelte Seeger und wandte sich an Margit. »Diese Sache mit den kranken Teilnehmern nach Ihrem Backkurs: Halten Sie das für Sabotage?«

Margit sah ihn bedrückt an. »Auf den Gedanken könnte man kommen, nicht wahr? Karl Heinz vermutet es zumindest. Ich bin eher davon ausgegangen, dass einer der Teilnehmer krank war, die anderen angesteckt hat und jemand das ausnutzt, um uns zu verunglimpfen.«

»Ihr Mann glaubt, jemand hat Ihnen verdorbene Eier untergeschoben?«, fragte Karin ungläubig. »Vorsätzlich?«

»Wäre so etwas denn möglich?«, fragte Pippa. »Wo findet der Kurs statt? Sind die Räumlichkeiten frei zugänglich?«

»Wir benutzen die große Küche in der Akademie«, sagte Margit. »Sie ist nicht besonders gesichert, wird nicht mal abgeschlossen, wenn wir fertig sind. Praktisch könnte jeder, der einen der Kurse besucht oder sich bei uns auskennt, in die Küche gehen und … Aber wer tut denn so was?«

»Jemand, der Ihnen schaden will«, erwiderte Seeger ernst. »Nicht zwangsläufig Ihnen persönlich, Sie leiten nur zufällig den Kurs, in dem mit Lebensmitteln gearbeitet wird. Das macht Manipulation besonders einfach und den Schaden höchst effektvoll. Besonders in der Außenwirkung.«

Pippa sah ihn prüfend an. »Du glaubst, es geht nicht um den persönlichen Erfolg der Unterwegers, sondern um das gesamte Unternehmen, nicht wahr?«

»Nadelstiche«, warf Karin angewidert ein. »Aber höchst effektiv.«

»Und feige«, sagte Pippa. »Passt haargenau zu Erpresserbriefen und der Mentalität ihres oder ihrer Verfasser. Siehst du einen Zusammenhang zwischen dem Unfall von Lenzbauers kleiner Tochter und den Erkrankungen im Backkurs, Paul-Friedrich?«

Seeger nickte und wandte sich an Margit Unterweger. »Erpresser kennen ihre Opfer und deren Schwachstellen immer ganz genau. Wenn Karin, Pippa und ich Ihnen helfen sollen, Frau Unterweger, müssen wir ebenso gut informiert sein wie unser Gegner. Es tut mir leid, aber Sie müssen uns auf dieser Fahrt auch über die Leichen im Keller der Mitarbeiter … und Leiter der Akademie Sinnenschmaus aufklären.«

»Sie meinen, all die kleinen Animositäten innerhalb des Kollegiums oder zwischen der Akademie und unserem Umfeld spielen vielleicht eine Rolle? Klatsch und Tratsch? Gerüchte? All das Gerede darüber, wer mit wem?« Margit Unterweger war deutlich anzusehen, dass ihr diese Aussicht keine Freude bereitete.

Seeger nickte. »Irgendwo in diesen Informationen verbirgt sich der Antrieb für unseren Erpresser. Wir finden den Mistkerl, sobald wir seine Motivation kennen.«

»Mit der er vor sich rechtfertigt, was er tut.« Pippa schüttelte sich. »Sie haben … du hast völlig recht«, sagte sie zu Seeger. »Das ist genau der Punkt, an dem wir ansetzen müssen. Was sollen diese Briefe erreichen? Wer will, dass die Akademie geschlossen wird? Und warum?« Sie sah die anderen der Reihe nach an. »Kurz gesagt: Wer hat etwas davon?«

»Also dann: Raus damit«, forderte Karin und lehnte sich erwartungsvoll ins Polster zurück. »Mit jedem kleinen dreckigen Detail.«

Bevor Margit dieser Aufforderung nachkommen konnte, klingelte ihr Mobiltelefon. Mit einer gemurmelten Entschuldigung zog sie es aus der Handtasche und sah aufs Display. »Das ist Gertrude. Ich dachte eigentlich, unsere Frau Direktor wäre heute bei ihrer Schwester auf der Josefsalm. Aber da gibt es gar kein Netz.«

Sie nahm das Gespräch an. Nach einer kurzen Begrüßung hörte sie nur noch zu und massierte mit der freien Hand eine Schläfe, als wollte sie einen beginnenden Kopfschmerz unterdrücken. Als das Telefonat beendet war, sah sie noch einen Moment nachdenklich auf das Gerät hinunter.

»Einer unserer langjährigen und regelmäßigen Kursteilnehmer ist gestern nach Ende seines Kurses von der Akademie nach Hause aufgebrochen – aber nie dort angekommen«, sagte sie leise. »Es wird angenommen, dass er zu jemandem ins Auto gestiegen ist, um sich bei der Hitze den langen Marsch zu ersparen.« Sie blickte auf, Entsetzen in den Augen. »Seitdem hat ihn niemand mehr gesehen oder gesprochen. Bernhard Lipp wird seit vierundzwanzig Stunden vermisst. Von ihm fehlt jede Spur.«

Kapitel 3

Es dämmerte bereits, als der Zug das Tempo verlangsamte, um in den Grazer Hauptbahnhof einzufahren.

»Paul-Friedrich und ich gehen vor bis zur zweiten Klasse«, sagte Pippa, als alle sich zum Aussteigen bereitmachten. »Wenn wir den Anschein erwecken wollen, als würden wir uns nicht kennen, sollten wir aus verschiedenen Wagen kommen.«

»Ohnehin besser so«, erwiderte Karin und half, Seegers alten Koffer aus dem Gepäcknetz zu hieven. »Neben diesem Ding will ich nicht mal tot über dem Zaun hängen. Meine Tarnung als Touristikassistentin eines namhaften deutschen Reiseunternehmens könnte Schaden nehmen.«

Pippa lachte und schob ihren Pseudoehemann aus der Abteiltür.

Erpressung, ungeklärte Unfälle, eine vermisste Person – und dabei soll in der Akademie nichts als Genuss und Entspannung gelehrt werden, dachte sie, während sie den Gang entlang bis zur nächsten Wagenklasse ging, die Komponenten der Ausgangssituation könnten nicht gegensätzlicher sein.

Pippa war schon mehrmals in Kriminalfälle verstrickt gewesen, hatte es dabei aber immer mit einem überschaubaren Kreis von Tatverdächtigen zu tun gehabt. In Plutzerkogel lag die Sache anders, hier konnte faktisch jeder seine Hand im Spiel haben: das Dozentenkollegium, die Kursbesucher, die Bewohner von Plutzerkogel, wenn nicht sogar jemand aus dem nahegelegenen Deutschlandsberg.

»Das Abenteuer beginnt«, sagte Pippa leise, wie um sich selbst Mut zuzusprechen. Als der Zug mit kreischenden Bremsen hielt, zwinkerte sie Seeger zu. »Nicht vergessen: Ab sofort sind wir verheiratet, Schatz.«

Der Exkommissar grinste. »Schatz? In den JVAs unseres Landes sitzen eine ganze Menge Leute, die weniger freundliche Namen für mich auf Lager haben. Aber an diese Abwechslung werde ich mich schnell gewöhnen, mein Rotschopf.«

Er öffnete die Tür und stieg aus, bevor Pippa ihren Protest über diesen Kosenamen loswerden konnte. Seit frühester Kindheit sammelte sie Kopfbedeckungen jeder Art, unter denen sie ihr tizianrotes Haar verstecken konnte, aber mittlerweile liebte sie ihre langen Locken. Dennoch erinnerte sie dieser Kosename unangenehm an Hänseleien aus ihrer Jugend. Als Seeger ihr die Hand reichte, um ihr galant aus dem Zug zu helfen, legte sie leise ihr Veto ein, doch dann wurde sie durch einen hageren Mann um die sechzig abgelenkt, der ein Schild mit der Aufschrift ›Akademie Sinnenschmaus‹ hochhielt.

»Das ist Karl Heinz Unterweger«, flüsterte sie Seeger zu. »Er sammelt seine Schäfchen ein.«

Sie ließen Margit Zeit, ihren Mann zu begrüßen, bevor sie ebenfalls zu ihm hinübergingen. Sie trafen gleichzeitig mit zwei weiteren Personen ein: einer brünetten Frau Anfang zwanzig, die für die Jahreszeit viel zu warm gekleidet war, und einem deutlich älteren Mann in Knickerbockern und mit Gamsbart am Hut. Die beiden stellten sich als Amelia Dauber und Oliver Mieglitz vor.

Margit strich die Namen der vier Neuankömmlinge von einer Personenliste, die sie auf einem Klemmbrett befestigt hatte.

Pippa traute ihren Augen nicht, als auch der Dandy im Leinenanzug näher kam, im Schlepptau den Mann vom Bahnsteig in Fulda. Er nickte Karl Heinz zu und verkündete: »Karsten Knöller. Sie erwarten mich.«

»Nicht nur Sie, Herr Knöller«, erwiderte Margit freundlich und schüttelte ihm die Hand. Dann wandte sie sich seiner Begleitung zu. »Margit und Karl Heinz Unterweger. Herz­lich willkommen in der Steiermark. Und Sie sind …?«

»Das ist Axel von Meinrad, ein bekannter Journalist«, antwortete Knöller statt seiner. »Ich habe ihm von der Akademie Sinnenschmaus erzählt. Und er ist interessiert. Mehr an mir als an der Akademie, aber beides fügt sich doch sehr komfortabel zusammen. Herr von Meinrad sieht in mir Potential für eine seiner beliebten Reportagen über interessante Persönlichkeiten auf Grand Tour. Er wird die Wirkung Ihres Etablissements auf mich schildern, meine Eindrücke fotografisch festhalten und dabei meine ganz persönliche Lebensphilosophie vorstellen.« Knöller sah zufrieden in die Runde. »Ich habe seinem Ansinnen bereits zugestimmt. Der Werbewert für Ihr Haus, um nicht zu sagen, der Mehrwert, ist dabei beträchtlich. Aber ich will keinen Dank. Mir reicht, wenn die Akademie Sinnenschmaus Herrn von Meinrad ein kleines, bequemes Plätzchen zur Verfügung stellt und ihm Tür und Tor öffnet.«

»Bei freier Unterkunft und freier Verpflegung möchte ich wetten«, raunte Seeger Pippa ins Ohr. »Ausgerechnet in dieser Situation, verdammt blöd.«

Margit und Karl Heinz schienen genauso zu denken, denn keiner der beiden wirkte begeistert bei der Aussicht, gerade jetzt einen Journalisten in der Akademie zu haben. »Ich bin mir nicht sicher, ob wir für diese Seminareinheit überhaupt Platz haben«, erwiderte Margit. »Wir erwarten noch einige Teilnehmer, hier und am Flughafen.« Sie konsul­tierte ihre Liste, als müsste sie nachzählen. »Wir sind noch nicht vollzählig, Herr Knöller. Frau Wittig? Karin Wittig?«

»Hier!«, rief Karin, die in diesem Moment zu ihnen stieß und ächzend ihren Koffer abstellte. Neugierig musterte sie die anderen Teilnehmer. »Ich bin Karin Wittig, Touristikassistentin aus Berlin und froh, einen der begehrten Akademieplätze ergattert zu haben.«

Mittlerweile hatte sich der Bahnsteig bis auf ihre Gruppe geleert. Pippa bemerkte, dass Karl Heinz sich dennoch suchend umblickte. Er seufzte, klemmte das Schild unter den Arm und nickte Margit zu. Die reichte ihm die Namensliste und sagte fröhlich: »Dann wollen wir mal! Sie auch, Herr von Meinrad. Wir werden Sie schon irgendwie unterbringen.«

Du machst gute Miene zum bösen Spiel, Margit, dachte Pippa, aber für mich sieht es so aus, als hättet ihr mit diesem Zug noch weitere Teilnehmer erwartet.

Karl Heinz lud das Gepäck in den kleinen Reisebus, den er an der Ostseite des Bahnhofs geparkt hatte. Mit ihnen war nicht einmal die Hälfte der Plätze im Bus besetzt, und außer Pippa und Seeger teilten sich nur von Meinrad und Knöller eine Sitzbank. Alle anderen saßen allein.

Margit hatte auf dem Reiseleitersitz neben dem Fahrer Platz genommen. Als Karl Heinz losfuhr, griff sie zum Mikrofon und schaltete die Lautsprecheranlage ein.

»Liebe Gäste, ich bin Margit Unterweger und heiße Sie recht herzlich willkommen. Am Steuer sitzt mein Mann Karl Heinz, der uns zuerst zum Flughafen Graz chauffieren wird, wo weitere Gäste aus Hamburg und Frankfurt auf uns warten. Wir begrüßen Sie zu erholsamen Tagen in der Akademie Sinnenschmaus. Dies ist Ihr Urlaub, und wir werden alles tun, damit Sie ihn genießen können. Gleich, wenn die anderen Gäste zugestiegen sind, werde ich noch etwas mehr zum morgigen Programm erzählen. Bis dahin bedanke ich mich für Ihre Aufmerksamkeit.«

»Bravo!«, rief Karin und spendete Applaus, dem sich – bis auf Knöller und den Journalisten – alle Mitfahrer anschlossen. Dann sah Karin sich um und fragte in die Runde: »Wir duzen uns doch, oder? Welche Kurse habt ihr denn so belegt?« Wie zufällig sah sie Pippa an. »Beginnen wir doch gleich mit euch beiden. Und vorstellen, bitte.«

Pippa unterdrückte ein Grinsen. Bis zu seiner Schließung drei Wochen zuvor hatte Karin ihr gesamtes Arbeitsleben in einem Reisebüro im Berliner Norden verbracht und dort den Umgang mit Menschen unterschiedlicher Couleur gelernt. Beinahe wunderte Pippa sich, dass Karin Margit nicht sofort das Mikrofon entwunden hatte, um kurzerhand selbst die Führung zu übernehmen.

»Pippa Bolle«, sagte Pippa, »mein Mann Paul-Friedrich Seeger und ich kommen auch aus Berlin. Genau wie Sie … du. Das heißt: aus Berlin und aus der Altmark. Wir haben uns vorgenommen, uns jeden Morgen um sieben beim Frühsport einzufinden und gemeinsam zum Flirtkurs zu gehen. Ich möchte außerdem beim Literaturzirkel und beim Fotokurs mitmachen. Paul …« Entsetzt stellte Pippa fest, dass sie sich nicht erinnern konnte, welche Pläne er gemacht hatte.

»… besucht ebenfalls den Fotokurs«, vervollständigte Seeger. »Ich interessiere mich sehr für Landschaftsfotografie, und die Kursleiterin Sarah MacDonald ist auf diesem Gebiet eine Berühmtheit. Ich besitze ein wunderbares Fotobuch von ihr.«

»Flirten, Fotografieren und Frühsport«, konstatierte Karin, »da ist aber noch jede Menge Luft nach oben. Wen werde ich denn in meinem Lyrikkurs treffen?«

Zögernd hoben Amelia Dauber und Oliver Mieglitz die Hände, um einander gleich darauf wütend zu mustern und sich demonstrativ abzuwenden.

Karin grinste. »Noch zwei Dichter unter uns, wie schön. Was hast du denn sonst noch belegt?«, fragte sie die junge Frau.

»Ich bin Amelia. Ich fahre zum ersten Mal ins Ausland. Bisher habe ich nur in Deutschland Urlaub gemacht. Aber diesmal … also diese Gelegenheit …« Sie unterbrach sich selber und nickte den anderen schüchtern zu. »Befreiendes Malen steht noch auf meinem Plan. Aber es gibt ja noch so viele interessante andere Angebote. Das abendliche Kamingespräch, Wanderungen …« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich werde ja sehen, was man mir noch alles zugedacht hat.«

»Und du?«, fragte Karin Mieglitz, der alles andere als Gesprächsbereitschaft ausstrahlte.

Er räusperte sich umständlich und blaffte: »Oliver. Dichten und Malen. Alles Weitere wird man sehen.«

Karin reckte den Hals und deutete auf Knöller. »Und du da hinten?«

»Knöller«, sagte er. »Karsten. Ich habe mich noch nicht festgelegt.« Er zeigte auf seinen Nebenmann. »Es wird ja jetzt darauf ankommen, wo und wie Axel mich porträtieren möchte.«

»Da würde ich den Malkurs empfehlen«, murmelte Seeger, und Pippa hatte große Mühe, ein Kichern zu unterdrücken.

In diesem Moment erreichten sie den Flughafen. Karl Heinz fuhr auf den Kurzzeitparkplatz, schnappte sich das Schild und stieg aus.