Des Meisters diabolisches Marionettenspiel - Andreas Schober - E-Book

Des Meisters diabolisches Marionettenspiel E-Book

Andreas Schober

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Beschreibung

Als Paul nach einer Überdosis erwacht, scheint die Rückkehr in ein normales Leben möglich. Doch die diabolischen Hände des Marionettenspielers führen ihm tagtäglich die Liebe von Mia und Jerry vor Augen. Jerry, an dessen Stelle er stehen sollte und der an seiner statt an Leberversagen sterben sollte. Kurzerhand beschließt Paul die Liebe und Mia hinter sich zu lassen und vor seinem Tod seine leibliche Mutter zu suchen. Er begibt sich auf eine Reise ohne Wiederkehr, erliegt dem Londoner Nachtleben, durchforstet Chile von Nord nach Süd und endet schließlich an der Neuseeländischen Golden Bay im Schoß seiner Mutter. Während Paul vor der Realität flieht findet Mia am Morgen nach ihrer Hochzeit einen Stapel Briefe, die Paul für sie zurückgelassen hatte. Der Inhalt der Briefe lässt ihre gesamte Kindheit und Jugend, die sie gemeinsam mit Paul verlebte, vor ihrem inneren Auge implodieren und dennoch muss sie ihm nachreisen, um ihn zu retten. Um ihn zu überzeugen, leben zu wollen.

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Seitenzahl: 389

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Inhaltsverzeichnis

Ein räudiger Hund

Kapteil 1

Kapteil 2

Kapteil 3

Kapteil 4

Kapteil 5

Die Braut

Kapteil 6

Kapteil 7

Kapteil 8

Das Gesicht im Spiegel

Kapteil 9

Eine wilde Schlittenfahrt

Kapteil 10

Kapteil 11

Kapteil 12

Stillzeit

Kapteil 13

Kapitel 14

Kapteil 15

Kapteil 16

Kapteil 17

Ein totgewürgter Schlumpf

Kapteil 18

Kapteil 19

Kapteil 20

Kapteil 21

Kapteil 22

Kapteil 23

Das Plastikschwimmbecken

Kapteil 24

Kapteil 25

Traumlose Nächte

Kapteil 26

Kapteil 27

Kapteil 28

Kapteil 29

Kapteil 30

Kapteil 31

Achthundertsieben Tage

Kapteil 32

Kapteil 33

Kapteil 34

Trio infernale

Kapteil 35

Kapteil 36

Kapteil 37

Kapteil 38

Kapteil 39

Die Wiedervereinigung

Kapteil 40

Kapteil 41

Kapteil 42

Kapteil 43

Kapteil 44

Kapteil 45

Kapteil 46

Kapteil 47

Kapteil 48

Die Offenbarung

Kapteil 49

Das brennende Zimmer

Kapteil 50

Kapteil 51

Kapteil 52

Kapteil 53

Kapteil 54

Kapteil 55

Der alte Mann

Kapteil 56

Kapteil 57

Kapteil 58

Kapteil 59

Die Goldene Hure

Kapteil 60

Kapteil 61

Kapteil 62

Kapteil 63

Kapteil 64

Kapteil 65

Kapteil 66

Kapteil 67

Flug 177

Kapteil 68

Kapteil 69

Briefe

Kapteil 70

Kapteil 71

Dunkle Geheimnisse

Kapteil 72

Kapteil 73

Kapteil 74

Jimmy und die Katzenfrau

Kapteil 75

Kapteil 76

Einen Schritt zu spät

Kapteil 77

Santiago de Chile

Kapteil 78

Kapteil 79

Kapteil 80

Kapteil 81

Pfotenspuren

Kapteil 82

Kapteil 83

Kapteil 84

Kapteil 85

Kapteil 86

Kapteil 87

Kapteil 88

Kapteil 89

Katharsis

Kapteil 90

Kapteil 91

Kapteil 92

Kapteil 93

Kapteil 94

Nachwort

Kapteil 95

Ein räudiger Hund

1

Paul Rosizki kauert träumend in seinem Bett und hetzt, wie schon so oft, einem Dasein hinterher, das niemals seine Realität werden wird. Seine Lider flattern und seine Füße zucken, als würden ihn leichte Stromschläge drangsalieren. Ein Rolltreppentraum. Einer dieser Träume, in denen er sein Ziel nie erreicht, egal wie sehr er sich auch nach der Decke streckt. Ständig erscheinen dieselben Hindernisse und täglich grüßt das Murmeltier. Die Gedankenspirale findet kein Ende. Er läuft und läuft und läuft, bis er feststellt, dass sich die Straße unter ihm in eine endlose Rolltreppe verwandelt hat. Das Ziel allerdings ist dermaßen verheißungsvoll, dass er es immer und immer wieder zu erreichen versucht. Mit allen Mitteln will er es schaffen – er wird angezogen wie die sprichwörtliche Motte vom Licht. Wie ein eingesperrtes Wildtier, das den Schmerz ignorierend ein aufs andere Mal mit dem Schädel gegen einen Zaun stürmt, um endlich frei zu sein.

„Paul, komm aus dem Bett und mach dich fertig!“, ruft seine Mutter bereits zum zweiten Mal.

Schweißnass schrickt er hoch und mustert seine Umgebung mit weit aufgerissenen Augen. Entwarnung! Er befindet sich in seinem Zimmer. Er ignoriert den Appell und vergräbt sein unrasiertes Gesicht in das muffige Kissen. Nichts und niemand wird ihn an diesem gottverdammten Tag aus dem Bett bekommen!

Er seufzt tief und versucht in Schlafes grausame Welt zurückzukehren, aus der ihn der Weckruf seiner Mutter riss, als ihm die vertraute Stimme der Frau, die ihn vor knapp sechsundzwanzig Jahren geboren hatte, abermals daran hindert, sein erwähltes Schicksal zu erfüllen.

Die Stimme ist jedoch viel näher als zuvor, und als Paul sein linkes Auge einen Spalt weit öffnet, stellt er fest, dass sie dieses Mal nicht mehr geschirrspülend in der Küche steht, sondern ihren schlaksigen Körper wie durch Zauberei in sein Zimmer manövrierte und im Begriff ist, ihm die Decke wegzuziehen. Mit einem gutturalen Knurren versucht er die wärmende Hülle festzuhalten, ohne seine Liegeposition verändern zu müssen, doch seine Mutter hatte sie bereits vollständig in ihren Besitz gebracht und schüttelt sie, als wolle sie ihr alle Verderbtheit austreiben.

„He, was soll denn das!“, lästert er mit geschlossenen Augen und einem schalen Geschmack im Mund.

„Raus jetzt! Und ich hab dich schon tausend Mal gebeten, nicht nackt zu schlafen, solange ich deine Bettwäsche wasche. Das ist ja ekelhaft!“ mokiert sie sich. Trotzdem kann sie ihrem mütterlichen Instinkt nicht widerstehen und riecht an der Decke, wie an einer vollen Windel, worauf sie angewidert die Nase rümpft. Einmal konditioniert, immer Pawlow`scher Hund.

Als Paul vor zwei Jahren in sein Elternhaus zurückkehrte, hatten sich der antiquierte Kleiderschrank sowie der zu niedrige Schreibtisch und das zu kurze Bett, die allesamt seit Pauls Jugendzeit in diesem Zimmer überdauerten, nicht weniger über die langersehnte Rückkehr des vermissten Sohnes gefreut als seine Mutter. Pauls Wiedersehensfreude hingegen hielt sich in Grenzen.

Wie zum Trotz lässt er seinen mit schwarzen, gekräuselten Härchen bewachsenen Hintern auf und ab hüpfen und wirft einen Polster nach seiner Mutter. Es ist ja nicht so, dass er mit Absicht hüllenlos schläft – manchmal kann er sich einfach nicht an den vorangegangenen Abend erinnern und ist selbst ein wenig überrascht, wenn er nackt aufwacht; oder auch angezogen.

„Du benimmst dich wie ein trotziges Kind“, schimpft sie, während sie das Fenster öffnet, um ein paar Sonnenstrahlen, die sich zwischen winterlichen Wolken ihren Weg bahnen, und etwas frische, kalte Luft in das muffige Zimmer zu bitten. Es ist Anfang Februar und Väterchen Frost hat die Welt fest im Griff. Anschließend legt sie die Decke übers Fensterbrett, sodass sie wie ein Selbstmörder mit Gewissensbissen halb aus dem Fenster hängt und klopft einige Male energisch mit der flachen Hand auf das unschuldige Bettzeug. Sie hatte noch nie jemanden geschlagen, doch bei ihrem Sohn war sie von Zeit zu Zeit an die Grenzen ihrer Selbstbeherrschung gekommen. Und das nicht erst, seit er wieder unter ihrem Dach wohnt.

„Dann gib mir doch Hausarrest!“, fordert er. Zusammengerollt wie ein Igel liegt er auf seinem Bett und verflucht innerlich die Welt. Sein Leben und die ganze Welt. Ja, diese ganze erbärmliche, verrottete Welt.

„Das hättest du wohl gerne. Aber erstens bist du eindeutig zu alt für Hausarrest und zweitens werde ich dir diesen Gefallen beim besten Willen nicht tun.“ Sie stampft zu seinem Kleiderschrank, öffnet etwas zu ungestüm die Tür, worauf das betagte Möbelstück zu schwanken beginnt wie durch ein leichtes Erdbeben, holt einen schwarzen Anzug und ein weißes Hemd mit perlmuttschimmernden Knöpfen hervor, das sie am Vortag gekonnt gebügelt hat und wirft die Kleider grummelnd auf seinen verlotterten Körper. Die willkürliche Zusammenstellung der Kleidung, der verbliebenen Bettwäsche und Pauls Körper mutet beinahe so an, als läge eine Leiche, deren Körper aus dem Anzug gesickert ist, in dem Bett.

„Ich hasse dich!“, johlt er zwischen Sakko, Bundfaltenhose und Bettwäsche hervor, „und ihn hasse ich auch.“ Das zweite „hassen“ wäre ihm beinahe im Halse stecken geblieben.

„Ich hasse dich auch“, erwidert sie mit dem gespielten Ernst einer liebenden Mutter und eilt zurück in ihre Küche.

2

Seit Wochen schlief er schlecht und versuchte sich einzureden, dass dieser Tag niemals kommen würde. Abend für Abend lag er wach in seinem Bett und starrte an die Decke, auf die sich Bilder seiner Jugend und seiner großen Liebe projizierten, als würde ein Film abgespielt werden. Sobald sie ihren Auftritt hatte, begann seine Haut zu kribbeln und sein Schwanz hob sein Köpfchen und reckte sich dem Trugbild begierig entgegen. Seine Vorstellungskraft wurde zu seinem Folterknecht. Jede Nacht kämpfte er verzweifelt gegen den Gedanken an, sie für immer zu verlieren, doch an den luftabschnürenden Tatsachen war nicht zu rütteln. Nach stundenlanger Grübelei übermannte ihn ein aufs andere Mal der Schlaf, bis ihn ein weiterer Albtraum aufschrecken ließ. Er versuchte sich, so gut es ging, mit seiner Situation abzufinden, redete sich ein, auch ohne sie zu leben habe einen Sinn, doch tief in seinem Inneren kauerte ein Dämon, der die Wahrheit kannte und den Paul nicht auf ewig würde in seine Schranken weisen können.

Er aß und atmete nur noch, um zu überleben – und hätte sein Körper das Atmen nicht reflexartig erledigt, er wäre längst Wurmfutter. Er fand keinen Gefallen an den schönen Dingen des Lebens. Konnte sich weder an der Sonne noch am Regen, weder an gutem Essen noch an sinnlichen Erlebnissen, die ohnehin sehr spärlich gesät waren, erfreuen. Morgens kam er nicht aus den Federn und abends konnte er nicht einschlafen. In seiner Arbeit meldete er sich in den vergangenen Wochen sooft krank, bis er wirklich an medizinischen Symptomen zu laborieren begann. Obwohl er nicht ungern arbeitete, vermochte er manchmal einfach nicht aufzustehen. Er hatte Schmerzen in der Brust, wenn seine Unzufriedenheit tonnenschwer auf seinem Herzen lastete. An manchen Tagen rappelte er sich auf und stellte fest, dass er höllische Schmerzen in einem seiner Beine litt und schleppte sich zurück in sein Bett. Oft war er von seiner Gefühlswelt so verwirrt, dass ihm den ganzen Tag schwindlig war und er sich abends dankbar in sein Bett fallen ließ, wo er keine Gefahr mehr lief, von einem Schwindelanfall zu Boden geworfen zu werden. Nur den Albträumen konnte er nicht entfliehen. Es gab nicht ein Organ, ein Körperglied oder einen Knochen, von dem er behaupten konnte, nicht schon einmal für Unwohlsein gesorgt zu haben. Sein Körper schien sich gegen ihn verschworen zu haben; er nahm Rache für alles, was Paul ihm angetan hatte.

3

„Wenn du nicht augenblicklich aufstehst, komme ich mit einem Kübel Wasser hoch und jage dich eigenhändig aus dem Bett. Herr Gott noch mal, deine Schwester heiratet heute!“, erinnert ihn seine Mutter lauthals und er kann sich genau vorstellen, welchen Ausdruck ihr Gesicht angenommen hat.

„Ja, ja, ich mach ja schon“, raunt er missmutig.

„Und geh duschen!“, mahnt sie ihn lauthals.

Als Paul unter der Dusche steht, findet seine Hand wie von selbst seinen Schwanz und er beginnt zu masturbieren. Seit geraumer Zeit kann er sich nur noch unter der Dusche selbst befriedigen, da ihn zusehends das Gefühl heimsucht, etwas Verpöntes zu machen, und er sich einbildet, das heiße Wasser würde die Sünde gleich wieder von ihm abwaschen. Oft dreht er dabei das Wasser so heiß auf, dass er danach krebsrot aus der Duschkabine stolpert und nach Atem ringt.

Angeekelt von sich selbst sieht er seinem Sekret zu, wie es von einem reißenden Wirbel in den Abfluss gezogen wird. Am liebsten hätte er sich ebenfalls verflüssigt und wäre seinem Samen in die Kanalisation gefolgt. Seine DNA versprengt in alle Weltmeere.

Seit einer gefühlten Ewigkeit hatte er keine Frau aus Fleisch und Blut näher kennen gelernt, geschweige denn mit einer geschlafen. Ginge es nach den Katholiken, müsste er schon längst blind sein oder alle Finger verloren haben und wäre dazu verdammt mit Onan in der Hölle Schach zu spielen. Er legt den Kopf in den Nacken, spült sich den Mund aus und lässt das Wasser dampfend auf sich niederprasseln. Als das Wasser kalt zu werden beginnt, steigt er aus der Duschkabine und trocknet sich mit einem frischen Handtuch, das ihm seine Mutter zurecht legte, ab. Über die Jahre nahm er eine gekrümmte Haltung an und etablierte einen kleinen, aber merklichen Bauchansatz. Seine einst kastanienbraun glänzenden Haare, hängen ihm strohig und farblos in die Stirn. Er sah schon schlimmer aus, aber sein derzeitiges Aussehen ist definitiv auch keine Augenweide. Früher hätte er seine Nase als markant bezeichnet, heute ist sie in seinem weichen, leicht aufgedunsenen Gesicht so störend wie ein Hinkelstein auf einem englischen Rasen. Seine Augen glänzen entweder fiebrig oder sind so stumpf wie Jahrzehnte alte Fotografien, und nicht einmal ihre ursprüngliche Farbe kann man mehr eindeutig bestimmen. Missmutig mustert er sein Gesicht im Spiegel, verwirft alle angedachten Änderungsvorschläge sogleich wieder und beginnt sich zu rasieren. Als sich die Klinge in sein Kinn frisst, zuckt er kaum merklich und beobachtet fasziniert das Blut, das zäh aus der Wunde quillt und einen perfekten Tropfen bildet. Gleichzeitig verspürt er dieses gierige Ziehen hinter seinem linken Ohr, das sich immer dann bemerkbar macht, sobald er sich verletzt hat und Blut verliert. Seltsamerweise trägt er genau an dieser Stelle ein Muttermal in der Form eines Ziegenkopfes. Als habe er eine kleine Tätowierung, an deren Entstehung er sich nicht erinnern kann und die von Zeit zu Zeit nach seinem Blut verlangt. Er wäscht sich Rasierschaum und Blut ab und trottet in sein Zimmer, um sich seinen Anzug anzuziehen. Am liebsten wäre er wieder in sein Bett gekrochen, um sich vor der Welt und der Ungerechtigkeit, die ihm widerfahren war, zu verkriechen. Gebeutelt von Selbsthass zwängt er sich in die Anzughose, die ihn am Bauch einschneidet und knöpft unwillig das Hemd zu. Den obersten Knopf muss er offen lassen, da ihm sonst die Luft wegbleibt. Er wirft sich Sakko und Krawatte über die Schulter, schleicht über die gewundene Holztreppe in das Erdgeschoß und folgt dem Geruch von Kaffee und frischem Gebäck zur Küche.

Schon vom Stiegenhaus aus kann er das aufgeregte Gegackere seiner drei Tanten und seiner Mutter vernehmen. Er atmet tief ein, lässt einen langen Seufzer folgen und öffnet mit nach vorne geklappten Schultern die Tür. Schlagartig wird es still und acht Augenpaare mustern ihn schaulustig.

„Da sieh an, der gnädige Herr hat sich doch noch entschlossen aufzustehen“, spottet Rita, die älteste seiner Tanten. Sie ist ein Koloss von einem Weib mit Doppelkinn und einem Busen, der dem aufgeblähten Euter einer überfälligen Milchkuh um nichts nachsteht.

„Ja, ja, gibt´s noch Kaffee?“, fragt er genervt.

„Sicher. Hier, mein Schatz“, trällert seine Mutter und reicht ihm eine randvolle Tasse. Warum diese Frau trotz allem noch immer so liebenswürdig mit ihm umgeht, ist ihm ein Rätsel.

„Danke.“

„Setz dich. Willst du etwas essen?“, fragt ihn seine Mutter. „Heute wird ein anstrengender Tag, und wir wollen ja nicht, dass du im entscheidenden Moment zusammenklappst und deiner Schwester die Hochzeit vermasselst.“ Zuckerbrot und Peitsche – wenn seine Mutter etwas zur Perfektion gebracht hat, dann das.

„Natürlich nicht“, grunzt er und setzt sich zu seinen Tanten an den reich gedeckten Frühstückstisch. Seine Mutter hat allerlei Köstlichkeiten aufgetragen. Verschiedene Brotsorten teilen sich einen runden Weidenkorb, mehrere Wurst- und Käsesorten räkeln sich garniert mit Tomaten und Paprikastreifen auf einem länglichen Teller, es gibt weiche Eier, Aufstriche, frische Butter und selbstgemachte Marmeladen in den unterschiedlichsten Geschmacksrichtungen.

„Wie läuft´s denn in der Arbeit?“, will nun Hanna wissen. Sie ist die zweitjüngste der vier Schwestern und nur in ihren Pudel mehr verliebt als in sich selbst.

„Geht dich zwar nichts an, aber es läuft gut. Nicht viel zu tun zurzeit“, sagt er, während er von seinem Kaffee schlürft. „Es wird wenig gestorben dieser Tage.“

4

Nach einer schier endlosen Sucherei und mannigfaltigen Absagen, die seiner Unfähigkeit, morgens aufzustehen und sich in ein soziales Umfeld einzugliedern, geschuldet waren, hatte er vor fünf Monaten einen Job als Leichenwäscher in einem hiesigen Krematorium gefunden. Von allen Lächerlichkeiten, die sich in den Zeitungen darboten, war diese Job-Annonce so kurios gewesen, dass sich Paul entschied, einen Vorstellungstermin wahrzunehmen. So fand er sich an einem nebeligen Herbsttag in einem Kellergewölbe aus der Jahrhundertwende wieder, das ein gewisser Hans Feuerle als sein Königreich erachtete. Seine königliche Armee war zwar einer ständigen Fluktuation unterworfen, aber der Tod sorgte laufend für Nachschub. Herr Feuerle und Paul waren sich auf Anhieb sympathisch. Paul war zwar lebendig, passte aber vom Äußeren her ganz vorzüglich in die Armee der Toten, und Herr Feuerle schien der toleranteste Mensch zu sein, dem Paul jemals begegnet war. Von Anfang an bedurfte es nicht vieler Worte, und am Ende des Vorstellungsgespräches reichten sie einander die bleichen Hände und waren jeweils angenehm schockiert von der Leblosigkeit der Hand des anderen.

Paul war zufrieden mit der Arbeit. Niemand saß ihm wegen allfälliger Abgaben im Genick, keiner kaute ihm während der Arbeit ein Ohr ab und die Bezahlung war auch gut; obwohl er das Geld eigentlich nicht benötigte. Zu Essen bekam er von seiner Mutter, Miete musste er keine zahlen und aus Kleidung oder Schmuck machte er sich nicht viel. Außerdem waren die Toten durchaus angenehme Zeitgenossen. Sie nahmen Paul, wie er war; mit all seinen Fehlern und Marotten und beklagten sich niemals über seine überwiegend schlechte Laune und negative Lebenshaltung. Nur von seiner Verwandtschaft musste sich Paul den einen oder anderen ätzenden Spruch anhören. Doch die Sticheleien der Lebenden konnten ihm nur wenig anhaben, wenn er doch einen König samt Armee hinter sich wusste.

5

„Gib mir einen Kuss“, schäkert Betty, seine dritte Tante. Mit ihren fünfunddreißig Jahren ist sie die jüngste der Schwestern und nicht nur einmal in einer seiner erotischen Fantasien aufgetaucht. Ihre dunkle Mähne fällt in lustigen Locken über ihre Schultern und ihr schlanker, drahtiger Körper strahlt eine betörende Energie aus, der schon so mancher Mann erlag. Solange sich Paul erinnern kann, war ihr die Angewohnheit eigen, ihr Kinn auf eine Hand zu stützen und einen Finger in den formvollendeten Mund zu stecken oder über ihre vollen Lippen gleiten zu lassen. Musste sie das machen?

„Vergiss es, Betty, ich will nicht wieder überall deinen Lippenstift kleben haben“, wehrt er ab, bevor er sich neben sie setzt. Seit er denken kann, verfolgen ihn die Lippenabdrücke seiner Tante. So gut er auch aufpasst, zaubern sich bei jedem Treffen fliederfarbene, violette, blutrote oder knallpinke Lippenabdrücke auf seine Haut, ohne dass er es bemerkt. Erst wenn er dann an einem Spiegel oder einer Fensterscheibe vorbei trottet, grinsen ihn Bettys Lippen an und er wischt sich die vermaledeite Farbe fluchend vom Gesicht.

In dem Moment, in dem sein Hintern den Stuhl berührt, schnellen die Lippen von Betty vor, treffen zielgenau seine Wange und hinterlassen einen karmesinroten Abdruck auf seiner Haut.

„Verdammt, muss das wirklich sein?“, flucht er, während er sich wild rubbelnd des Fleckes zu entledigen versucht.

„Es muss“, grinst Betty und gibt ihm einen gutmütigen Rempler.

Er schmiert sich ein Butterbrot mit Bananen-Ingwer-Marmelade, auf die seine Mutter besonders stolz ist, und verschlingt es mit drei riesigen Bissen.

„Iss nicht so schnell! Das ist schlecht für deinen Magen“, plustert sich Rita mit vollem Mund auf.

„Jetzt reicht es mir aber! Ich geh eine rauchen“, schimpft er und räumt das Feld. Auf der Terrasse wird er hoffentlich seine selige Ruhe haben.

„Ich komme mit“, zirpt Betty und ist schon auf ihren langen Beinen, bevor er etwas entgegnen kann.

Keine Ruhe. Kein Frieden. Wäre er nur tot!

Die Braut

6

Mit pochendem Herzen schreckt Mia hoch und sucht zittrig den Hort der Wärme nach ihrem Verlobten ab. Doch sie liegt alleine in dem schmalen Bett, in dem sie schon die Nächte ihrer Kindheit verbracht hat. Sie lebt seit knapp sechs Jahren nicht mehr zu Hause, doch ihr Zimmer ist unverändert geblieben. Der kleine, mit Aufklebern übersäte Schreibtisch, weilt genauso verlässlich an der Wand unter dem charmanten Fenster, von dem aus man eine herrliche Aussicht auf die umliegenden Hügel und Wälder hat, wie der Schrank in der Ecke neben der Tür kauert und zwei Poster von Nirvana und Pearl Jam als Mahnmal einer verlorenen Ära über ihrem Bett hängen.

Nach althergebrachter Tradition müssen die zukünftigen Eheleute die Nacht vor der Hochzeit getrennt voneinander verbringen. Trotz Mias Protest war ihre Mutter unerbittlich geblieben – Tradition bleibt Tradition! Und basta!

Sie rollt sich auf ihren feuchtgeschwitzten Rücken und atmet tief ein und aus, um sich zu beruhigen.

„Nur ein Traum, nur ein schlimmer Traum“, denkt sie, bevor sie der Schlaf wieder in seine mystische Welt entführt. So selten es mittlerweile auch vorkommt, wird sie jedes Mal, wenn sie alleine schläft, von Nachtmahren, die aus einer dunklen Zeit in ihrem Leben stammen, heimgesucht. Nur wenn sie den ruhigen Atem ihres Verlobten spürt, vermag sie es, die ruhelosen Geister fernzuhalten.

Wenig später wird sie vom Läuten ihres Weckers aus dem Schlaf gerissen. Das schrille Geräusch des alten mechanischen Gerätes versetzt ihr den zweiten Schock in dieser Nacht. Mit halbgeschlossenen Augen lugt sie in der Finsternis des Raumes auf das eierschalenfarbene Ziffernblatt. Halb fünf. Eine wahrhaft unchristliche Zeit, doch bei dem Gedanken an ihre Hochzeit und ihren Liebsten ist sie sofort putzmunter. Sie streckt sich und mit einer geschmeidigen Bewegung entschlüpft sie ihrem Bett.

Sie wirft sich ihren alten, abgenutzten Morgenmantel, der ihr mittlerweile eine Nummer zu klein ist, über und tapst leise über die hölzernen Stufen in das Erdgeschoß. Nachdem sie sich erleichtert hat, geht sie in die Küche, in der ihre Mutter bereits herumwirbelt.

„Guten Morgen, meine Kleine“, singt ihre Mutter.

„Hallo Mama. Was machst du denn schon so früh auf?“, will sie wissen, während sie sich heißen Kaffee in eine großzügige, violette Tasse gießt und ungeniert gähnt.

„Du hast ja keine Ahnung! Ich habe so viele Dinge zu erledigen, dass ich schon nicht mehr weiß, wo mir der Kopf steht“, erklärt sie, während sie mit bunten Lockenwicklern in den Haaren geschäftig eine der Torten verziert, die sie am Vortag gebacken hat.

„Was für Dinge meinst du?“, will Mia Kaffee schlürfend wissen.

„Na, die Torte hier zum Beispiel, oder das Frühstück für deine gefräßigen Tanten, oder die Dekoration für den Empfang und nicht zu vergessen dein Kleid ...“

„Jetzt entspann dich mal ein bisschen. Du machst mich noch ganz nervös“, stöhnt Mia.

„Ich soll mich entspannen? Wie kannst du nur so gelassen sein? Bei meiner Hochzeit war ich ständig am Rande einer Ohnmacht, und entspannt war ich sicher nicht eine Minute“, erzählt ihre Mutter, als sie die fertige Torte in den Kühlschrank schiebt und in der selben Bewegung Käse und Butter, nebst diversen Wurstsorten auf den Frühstückstisch stellt.

„Ist ja gut“, wehrt Mia ab, „ich gehe jetzt duschen.“ Zu diesem Zeitpunkt eine Grundsatzdiskussion mit ihrer Mutter zu beginnen, wäre in etwa so sinnvoll wie einem Pferd eine Zahnspange zu verpassen.

„Ja, ja“, murrt ihre Mutter geistesabwesend, während sie voller Eifer Paprika, Tomaten und eine krumme Salat-Gurke auf einem Teller anrichtet, als könne sie ihre Familie mit einer besonders ausgefallenen Präsentation zu einer gesünderen Ernährung verführen.

Als Mia mit nass tropfenden Haaren aus der Dusche gestiegen ist, stellt sie sich wie in Kindertagen, als sie felsenfest behauptete, jede Prinzessin bräuchte einen in einem Goldrahmen gefassten und mit Glitzersteinen verzierten Spiegel, vor jenes Relikt ihrer Kindheit und betrachtet ihren Körper. Sie muss den kondensierten Dampf von der polierten Oberfläche wischen, um ihre Umrisse erfassen zu können. Wie schon so oft bleibt ihr Blick an der verwilderten Narbe, die sich wie ein Fetzen alter Tapete über ihren linken Oberschenkel erstreckt, hängen. Beim Gedanken an jenen Morgen, an dem sie sich als Achtjährige eine Kanne kochend-heißes Teewasser über ihr Bein geschüttet hat, erzittert sie unwillkürlich. Sie kann den Schmerz noch immer fühlen, und auch die quälenden Teenager-Nächte, in denen sie sich nicht träumen lassen hätte, jemals einen Mann zu finden, der sie trotz ihres Makels lieben und heiraten würde, drängen sich auf. Gleich einem Bauern, der über ein Stück frisch gepflügtes Land schreitet, lässt sie ihre Finger über die zerstörte Fläche gleiten und im selben Augenblick verspürt sie ein aufdringliches Kribbeln von der Narbe aus zwischen ihre Beine kriechen. Sie überlegt für eine Sekunde, ihren Garten genussvoll zu beackern, spart sich ihre Lust jedoch für die Hochzeitsnacht auf.

Sie verlässt ihr Badezimmer, stakst zurück in ihr Zimmer und fischt das flache Päckchen mit der Unterwäsche, die sie sich speziell für diesen Tag kaufte, aus ihrem Kasten und drapiert es verzückt auf ihrem Bett. Mit einer flinken Bewegung streicht sie sich ihr kohlrabenschwarzes Haar aus der Stirn, hebt den Deckel und labt ihre grünen Augen, in denen ein gelber Punkt flackert wie ein einzelner Planet am Himmelsgewölbe, an der blutroten Spitze. Weiß gefiel ihr bei Unterwäsche seit jeher nicht und da sie sowieso nicht jungfräulich in die Ehe gehen würde, entschied sie sich für Rot. Nicht die Farbe der Liebe, sondern die Farbe des Lebenssaftes, der durch ihre Adern fließt. Gerade als sie in das Höschen geschlüpft ist und das Kribbeln von vorhin wieder zu erwachen droht, vernimmt sie die Stimme ihrer Mutter, die scheinbar von weit her nach ihr ruft.

„Die Visagistin ist da, meine Kleine. Komm runter!“

„Ja, ich bin gleich bei euch“, antwortet Mia, schließt das Päckchen, in dem geduldig ein Bustier und Strapse auf ihren Einsatz warten, wirft sich abermals den Morgenmantel über und hüpft ungestüm über die Stufen nach unten.

Als die Visagistin, die sich auch als Frisörin verdingt, beginnt, bunte Lockenwickler in Mias Haar einzudrehen, wird der Braut jäh übel. Die Flasche Tequila, die sie am Vorabend mit ihren Tanten geleert hat, macht sich brodelnd bemerkbar. Hastig trinkt sie einen kräftigen Schluck Kaffee und atmet tief durch.

„Alles in Ordnung?“, hört sie die Visagistin fragen.

„Ja sicher. Nur ein kleines Nachbeben von gestern Abend“, stöhnt Mia und sinkt ein paar Zentimeter tiefer in ihren Stuhl.

„Ja, ja, das kenne ich. Ich hätte mich vor meiner Hochzeit auch fast übergeben. Aber zum Glück ist mir die Schweinerei erspart geblieben. Dafür hat es meinen Mann erwischt. Der hat sich sogar vor dem Einzug in die Kirche noch hinter einem Grab erleichtert. Das war vielleicht ...“

„Das will ich gar nicht hören“, unterbricht Mia die hemmungslose Quasseltasche und stöpselt sich ihre Ohren mit den Fingern zu.

„Tut mir leid. So, du kannst dich jetzt fertig anziehen gehen. Den Rest machen wir später“, erklärt die Visagistin.

„Danke. Hilfst du mir, Mama?“, fragt Mia ihre Mutter.

„Ich komme gleich, meine Kleine. Geh schon mal vor“, trällert ihre Mutter aus der Küche.

Mia lässt den Morgenmantel von ihren Schultern gleiten und auf den Boden fallen, als würde sie sich einer überflüssigen Hautschicht entledigen. Abermals öffnet sie das Päckchen mit der Unterwäsche und nimmt das Bustier heraus. Es wird ihre kleinen, aber formschönen und festen Brüste wunderbar zur Geltung bringen. Werden ihre Brüste auch zu tropfenden Eutern mutieren, wenn sie eines Tages in anderen Umständen sein wird? Eine ihrer Freundinnen erzählte ihr, dass sie anfangs noch überglücklich über ihre explodierende Oberweite war, doch als neben ihrem Baby auch noch ihr Mann ganz wild auf ihren Busen wurde und ihre Brustwarzen wund gesaugt und gebissen waren, verfluchte sie die ausgeklügelten Mechanismen des weiblichen Körpers. Mia schüttelt sich und verwirft den Gedanken – bis dahin wird noch viel Zeit vergehen.

Mia legt das Bustier an, und der kühle, weiche Stoff jagt ihr einen hitzigen Schauer über den Rücken. Behutsam streift sie die Strapse über ihre Beine und befestigt sie mit kleinen Clips an ihrem Höschen. Gerade als sie ihr Kleid von der Stange nimmt, kommt ihre Mutter in den Raum gestürmt und bleibt dermaßen abrupt stehen, als wäre sie gegen eine unsichtbare Mauer gerannt.

„Was zum Henker ist denn das?“, krächzt sie erschrocken.

„Mein Hochzeitskleid. Das kennst du doch“, entgegnet Mia verwundert.

„Nicht das Kleid. Die Unterwäsche! Oder was auch immer das sein soll“, stöhnt ihre Mutter mit entsetztem Blick.

„Was ist damit? Die ist doch wunderschön!“, entzückt sich Mia. Ihre Finger wandern über den spitzenbesetzten Bund des Slips und sie muss spontan an die erste Nacht mit Jerry, ihrem Verlobten, denken.

7

Mia und Jerry begegneten einander das erste Mal am Tag nach einer Party in Graz. Der Gastgeber, ein guter Freund von Jerry, lud zu einer sommerlichen Soiree in seine Wohnung im Stadtzentrum. Durch eine Fügung des Schicksals landeten auch Mia und Paul dort, nachdem sie auf der Suche nach einer After-hour-location, über drei Ecken von der Party erfahren hatten. Als sie in der Wohnung eintrafen, war bereits der Großteil der Gäste von König Alkohol niedergestreckt worden und da die Geschwister ebenfalls schon gut bedient waren, erlagen sie alsbald dem lockenden Ruf eines weichen Lagers und verfingen sich in Schlafes Garn. Mias Lider taten ihre letzten Aufschläge, als aus dem Nebenzimmer ein Kanon an stimulierenden Geräuschen an ihre Ohren drang. Doch nicht die Laute ließen sie erschauern, sondern das Odeur eines Mannes.

Am frühen Nachmittag des nächsten Tages stakste Mia schwer verkatert in das Wohnzimmer, wo Jerry eben berichtete, wie er letzte Nacht eine süße Rothaarige vernascht hatte. Die detailgetreue Beschreibung von hüpfenden Brüsten, Genitalien aller Art und verschiedensten Körpersäften ließ Mia zusammenzucken und in Jerry einen Wüstling sehen, der eine sonderbar duftende Anziehung auf sie ausübte.

„Ekelhaft“, stöhnte Mia, wodurch sie die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich lenkte. Schamesröte paarte sich mit der Blässe der Nacht in ihrem Gesicht und als sich auch noch ihr Blick mit dem des Schandmaules traf, das sie an den moralischen Pranger gestellt hatte, straffte sie ihren Rücken, gab ein kurzes Schnauben von sich und verließ dieses Miniatur-Sodom-und- Gomorra. Mit dem ersten Schritt ins Freie schüttelte sie sich, doch der stechende Blick des kopulierenden Schürzenjägers hatte sich in die Fotoplatte ihres Gehirns eingebrannt.

Einige Monate danach schlenderte Jerry mit einer selbstgedrehten Zigarette im Mundwinkel über den Vorplatz der Hauptuniversität von Graz und gab sich seiner neuen Profession als Student hin. Zu seinem Erstaunen stellte er fest, dass sich in seinem Inneren ein sonderbarer Wissensdurst entwickelte, je länger er zu der Innschrift über dem Portal der Hauptuniversität aufsah:

UNIVERSITAS LITTERARUM CAROLA FRANCISCA

Die Schwere des historischen Gebäudes legte sich über ihn wie eine dicke Decke aus rotem Samt und Wissen. Selbst der Himmel schien schwermütig und ernst zu sein. Dies war ein Ort des Lernens, ein Ort der Erkenntnis und Selbstfindung. Denn nur wer sich selbst kannte, wer wusste, wo und wie er Informationen in seinem Kopf ablegen und speichern konnte, der konnte nach Höherem streben. Jerry atmete tief durch; der Tag war auch so schon bedrückend genug. Über der Stadt hatten sich im Laufe des Morgens einige mächtige Regenwolken gebildet und verhießen nichts Gutes. Wer ohne nass zu werden nach Hause kommen wollte, musste sich sputen. Ein böiger Wind hatte eingesetzt und trieb allerlei Unrat vor sich her. Der erste Vorbote der kalten Jahreszeit aus dem Osten. Jerry stellte den Kragen seiner dunkelblauen Adidas-Jacke auf und vergrub sein Kinn darin. Er schnippte den Zigarettenstummel in eine Kanalöffnung und schickte sich an, sein Fahrrad zu holen und so schnell wie möglich nach Hause ins Studentenwohnheim zu radeln.

Mit dem ersten Donnerschlag drehte er sich um und als hätte eben ein Blitz eingeschlagen, stand sie keine fünfzig Meter von ihm entfernt am oberen Absatz der breit geschwungenen Treppe der Hauptuniversität. Das Mädchen, das ihn vor einiger Zeit auf einer Party bei einem Freund mit Verachtung gestraft hatte und ihm seitdem nicht mehr aus dem Kopf ging.

Ihr rabenschwarzes Haar wehte gleich den Fahnen, die den Vorplatz säumten, ungestüm im Wind. In dem ganzen Grau dieses Tages leuchtete sie wie ein Irrlicht in einem Moor. Der Donnerschlag schien sie erschreckt zu haben, denn ihr Gesicht war so weiß, als würde kein Tropfen Blut durch ihren Körper fließen. Nervös sah sie sich um und suchte in allen Richtungen nach einem sicheren Ort. Als sie der Blicke von Jerry gewahr wurde, der sie anstarrte wie einen Eisbären, der einen karibischen Strand entlang spazierte, färbten sich ihre Wangen leicht rosa und nahmen die Farbe von Sölker Marmor an. Sie zog ihren schwarzen, mit weißen Punkten übersäten Mantel enger um ihre schlanke Taille und ging auf Jerry zu, der immer noch wie versteinert auf dem Vorplatz stand.

Sie blieb keine zwei Fußbreit vor ihm stehen, legte den Kopf leicht schief und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn, die ihr der ungestüme Wind ins Gesicht legte. Mit dem nächsten Donnerschlag setzte ein Platzregen ein, der seinesgleichen suchte. Ohne zu überlegen, nahm Jerry Mia an der Hand und begann zu laufen. Mia zögerte keine Sekunde und folgte ihm. Mit nassen Haaren und durchweichten Jacken fanden sie ein Vordach, das den Eingang zur Unibibliothek bewachte und das ihnen Unterschlupf gewährte. Jerry drehte zwei Zigaretten und reichte eine davon Mia.

„Keine Kohle für richtige Zigaretten?“, lächelte Mia, nachdem sie einen Zug genommen hatte.

Mias Frage überrumpelte ihn. Plötzlich kam ihm seine Anwandlung, dem Kapitalismus ein Schnippchen zu schlagen und normale Zigaretten zu verweigern, albern vor. Was hatte dieses Mädchen bloß an sich, das ihn seine Weltanschauung, ja jede Faser seines Körpers hinterfragen ließ?

„Schon, aber ...“

„Verstehe schon. Das Che-Guevara-Syndrom“, unterbrach ihn Mia.

„Was für ein Syndrom?“, fragte Jerry, der das Gefühl hatte, sein Denkvermögen wäre von dem Regen aus seinem Kopf gewaschen worden. Rann ihm schon Sabber aus dem Mund?

„Selbstgedrehte Zigaretten haben so etwas Verruchtes an sich, das sich manche zu Nutzen machen, um besonders verwegen rüberzukommen“, erklärte Mia.

„Kann schon sein, aber erstens schmecken sie mir besser, zweitens sind sie billiger, drittens habe ich gelesen, dass selbstgedrehte Zigaretten weniger schädlich sein sollen als Marlboro und Co., und verdammt, ja, es ist scheiß-verwegen, Selbstgedrehte zu rauchen“, proklamierte Jerry ernst.

Schweigen. Sich weitende Pupillen. Zuckende Mundwinkel. Schallendes Gelächter.

„Das war echt gut“, lachte Mia herzlich. „Willst du was trinken gehen?“

„Sicher doch, sehr gerne. Wie heißt du eigentlich?“

„Mia. Und du?“

„Jerry.“

„Was, Jerry? Wie Jerry, die Maus?“

Sie hatte ihn am Haken. Eine Maus fing sich einen Wurm und verschluckte sich am gebogenen Metall der Fischerin.

Von diesem Tag an sahen sie sich in jeder freien Minute. Es hatte den Anschein, als müssten sie die gemeinsame Zeit, die ihnen das Leben bisher vorenthalten hatte, nachholen. Sie fühlten sich nur dann vollkommen, wenn sie den Atem des anderen spüren, wenn sie die lang ersehnte Hand halten, die seit jeher vermisste Stimme hören konnten. Mia hatte ihren Bruder Paul, den sie seit ihrem Auszug von zu Hause nicht mehr gesehen hatte, vollkommen vergessen und Jerry hatte das Gefühl, noch nie eine andere Frau berührt zu haben.

Einige Wochen später trafen sie sich an einem spätherbstlicher Mittwoch, nach ihren Vorlesungen, mit ein paar Freunden in ihrem Stammlokal nahe der Grazer Uni. Wie ein Virus hatte sich das zwielichtige und versiffte, aber gemütliche Pub mit seinen dunkelbraunen Tischen und Stühlen, dem aromatischen Mischbier und den günstigen Gerichten in ihr Leben geschlichen.

Sie aßen, zechten und lachten wie schon oft zuvor, doch an diesem Abend lag etwas in der Luft. Ihr Lächeln war verführerischer, ihre Augen funkelten kesser, sein Kinn war markanter und seine Augenbrauen buschiger. Sie tranken, rauchten und unterhielten sich, bis die Kneipe schloss. Ihre Freunde waren schon früher gegangen und so standen Mia und Jerry alleine auf der Straße und kicherten vor sich hin.

„Zu dir oder zu mir?“, fragte Jerry grinsend und zündete sich eine Zigarette an. Seit langem trug er wieder einmal die Lederjacke, die er vor knapp vier Jahren von seinem Freund Alvaro in England geschenkt bekommen hatte. Ob bewusst oder nicht, Jerry wusste um die Wirkung der Jacke auf Frauen und hatte sie an diesem Abend vielleicht nicht grundlos aus der hintersten Ecke seines Schrankes gefischt.

„Zu mir, würde ich sagen. Dein Bett im Studentenheim ist ja nicht gerade das Größte“, lächelte Mia und klemmte sich ebenfalls eine Zigarette zwischen ihre feuerroten Lippen.

Es wäre nicht die erste Nacht, die sie im selben Bett verbringen würden. Schon ein paar Mal war Mias Kopf schwer auf Jerrys Brust gelegen, doch sie waren damit zufrieden gewesen, die Anwesenheit des anderen zu spüren und die gleiche Luft zu atmen.

„Wie Sie wünschen, meine Dame“, feixte er.

Er öffnete das Schloss, mit dem er sein PUCH Dreigangrad an eine Laterne gekettet hatte, und bat Mia, auf dem Gepäckträger Platz zu nehmen, als wäre es der Rücksitz einer edlen Limousine. Sie schwang sich behände hinter Jerry und umfasste seine Hüfte. Selten zuvor in ihrem Leben fühlte sich eine so simple Handlung dermaßen gut an.

„Alles festhalten, es geht los!“, johlte Jerry, wobei er beinahe das Gleichgewicht verlor.

„Verdammt, reiß dich zusammen!“, schmunzelte Mia.

„T´schuldigung“, stammelte Jerry kleinlaut und radelte mit der Zigarette im Mundwinkel los.

In weiten Schlangenlinien fuhren sie durch die schlafende Stadt, und einige Beinahe-Stürze, zwei überfahrene rote Ampeln und eine Pinkelpause später standen sie vor der Tür zu Mias Wohnung. Äußerlich hatte sich an dem Gebäude nichts verändert, doch in dieser Nacht schien die Wohnung zu pulsieren. Sie lockte das Paar mit einer geheimnisvollen Macht - sie flüsterte und verführte. Nervös steckte Mia den Schlüssel ins Schloss, wobei ihr ein angenehmer Schauer über das Genick krabbelte. Die Tür öffnete sich mit einem kaum hörbaren Knacken. Sie wankten in den kleinen Vorraum, und noch ehe die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen war, fielen sie übereinander her.

„Warte“, stöhnte Mia, „ich will noch schnell duschen gehen.“

„Gut, aber beeil dich!“, keuchte Jerry, dessen Penis ungestüm gegen die Innenseite seiner Jeans drückte.

„Bis gleich“, lächelte Mia aufreizend und verschwand im Bad.

Jerry ging derweil auf den Balkon, um eine Zigarette zu rauchen, doch als er das Wasser im Badezimmer rauschen hörte, übermannte ihn die Lust. Er schnippte den halb abgebrannten Glimmstängel in die Wiese vor dem Haus und schlich zur Badezimmertür. Er hielt den Atem an und lauschte. Nichts. Nur Rauschen – sowohl in seinem Kopf als auch im Badezimmer. Mit zitternden Händen versuchte er die Tür zu öffnen. Sie war nicht abgeschlossen. Er lugte durch den Spalt und konnte Mias straffen Körper erkennen. Sie hatte ihm ihren Rücken zugewandt und das dampfende Wasser lief über ihre elfenbeinfarbene Haut, wie tausend mäandrierende Flussläufe. Bald hier, bald da schossen die Rinnsale und Tropfen dahin, als hätten sie ein Eigenleben. Ihre Hände folgten ihren Rundungen und innerhalb weniger Sekunden hatte Jerry wieder eine Erektion von monumentaler Härte. Langsam öffnete er die Tür immer weiter, als sich Mia plötzlich umdrehte. Sie hatte die Kühle der hereinströmenden Luft gespürt und umfasste ihre Brüste mit bebenden Armen. Ihre grünen Augen, die von verlaufener Wimperntusche umrahmt waren wie von einem düsteren Aquarell, fixierten Jerry, der sich keinen Millimeter mehr bewegen konnte. Für Bruchteile einer Sekunde verwandelten sich Raum und Zeit in eine zähe Flüssigkeit, die kurz davor war, zu stocken, und die alle Geräusche verschluckte. Mias Mundwinkel bewegten sich langsam nach oben und stellten neckisch ihre strahlend weißen Zähne zur Schau. Wie in Zeitlupe ließ sie ihre Arme sinken und mit einem Mal hörte Jerry wieder das Rauschen des Wassers. Sie wartete auf ihn. Er öffnete die Tür vollständig und riss sich die Kleider vom Leib, wobei er fast das Gleichgewicht verlor. Mia kicherte, und er schlüpfte zu ihr in die Dusche. Sie begannen sich zu küssen und bald waren überall Hände, Haare, Beine, Berührungen, Gänsehaut und pulsierende Herzen. Er drang in sie ein und sie nahm ihn gierig auf. Das gurgelnde Wasser umfing ihre Körper wie eine warme, transzendentale Hülle und trug sie fort. Fort an einen Ort, an dem nur sie existierten.

8

„Ja, für ein Freudenmädchen vielleicht, aber doch nicht für eine Braut! Was soll denn dein Zukünftiger von dir denken?“, seufzt ihre Mutter.

„Gar nichts. Nichts soll er denken, wenn er die Unterwäsche sieht. Die Kinnlade soll ihm runter klappen“, verteidigt sich Mia gegen die Ressentiments ihrer Mutter.

„Aber ...“

„Kein aber. Hilfst du mir jetzt mit dem Kleid oder nicht?“, bittet Mia ihre konsternierte Mutter.

„Äh ... ja ... natürlich.“

Mia zwängt sich in das Mieder, das ihren Brustkorb umschlingt wie eine eiserne Jungfrau, und mit vereinten Kräften schaffen es Mutter und Tochter, die feinen, silbernen Häkchen am Rücken zu überlisten. Am unteren Ende des Mieders ist traumhafter Stoff in mehreren wallenden Lagen angenäht und verleiht Mia den Eindruck, als würde sie auf einer Wolke reiten.

„Ich ersticke in dem Ding“, jammert Mia, unter der sich die luftige Wolke allmählich in gepressten Nassschnee verwandelt.

„Schnappatmen und immer nur kleine Portionen essen; so habe ich das bei meiner Hochzeit auch gemacht. Der Stoff wird sich schon noch etwas dehnen“, erklärt ihre Mutter in Erinnerung an ihren eigenen großen Tag.

„Und wie soll ich aufs Klo gehen?“, greint Mia weiter.

„Verkneif es dir! Einfach verkneifen“, sagt ihre Mutter, so freundlich es ihr strapaziertes Nervenkostüm noch zulässt.

„Verdammt!“

In ihren flauschigen Badeschlapfen, ihre weißen High Heels würde sie erst kurz vor der Abfahrt anziehen, wankt Mia zurück ins Wohnzimmer, wo die Visagistin schon ungeduldig auf sie wartet, um ihre Arbeit zu Ende zu bringen.

Das Gesicht im Spiegel

9

Jerry steht im Badezimmer und betrachtet fasziniert sein Gesicht im Spiegel. Er hatte sich beim Rasieren bereits das zweite Mal geschnitten und schwört seiner geschundenen Haut nun hoch und heilig, nie wieder einen Nassrasierer anzufassen. Ob nur er so unversiert ist oder ob sich alle Männer beim Rasieren so ungeschickt anstellen? Gleich wird das Blut über seinen Hals fließen und eine dünne, rote Spur hinterlassen. Seit dem Magic-Mushroom-Desaster vor mittlerweile bald neun Jahren driftet er immer noch von Zeit zu Zeit in eine andere Dimension ab. Gewisse Vorgänge und Geschehnisse faszinieren sein Gehirn dermaßen, dass es sich für einige Augenblicke aus der realen Welt ausklinkt und auf Reisen geht. Wohin, weiß er bis zum heutigen Tage nicht, da er sich meistens an nichts erinnern kann, wenn er wieder zu sich kommt. Es scheint, als würde jemand für wenige flatterhafte Momente Jerrys Motor ausschalten, während die Welt um ihn herum unbeeindruckt ihren Lauf nimmt. Der Kopf sackt nach vorne, die Schultern klappen sich ein wie die Flügel einer Libelle und die Augen schließen sich – solange, bis jemand den Startknopf drückt.

„Jerry beeil dich. Du willst doch deine eigene Hochzeit nicht verpassen!“, ruft Vincent mit einem ungewohnten Vibrieren in der Stimme.

Vor einigen Jahren hatte er von heute auf morgen beschlossen, dass er nicht mehr Dizzy genannt werden wollte. Er meinte damals, dass er keine Sechzehn mehr sei und deshalb ein ordentliches Mitglied der Gesellschaft werden wolle. Diesen Sinneswandel nahmen ihm jedoch weder seine Familie noch Jerry ab. Vielmehr wurde spekuliert, dass es sich um ein weiteres Ablenkungsmanöver von einem seiner Wahnsinnspläne handelte. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass eine Veränderung in Vincents Leben nur der Vorreiter einer eventuellen Katastrophe oder irgendeiner Schindluderei war.

Vincent hatte den Startknopf gedrückt und Jerry ist zurück.

„Ja, ja, ich komme gleich. Hab mich beim Rasieren geschnitten, und das blutet wie verrückt“, japst Jerry etwas verdattert. Wenn er von einer seiner Reisen zurückgeholt wird, ist er jedes Mal für ein paar Momente verwirrt und desorientiert. Gerade so, als risse man einen Schlafenden mitten in der Nacht aus einem lebhaften Traum.

„Gut, besudel bloß nicht dein Hemd! Mia reißt mir den Arsch auf, wenn du nicht wie aus dem Ei gepellt aussiehst“, antwortet Vincent schief grinsend.

„Mach dir da mal keine Sorgen. Du wirst ja nicht mit ihr verheiratet sein“, lacht Jerry.

„Mach dich nur lustig, du Idiot. Du wirst mir noch dankbar sein!“, raunt Vincent.

„Sicher ...“, murmelt Jerry.

Er verlässt das Badezimmer und eilt zu seinem Bett, das nur durch ein schmales Nachtkästchen von Vincents Schlafgelegenheit getrennt ist. Sie hatten sich für die Nacht vor der Hochzeit ein Zimmer in einer urigen Pension in der Nähe von Mias Elternhaus genommen - Mias Mutter war unerbittlich gewesen und hatte Jerry trotz Gegenwehr und der Erklärung, dass Mia und er schon öfter das Bett geteilt hatten, für die letzte Nacht, in der ihre Tochter eine unverheiratete Frau war, aus ihrem Haus verbannt. Tradition ist Tradition!

„In zehn Minuten treffen wir uns unten zum Frühstück!“, trällert Vincent voller Vorfreude und Gusto über seine Schulter hinweg, während er bereits zur Tür hinaus gleitet.

„Alles klar, ich komme gleich. Diese blöden Manschettenknöpfe ...“, stöhnt Jerry, während er hört, wie die Tür krachend ins Schloss fällt. Im Gegensatz zu Vincents unersättlichem Magen fühlen sich Jerrys Innereien an wie Dörrpflaumen, die maximal etwas Wasser aufnehmen können; an feste Nahrung war nicht zu denken.

Als er sein Hemd zugeknöpft und die Krawatte umgebunden hat, schlüpft er in seine Anzughose und die polierten schwarzen Schuhe und blickt ein letztes Mal in den Spiegel, der aussichtslos versucht, die Front eines massiven Wandverbaus aus Eichenholz aufzuwerten.

„Du wirst heute heiraten“, flüstert er seinem Spiegelbild zu und blickt sich selbst in die Seele: Der Zweifler hadert ein Leben lang und selbst der Tod bringt ihm keinen Frieden.

„Mach dich nicht verrückt“, lächelt ihn sein Spiegelbild an, „Mia ist eine wunderbare Frau, und du kannst dich mehr als glücklich schätzen, dass du so eine Schönheit heiraten darfst.“

„Du hast recht“, erwidert Jerry, erstaunt über den Realismus, den sein zweidimensionales Gegenüber an den Tag legt.

„Natürlich habe ich recht. Und jetzt reiß dich zusammen und geh etwas frühstücken, bevor du mir noch ohnmächtig wirst!“, ordnet das Spiegelbild mit Nachdruck an.

Langsam entkrampft sich sein Magen und ein Lächeln huscht über seine Lippen. Er fühlt, wie das Blut durch seinen Körper schießt und ihn endlich mit aufgeregter Vorfreude durchflutet. Nie zuvor in seinem Leben waren Glück und Leid so nahe beieinander gelegen, hatten Zweifel und Zuversicht aufgebrachter um die Vorherrschaft gerungen, war die Möglichkeit größer gewesen, dass alles nur Traum und Wahnvorstellung war, dass er in wenigen Stunden alleine vor dem Altar stehen und zu sich kommen könnte und alles nur Lug und Trug war. Tief durchatmend schüttelt er sich die Benommenheit und alle Unsicherheit vom Leib wie ein Hund, der sich lästiger Flöhe entledigt und verlässt das Zimmer.

Er gesellt sich zu Vincent in den gemütlichen Frühstücksraum der kleinen Pension, als dieser eben den letzten Bissen eines Schinkenbrötchens genüsslich im Mund verschwinden lässt.

„Hey, da bist du ja endlich“, schmatzt er mit vollem Mund. „Dachte schon, du würdest dir dieses köstliche Frühstück entgehen lassen.“

„Niemals. Musste nur noch meinem Magen klar machen, dass er sich entspannen soll, wenn er was zu essen haben will“, erklärt Jerry, als er sich gegenüber von Vincent auf einen Holzstuhl fallen lässt, der daraufhin ein knarrendes Geräusch von sich gibt.

„Das kenne ich. Mir war vorhin auch etwas flau in der Magengegend, aber dann hab ich mir gedacht, dass es ja nicht ich bin, der heute „ja“ sagen muss, und schon ging es mir besser“, scherzt Vincent verschmitzt grinsend.

„Mach du nur deine Witze!“, brummt Jerry, während er eine Semmelhälfte dick mit Butter bestreicht. „Du wirst auch noch dran glauben müssen, wirst schon sehen.“

„Nichts für Ungut, aber bis das passiert, wird noch viel gefrorene Kacke vom Himmel fallen“, lächelt Vincent. Als frisch gebackener Single und Überlebender einiger katastrophal verlaufener Beziehungen steht Heiraten nicht eben ganz oben auf seiner To-do-Liste. Und seitdem ihm seine letzte Freundin beinahe sein makelloses Strafregister und den Führerschein gekostet hatte, hält er jeden, der ernsthaft übers Heiraten nachdenkt, für hochgradig wahnsinnig.