Unter allen Beeten ist Ruh - Auerbach & Keller - E-Book
SONDERANGEBOT

Unter allen Beeten ist Ruh E-Book

Auerbach & Keller

0,0
12,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 8,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Pippa Bolle hat die Nase voll von ihrer verrückten Berliner Familien-WG und bietet ihre Dienste als Haushüterin in der beschaulichen Kleingartenkolonie auf der Insel Schreberwerder an. Das Paradies für jeden Großstädter! Bienen summen, Vögel zwitschern, das Havelwasser plätschert. Doch die Ruhe trügt: Nachbarn streiten sich um Grundstücke, ein Unternehmer träumt vom großen Coup. Und dann gibt es auch schon die erste Tote…

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

Pippa Bolle verlässt nur zu gerne hin und wieder ihre verrückte Berliner Familie und bietet ihre Hilfe als Haushüterin an. So stolpert sie von einem sonderbaren Fall in den nächsten und wird unfreiwillig zur Ermittlerin. In ihrem ersten Fall geht es um Betrug, Eifersucht und das liebe Geld …

Warum passiert das gerade Ihnen, Frau Bolle?

Wenn ich das mal wüsste! Haushüten schien Ruhe und Konzentration für meine Arbeit als Übersetzerin zu garantieren – und jetzt das …

Sind Sie ein Familienmensch?

Unbedingt – wenn dazu auch meine Freunde zählen dürfen. Und all die Menschen, die mir noch begegnen werden. Es gibt keine Fremden in der Welt – nur Freunde, die ich noch nicht kenne.

Wo sind Sie am liebsten?

Immer da, wo ich gerade bin: Berlin, England, Frankreich … Die Welt steckt so voller Überraschungen, dass ich überlege, meine Erlebnisse von Auerbach & Keller aufschreiben zu lassen!

Was ist Ihr größter Wunsch?

Dass sich viele Leute für mich interessieren und ich dadurch noch viele Fälle erleben und erzählen darf.

Die Autorinnen

Frau Auerbach lebt und arbeitet als freie Autorin im Rheingau. Sie schreibt Krimis, Kurzgeschichten, fiktionale und dokumentarische Drehbücher. Sie liebt einsame Inseln aller Längen- und Breitengrade, auf denen und über die sie schreibt. Ihre lebenslange Passion gilt Shakespeare und einem guten Glas Single Malt Whisky.

Frau Keller ist seit 2005 freie Schriftstellerin, nachdem sie u. a. als Köchin gearbeitet, Veranstaltungen organisiert, internationale Pressearbeit gemacht und Schauspieler betreut hat – natürlich nacheinander. Nach vielen Jahren im Ruhrgebiet ist sie zu ihren familiären Wurzeln zurückgekehrt und lebt jetzt an der Nordseeküste.

Auerbach & Keller

Unter allen Beeten ist Ruh’

Ein Schrebergarten-Krimi

List Taschenbuch

Besuchen Sie uns im Internet:www.‌list-taschenbuch.‌de

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Originalausgabe im List TaschenbuchList ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin.1. Auflage Mai 2011© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2011Satz: LVD GmbH, Berlin

ISBN 978-3-8437-0023-8

Für alle echten Wittigs–Freunde, wie sie im Buche stehen.

Personen

Pippa Bolle – will eigentlich nur in Ruhe arbeiten

Pippas Familie:

Effie & Bertie Bolle – Englische Rose & Berliner Tausendsassa

Freddy Bolle – stets hungriger Polizist der Berliner Wasserschutzpolizei

Hetty Wilcox – Pippas Großmutter und Ratgeberin

Die Insel und ihre Bewohner:

Schreberwerder – idyllische (Alp-) Trauminsel mitten in der Havel

Karin Wittig – Pippas beste Freundin, hat jede Menge Humor

Matthias Wittig – Karins Gatte, hat jede Menge Geduld

Sven Wittig – cleverer Teenager, sieht mehr, als er sollte

Lisa Wittig – ist zum ersten Mal verliebt

Viktor Hauser – überlässt Pippa sein Haus und geht auf eine Reise

Luis Krawuttke – Berliner Urgestein und Betreiber der Inselkantine

Dorabella von Schlittwitz – Grande Dame von Schreberwerder

Herr X – Künstler mit Vergangenheit und speziellen Vorlieben

Lutz Erdmann – hat hochfliegende Pläne, die nicht jedem gefallen

Angelika Christ – hält Lutz für den Mann ihres Lebens

Gerdi Kästner – hütet einen Flohzirkus und ist bereit zu kämpfen

Stephan Kästner – ist kurz davor, den Mut zu verlieren

Emil, Anton, Lotte & Luise Kästner – Flöhe mit Hang zu guter Literatur

Pia Peschmann – freut sich auf ein neues Leben in Frankreich

Jochen Peschmann – wird von alten Sünden eingeholt

Daniel Peschmann – ist glücklich verliebt in Lisa

Bonnie Peschmann – ‌ist unglücklich verliebt in Sven

Ida Marthaler – Direktorin einer Schule und Hobby-Forscherin

Heinz Marthaler – forscht unermüdlich, wie viel Alkohol er vertragen kann

Außerdem:

Nante, der Fährmann – flotter Ex-Polizist und passionierter Dichter

Felix Maier – ungeliebter Bruder und Geocacher

Kommissar Schmidt – Ermittler am Rande des Nervenzusammenbruchs

Annette Julius – ambitioniert bei Tag und bei Nacht

Christian Bergner – Anwalt mit Vorliebe für Handschlag-Verträge

die Rieke – kommt, wenn die Glocke läutet

Prolog

Der märkische Sand knirschte unter Lutz Erdmanns italienischen Schuhen, als er den Weg durch die Parzellen einschlug. Mit leichtem Stirnrunzeln musterte er die feine Staubschicht, die sich der glänzenden Eleganz bemächtigt hatte, und verfluchte die Angewohnheit der Bewohner von Schreberwerder, täglich vor ihren Kleingärten zu harken.

Erdmann straffte die Schultern. Bald würde sich das alles ändern. Dafür würde er sorgen. Dies war seine persönliche Mission, und sie würde gelingen.

Aus dem Augenwinkel sah Erdmann, wie Herr X auf der anderen Seite seines lächerlichen Gartenzaunes die Spritze mit dem Unkrautvertilgungsmittel sinken ließ und ihm nachstarrte. Lutz Erdmann lächelte spöttisch. Du kommst auch noch dran. Künstler. Notorisch pleite. Leichtes Spiel.

Er sah nicht mehr, dass Herr X die Augen zusammenkniff und einen dicken Strahl aus der Sprühflasche in seine Richtung schickte. »Ungeziefer«, murmelte Herr X.

Dann verließ er seine Stangenbohnen und rannte zum einzigen Fahnenmast der Insel. Eilig hisste er die blutrote Flagge mit dem schwarzen Totenkopf. Jetzt waren Viktor und Luis an der Reihe. Und Plan B.

Lutz Erdmann sah nicht zurück. Kerzengerade stand er vor einer schmiedeeisernen Pforte, die er liebend gerne eingerissen hätte, zupfte noch einmal an der Zellophanfolie, die sich um sündteure Calla und Strelizien bauschte, und zog an der Glockenschnur. Ein helles Läuten erklang.

Fast augenblicklich erschien Dorabella von Schlittwitz’ schlanke Gestalt in der Tür ihres Schreberhäuschens. Sie zog die Stirn in Falten und kam dann mit Hilfe zweier Krücken erstaunlich gewandt den Plattenweg entlang. Lutz Erdmann knipste ein strahlendes Lächeln an, das von Dorabella jedoch weder beachtet noch erwidert wurde. Am Gartentor hob sie drohend eine Krücke und bellte: »Sie stören!«

Lutz Erdmann zuckte mit keiner Wimper. Er hielt den Blumenstrauß hoch und gurrte: »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, liebe gnädige Frau. Hätten Sie einen Moment Zeit?« Er griff nach der Klinke des Tores. »Darf ich …?«

»Nein«, antwortete Dorabella bestimmt. »Wir haben nichts zu besprechen. Sie bekommen meine Parzelle nicht. Ihr Angebot ist lächerlich.«

Erdmann zog ein Kuvert aus der Innentasche seines Blazers. »Warten Sie ab, gnädige Frau. Wenn Sie meinen neuen Vorschlag sehen …« Er hielt Blumenstrauß und Umschlag über das brusthohe Tor und fügte hinzu: »Das ist ein Gutschein für einen Luxustag in meiner Wellness-Oase in der Innenstadt. Mein Geschenk für Sie, liebe Frau von Schlittwitz: Lassen Sie sich verwöhnen. Massage, Faltenreduktion durch Akupunktur, Fettabbau durch Tiefenwärmebehandlung …«

Dorabellas Gesicht verfinsterte sich. »Sie meinen also, dass ich das nötig habe?«

Lutz Erdmann lächelte ölig. »Natürlich nicht, gnädige Frau, aber welche Dame von Welt ließe sich nicht gern …«

»Und Sie denken außerdem, dass tote Blumen für die alte Schrapnelle das Richtige sind, um sich an die steife Welt da draußen zu gewöhnen, während ich …«, sie wies mit der rechten Hand auf die üppig blühende Blumenpracht um sich herum, »… das alles hier habe? Sie sind ein sehr dummer Mensch, wenn Sie glauben, dass ich meinen Garten aufgebe.«

Sie schnaubte verächtlich und riss ihm mit einer schnellen Bewegung den Gutschein aus der Hand. Ohne Erdmann eines weiteren Blickes zu würdigen, drehte sie sich um und humpelte hinter ihr Häuschen.

Erdmann sah ärgerlich auf den verschmähten Strauß. Halsstarrige alte Krähe! Die Blumen hatten ein verdammtes Vermögen gekostet. Warum mussten alte Leute immer so verflucht störrisch sein! Peschmanns wollten doch auch verkaufen, und Angelika Christs Kapitulation lag nur noch ein paar Stunden persönlicher Zuwendung entfernt …

Bei dieser Vorstellung lächelte Erdmann zufrieden. Mit sechs von zwölf Parzellen gehörte die Insel faktisch ihm. Mehr als die Hälfte der Insel. Da wurde es für die anderen schon langsam ungemütlich. Wenn er erst anfing zu bauen, würden sie ihn noch anflehen, ihre Grundstücke zu kaufen – dann aber zu seinen Konditionen.

Im Hochgefühl des Siegers drehte er sich um – und prallte gegen Viktor Hauser und Luis Krawuttke, die sich unbemerkt hinter ihm aufgebaut hatten. Die beiden alten Herren hielten die Arme vor der Brust verschränkt. Ihre finsteren Gesichter zeigten wilde Entschlossenheit.

Einen Atemzug später fiel der Strauß mit den makellosen Blumen in den märkischen Sand.

Kapitel 1

Freddy! Pippa! Die ›britischen Buletten‹ sind fertig!«

Pippa Bolle fuhr erschrocken zusammen, als sie die Stimme ihres Vaters direkt hinter sich hörte, und stieß dabei ihr Wasserglas um. Der Inhalt ergoss sich über das wuchtige englisch-deutsche Wörterbuch, das aufgeschlagen auf ihrem Schreibtisch lag. Mit Hilfe der weiten Ärmel ihrer Strickjacke versuchte sie hektisch, das Malheur zu beseitigen und drückte dabei das Wasser nur noch tiefer in die Seiten. Ketchup, Gemüsebrühe, Butter, Tee, Tränen … und jetzt San Pellegrino: Das Nachschlagewerk hatte im Laufe seiner Einsätze vieles aufgesogen. Jetzt hatte es Geburtswehen – Gefrierbrand erwischt. Es wurde wirklich allmählich Zeit, dass sie lernte, mit Online-Lexika zu arbeiten.

Pippa warf einen resignierten Blick auf ihren Schreibtisch. Dort lag ihre aktuelle Arbeit mit dem beeindruckenden Titel: »Die Veränderung des Gefieders beim Podiceps cristatus oder Gemeinen Haubentaucher unter umweltbezogenen Stressbedingungen der verschiedenen Brutzonen und Jahreszeiten«. Ein Übersetzungsauftrag der Freien Universität Berlin, Kategorie Doppel-L: langweilig, aber lukrativ.

»Kommst du? Und bring Freddy mit«, schob Bertold Bolle hinterher, als seine Tochter sich nicht rührte.

»Ich arbeite gerade«, sagte Pippa vorwurfsvoll, wenn auch wenig überzeugend.

»Dann machst du eben später weiter«, schlug ihr Vater vor und verschwand wieder in der elterlichen Wohnung.

Dann machst du eben später weiter – wenn das so einfach wäre! Wenn sie an einer Übersetzung arbeitete, benötigte sie absolute Konzentration. Eine Unterbrechung konnte verheerende Folgen haben, weil sie Gefahr lief, den Faden – und vor allem das Interesse – an den trockenen Stoffen zu verlieren, die ihr die Berliner Hochschulen zukommen ließen. Pippa seufzte. Diese Aufträge brachten Geld, hatten aber mit den erträumten literarischen Übersetzungen ebenso viel zu tun wie ein Haubentaucher mit einem Hammerhai.

In diesem Moment wurde von Freddys Seite die zweite Verbindungstür aufgerissen. Eine Einladung zum Essen, und schon erwachte ihr kleiner Bruder aus seinem Phlegma. Freddy stolperte über seine eigenen Füße, als er durch Pippas Wohn-Schlaf-Arbeitszimmer eilte.

Pippa schlenderte hinter ihm her, stellte sich an den gusseisernen Aga-Herd, den ihre Mutter aus England importiert hatte, und sah zu, wie diese die letzte Fuhre Buletten à la Britannia aus dem brutzelnden Fett holte.

»Danke, dass du heute allein gekocht hast, Mum«, sagte Pippa.

»You’re welcome, Dear«, antwortete Effie in ihrer Muttersprache und schichtete die Frikadellen kunstvoll auf die Platte mit der Bulettenpyramide. »Hauptsache, du bist mit diesem schrecklichen Text ein Stück weitergekommen. Bertie, denk an die Servietten. Freddy, an der Tür steht die Kühlbox mit den Getränken. Pippa, du nimmst die Schale mit dem Obstsalat.«

»Mum, sei bitte nicht böse, aber …« Pippa sah ihre Mutter bittend an.

»Du musst doch auch mal Pause machen, Love, kein Mensch kann ohne Unterbrechung ordentlich arbeiten«, befand Effie kategorisch.

Pippa schüttelte den Kopf. »Ich bin gerade mittendrin. Wenn ich jetzt aussetze, kriege ich heute nichts mehr fertig. Ich nehme mir zwei Buletten mit an den Schreibtisch. Grüß alle von mir, ja?«

Obwohl ihre Mutter unwillig die Stirn runzelte, schnappte sich Pippa zwei Bratlinge und ging zurück in ihr Arbeitszimmer.

Sie öffnete das Fenster, das auf den Hinterhof der Transvaalstraße 55 hinausging, und sah hinunter.

Heinrich Zille hätte dieses Bild nicht schöner malen können: Ein vollständiges Karree aus Vorder- und Hinterhaus, verbunden durch zwei Seitenflügel, und ein vom Berliner Straßenlärm gänzlich unberührter, liebevoll gepflegter Innenhof bildeten einen in sich geschlossenen Kosmos, der von lebhaften Familien nebst Trabanten bewohnt wurde. Lautstark bewohnt: Das harmonische Miteinander der Hausgemeinschaft führte oft zu Unterhaltungen von Fenster zu Fenster – besonders gerne auch quer über den Hof.

Leider.

Pippa holte tief Luft. Ein bisschen weniger Idylle und ein wenig mehr Privatsphäre wären für ihre Arbeit in jeder Hinsicht besser. Sie hatte in den letzten sieben Jahren in Italien gelebt und bemühte sich jetzt intensiv, alte und neue Auftraggeber zu rekrutieren, um in Deutschland wieder Fuß zu fassen. Das ging nur mit fehlerfreier, exzellenter Arbeit, und die gab es bei Pippa nur in Ruhe und Ungestörtheit.

Aber einem geschenkten Gaul sah man nicht ins Maul. Die kleine Einzimmerbleibe zwischen der Hauswartswohnung ihrer Eltern und der Junggesellenbude ihres Bruders war offiziell als Hausmeisterbüro deklariert und kostete sie keinen Cent Miete, was exakt zu ihrem derzeitigen Budget passte. Sie scherzte oft mit ihrer Freundin Karin, dass sie sich ihren Beruf als Übersetzerin eigentlich nur mit freier Kost und Logis leisten konnte.

Unten im Hof versammelten sich bereits die Hausbewohner zum traditionellen gemeinsamen Picknick.

Der mürrische Ede Glassbrenner aus dem ersten Stock strahlte ausnahmsweise über das ganze Gesicht und reichte Mira Kasulke mit pompöser Geste eine Tube Löwensenf, während Miras Zwillingsschwester Käthe eine große Schüssel Kartoffelsalat auf den langen Tapetentisch stellte, der bei Hoffesten als improvisiertes Buffet diente. Die drei waren die Urgesteine der Hausgemeinschaft, seit über fünfzig Jahren wohnten sie in der Transvaal 55. Sven und Lisa, Karins Kinder, trugen gemeinsam einen Korb in den Hof, der mit Fladenbroten und Baguette gefüllt war. Lisa schaute nach oben, entdeckte ihre Patentante am Fenster und winkte stürmisch. Pippa lächelte zurück. Lisa war zwar erst dreizehn, aber man sah bereits, dass sie eine Schönheit werden würde und das auch wusste. Kein Zweifel: Die Schlange männlicher Bewunderer würde sich von der Tür ihrer Wohnung im zweiten Stock durch das ganze Treppenhaus ziehen und bis auf die Straße reichen.

Pippa gegenüber öffnete sich ein Fenster. Bekir Abakay rief in den Hof: »Wir bringen Baklava! Brauchen Platz für viermal Blech!« Die Ankündigung löste allgemeinen Jubel aus, denn die köstliche türkische Süßspeise seiner Mutter Olcay, der Matriarchin der Sippe, war auf den regelmäßigen Picknicks der Hausgemeinschaft der Renner.

Pippa spürte, wie ihr das Wasser im Munde zusammenlief. Der Haubentaucher drohte, in Richtung Horizont davonzuschwimmen.

Die Tür zum Vorderhaus ging auf, und eine kleine Prozession betrat den Innenhof. Als Erste erschien Effie, die Platte mit ihren Buletten wie eine Monstranz in den Händen, gefolgt von Bertie, beladen mit Servietten und Besteck. Dann folgten die vier Schauspielschülerinnen aus der »Grazien-WG«, zweiter Stock rechts, und als Schlusslicht Freddy, Mengen von Getränken balancierend. Gleichzeitig redete er eifrig auf Miriam ein, die fürsorglich mehrere Flaschen Wein aus seinen Armen rettete.

Isabella ist also abgemeldet, dachte Pippa amüsiert. Jetzt ist Miriam das Ziel seiner romantischen Träume. Dann kommt vermutlich Asta. Danach vielleicht Annett. Und dann kann er wieder mit Isabella anfangen. Der Ärmste, wann würde er endlich begreifen, dass sich ohne ernsthaften Einsatz keiner seiner romantischen Träume jemals erfüllen würde?

Pippa sah neidisch auf die muntere Gesellschaft hinunter. Gleich würde unter dem Vorsitz ihrer Mutter das fröhliche Gelage beginnen.

Die Hausgemeinschaft traf sich einmal im Monat und rekapitulierte die vergangenen vier Wochen, diskutierte eventuelle Probleme und äußerte Wünsche an die Runde. Im Sommer wurden bei Regen die Markisen ausgefahren und ein paar Sonnenschirme aufgespannt. Im Winter traf man sich entweder bei Bolles in der Hausmeisterwohnung oder bei den exzentrischen Kasulke-Zwillingen, die, obwohl längst im rentenfähigen Alter, noch immer ihr großes Schneideratelier betrieben. Je älter sie wurden, desto unkonventioneller gerieten ihre Entwürfe; sehr zum Entzücken Pippas, die ihre eigenen Ideen in den extravaganten Kreationen verwirklicht sah und diese mit Begeisterung trug.

Effie Bolle hatte durch einen Roman aus der Jahrhundertwende die Kiez-Bräuche des Kaiserreiches kennengelernt und ihren ganzen Ehrgeiz als Hauswartin dreingesetzt, das traditionelle Gemeinschaftsessen einer Hausgemeinschaft wieder einzuführen. Diese Treffen waren ihr Ersatz für die abendlichen Besuche im Dorfpub, die sie aus ihrer englischen Heimat kannte und die dort für viele das soziale Ereignis der Woche bildeten.

Effies Bemühungen um eine gute Hausgemeinschaft waren von außerordentlichem Erfolg gekrönt. Inzwischen galt eine Wohnung in der Transvaal 55 im gesamten Afrikanischen Viertel von Berlin als besonders erstrebenswert. Während andere Hausbesitzer im Wedding sich plagen mussten, um an solvente Mieter zu kommen, verwaltete Bertie Bolle eine Liste von Anfragen, deren Reihenfolge er nach eigenem Gusto gestaltete. Vor einem knappen Jahr hatte er die Bewerbung der vier jungen Schauspielschülerinnen aus der Grazien-WG heimlich ganz nach oben geschoben, um seinem phlegmatischen Sohn bei der Suche nach der Frau fürs Leben diskret unter die Arme zu greifen. Bisher ohne Erfolg.

Jetzt stand Effie am Tapetentisch und arrangierte die mitgebrachten Köstlichkeiten der Nachbarn. Sie scherzte mit Oma Olcay, schickte Freddy hierhin und dorthin, um Tische aufzustellen und Stühle zu holen, und strich der wuselnden Kinderschar der Abakays über die Köpfe, bevor sie sich Lisa zuwandte, die sie am Ärmel gezupft hatte.

Pippa grinste breit. Effie war eine echte englische Rose, mit zartem Teint, honigblond getönten Haaren und einer Vorliebe für pastellfarbene Twinsets, in denen sie sehr ladylike wirkte. Das Grazien-Kleeblatt hatte Effie den Spitznamen »Mylady« verpasst, und die gesamte Hausgemeinschaft hatte den Ehrentitel aufgegriffen.

Effie war Pippas Vorbild, aber da sie nicht deren zarte Statur, sondern die kräftige Figur ihres Vaters geerbt hatte, musste sie früh die Hoffnung aufgeben, diese Ähnlichkeit auch äußerlich zu erreichen. Aber sie teilte mit ihrer Mutter die typisch englische Vorliebe für Kopfbedeckungen. Hüte, Mützen, Kappen, Schals aller Art waren ihre Sammelleidenschaft und hatten bei ihrem Umzug den Großteil ihrer Kisten und Koffer gefüllt.

Seit sie vor drei Monaten Leo und Florenz verlassen hatte, war die Hausgemeinschaft Pippas Halt und Stütze. Sie bewahrte sie davor, ihren Entschluss rückgängig zu machen, die Koffer zu packen und wieder in Leos Arme zu eilen.

Niemand hatte ihr Vorwürfe gemacht, ihre Trennung kommentiert oder unangenehme Fragen gestellt. Jeder war bemüht, sie aufzuheitern: Oma Olcays exotische Köstlichkeiten trugen bereits Früchte auf ihren Hüften, und die Kasulke-Schwestern hatten sie als Rubens-Modell für ihre aktuelle Kollektion engagiert. Von ihrer Freundin Karin war Pippa mit den Worten »Mensch, bin ich froh, dass du wieder da bist. Dafür verzichte ich gern auf unsere jährlichen Besuche in der Toskana!« willkommen geheißen worden.

Pippa schreckte aus ihren Gedanken auf. Die Abakay-Kinder und Lisa hatten sich zu einem kleinen Chor formiert und skandierten unter ihrem Fenster: »Tante Piiih-Paaaah, Tante Piiih-Paaaah, komm ruuun-taaaah!«

Die anderen Picknick-Teilnehmer blickten lachend zu ihr hoch, und Pippa sah ihrer Mutter an der Nasenspitze an, dass sie die Kinder dazu angestiftet hatte.

In einer Pantomime des Bedauerns zuckte Pippa mit den Schultern, winkte in den Hof hinunter, schloss das Fenster und setzte sich wieder zu den Haubentauchern und ihrem stressgeplagten Gefieder. Den nächsten Satz las sie fünfmal, bevor sie seine Bedeutung begriff, weil sie immer noch auf das Gelächter aus dem Innenhof hörte. Pippa seufzte.

Die enge Hausgemeinschaft hatte einen Haken: Ihr Bedürfnis nach Ruhe und Privatsphäre geriet ins Hintertreffen. Wenn sie auf eigenen Füßen stehen wollte, musste sie genug Geld verdienen, um sich endlich selbst eine Wohnung leisten zu können.

Eine Wohnung, die genug Ruhe bot, um sich zu konzentrieren und ihre Übersetzungen flott und fehlerfrei abzuliefern.

Eine Wohnung, in der das muntere Treiben im Hof nicht die normale Lautstärke eines Radios übertönte.

Eine Wohnung, in der sie nicht ständig abrufbar war für kleine Erledigungen und den Gassi-Gang der Hunde des Hauses.

Sie brauchte eine Wohnung, die man abschließen konnte.

Ihre eigene Wohnung.

Pippa runzelte unwillig die Stirn, als es an der Tür klingelte. Bestimmt hatte Freddy wieder den Korkenzieher vergessen. Aber machte ja nichts, Pippa war schließlich oben und konnte aufspringen und die Tür öffnen. Schrieb sie halt später weiter …

Sie riss die Tür auf und sah sich zu ihrer Überraschung Karin und Matthias gegenüber.

»Ich habe von oben gesehen, dass du nicht im Hof bist«, sagte Karin und schmiegte sich an Matthias, der den Arm um ihre Schultern gelegt hatte. »Wir wollen dich abholen.«

»Lieb gemeint, aber ich muss arbeiten«, antwortete Pippa düster, »du bist ungefähr die Zehnte, die mich hinunterlocken will.«

»Dann bist du ohnehin aus dem Takt. Wir gönnen uns eine kuschelige Teepause, und danach kannst du weitermachen. Ich habe etwas Wichtiges mit dir zu besprechen.«

Pippa zögerte einen Moment und nickte dann. »Mylady hat bestimmt Earl Grey auf dem Aga.«

Karin Wittig gab ihrem Gatten einen Klaps auf den Hintern. »Geh vor, Schatz. Ich komme gleich nach. Ich will nur kurz …«

»Kurz – na klar.« Matthias grinste und ging die Treppe hinunter. »Ich seh’ dich dann nächste Woche …«

»Geh doch schon mal rein«, sagte Pippa zu Karin und schloss die Wohnungstür, »ich bringe alles mit. Milch und Zucker?«

»Beides – und so viel wie möglich.«

Durch die Verbindungstür ging Karin in Pippas kleines Reich und schlenderte zum Schreibtisch.

Pippa hatte gerade die Teekanne auf das Tablett gestellt, als ihre Freundin nebenan in schallendes Gelächter ausbrach und rief: »Was sind denn die Bar-Devisen der Haubentaucher? Würmer oder Muscheln?«

»Bitte?«

Als Pippa den Raum betrat, las Karin kichernd vor: »… so steht zu befürchten, dass die Bar-Devisen des Podiceps cristatus besonders in unseren Breiten aufgrund raumgreifender Verstädterung in erschreckend hoher Zahl abnehmen werden. Ich kenne mich mit Flugbuchungen aus, nicht mit Federn. Aber so, wie ich das verstehe, sieht es an der Haubentaucher-Börse gerade sehr schlecht aus.«

Pippa riss Karin das Manuskript aus der Hand und starrte ungläubig darauf. Dann begann sie zu lachen.

»Badewiesen! Badewiesen wollte ich schreiben!«

Pippa lachte, bis ihr die Tränen kamen, und Karin ließ sich anstecken.

»Da siehst du, was passiert, wenn ich dauernd gestört werde. Wenn ich das abgegeben hätte, wäre ich zusammen mit den Haubentauchern baden gegangen!« Sie wischte sich die Lachtränen von den Wangen. »Ehrlich, ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Das darf mir einfach nicht passieren, sonst kriege ich keine Aufträge mehr. Wenn sich das herumspricht …«

Beim bloßen Gedanken an die Konsequenzen schauderte sie.

»Tante Piiih-Paaah, Tante Piiih-Paaah …«, sang der Kinderchor im Hof. »Da! Hörst du?« Pippa rang in komischer Verzweiflung die Hände.

»Kein Wunder, dass du nicht richtig arbeiten kannst. Du brauchst eine eigene Wohnung«, stellte Karin fest.

»Kennst du eine, die billiger ist als diese hier? Hier zahle ich mit nichts als meiner Geduld.«

»Genau darum bin ich hier«, sagte Karin, »sonst hätte ich dich nicht gestört. Ich weiß eine Lösung.«

Pippa sah ihre Freundin skeptisch an. »Unter einer Million Schmerzensgeld heirate ich nicht noch mal.«

»Viel besser!« Karin machte eine Kunstpause und fuhr dann fort: »Schreberwerder. Da ist es wirklich ruhig!«

»Ich soll auf die Insel ziehen? In euren Schrebergarten?«

Pippa kannte die kleine Havelinsel im Norden Berlins aus Kindertagen, denn Karins Vater besaß dort seit Jahrzehnten ein Grundstück. Aber erst vor vier Jahren, als Pippa schon lange mit Leo in Italien lebte, hatten ihre Freunde dort eine eigene Parzelle erworben. Bisher hatte sich keine Gelegenheit ergeben, Karin auf der Insel zu besuchen. »Aber den braucht ihr doch selber – der Sommer beginnt gerade. Die Kinder sind bestimmt nicht begeistert, wenn ich ihr Hochbett belege.«

»Nicht unser Garten«, rief Karin triumphierend, »der meines Vaters!«

»Ich dachte, Viktor ist Dauerwohner.« Pippa zeigte auf ihr kleines Reich. »Ich glaube kaum, dass er mit mir tauschen will.«

»Mein Vater ist dank Sven zum Cyber-Opi avanciert und surft unermüdlich durchs World Wide Web. Jetzt plant er eine lange Reise mit dem Wohnmobil. Durch Italien. Mit Internetbekanntschaften. Er hofft mal wieder, die Frau fürs Leben zu finden. Er sucht jemanden, der sein Häuschen hütet. Ich habe dich vorgeschlagen.«

»Wann will dein Vater denn losfahren?«, fragte Pippa zögernd.

»Morgen Abend.«

Vor ihrem geistigen Auge sah Pippa Viktor Hausers Parzelle, die Gemüsebeete, die regelmäßig gejätet und bewässert werden mussten, Obstbäume, Sträucher mit Beeren aller Art, üppig blühende Blütenpracht, den saftig grünen Rasen … und sie sah Karins Vater mit Strohhut und ausgeblichener Jeans-Latzhose, wie er in seinem Garten werkelte. Zum Bild eines Schrebergartens, vor dem geistigen Auge oder real, gehörte für Pippa zwingend ein Mensch, der auf Knien durch seinen Garten robbte und Unkraut zupfte. Und genau so hatte sie es aus Kindertagen in Erinnerung, wenn sie mit Karin in Viktor Hausers Garten spielte.

»Ich verstehe nichts von Gartenarbeit. Dein Vater erschlägt mich, wenn ich seinen Garten ruiniere.«

»Darum kümmern sich seine Freunde. Nur regelmäßig sprengen musst du und die Eier der Hühner gerecht an die Nachbarn verteilen.«

Pippa vergaß alle weiteren Bedenken. »Das kann ja nicht so schwer sein. Das könnte ich schaffen.«

Grinsend wiegte Karin den Kopf. »Warte, bis du die Nachbarn kennenlernst.«

Kapitel 2

Die Ampel sprang auf rot. Freddy bremste viel zu spät und schaffte es nicht mehr, dem Blitz zu entgehen.

»Verdammte Berliner Straßen«, fluchte er, »viel zu eng und viel zu voll! Bei der Wasserschutzpolizei sind wir besser dran: die Havel, die Spree, die Kanäle … die Weite!«

»Eben«, bestätigte Pippa, »dann verstehst du ja, warum ich deinem Beispiel folge und mich aufs Wasser zurückziehe. Zu Wind und Wellen und Ruhe. Himmlischer Ruhe.«

Freddy verzog ärgerlich das Gesicht über seinen taktischen Fehler und wechselte die Strategie. »Überleg es dir noch mal, Pippa. Du bist ein Stadtmensch. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass zu viel Ruhe auch … unruhig machen kann. Tagaus, tagein auf dem Boot. Immer das gleiche Wasser. Das muss man wirklich mögen. Im Sommer holt man sich einen Sonnenbrand und im Winter eine Blasenentzündung.«

»Schreberwerder ist eine Insel, Freddy, kein Boot. Bei Sonne finde ich Schatten unter einem Baum, bei Regen Schutz in einem Häuschen mit zwei Zimmern und einem dicken Holzofen. Und im Winter bin ich längst zurück in der Transvaal 55. Leider.«

Pippa sah ihren Bruder von der Seite an. Sein grimmiges Gesicht sprach Bände. Seit dem ersten Tag ihrer Rückkehr nach Berlin hatte er es genossen, die Füße nach dem Dienst hochlegen zu können, denn Pippa nahm ihm viele lästige Pflichten ab. Die Aussicht auf die Vertreibung aus diesem Paradies und die Vorstellung, ab sofort wieder allein für Einkaufsdienste, das Hüten fremder Kinder und Gassi-Gehen der Hunde zuständig zu sein, brachten beim sonst so maulfaulen Freddy ungeahnte rhetorische Fähigkeiten ans Tageslicht.

»Schreberwerder ist perfekt für mich«, erklärte Pippa sanft und nicht zum ersten Mal, »außerdem bleibe ich nicht ewig fort. Nur solange Karins Vater mit seinen Internetbekanntschaften durch Italien gondelt. Und wir wünschen ihm doch beide einen langen, erholsamen Urlaub, nicht wahr?«

»Du wirst dich einsam fühlen«, begehrte Freddy verzweifelt auf, »und langweilig wird es auch. Keinerlei Abwechslung außer deinen Haubentauchern.«

Pippa sah aus dem Seitenfenster, um ihr Grinsen zu verbergen. »Nett, dass du dich um meine Unterhaltung sorgst, aber ich ziehe nach Schreberwerder, damit ich genau davon ein bisschen weniger habe. Außerdem leben auf der Insel ganz reizende Menschen.«

»Verschrobene Waldschrate und wortkarge Eigenbrötler.«

»Je wortkarger, desto besser«, parierte Pippa.

»Ich habe verstanden«, schnappte Freddy und hüllte sich in beleidigtes Schweigen, bis der kleine Anleger in Sicht kam.

Freddy parkte den klapprigen Fiat seiner Eltern und sah auf die Havel, als wäre sie sein persönliches Eigentum. Während sie Pippas Reisetaschen, den Laptop-Rucksack und zwei große Kisten entluden, demonstrierte Freddy, dass er über alles und jeden auf den Berliner Gewässern Bescheid wusste.

»Dein Schiff heißt Rieke, reines Passagierschiff, bis zu dreißig Personen, freies Vor- und Achterdeck und ein Salon für Regen. Die Rieke pendelt im Zwei-Stunden-Takt zwischen den nördlichen Havelinseln und dem Festland. Das hier ist eine der Bedarfsanlegestellen«, dozierte er und zeigte auf eine Messingglocke. »Du musst läuten, wenn das Schiff in Sicht kommt. Dann weiß Nante Bescheid und holt dich ab. War mal ein Kollege von mir, bevor er den Fährdienst übernahm.« Freddy klang ein klein wenig neidisch. »Jetzt ist er sein eigener Herr und muss keine Nachtdienste mehr schieben.«

Pippa angelte einen Fährplan aus dem Plexiglashalter neben der Schiffsglocke und las das handgemalte Schild.

Einmal läuten und kurz warten, dann bringt Nante dich zum Garten!

Sie lachte. »Humor scheint der Mann jedenfalls zu haben!«

»Und pünktlich ist er auch.« Freddy zeigte auf die Rieke, die gerade auf Tegelort zusteuerte.

Pippa läutete kräftig. Ein lautes Tuten der Fähre war die prompte Antwort.

Freddy wagte einen letzten Vorstoß. »Die Rieke fährt nur von acht Uhr früh bis zehn Uhr abends. Sollten dir heute Nacht Bedenken kommen, ruf mich im Dienst an. Ich erkläre deine Rettung von Schreberwerder sofort zum Notfall und bin ruckzuck mit dem Schnellboot da, um dich in die Transvaal zurückzuholen. Wenn du willst, stelle ich die Kisten schon mal in den Wagen zurück. Für alle Fälle.« Er sah sie hoffnungsvoll an.

Pippa unterdrückte ein Lächeln. Jeder wusste, dass ihr Bruder auf der Station der Wasserschutzpolizei in der Regel einen sehr ruhigen Dienst schob und Wörter wie ruckzuck oder sofort höchstens aus der Theorie kannte.

»Danke, Freddy. Ich weiß dein Angebot zu schätzen. Allein der Gedanke, jederzeit von der Insel herunterzukönnen, wird jeglichen Inselkoller im Keim ersticken.«

Freddy knurrte etwas Unverständliches und fing die Leinen auf, die ihm der Kapitän der Rieke zuwarf.

Nante war fast zwei Meter groß und konnte auf der Brücke nur sitzen oder leicht gebückt stehen. Er hatte schwarze Locken und wettergegerbte Haut und entsprach Pippas Bild von einem entspannten Flussschiffer, der zufällig ein paar Passagiere aufliest.

»Hm.« Freddy musterte Nante, als dieser geschmeidig auf den Landungssteg sprang und ihnen entgegenkam. »Die neue Arbeit tut ihm gut.«

»Das kann man wohl sagen.« Pippa blinzelte rasch die aufkeimende Erinnerung an ihren braungebrannten Italiener fort.

Nante tippte mit zwei Fingern an den Schirm seiner Kapitänsmütze. »Hallo, Exkollege! Was macht unser Revier?«

»Arbeit.« Da ihm klargeworden war, dass Pippa sich unwiderruflich nach Schreberwerder einschiffte, fiel Freddy in seinen einsilbigen Gesprächsmodus zurück.

»Was verschafft mir die Ehre deines Besuches? Willst du eine Runde mitfahren?«

Während Nante sich mit Freddy unterhielt, hatte er Pippas Koffer auf die Fähre gewuchtet und wandte sich der ersten Kiste zu.

Freddy zeigte auf Pippa. »Meine Schwester Pippa. Nach Schreberwerder.«

Nante stutzte einen Moment und reichte Pippa dann die Hand. »Dann sind Sie also der Neuzugang. Gratulation, Sie haben gegen mich gewonnen. Das kommt selten vor.«

»Gewonnen? Was denn?« Pippa war so erstaunt, dass sie vergaß, ihre Hand aus der Nantes zu lösen.

Nante lächelte strahlend und musterte Pippa unauffällig von der Schiebermütze über die weiße Leinenjacke und die abgetragenen Jeans bis hin zu den orangefarbenen Strohsandalen.

»In Viktors Haus hätte ich es auch eine Weile ausgehalten«, erklärte er. »Ich habe ihm sogar angeboten, das Dach neu zu decken. Aber Viktor wollte partout frisches Blut auf der Insel. Jetzt verstehe ich, warum.« Er ließ ihre Hand los.

»Oh. Das tut mir leid. Ich wusste nicht …«

Nante winkte lässig ab. »Keine Sorge, ich werde trotzdem nicht von der Insel fernzuhalten sein. Ich habe Familie dort.«

Er griff nach der kleineren Kiste und stutzte, als diese sich keinen Millimeter bewegte.

Pippa packte schnell mit an. »Bücher«, sagte sie verlegen, »alle, die ich schon seit Jahren lesen will.«

Gemeinsam hievten sie die Kiste an Bord.

»Dem Gewicht nach zu urteilen, kommt Viktor also in etwa drei Jahren zurück«, schnaufte Nante, »das wäre mir sowieso zu …«

Er brach mitten im Satz ab und sah staunend Freddy zu, der leichthändig die zweite, größere Kiste an Bord trug. »Irgendwas muss sich auf dem Revier doch verändert haben, wenn selbst Freddy jetzt diese riesige …«

Freddy warf Pippa einen Blick zu, und sie verkniff sich ihm zuliebe zu verraten, was die große Kiste enthielt: Kopfbedeckungen aller Art. Ihre Vorliebe für Hüte, Schals und Mützen in allen Formen und Farben hatte in der Schule begonnen, wo sie ständig für ihre roten Haare gehänselt wurde. So hatte sie schon früh gelernt, sich hinter ihren Büchern zu verschanzen und unter Kappen und Kapuzen zu verstecken. Erst in Italien hatte man sie für ihre tizianrote Haarpracht offen bewundert – aber da war sie bereits so daran gewöhnt, gut behütet zu sein, dass sie nicht mehr darauf verzichten wollte.

Pippa umarmte ihren Bruder zum Abschied. »Grüß die Family von mir. Mum soll mal zum Schwimmen auf die Insel kommen und sich ausruhen. Anruf genügt. Bis bald.«

Sie hängte sich den Laptop-Rucksack um und bestieg die Fähre.

Erst als Freddy die Leinen losmachte, die Rieke ablegte und der Steg sich langsam von ihr entfernte, beschlich Pippa ein banges Gefühl. Jetzt gab es kein Zurück mehr.

Was, wenn sie sich auf der Garteninsel wirklich einsam fühlte und ihre Sehnsucht nach Leo und Florenz übermächtig wurde? Was, wenn die Kiste voll literarischer Seelentröster kein ausreichendes Bollwerk gegen die Einsamkeit bot?

Pippa seufzte.

Wenn die Haubentaucher flügge geworden waren, konnte sie nur hoffen, dass der Aufenthalt auf der Insel unterhaltsam genug und ihre Tage ausgefüllt waren.

Kapitel 3

Viktor Hauser stand vor dem Spiegel und prüfte den Sitz seines Panamahutes. »Meinst du, der ist richtig?«, fragte er Dorabella, während er sie besorgt im Spiegel beobachtete.

Dorabella lag mit geschlossenen Augen auf dem alten Ledersofa. »Nimm den Borsalino«, murmelte sie, »der hat so was Verwegenes. Das passt zu dir.«

Viktor drehte sich zu ihr um. »Bist du wirklich sicher, dass ich fahren soll?«

Seine Freundin öffnete die Augen und sah ihn entgeistert an. »Du willst doch jetzt keinen Rückzieher machen, oder? Maja, Agnes, Bertha und Co. – alle warten auf dich.«

»Ich hoffe, wenigstens eine davon kann dir auch nur annähernd das Wasser reichen.« Viktor ging zum Sofa und setzte sich neben Dorabella, die bei der Bewegung zusammenzuckte. »Hast du Schmerzen, Liebste?«

Dorabella versuchte ein Lächeln. Die Anstrengung war ihr anzusehen. »Nicht mehr als sonst. Nein. Ich habe Angst.«

»Weil ich gehe?«

Dorabella sah ihn durchdringend an. »Davor, dass du wiederkommst.«

Viktor nickte und erhob sich. Dorabella stöhnte, als sich ihre Schmerzen durch die neuerliche Erschütterung wieder bemerkbar machten.

»Ich bringe dir deine Tropfen.« Viktor ging zu seinem Esstisch, auf dem ihre Handtasche stand. Er griff hinein und reichte ihr wortlos ein Medizinfläschchen.

Dorabella lächelte. »Du hast recht. Sich jetzt noch zurückzuhalten ist lächerlich. Bring mir bitte einen Esslöffel und ein wenig Zucker.«

Sie blickte auf die Uhr. »Luis wird jeden Moment hier sein. Haben wir noch irgendetwas zu besprechen?« Sie verzog das Gesicht, als sie die Medizin schluckte.

Viktor schüttelte den Kopf. »Ich denke, es ist alles bestens geplant.« Er sah zu zwei riesigen Koffern hinüber, die sein Schreberhäuschen auszufüllen schienen. »Luis kümmert sich um den Garten, und Herr X übernimmt das Einkaufen für dich, bringt dich zum Arzt und zum Frisör. Pippa wird sich um die Hühner kümmern und um das Haus. Ich denke, ich habe an alles gedacht.«

»Ich glaube, dass es eine gute Idee war, Nante nicht hier einziehen zu lassen, denn er hätte …«

In diesem Moment steckte Luis seine Nase zur Tür herein. »Die Rieke hat gerade in Tegelort abgelegt. Jetzt wird es Ernst, mein Lieber. Du übernimmst die Welt und ich Dorabella.«

Während die Rieke langsam Richtung Marienwerder tuckerte, genoss Pippa die Junisonne und die frische Brise der Havel. Diese Seite von Berlin bekamen Touristen nur selten zu sehen und wenn, dann nur vom Deck der berühmten Weißen Flotte aus. Pippa erinnerte sich noch an den scharfen Grenzverlauf, der ganz in der Nähe Ost und West nicht nur getrennt, sondern auch seltsame Blüten getrieben hatte. Auf der gegenüberliegenden Seite hatte es tatsächlich eine Lücke in der Mauer gegeben: eine Tür, die die Schrebergärtner eines West-Berliner Kleingartenvereins benutzen durften, um zu ihren Parzellen auf dem Territorium der Deutschen Demokratischen Republik zu gelangen. Eine Exklave der ganz besonderen Art.

Pippa lächelte. Rosenkohl und Stangenbohnen trotzten jeder Diktatur. Wenn das kein tröstlicher Gedanke war. Damals wurde das gesamte Ufer scharf bewacht, heute konnte die Rieke friedlich ihre Bahnen ziehen: vom Tegeler See bis Konradshöhe und über Hakenfelde und Jungfernheide wieder zurück in den Tegeler See. Auf ihrer Tour legte sie an kleinen Inseln an, deren Wochenendhäuser durch ihre Abgeschiedenheit vom Großstadttrubel besonders begehrte Objekte waren.

Pippa warf einen Blick auf das Achterdeck. Außer drei weiteren Fahrgästen, die die Rundfahrt als günstige Variante zu den teuren Fahrgastschiffen gewählt hatten, und zwei Fahrradfahrern, die ihren Ausflug ab Jungfernheide fortsetzen wollten, gab es keine weiteren Passagiere, dafür aber eine große Anzahl Einkaufstüten und -taschen, an denen Namenszettel hingen. Daneben stapelten sich Getränkekästen und Unmengen Sechserpacks Berliner Weiße und Mineralwasser.

»Haben Sie eine kinderreiche Familie, Nante?«, rief Pippa zur Brücke hinein und deutete auf die Taschen.

Nante nickte und machte eine ausladende Handbewegung, die die Inselwelt um sie herum einschloss. »Das trifft den Nagel auf den Kopf – jedenfalls wenn man das Benehmen einiger Insulaner betrachtet. Besonders die Herrschaften auf Schreberwerder sind oft alles andere als erwachsen – aber sagen Sie denen nicht, dass Sie das von mir haben!«

Gekonnt wich Nante einem Motorboot aus, das aus der Wasserenge zwischen Valentins- und Schreberwerder geschossen kam.

»Montags und freitags gehe ich vormittags für die Dauerwohner einkaufen. Die Mittagsfähre hat dann die Ware an Bord. Bestellungen nehme ich jederzeit entgegen. Sie können auch adressierte Taschen und Kisten an die Anleger liefern lassen. Mitnahme von Fracht ist bei der Monatskarte inklusive.«

»Und wo bekomme ich so eine Karte?«

Er zeigte auf eine kleine Kiste neben dem Eingang zur Brücke. Auf dem Deckel stand in geschwungenen Lettern: Nantes Pille gegen Seelentief – die Rundfahrt ohne Großstadtmief.

»Jeder, der mir einen guten Spruch für die Rieke bringt, bekommt eine Sonderfahrt gratis«, sagte er.

»Ich dachte, die Sprüche sind von Ihnen.«

Nante nickte. »Bis jetzt ja – aber ich hoffe immer noch auf einen, der es besser macht.«

Pippa öffnete das Kästchen und fand zu ihrem Erstaunen zuoberst auf etlichen anderen Fahrkarten eine mit ihrem Namen. Bevor sie etwas sagen konnte, erklärte Nante: »Hat Viktor bezahlt. Falls Sie es länger aushalten, sollen Sie mir Bescheid sagen. Ich rechne dann am Ende mit ihm ab.«

Pippa nahm die Monatskarte aus dem Kästchen und wollte sie in ihrem Rucksack verstauen.

»Lassen Sie die Karte mal ruhig, wo sie ist. Das tun die anderen auch. So können Sie sie nicht verlieren.«

Pippa ahnte, dass dieses Angebot nicht jedem zuteil wurde. Sie gehörte jetzt zum exklusiven Verein derjenigen, die dieses Schiff jederzeit besteigen durften und willkommen waren. Sie wollte sich bei ihm bedanken, aber er schüttelte abwehrend den Kopf.

»Karin und Viktor haben gute Vorarbeit geleistet. Demnach müssen wir alle dankbar sein, dass Sie überhaupt bei uns sind. Eine echte Globetrotterin mit Intellekt.« Er seufzte. »Für die Rieke sind Sie allerdings eine Herausforderung: Die liegt heute tief im Wasser. Die Großbestellungen für die Insulaner ist sie ja gewöhnt – aber Ihre Bücher!«

Pippa grinste. Sie würde dieses Schiff definitiv öfter benutzen, und das nicht nur für die neuneinhalb Minuten zwischen Tegelort und Schreberwerder.

In diesem Moment pfiff Nante leise durch die Zähne. »Sieh mal an: ganz großer Bahnhof für die neue Insulanerin.«

Er zeigte auf den Landungssteg, auf dem sich sechs Laubenpieper eingefunden hatten.

Pippa schüttelte den Kopf. »Eher fliegender Wechsel. Viktor will heute noch nach Frankfurt. Da trifft er sich mit seiner … Reisebegleitung.«

Nante grinste. »So wie ich das verstanden habe, mit der ersten von vielen.«

»Karin nennt sie die Frankfurt-bis-Mailand-Frau«, fügte Pippa hinzu. »Dann kommt die Mailand-bis-Rom-Bekannte und danach die Rom-Neapel-Capri-Begleiterin. Und so weiter und so weiter. Rund um den Stiefel.«

Nante zog genießerisch die Luft ein. »Ich frage mich, ob das auch hier möglich wäre … die Hakenfelde-Wasserstadt-Frau, die Schreberwerder-Saatwinkel-Geliebte …«

Pippa lachte und sah dann wieder hinüber zum Anleger. Vom Empfangskomitee erkannte sie nur Karins Vater. Heute allerdings hatte Viktor Hauser seine gewohnte Uniform – Latzhose und kariertes Hemd – gegen einen leichten Sommeranzug vertauscht und trug dazu einen Panamahut, der seine noch immer volle, schlohweiße Haarpracht verdeckte. Auf einer Schubkarre neben ihm lagen zwei imposante Koffer.

»Bella Figura, wie der Italiener sagen würde«, stellte Nante anerkennend fest.

Pippa zog einen Zettel aus der Hosentasche. »Kennen Sie die anderen Bewohner der Insel? Ein Luis und eine Dorabella sollen mich einweisen.«

Nante nickte. »Zusammen mit Viktor Schreberwerders Hardcore-Dauerwohner.« Er zeigte auf eine Dame stattlichen Alters, die sich gerade schwer auf die Bank am Ende des Landestegs fallen ließ und ihre Krücken gegen die Balustrade lehnte. »Dorabella von Schlittwitz, echte Wilmersdorfer Witwe. Kein Geld – aber Haltung.« Die Bewunderung in Nantes Stimme war nicht zu überhören. »Sie ist schwer krank. Schmerzen überall, aber nie ein Wort über ihre Krankheit. Wie die noch ihren Garten schafft, ist allen ein Rätsel.« Nante drehte das Steuer und brachte die Rieke langsam längsseits. »Luis Krawuttke ist der kleine Dicke neben Viktor.«

Pippa musterte den Mann: Mitte sechzig, klein, grauhaarig und mit verwegenem Viertagebart.

»Einen Freund wie Luis gewinnt man nicht im Roulette. Wenn der Sie mal mag, haben Sie auf der Insel ausgesorgt.«

»Und wer sind die anderen?«

»Die beiden, die aussehen, als hätten sie Stöcke verschluckt und würden einander nicht kennen, sind das Ehepaar Marthaler. Die fahren immer schon Sonntagmittag zurück in die Stadt. Die gehören zu der Spezies Mensch, die sich an einem freien Tag unwohl fühlt und gegen ihr Schuldgefühl hohe Kultur verordnet, um mitreden zu können und beschäftigt zu wirken. Vor denen ist keine Opernpremiere sicher, allerdings ist sie die treibende Kraft. Wenn Sie ihm einen Krug Gin Tonic hinstellen, ist er auch zufrieden.« Er deutete auf Pippas Bücherkiste. »Jede Wette: Diese Bücher hat Ida Marthaler alle schon gelesen. Aber nicht zum Spaß. Reine Entspannung ist nicht ihr Ding.«

Pippa lächelte. »Nante, vor Ihnen muss man sich in Acht nehmen. Sie beobachten zu gut. Alte Polizistenangewohnheit?«

Nante grinste zurück. »Nein, reine Bosheit.«

Auf einen Fingerzeig des Kapitäns hin nahm sie die Leinen und warf sie Richtung Landungssteg. Luis Krawuttke fing sie mit erstaunlicher Geschicklichkeit auf und hatte die Rieke im nächsten Atemzug festgemacht.

Die Marthalers stiegen wortlos ein. Ida Marthaler setzte sich in die Kajüte, während ihr Mann aufs Achterdeck verschwand.

»Dicke Luft«, raunte Nante Pippa zu, als er ihr von Bord half. »Jedes Mal, wenn ich kurz davor bin, einer Frau einen Heiratsantrag zu machen, kommen die beiden auf mein Schiff – und ich bin sofort der Meinung, dass mir die Berliner Luft zum Leben reicht.«

»Herzlich willkommen auf Schreberwerder, Pippa!«

Dorabella von Schlittwitz hatte sich erhoben und war zum Ende des Anlegers gekommen. Sie begrüßte Pippa mit unerwartet festem Händedruck. Dann drehte sie sich zu Viktor um und sah ihm in die Augen. »Arrivederci, Viktor. Ich hoffe, die Frau ist es wert.«

Viktor nahm sie in den Arm. »Frauen sind es immer wert. Und diese besonders.«

»Jetzt mach, dass du wegkommst. Du hast einen Zeitplan einzuhalten. Mir wäre gar nicht wohl bei dem Gedanken, dass nicht alles wie am Schnürchen klappt.«

»Du kannst dich ganz auf mich verlassen.« Dann schlug Viktor seinem Freund Luis auf die Schulter. »Pass mir auf die beiden Mädels auf und sieh zu, dass Pippa immer etwas Ordentliches zu essen hat.« Pippa wollte protestieren, aber Viktor hob die Hand. »Mittags um 13 Uhr essen alle Insulaner bei Luis, auch Nante. Luis ist unsere Inselkantine. Er war früher Koch auf einem dieser Kreuzfahrtschiffe, der kann aus Sauerampfer und Grünklee ein Vier-Sterne-Menü zaubern.«

Luis wurde rot. »Mach jetzt, dass du uff’n Dampfer kommst«, sagte er mit vor Verlegenheit belegter Stimme, »sonst kann die Rieke die Verspätung nie wieder uffholen.«

Viktor ging noch einmal zu Dorabella und küsste ihr die Hand, dann umarmte er Pippa und übergab ihr den Hausschlüssel. »Der ist eher symbolisch«, sagte er, »wir schließen hier auf Schreberwerder nicht ab. Aber er soll dir zeigen, dass mein Haus jetzt ganz dir gehört.«

Luis schob Viktor auf die Rieke. »Nun geh endlich. Du machst es uns nur unnötig schwer. Wir werden uns um die Kleene schon kümmern. Sieh lieber zu, dass dich keen Regentropfen erschlägt und du jesund wiederkommst. Dat ist die Hauptsache.«

Die Rieke legte ab. Alle winkten, als stünde Viktor an Bord der Gorch Fock und hätte vor, die Welt zu umsegeln. Als die kleine Fähre in der Wasserenge zwischen Baum- und Valentinswerder verschwand, sagte Luis: »Den sehen wa erst wieda, wenn seine Manneskraft nachlässt.«

Dorabella lachte. »War das jetzt Neid oder Häme?«

Luis zwinkerte ihr zu. »Schätze, das kannst du besser beurteilen als ich.«

»Also doch Neid.« Dorabella kicherte. »Dann kommt jetzt ja deine große Chance. Sei schon mal ein Schatz und trag Pippas Sachen ans Haus. Meine Einkäufe kannst du mir später bringen.« Dann wandte sie sich an Pippa. »Kommen Sie, meine Liebe. Ich bin sicher, Sie wollen endlich ins Haus.«

Pippa bot Dorabella ihren Arm als Stütze, und sie gingen langsam zu dem kleinen Dorfplatz, der an den Anleger anschloss.

»Lassen Sie mich ruhig hier auf der Bank sitzen. Ich bin sicher, Sie möchten Ihr neues Heim allein beziehen, ohne störende Zuschauer. Wenn Sie Fragen haben oder Gesellschaft brauchen, gehen Sie einfach den Mittelweg hinunter und zählen ab. Parzelle 4, auf der linken Seite – da finden Sie mich.«

Pippa lächelte Dorabella dankbar an. Sie wünschte sich in der Tat nichts sehnlicher, als endlich allein zu sein, nachdem ihre spontane Entscheidung, Viktors Angebot anzunehmen, eine Nachtschicht Kofferpacken bedeutet hatte.

»Vielen Dank, Frau von Schlittwitz, ich …«

»Ich heiße Dorabella, und Sie heißen Pippa«, unterbrach Dorabella. »Mit diesen Namen sollten wir uns doch bestens verstehen, meine Liebe, was meinen Sie?«

»Jawohl, Frau Nachbarin.« Pippa deutete eine kleine, ironische Verbeugung an. »Dann sehen wir uns spätestens, wenn mir das Mehl für den Einstandskuchen fehlt!«