Detective Blair – Jagd nach der Schuld - Lynn Hightower - E-Book
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Detective Blair – Jagd nach der Schuld E-Book

Lynn Hightower

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Beschreibung

Wenn dein Zuhause zur Hölle wird: Der fesselnde Thriller »Detective Blair – Jagd nach der Schuld« von Lynn S. Hightower als eBook bei dotbooks. »Wir haben eine Familie gefunden. Sie … sie sind alle tot.« Als der Funkspruch kommt, den jeder noch so abgebrühte Polizist fürchtet, macht Detective Sonora Blair sich auf das Schlimmste gefasst. Eine blutige Spur der Verwüstung zieht sich durch das Haus der Opfer. Die Täter haben das Paar, seine Kinder und selbst das erst zwei Monate alte Baby kaltblütig ermordet. Schon bald wird klar, dass hier ein Exempel statuiert werden sollte und skrupellose Kredithaie hinter den Morden stecken müssen. Sonora weiß, dass sie einen kühlen Kopf behalten sollte, aber das Entsetzen und die Wut über die Tat lassen sie leichtsinnig werden. Denn die eiskalten Abzocker sind der Polizei immer einen Schritt voraus und beobachten Sonora längst mit Argusaugen – und geladenen Waffen … »Eine mitreißende Story mit atemberaubendem Tempo – und endlich einmal etwas ganz anderes als das, was man sonst zu lesen bekommt.« The Sunday Mail Jetzt als eBook kaufen und genießen: der packende Thriller »Detective Blair – Jagd nach der Schuld« von Lynn S. Hightower ist der vierte und letzte Band ihrer Reihe um Cincinnatis tougheste Polizistin, Sonora Blair! Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 439

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Über dieses Buch:

»Wir haben eine Familie gefunden. Sie … sie sind alle tot.« Als der Funkspruch kommt, den jeder noch so abgebrühte Polizist fürchtet, macht Detective Sonora Blair sich auf das Schlimmste gefasst. Eine blutige Spur der Verwüstung zieht sich durch das Haus der Opfer. Die Täter haben das Paar, seine Kinder und selbst das erst zwei Monate alte Baby kaltblütig ermordet. Schon bald wird klar, dass hier ein Exempel statuiert werden sollte und skrupellose Kredithaie hinter den Morden stecken müssen. Sonora weiß, dass sie einen kühlen Kopf behalten sollte, aber das Entsetzen und die Wut über die Tat lassen sie leichtsinnig werden. Denn die eiskalten Abzocker sind der Polizei immer einen Schritt voraus und beobachten Sonora längst mit Argusaugen – und geladenen Waffen …

»Eine mitreißende Story mit atemberaubendem Tempo – und endlich einmal etwas ganz anderes als das, was man sonst zu lesen bekommt.« The Sunday Mail

Über die Autorin:

Lynn S. Hightower wurde in Tennessee geboren und lebt heute in Kentucky. Sie studierte Journalismus sowie Kreatives Schreiben. Um ihren Romanen authentischen Charakter zu geben, beobachtet sie die Arbeit der lokalen Mordkommission aus nächster Nähe, begleitet Streifenbeamte und war Zeugin von Autopsien. 1994 gewann sie den renommierten Shamus Award.

Lynn S. Hightower veröffentlichte bei dotbooks außerdem »Detective Blair – Spiel mit dem Feuer«, »Detective Blair – Kampf mit dem Gesetz«, »Detective Blair – Wettlauf mit der Zeit«.

Die Website der Autorin: lynnhightower.com

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eBook-Neuausgabe März 2022

Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 2000 unter dem Originaltitel »The Debt Collector« bei Delacorte Press, New York. Die deutsche Erstausgabe erschien 2002 unter dem Titel »Zahltag« bei Droemer Knaur.

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 2000 by Lynn S. Hightower

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2002 Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München

Copyright © der Neuausgabe 2022 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Mihai-Bogdan Lazar

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)

ISBN 978-3-96655-933-1

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Lynn S. Hightower

Detective BlairJagd nach der Schuld

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Frauke Czwikla

dotbooks.

Für den besten Sohn der Welt

Alan Hightower; JJSMC (United States Marine Corps)

SEMPER FI

Kapitel 1

… bei Durchsicht unserer Unterlagen stellen wir fest, dass Ihre letzte Rechnung bis heute nicht beglichen wurde. Falls Sie diesen Betrag zwischenzeitlich überwiesen haben, betrachten Sie dieses Schreiben als gegenstandslos. Wir wissen Ihre Aufmerksamkeit und Zusammenarbeit in dieser Sache zu schätzen. Wir bitten Sie, in Zukunft alle laufenden Verbindlichkeiten bei Eintreffen der Rechnung zu begleichen. Durch die Befolgung dieser Bitte vermeiden Sie weitere Eintreibungsmaßnahmen, einschließlich der Einschaltung eines Inkassobüros.

Als alles vorüber war, oder zumindest so weit vorüber, wie so eine Angelegenheit vorüber sein kann, konnte Sonora im Rückblick den exakten Moment bestimmen, von dem an alles schiefging. Es gab Zeiten, da wollte sie dem Fall die Schuld geben, Zeiten, in denen sie dachte, dass, hätten sie und Sam in jener sommerlich milden Nacht im März nicht Bereitschaft gehabt, alles anders gekommen wäre, die Dinge niemals so außer Kontrolle geraten wären.

Und dann dachte sie wieder, nein, sie hatte andere Fälle untersucht, Fälle die genauso schlimm, ja vielleicht noch schlimmer gewesen waren. Vielleicht war sie selbst das Problem. Vielleicht war sie zu verletzlich gewesen. Aber vielleicht lag es auch gar nicht an ihr, wer zur Hölle konnte das schon wissen. Wenn man es genau betrachtete, war das Leben eine Reise. Man setzt einen Fuß vor den anderen und entscheidet sich für einen Weg und die Dinge geschehen ‒ gute, schlechte, es gibt keine Garantien. Es ist einfach eine Reise. Ein Trip, den man machen muss.

Der, wie so oft bei der Polizeiarbeit, mit dem Klingeln eines Telefons seinen Anfang nahm.

In der Nacht zuvor hatte sie, vielleicht war es eine Vorahnung, von etwas so Altem und Bösem wie der Erbsünde geträumt. Aber als das Telefon klingelte, hatte Sonora, die Nase tief in einem Buch vergraben, den Traum vergessen. Sie hatte sich auf dem Sofa zusammengerollt, las Penelope und der Dandy von Georgette Heyer und der Duft des im Backofen in Senf-Barbecue-Sauce schmorenden Schweinebratens erfüllte die Küche. Clampett, der dreibeinige Hund, der ganze einhundertsechs Pfand auf die Waage brachte, lag vor dem Herd und bewachte den Braten.

Der Braten war in Sicherheit.

Heather, sie ging in die sechste Klasse, und Tim, vor kurzem war er siebzehn Jahre alt geworden, sahen fern: eine Wiederholung von Home Improvement. Danach kamen Die Simpsons.

Ohne Zweifel hatten sie Hausaufgaben zu erledigen. Vor zwanzig Minuten hatte Sonora von ihrem Buch hochgesehen und Tim, der sich auf einem Sofakissen lümmelte, das Schaumstoffkügelchen wie Popcorn verlor, und Heather, die ihre Beine über einen Sitzsack gefläzt hatte, den sie ihr zu ihrem Geburtstag auf einem Flohmarkt gekauft hatten, betrachtet und sich für Ruhe und Frieden an Stelle von elterlichen Erziehungsmaßnahmen entschieden.

Eine gute Entscheidung. Einen Augenblick, der kam und ging, wie es Augenblicke so an sich haben, konnte man ebensowenig festhalten wie Wasser in der hohlen Hand.

Sie ließ das Buch sinken, unwillig, es ganz aus der Hand zu legen, während sie dachte, dass es wohl zu spät war, um Salat zu machen. Sie stand auf, um den Reis abzustellen, und sah, dass Tim ihr das schnurlose Telefon reichte.

»Für dich«, sagte er.

Sie war nicht sicher, wer überraschter war. Sie lehnte sich über die Arbeitsfläche, während sie Clampett mit den Zehen kraulte. Er schenkte ihr sein Hundelächeln. Sein Speichel hatte kleine Pfützen auf dem Fußboden gebildet. Ein Tribut an ihre Kochkunst.

»Blair«, meldete sie sich.

»Sonora?«

»Sam, Liebling. Ich habe dich seit mindestens zwei Stunden nicht mehr gesehen.«

»Soll ich dich mit dem Firmenwagen abholen oder triffst du mich dort?«

Etwas in seiner Stimme. »Wo ist dort, Sam?«

»Das findest du nie. Ich hole dich lieber ab.«

»Worum geht es?«

Seine Stimme wurde ausdruckslos. »Mord an einer Familie.«

Sonora legte auf. Sah die Kinder an, die sie beobachteten. Erfahrene Polizistenkinder. Sie wussten, dass etwas nicht in Ordnung war.

»Gehst du zur Arbeit?«, fragte Tim desinteressiert. Sie wusste, dass er am Telefon hängen würde, sobald sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte.

»Ja«, erwiderte sie. »Esst ohne mich und macht die Küche hinterher sauber. Hast du verstanden, Tim?«

Er nickte.

»Darf ich mir die Zehennägel lackieren?«, fragte Heather.

»Im Badezimmer, nicht hier drin.« Nicht, dass es darauf ankam, es ging ums Prinzip. Sonora musterte flüchtig das Sofa. Staubiges Rosa, die Polster voller Tintenflecken, übersät mit Hundehaaren.

Sie holte ihre Tasche. Schaltete den Fernseher ab. Die Kinder schauten sie missmutig an.

»Kommt in die Gänge und macht euch Abendbrot. Stellt Clampett einen kleinen Teller mit Braten hin. Heather, du kümmerst dich darum.« Sie wusste, dass Tim es vergessen würde. »Und schließt die Türen ab. Habt ihr mich verstanden?«

Tim nickte. »Essen und abschließen. Hast du deine Waffe geladen, Mom?«

»Sam holt mich ab, ich tue es im Auto.«

»Stell den Fernseher wieder an«, sagte er.

»Stell ihn selber wieder an.«

Sie griff nach ihrem schwarzen Allzweckblazer und der Krawatte, die sie über die Lehne eines Küchenstuhls gehängt hatte, schnürte ihren linken Reebok wieder zu und war auch schon draußen, stand im Zwielicht, wartete auf Sam.

Kapitel 2

Mord an einer Familie. Das war der Ruf, vor dem Sonora sich fürchtete, der Ruf, dem kein Angehöriger der Mordkommission, gleichgültig wie erfahren und abgebrüht er auch immer sein mochte, folgte, ohne dass Angst in ihm aufflackerte; unglückliche Schmetterlinge tief im Bauch.

Sie stand auf der einen Seite der Veranda, direkt an der Garagenecke. Einer ihrer Nachbarn bog in die Einfahrt gegenüber ein und winkte ihr zögernd zu. In einer Gemeinschaft junger Familien mit kleinen Kindern war eine verwitwete Beamtin der Mordkommission mit Teenagern ein Objekt der Furcht und Faszination. Sie konnte es ihnen nicht verdenken. Halbstarke Jungs, aus deren Autolautsprechern dumpfe Bässe wummerten, hatten sie früher auch nervös gemacht, bevor sie selbst einen ihr eigen nannte.

Sam hatte ihr die Adresse nicht genannt, aber es würde ein Haus genau wie das gegenüber sein, genau wie das nebenan.

Einige Polizisten machten sich über Otto Normalverbraucher wegen seiner Naivität lustig, verhöhnten Eltern, die nicht an jeder Ecke einen Pädophilen sahen (von Tag zu Tag wurden es weniger), und Menschen, die das Konzept des zweibeinigen Bösen nicht völlig verinnerlicht hatten. Sonora wusste, dass diese Verachtung dem Neid entsprang.

Sie hatte nie jemandem, nicht einmal Sam, verraten, wie häufig sie die Verbrecherkartei der Kinderschänder durchging, die die Straßen von Cincinnati heimsuchten. Es gab immer wieder Momente großer innerer Verunsicherung, wenn sie, zum Beispiel im Supermarkt oder wenn sie die Kinder zu Graeters mitnahm, glaubte, ein bekanntes Gesicht zu erkennen. Und sich nicht erinnern konnte, ob sie das Gesicht von einem Elternabend der Schule her kannte oder ob es zu einem Typen aus der Verbrecherkartei gehörte, der sich nach seiner Gefängnisstrafe wegen Vergewaltigung einer Achtjährigen wieder auf freiem Fuß befand.

Sie warf einen Blick über die Schulter auf ihr eigenes Haus: Die Vorhänge im Wohnzimmer wären noch nicht zugezogen, Heather lag zusammengerollt auf dem Sofa, Tim lief telefonierend den Flur auf und ab. Es schien so hell dort drin, so gemütlich, während das Sonnenlicht verschwand und die Dunkelheit sich verdichtete.

Sie fühlte sich irgendwie losgelöst. Vielleicht lag es einfach daran, dass ihr, als sie in das Wohnzimmer schaute, bewusst wurde, dass ihre Babys erwachsen wurden und bald fort sein würden, das mit dem Älterwerden aufdämmernde Wissen, dass das Leben nicht verharrt, dass alles sich ändert, gerade wenn man meint, die Dinge im Griff zu haben, und man loslassen muss, ob man will oder nicht.

Ein seltsames Gefühl durchströmte sie, wie Heimweh, nur dass sie nicht wusste, was Heimat war. Sie drückte sich an die warme, raue Ziegelwand ihres Hauses und schaute die Straße hinunter. Der goldfarbene Taurus kroch um die Straßenecke und bog in ihre Einfahrt ab, die Scheinwerfer schimmerten milchig in der Dämmerung. Sie konnte Sam hinter dem Steuer des Autos kaum erkennen.

Sie bewegte sich nicht. Sie hatte ein schlechtes Gefühl. Wenn sie sich nicht umwandte und mit irgendeiner Entschuldigung ‒ sie war krank, irgendetwas, egal was ‒ ins Haus zurückkehrte, könnte sie gehen und wieder zurückkommen und alles würde anders sein. Nichts würde jemals wieder so sein wie zuvor.

Sie spürte eher als dass sie es sah, dass Sam sie anschaute. Lauschte dem laufenden Motor. Wusste, dass Sam sich fragte, warum sie sich nicht von dem harten Komfort der ausgebleichten roten Ziegel in ihrem Rücken löste. Sonora legte den Gurt ihrer Tasche über ihre linke Schulter, das Gewicht der Beretta drückte sanft auf ihre Hüfte, und machte sich auf den Weg zur Arbeit.

Kapitel 3

»Es ist in Olden«, teilte Sam ihr mit. Etwas wie Bedauern lag in seiner Stimme. Seine Kleidung wirkte ausgelaugt ‒ seine Khakihose knitterte an Bund und Knien, sein Krawattenknoten war verrutscht, ein Zipfel seines blauen Baumwollhemdes hing über den Hosenbund, der Kragen war aufgeknöpft und hing schlaff herunter. Er fuhr sich mit dem Kamm durch seine Haare ‒ glatt, braun und seidig, auf der Seite gescheitelt, eine Strähne hing ihm ins Auge. Eine Rasur war überfällig.

Sonora fröstelte, ihr Verstand füllte sich plötzlich mit den Bildern des Traums der vergangenen Nacht. Seltsame Sache, Träume, wilde Tiere des Verstands. Versucht man sie zu erzwingen, verbergen sie sich und verschwinden. Aber entspannt man sich, lässt sie von allein herankommen, dann wird das Bewusstsein von Bildern, Gefühlen und Erinnerungen überschwemmt, so als ob Träume dadurch hervorgelockt würden.

Sie hatte von ihrem Bruder Stuart geträumt, der nun schon seit vier Jahren tot war ‒ war es wirklich schon so lange her? Eine kleine blonde Soziopathin hatte ihn umgebracht, die mit Sonora ein Todesspiel spielte. Berufsrisiko, aber es sollte die Familie nicht berühren, begriffsstutziges Böses, das sich nicht an die Regeln hielt, und es hatte ihr den Bruder genommen.

Das Trauerding. Alles wie gehabt.

»Sonora? Alles in Ordnung bei dir?«

So still zu sein war für sie beide untypisch. Sonora schaute ihn von der Seite an, sie fragte sich, ob er wieder einmal Streit mit seiner Frau hatte oder einfach nur müde war.

»Sam, träumst du viel?«

Er sah sie an. »Ob ich träume?«

»Ja. Träumen.«

Dass ihre Frage ihn weder überraschte noch irritierte, war ein deutliches Zeichen, dass sie schon zu lange zusammenarbeiteten.

»Nur wenn ich Pizza mit Peperoni esse. Oder mit Chili.«

»Du träumst, wenn du Chili gegessen hast?«

»Unter anderem.« Er steuerte den Taurus über die Zufahrt zu einem Neubaugebiet, vorbei an einem kleinen Teich. »Hier ist es. Das ist Olden.«

Sonora sah so viele Dinge, ihre Sinne waren geschärft, die Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf, ihr Copinstinkt und ihre Nervosität machten sie wachsam. »Hübsch hier«, war alles, was sie sagte.

Sam nickte. »Einer meiner Cousins lebt zwei Straßen weiter.«

»Wirklich?«, fragte Sonora.

»Nein, das hab ich erfunden.«

»Genauso wie den Cousin?«

»Der lebt zwei Straßen weiter, in Canasta.« Sam trat leicht auf die Bremse und brachte den Taurus beinah zum Stehen, um fünf Enten die Straße zum Wasser hin überqueren zu lassen. Sonora hatte nie zuvor bemerkt, wie sie sich nach vorne warfen, sich selbst mit den Halsmuskeln weiterzogen.

Sam kontrollierte den Rückspiegel. Blinkte links. »Kennst du diese Gegend?«

»Nein.«

»Das kommt noch.«

Die Halogenlampen der Straßenbeleuchtung warfen ein weiches Licht auf die jungen Bäume, die weißen Randsteine aus Beton, auf die Häuser mit ihrem frischen Anstrich und der schimmernden Verkleidung ‒ all die Versprechungen und Verheißungen von rohem Holz und neuen Bauten.

Heute war der dritte Tag, der den Sommer schon erahnen ließ, der Winter war nur eine Erinnerung. Der ungewohnte Sonnenschein lockte die Menschen aus ihren Häusern. Ein Mann in ausgebeulten grünen Hosen führte einen muskulösen Golden Retriever spazieren, neben ihm schob eine Frau einen dunkelblauen Kinderwagen. Der Rasen des Hauses an der Ecke Trevillain und Olong war zum ersten Mal in diesem Jahr gemäht worden und Büschel frisch geschnittenen Grases wehten über den Bürgersteig. Das Verandalicht brannte, obwohl es gerade erst dämmerte und man noch genug sehen konnte. Kinder in Cordhosen und Sweatshirts rollten sich über den frisch gemähten Rasen einen kleinen Hügel hinunter. Es begann gerade kühl und frisch zu werden. Morgen beim Aufwachen würden die Kinder heiser sein.

Sam bog nach rechts ab und die Gegend veränderte sich, die Häuser wurden kleiner und die Bäume, die echten Schatten spendeten, höher, alles sehr gepflegt, die Rasenkanten sauber abgestochen, die Gärten fantasielos bepflanzt, aber makellos. Die Autos in den Einfahrten waren zwischen drei und zwölf Jahre alt, selten Wagen mit Allradantrieb oder Importe, nur solide Ford Probes und Crown Victorias und gelegentlich ein Firebird oder TransAm, der die Anwesenheit von Teenagern verriet.

Jemand hatte die Feuerwehr alarmiert. Menschen strebten den Bürgersteig entlang, ein paar von ihnen hielten kleine Kinder an der Hand. Sie wirkten nur ein wenig neugierig, was Sonora davon überzeugte, dass sie von dem Auflauf angezogen wurden und keine Ahnung hatten, was wirklich geschehen war.

Zwei Rettungswagen flankierten das Fahrzeug der Feuerwehr, Lichter blinkten, die Sanitäter standen dicht beieinander, redeten und rauchten.

»Keine Überlebenden«, sagte Sonora.

Kapitel 4

Das Haus lag am Ende einer Sackgasse ‒ 436 Edrington Court. Der Rasen war üppig und reif für den ersten Schnitt. Er war noch nicht zu hoch. Er konnte noch eine Woche warten, es sei denn, es würde viel regnen.

Sonora zögerte auf dem Weg zum Haus, sie war sich der Menge auf der kreisrunden Einfahrt kaum bewusst, des Feuerwehrwagens, der Männer in blauen Hemdsärmeln. Sie musterte die Wagen in der Einfahrt ‒ ein älterer Saturn, ziemlich verbeult, neben einen braunen Chrysler LeBaron gequetscht.

Sie schaute über ihre Schulter und zählte drei Streifenwagen, die so geparkt waren, dass sie den Rettungsfahrzeugen nicht den Weg versperrten. Streifenbeamte hielten die Leute davon ab, mehr als ein paar Meter an die Grundstücksgrenze zu treten, ihre Stimmen klangen gerade eben noch höflich.

Sie ging langsam voran, ihre Konzentration hüllte sie ein wie ein Tuch. Der Lärm schwoll ab, zumindest in ihren Ohren, und sie bewegte sich mit methodischer Präzision, ohne jede Eile, wie ein Taucher auf dem Meeresgrund ‒ so verhielt sie sich, wenn sie arbeitete; eigentlich ungewöhnlich für sie, denn normalerweise war sie ein A-Typ, eine, die sich über jede Kleinigkeit aufregte.

Am Ende der Einfahrt blieb sie stehen und untersuchte den Briefkasten. Die Flagge war oben. Jemand hatte Die Stinnets in weißen Buchstaben auf das matte Schwarz gemalt, und daneben klebte ein Abziehbild eines roten Vogels mit gelbem Schnabel.

Sonora zog ein Paar Gummihandschuhe aus der Tasche, drehte sich diskret um, um sie überzustreifen, und öffnete den Briefkasten. Er war leer. Sie hörte das Dröhnen eines Motors und schwerer Reifen. Der Wagen der Spurensicherung kroch die Sackgasse entlang, der Fahrer hatte Angst vor den Rettungswagen und amoklaufenden Kindern.

Sie warf noch einen Blick auf die aufrecht stehende Flagge auf dem Briefkasten und schaute noch einmal hinein. Da war etwas ‒ ein Stein oder ein kleiner grauer Kiesel. Sonora steckte ihn in einen Spurensicherungsbeutel und legte ihn wieder hinein. Mit gekrümmtem Finger winkte sie einen der Streifenpolizisten herbei. Er sah den Ausweis an ihrer Krawatte, die Handschuhe und eilte heran.

»Ja, Ma’am?«

Sie las sein Namensschild. »Officer Byrd? Bleiben Sie bitte hier bei dem Briefkasten und sagen Sie der Spurensicherung, sie sollen ihn gründlich einstäuben.«

Er nickte und tat exakt das, was ihm aufgetragen worden war. Die Grundausbildung der Polizisten war eine wundervolle Sache. Sonora fragte sich, ob es eine Möglichkeit gab, ihren Sohn dorthin zu schicken, nur so zum Spaß.

Meine Kinder, beruhigte sie sich selbst, sind sicher zu Hause.

Ihre Haare hingen ihr in die Augen. Sie schob sie mit dem Handgelenk aus der Stirn und ging weiter die Einfahrt hinauf.

Der LeBaron war offensichtlich in aller Hast geparkt worden: Seine Reifen standen in schrägem Winkel, die Tür auf der Fahrerseite stand auf. Er vermittelte das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Als Sonora sich näherte, konnte sie auf dem Weg einen Bund mit Autoschlüsseln erkennen, direkt unter der geöffneten Tür. Sie beugte sich hinab. Die Schlüssel, zehn an der Zahl, waren an einem Messingring befestigt, an dem ein Lederstreifen mit der Aufschrift »Jeep« befestigt war.

Jeep? Konnten sie keinen Schlüsselbund mit einem Schild finden, auf dem »LeBaron« stand?

Die Innenausstattung des LeBaron war schwarz. In dem Getränkehalter neben der Konsole stand ein rot-weißer Kaffeebecher aus Plastik, der mit Reese’s-Cup-Papierchen vollgestopft war. Auf den genoppten Fußmatten, die ziegelrot waren und nicht zum grauen Teppich passten, befand sich Schmutz. Der Rücksitz war vollgemüllt mit Zeitungen, rosa Rechnungen, einer Schirmmütze mit der Aufschrift »Glidden« und einer überfüllten schwarzen Kunstledertasche, aus deren Mitte ein Stapel Notizpapier wie eine Zunge heraushing. In der linken Ecke stand ein Babysitz umgekehrt zur Fahrtrichtung.

Die Scheinwerfer brannten, wenn auch schwach, und ein rotes Glühen auf dem Armaturenbrett signalisierte, dass die Batterie fast leer war.

Sonora trat einen Schritt vom Auto zurück und warf einen Blick über ihre Schulter auf die Vorderseite des Hauses. Direkt neben der Veranda sah sie ein lila und grünes Dreirad ‒ die abgefahrenen Gummireifen verbeult und von altem Matsch und Asphalt verschmutzt. Ein Polizist mit bleichem Gesicht stand auf der Zementveranda. Er wandte den Blick vom Rettungswagen und dem Dreirad ab. Er hätte aus Stein sein können. Die Eingangstür, dunkelgrün, mit einem Trittschutz aus Messing, war halb geöffnet.

Sonora schaute in den Saturn, der sauber auf der rechten Seite der Einfahrt geparkt worden war. Ein Tiegel mit zuckerwatterosa Lipgloss lag auf der Ablage der Beifahrerseite, und eine Beanie-Baby-Schildkröte baumelte vom Rückspiegel. Ein Sweatshirt, butterblumengelb, war zusammengeknüllt, mit der Innenseite nach außen, auf dem Beifahrersitz liegengelassen worden, obenauf thronte ein Paar leuchtend roter Leinenschuhe.

Sonora machte den ersten Eintrag in ihrem geistigen Notizbuch. Weiblich, zwischen sechzehn und achtzehn. Kleinkind, zwischen drei und sechs Jahre alt. Sie schlug ihren Notizblock auf. Schrieb rasch. Ihre Handschrift war noch nie gut gewesen, aber jahrelange Polizeiarbeit hatte sie gelehrt, leserlich zu schreiben.

Jemand hatte entlang des Fußwegs der zur Veranda führte Blumenzwiebeln gesetzt. Krokusse, lila und gelb und weiß.

Sonora stieg zur Veranda hinauf, direkt hinter Sam, der stehengeblieben war, um sich mit dem Streifenpolizisten an der Tür zu unterhalten ‒ noch ein Anfänger mit schwarzen Haaren, der Schweiß perlte von seinen Schläfen.

»Geht es Ihnen gut?«, hörte sie Sam mit leiser, vertraulicher Stimme fragen.

Der Junge nickte.

Sam wartete. Seufzte. »Womit haben wir es zu tun?«

»Wir haben die Nachbarn befragt. Wir nehmen an, dass hier eine fünfköpfige Familie lebt.«

»Sie nehmen an?«, fragte Sonora.

Sam sah sie verärgert an.

»Sie nehmen an?«, fragte sie noch einmal.

»Ja, Ma’am.« Der Streifenjunge nickte. Er räusperte sich, hielt die Augen gesenkt, konzentrierte sich auf seine Notizen. »Männlicher Erwachsener, Mitte Dreißig, der Vater, Carl Stinnet, tot, seine Leiche befindet sich im Wohnzimmer. Weiblicher Teenager, sechzehn, Tammy Stinnet, in einem der Schlafzimmer. Willie Stinnet, Spitzname Wee-One, zwei Jahre alt, im Wohnzimmer, zusammen mit dem Vater. Weibliche Erwachsene, die Mutter, Joy Stinnet, vermisst. Weiblicher Säugling, zwei Monate, Chloe, Spitzname Baby-Bee, vermisst.«

»Hat irgend jemand etwas gesehen? Oder gehört?«, fragte Sam.

Der Officer nickte. »Ein Auto, das den ganzen Nachmittag vorm Eingang parkte. Ein alter Monte Carlo, viertürig, mit Rostschutzfarbe auf der rechten Stoßstange und unter der Tür, Baujahr ’87 oder ’88.«

»Ziemlich genau.«

»Wir hatten Glück.« Der Streifenjunge senkte den Kopf. »Ein Teenager unten an der Straße. Er bemerkte ihn heute nachmittag, als er von der Schule nach Hause kam.«

»Hat er jemanden gesehen?«, erkundigte sich Sonora.

»Nicht, dass er sich erinnern kann. Aber eines der Familienautos, ein weißer Jeep Grand Cherokee Laredo, Baujahr ’97, wird vermisst.«

»Ist schon ein Fahndungsbefehl raus?«, fragte Sam.

Der Streifenjunge nickte. »Erledigt, Sir.«

Sam klopfte dem Jungen auf die Schulter und verschwand nach drinnen. Sonora sah noch einmal zurück auf die Krokusse, dann folgte sie ihm. Sam war im Flur stehengeblieben, und sie rannte in ihn hinein, prallte mit der Nase gegen seinen Rücken.

»O Jesus, lieber Gott«, sagte er.

Sie würde sich daran erinnern. An die Art, wie er es gesagt hatte. O Jesus, lieber Gott.

Kapitel 5

Sie hatten den Hund der Familie umgebracht. Er war tapfer gestorben, hatte eine breite Blutspur hüfthoch an der Wand hinterlassen, ein Knurren verzerrte noch sein Gesicht, eine Kugel saß in seinem Bauch, eine weitere steckte in seinem linken Schulterblatt. Der Vater war ungefähr sieben Meter von dem Hund entfernt gestorben, man hatte ihn an einen Ahornstuhl gefesselt zurückgelassen. Der Stuhl war unter seinem Gewicht zur Seite gestürzt und von der Sofaecke auf halbem Weg aufgehalten worden. Es war ein höllischer Kampf gewesen.

Der Stuhl, auf dessen Sitzfläche ein rot kariertes fleckiges Sitzkissen festgebunden war, sah aus, als ob er nicht hierhergehörte, als ob er aus der Küche hereingeschleift worden wäre. Eines der Beine war durchgebrochen, eine Kugel, vermutete Sonora. Die Handgelenke des Mannes waren mit Kordeln gefesselt worden, deren blutdurchtränkte Enden zwischen den Stäben der Rückenlehne hinunterhingen.

Sonora musterte den Hund. Sie nahm an, dass die Wunde in der Schulter die erste gewesen war. Vom Anblick der Blutspuren her zu schließen, war der Hund noch eine Weile umhergelaufen. Sie kannte sich mit Blutspuren aus, und sie fragte sich, ob all das Blut wirklich nur von dem Hund stammte. Sie glaubte es nicht.

Einen Moment lang dachte sie an Clampett, der sie und die Kinder beschützte, das Gesicht vom Alter weiß gesprenkelt und voll hündischer Weisheit. Dann machte sie innerlich zu, spürte die schaurige Eiseskälte, die sie umfing ‒ vertraut, irgendwo zwischen Schock und Resignation.

Sie schaute weg. Und gleichzeitig überall hin.

Es war ein hübsches Haus, sauberer als die meisten, jedenfalls unter normalen Umständen, wovon im Augenblick keine Rede sein konnte.

Die Bücherregale in der Ecke waren eingebaut, weiß lackiert und gesprenkelt mit Blut und jener anderen dünnen, dunklen Substanz. Kaffee? Glasbruchstücke und die Überreste von etwas, dass aussah wie ein zerschmetterter Kaffeebecher, flogen überall herum. Band G einer Enzyklopädie und einige zerlesene Exemplare des Scientific American hatten sich mit einer braunen Flüssigkeit vollgesogen. Ein Katalog der Pottery Barn war in zwei Hälften zerrissen und auf den Boden geworfen worden.

Der Videorekorder war eingeschaltet, das Fernsehbild statisch, der Ton abgedreht. Eine leere Hülle lag geöffnet oben auf dem Fernseher, Wallace und Gromit: Die Technohose. Zeichentrickfiguren. Ein Hund auf dem Cover, der grinste.

War das Wallace, fragte sich Sonora, oder Gromit?

Der Teppich war ziemlich neu, in einer Farbe, die Irisches Leinen genannt wurde. Sie wusste es von den Mustern, die sie sich angesehen hatte, als das Verlangen nach einem neuen Teppich so überwältigend geworden war, dass sie sich einige ausgesucht hatte.

Er würde ersetzt werden müssen.

Sonora registrierte, dass die Vorhänge über dem Panoramafenster locker herabfielen. Die goldfarbene Kordel stammte demnach von dort.

Also Gelegenheitstäter. Wer auch immer es gewesen war, hatte kein eigenes Seil mitgebracht.

Sie ging zurück zum Vater und hockte sich neben Sam, der die immer noch gefesselten Hände des Mannes so weit anhob, wie es die Kordeln zuließen. Ein Streifen weißer Haut am linken Handgelenk hob sich stark gegen die tiefe Bräune des Unterarms ab. Was Sonora verriet, dass dieser Mann viel Zeit im Freien verbracht hatte und ihm die Uhr gestohlen worden war.

Es war wegen seines zerschlagenen Gesichts schwer zu beurteilen, aber sie schätzte, dass er gut ausgesehen hatte. Er trug hellbraune Chinos, die voller Blutflecken waren, und ein am Hals offenes Polohemd. Es hatte sich von selbst geöffnet, als eine Kugel in den Adamsapfel eingedrungen war und ihn getötet hatte.

Sie fragte sich, wie er wohl gestern ausgesehen haben mochte. Sie würde sich die Familienfotos ansehen müssen.

Sein linkes Auge war zugeschwollen und ein eingetrockneter Streifen Blut rann aus seiner ebenfalls geschwollenen Nase. Auf dem Hemd befand sich Erbrochenes, mittlerweile eingetrocknet, eine gelbbraune Kruste.

Sam drehte die Hände vor- und zurück und stieß einen leisen Pfiff aus. Wenn reine Willenskraft ausgereicht hätte, ihn zu befreien, wäre Carl Stinnet schon lange nicht mehr an diesen Stuhl gefesselt gewesen, aber die dicke Polyesterkordel mit einem Durchmesser von gut zwei Zentimetern hatte es unmöglich gemacht.

Das rechte Auge des Mannes, von einem kühlen Grau und blutunterlaufen, stand weit offen und war unversehrt. Sonora betrachtete sein rechtes Bein. Eine Kugel hatte sein Schienbein zerschmettert und war durch die Wade ausgetreten, dieselbe Kugel, die auch das Stuhlbein getroffen hatte.

»Die Uhr fehlt.« Sam kontrollierte die Hosentaschen des Mannes. »Keine Brieftasche.«

Sonora beugte sich tiefer über die Leiche. »Sam, hast du eine Pinzette oder so was?«

Er hob die Augenbrauen, was sie ärgerte.

»Lass das, Sam.«

»Lass was?« Er reichte ihr eine spitze Zange mit roten Griffen.

»Mich so mit hochgezogenen Augenbrauen anzusehen.«

»Warum nicht?«

»Weil ich es nicht mag, darum nicht. Hier, schau dir das an.«

»Was ist das?«

»Ich weiß nicht, deshalb frage ich dich ja. Es sieht aus wie ein kleiner Kiesel oder so was, aber ich habe genau so einen im Briefkasten gefunden, und dieser hing im Haar von diesem Mann.«

Sam nahm die Zange. Unterzog den Kiesel einem Schnüffeltest, zuckte die Achseln, zog einen Spurensicherungsbeutel aus der Tasche. Der Beutel blieb hängen und zog drei weitere Beutel hinter sich her. Sonora trennte sie voneinander und zog einen davon auf.

»Was ist das?«, fragte sie.

»Irgendein Ding, verdammt, ich weiß es nicht. Wir schicken es ins Labor. Vermutlich einfach ein Stein.«

»Aber im Briefkasten war auch einer, Sam, hast du überhaupt zugehört?«

»Ein Stein?«

»Ja, genau wie dieser. Ich finde das merkwürdig.«

Sam hockte sich auf die Fersen. Sah sie eindringlich an. »Beiß dich da nicht fest, Sonora. Wir müssen uns hier noch jede Menge Zeug ansehen.«

»Meinst du?«

Sonora hörte Stimmen, schwere Schritte auf der Veranda, Männer in Stiefeln. Wartend. Die Techniker der Spurensicherung.

Sam erhob sich und sie schaute zurück durch den Raum zu dem Hund. Da war etwas, hinter dem Sofa. Sie hielt sich nicht damit auf, aufzustehen, sondern kroch auf allen vieren zu dem blauen Streifen.

Sie sah es, als sie um die Ecke des Sofas kroch ‒ eine winzig kleine Faust, pummelig, in einen Ärmel aus blauer Baumwolle geschmiegt. Ein kleiner Junge, zwei oder drei, lag zusammengerollt neben dem Schwanz des Hundes. Die Augen des Kindes waren halb geöffnet, wie bei einem Komapatienten, seine Wangen zeigten Tränenspuren, die schon lange getrocknet waren. Sonora berührte die weiche, porzellanweiße Haut des Halses, der, wie sie erkennen konnte, gebrochen war.

Ein rascher Tod. Sie schaute an der Wand hoch, zu den weit gefächerten Blutspritzern, die der Hund hinterlassen hatte. Sah eine Delle im Putz, die aussah, als wäre ein verirrter Baseball dagegen geprallt. Das Kind war gegen die Wand geschleudert worden, nahm sie an, was sehr wahrscheinlich den Hund hatte durchdrehen lassen.

»Das Baby ist hinter dem Sofa«, sagte Sonora. Sie legte einen federleichten Finger auf den Kopf des Kindes, bemerkte die dicken Windeln unter dem Overall, den kleinen blauen Baumwollrolli mit Winnie Puh auf der linken Schulter. Sehr klein für ein Dreirad. Vielleicht ein Erbstück, das man aus der Garage geholt hatte, als das Wetter schön wurde.

»Wenigstens ging es schnell ‒ Genickbruch.« Ist das meine Stimme?, dachte Sonora. Bin ich diese kühle, professionelle Frau? Sie stand auf, ihre Knie waren weich.

»Ich hab eine Blutspur«, sagte Sam, und sie folgte ihm in den Flur.

»Stammt sie vom Vater?«

»Was?«, fragte Sam.

»Die Blutspur. Ist sie vom Vater?«

»Nein, Sonora, siehst du? Sie kommt aus dem Flur, fuhrt zum Fernseher und dann hinaus in die Küche.«

»Wallace und Gromit«, bemerkte Sonora, während sie den roten und braunen Flecken den engen Flur hinunter folgte. Etwas gab unter ihren Füßen nach und quiekte. Sie erstarrte, ihr Magen verkrampfte sich. Sam schaltete seine Taschenlampe ein. Sah hinunter.

Ein Gummihamburger.

»Hundespielzeug«, sagte Sonora.

Sam nickte. »Wallace und was?«

»Egal.«

Ein Lichtstreifen fiel über den Teppich. Die Badezimmertür war offen. Die Blutspur führte von dem teppichbelegten Flur auf die goldgelben Fliesen. Sam trat einen Schritt hinein.

»Geh zur Seite«, sagte Sonora.

Der Duschvorhang war von den blauen Plastikringen gerissen und als blutiges Bündel in eine Ecke geknüllt worden. Sonora sah vorsichtig nach. Nichts außer dem Duschvorhang, keine unangenehmen Überraschungen.

Die Außenseite der Toilettenschüssel war blutverschmiert. Ein leuchtend rosa, fleckiger Tennisschuh mit Plateausohle, dessen Senkel immer noch zu einer Doppelschleife gebunden waren, thronte auf einem dunkelgrünen, feuchten und blutigen Handtuch, das hinter den Spülkasten gestopft worden war. Sam kroch auf allen vieren herum.

»Hier liegt ein Zahn, vermutlich hat jemand einen Faustschlag ins Gesicht abgekriegt. Und eine lange braune Haarsträhne.«

»Mach dir eine Notiz. Ja?« Sonora lief den Flur hinunter. Sie blieb bei einem Zimmer zu ihrer Rechten stehen, die Tür stand offen. Ein Himmelbett mit rosa Tagesdecke. Kleidung in ordentlichen, niedrigen Stapeln, so als ob jemand die Wäsche sortiert hätte. Sonora ging hinein und stellte sich mitten in den Raum. Nahm flüchtig einen weiß-rosa Bilderrahmen wahr, aus dem das hübsche und noch immer kindliche Gesicht des Mädchens schaute, das mit auf der Brust gefalteten Händen auf der zerknitterten Tagesdecke lag. Eine klaffende Wunde zog sich quer über ihre Kehle wie ein schwarzer blutiger Blitz. Sie trug einen rosa Tennisschuh mit Plateausohle, das Gegenstück zu dem im Bad, am anderen Fuß eine heruntergerutschte weiße Baumwollsocke. Ihr perlmuttfarbener Pulli hatte einen Riss an der Schulter, der einen beigen BH-Träger entblößte, aber ihre Jeans, ausgebeult, und tief auf den schmalen, knabenhaften Hüften sitzend, wurden nach wie vor von einem dünnen Ledergürtel an Ort und Stelle gehalten.

Sonora legte einen behandschuhten Finger auf das Kinn des Kindes, berührte das zarte, leblose Gesicht, registrierte den Bluterguss und die Schwellung, die sich unter der Kinnlinie zu zeigen begannen. Keine Totenflecken, das Kind war geschlagen worden. Ihre Hände waren nicht gefesselt. Es wirkte, als ob liebende Hände sie zum Bett getragen und aufgebahrt hätten. Ein reumütiger Mörder? Niemand hatte wegen des Babys und des Vaters im Wohnzimmer Reue gezeigt. War dem Mörder die Zeit davongelaufen? Und dennoch. Kugeln und kalte Gleichgültigkeit für die Opfer im Wohnzimmer, Messer und Bedauern für das Mädchen im Schlafzimmer.

Zwei Täter?

Sonora beugte sich tief über das Bett. Die Tagesdecke unter dem Mädchen war blutrot, das Blut war bis zur Matratze durchgesickert. Also war sie auf dem Bett getötet und dort liegengelassen worden.

Sonora fragte sich, wer im Badezimmer so heftig geblutet hatte.

Sie zog eine Stiftlampe aus der Tasche ihres Blazers und leuchtete in den Mund des Mädchens. Eine Zahnspange ‒ weiß, nicht aus dem klirrenden Metall, das sie aus ihrer Kindheit kannte ‒ aber kein Zahn fehlte. Und trotzdem würde sie wetten, dass die Strähne, die Sam im Bad gefunden hatte, zu diesen langen braunen Haaren gehörte.

Sonora schaute hinter sich auf das Foto. Was hatte der Streifenpolizist noch gleich gesagt, wie ihr Name lautete? Tammy?

Sie hatte vorstehende, schwerlidrige Augen, dünnes, sandfarbenes Haar und ein breites, glückliches Lächeln. Das Foto zeigte sie mit zwei Freundinnen, sie hatten die Arme umeinander gelegt und trugen alle die gleichen roten Badeanzüge mit dem Aufdruck Brill-High-Schwimmteam. Die drei Mädchen wirkten vergnügt, nass und so, als ob sie ein bisschen frieren würden.

Sonora erhob sich, schaute sich im Zimmer um, das abgesehen von dem Pizzarand auf einem Pappteller auf dem Fensterbrett makellos sauber war. Der Schreibtisch, begraben unter Papieren und Büchern, war staubfrei. An den Bettpfosten baumelten blaue und gelbe Bänder. Sonora zog vorsichtig mit ihrer linken behandschuhten Hand daran, an der sich kein Blut befand. Schwimmwettkämpfe.

Sie ging zurück in den Flur und fand Sam im nächsten Zimmer, das mit einem nagelneuen Stockbett und einem Babybett auf der anderen Seite fürchterlich übermöbliert war. Zwei Kleinkinder in einem Zimmer ‒ ein volles Haus. Das Zimmer war in Blau gehalten, das Reich eines kleinen Jungen und seiner Spielzeuglaster. Überall lagen Bausteine herum. Ein winziger Fußball war ans Bettende gekullert. Ein Berg von Legosteinen lag neben einer leeren Trommel. Sie mussten einen Höllenlärm gemacht haben, als sie ausgekippt wurden, dachte Sonora.

Sie balancierte über Legos und Holzbausteine. Sah die weiße Wiege, die von dem Kopfende des Babybetts verdeckt wurde. Sie war mit gestepptem gelbem Gingham gesäumt und mit einem frischen Baumwolllaken bezogen, auf das kleine Bären gedruckt waren. Eine regenbogenfarbene Decke lag ordentlich gefaltet am Fußende, ein gelber Schnuller auf dem Laken.

Neben der Wiege stand der Wickeltisch, auf dem sich Johnsons Babypuder, Babyöl, Feuchttücher und eine Flasche mit einer dunkelbraunen Flüssigkeit und einem orangen Korken nebeneinander aufreihten. Vitamine.

Sonora hatte ihren eigenen Kindern genau die gleichen Vitamine verabreicht, und sie erinnerte sich, dass die Flüssigkeit stark nach Rost roch und überall rostbraune Flecken hinterließ. Sie schaute ins Windelfach. Wegwerfwindeln, die kleinen. Sie sah sich ein letztes Mal im Zimmer um, atmete tief den sanften Geruch des Puders ein, der ihr tausendundeine Erinnerung an ihre Kinder zurückbrachte ‒ spät in der Nacht, früh am Morgen, wie sie eine Windel anlegte, während die kleinen Beinchen in der Luft strampelten, wie sie die Sohlen der winzigen rosa Füßchen küsste. Sonora machte sich rasch und sorgfältig Notizen.

Sie sah quer durch den Raum zu Sam. »Hast du etwas?«

»Keine Blutspuren in diesem Zimmer, Gott sei Dank. Und du?«

Sie zeigte dorthin. »Die Tochter liegt auf ihrem Bett, die Kehle ist durchgeschnitten.« Sie trat zurück und ließ ihn vorangehen. War es Einbildung oder konnte sie tatsächlich das Blut riechen? »Warst du schon im Elternschlafzimmer?«

»Noch nicht.«

»So wie es hier aussieht, glaube ich nicht, dass die Mutter und das Baby überlebt haben.«

Sam schaute sie von der Seite an. »Vielleicht haben sie die Mutter mitgenommen, um den Geldautomaten auszuräumen. Und das Baby dazu, damit die Mutter keine Dummheiten macht.«

»Hast du den Beamten gefragt, wer das hier gemeldet hat?«

»Die Nachbarin. Sah die offene Tür des LeBaron, als sie von der Arbeit nach Hause kam. Hat nicht groß darüber nachgedacht. Ging nach dem Abendbrot raus, um das Baby spazierenzufahren. Sah, dass die Tür immer noch offenstand. Hat versucht, anzurufen. Niemand hob ab. Die Eingangstür war abgeschlossen.

Als ihr Mann nach Hause kommt, erzählt sie es ihm. Er schaut durch das Wohnzimmerfenster. Die Vorhänge sind zugezogen. Hat ein komisches Gefühl. Beginnt sich zu fragen, warum der Hund nicht gebellt hat, als er durch das Fenster spähte. Beschließt, die Polizei zu rufen.

Die Streifenbeamten gehen hintenrum zur Küche, entdecken ein eingeschlagenes Fenster, eine Blutspur und gehen rein.«

»Und keine Spur von der Mutter und dem Baby?«

»Nein. Aber eine riesige Blutlache im Elternschlafzimmer.«

»Nach dir.«

Sonora zögerte auf der Türschwelle, registrierte die zerknautschte Tagesdecke, bedeckt von Handtüchern, einige gefaltet, andere zusammengeknüllt. Das Bett stand in einem seltsamen Winkel, auf dem Teppich konnte man Abdrücke erkennen, also hatte es jemand verschoben. Die Nachttischlampe war auf den Boden gekracht, die Glühbirne zerschellt und der Rüschenschirm im Paisleymuster, das ausgezeichnet zu der Bettdecke und den Vorhängen passte, verbeult.

Eine zerschrammte, antike Kommode aus Walnussholz nahm die gesamte gegenüberliegende Wand ein. Über einem Spiegel mit abgeschrägten Ecken, der durch eine Kugel, die ein Loch in der rechten Hälfte nahe der Oberkante hinterlassen hatte, gesprungen war, hing ein kleines Kruzifix aus Rosenholz. Eine Reihe von Fotos waren in die Ecken des hölzernen Rahmens gesteckt worden. Ein blutiger Daumenabdruck verschmierte das Glas.

Sonora runzelte die Stirn. Sah Sam an. »Was?«

»Was was?«

»Ich dachte, du hättest was gesagt. Hast du was gesagt?«

»Nein.« Er wandte sich zum Einbauschrank. »Mannomann.«

»Was jetzt?«

»Im Schrank sieht es aus wie nach dem dritten Weltkrieg. Oder wie in deinem Schlafzimmerschrank, wenn man von dem Blut absieht.«

»Ist da Blut?«

»Und wie.«

Sonora hörte Schritte, aus dem Augenwinkel nahm sie eine Gestalt im Flur wahr. »Blair?«

Sie erkannte die Stimme sofort. Tief, rau und barsch. »Crick ist da«, sagte sie.

»Wurde auch Zeit.« Sam sah sie über die Schulter hinweg an. »Was glaubst du, wie viele es waren?«

»Zwei erscheint mir am wahrscheinlichsten. Wir haben das Mädchen, das aufgebahrt im Schlafzimmer liegt, die Kleidung unberührt, die Kehle durchschnitten. Als ob der Killer Reue verspürt hätte.«

»Hat er sie dorthin gelegt?«

»Nein, aber ihre Hände waren über der Brust gefaltet.«

»Im Wohnzimmer sieht es nicht gerade nach Reue aus.«

»Ein anderer Täter. Vielleicht waren es zwei, die sich gegenseitig aufgestachelt haben.«

»Zwei Mannschaftskameraden in einem psychotischen Pinkelwettbewerb?«

»So in der Art.«

»Blair? Delarosa?«

»Hier drin«, antworteten Sam und Sonora gleichzeitig.

Cricks bullige Gestalt ließ den Flur schrumpfen. »Sie arbeiten schon zu lange zusammen, Sie sind ja schlimmer als ein altes Ehepaar. Was haben wir hier drin?«

»Das Chaos.« Sonora spürte, wie die Anspannung in Magen, Schultern und Hals zunahm. Crick hatte immer diese Wirkung auf sie. Aber sie war froh, dass er da war. Man konnte viel über ihn sagen, aber eine positive Eigenschaft hatte er: Er war grundsolide.

Sam kam aus dem Schrank. »Hier drin ist eine Blutspur, eine ist im Bad. Im Flur sind Flecken.«

»Was dagegen, wenn ich die Spurensicherung reinlasse?«

Sam schüttelte den Kopf. Sonora sagte nein, aber sie fühlte sich gedrängt. Sie machte sich immer noch Notizen.

Crick rieb sich das Kinn. »Die Streife meldete, dass sich hier drin drei Leichen befinden, ein männlicher Erwachsener Mitte Dreißig, eine weibliche Heranwachsende, ein männliches Kleinkind. Eine weibliche Erwachsene Mitte Dreißig und ein weiblicher Säugling werden noch vermisst.«

»Das plus die verschiedenen Blutspuren ist in etwa alles«, sagte Sam. »Jemand hat im Bad einen Zahn verloren.«

»Das Mädchen war es nicht.« Sonora trat zur Seite, so dass Crick hinter ihr her in das Schlafzimmer gehen konnte. Sie schaute zurück auf das Einschussloch im Spiegel, auf den blutigen Daumenabdruck, fragte sich, Opfer oder Angreifer? Es sah aus, als ob einige der im Rahmen steckenden Bilder fehlen würden. Es gab Lücken.

Sie schaute genauer hin. Einige Schwarzweißfotos aus den sechziger Jahren, ein paar neue in leuchtenden Farben. Ein Baby in einem Hochstuhl, dem ein Breifaden am Kinn hinabrann, ein pummeliges, langhaariges Mädchen, das einen Cockerspaniel im Arm hielt, der uralt aussah. Eine Frau im Rollstuhl mit grauen Locken, die ein Gratefull-Dead-T-Shirt und ein breites Grinsen trug, eins von einem kleinen Jungen mit einer Roy-Rogers-Brotdose ‒ dieses Foto war schwarzweiß. Der Herr des Hauses, fragte sich Sonora, als er in der Cowboy-Phase war?

Glückliche Erinnerungen.

Crick trampelte schwerfällig an ihr vorbei, diesmal in die andere Richtung. »Die Nachbarn sagen, dass der LeBaron in der Einfahrt Joy Stinnet gehört, der Mutter. Der Vater ist Malermeister, ihm gehört ein Jeep Cherokee, der ebenso wie Mutter und Kind verschwunden zu sein scheint. Der Garten wird von Streifenbeamten durchsucht, aber der erste Durchgang hat nicht viel gebracht. Kinderspielzeug. Ich lasse nach der Mutter und dem Kind und dem Jeep fahnden. Finden Sie ein Scheckbuch oder einen Bankbeleg, dann können wir damit weitermachen. Vielleicht wollen sie die Mutter benutzen, um an das Geld zu kommen.«

»Haben wir auch schon gedacht«, bemerkte Sam.

Crick entfernte sich, seine Stimme hallte überlaut durch den Flur. »Irgend etwas muss es schließlich sein, wir haben hier ein Abzählproblem.«

Kapitel 6

Sonora, die sich Notizen machte, hielt inne, um ihren Füller zu schütteln, der beinahe, aber nicht völlig leer war. Sam befand sich im Schrank. Vielleicht hatte er einen Füller. Sie machte einen Schritt, dann blieb sie stehen, legte den Kopf auf die Seite und lauschte. Da war es wieder, das Flüstern. Hatte jemand das Radio angelassen? Sie schaute über ihre Schulter, obwohl es wahrscheinlich keiner ihrer Kollegen war. Polizisten flüsterten nie, und das Haus war von Lärm erfüllt, seit Crick den Befehl zur Invasion der Spurensicherer gegeben hatte.

Es waren zu viele Menschen. Angst konnte einen Raum erfüllen und dieser Tatort sprach zu ihr.

Die Techniker waren überall, ihre Stimmen produzierten eine nüchterne dumpfe Melodie, die irgendwie tröstlich war. Es gab ihr ein Gefühl der Geborgenheit, ein vertrautes Weißes Rauschen, Sicherheit, ein Gegengift gegen ihre schwarzen Gefühle der Einsamkeit.

Sie warf einen kurzen Blick zum Schrank. Sah Crick, der, die Ellbogen gegen die Türpfosten gestemmt, mit Sam sprach, auch von ihnen flüsterte keiner. Trotzdem. Sie alle, auch die Spurensicherung, arbeiteten in gewisser Weise still, vielleicht aufgrund von Schock oder aus Achtung oder einer Mischung aus beidem. So ein Blutbad ereignete sich nicht gerade jeden Tag in Cincinnati.

Sonora ging zurück zu der Kommode. Wild English Garden Lotion von Victoria’s Secret, Wimperntusche, Toner, Augencreme und Lidschatten von Merle Norman. Etwas von Estee Lauder in einem hübschen gelben Kästchen, auf dem die Scherben des zerschossenen Spiegels einen glitzernden Überzug bildeten.

Auf dem Fußboden in der hinteren linken Ecke entdeckte sie einen Ghettoblaster. Vielleicht kam das Geräusch von dort. Die Frau hatte möglicherweise Radio gehört. Sonora kroch dicht am Boden vorwärts, die rechte Hand, vom Handschuh geschützt, glitt die Kante der Kommode entlang. Mit dem Daumenballen konnte sie eine Delle tasten, als ob jemand mit einem Hammer darauf geschlagen hätte.

Ein nadelkopfgroßes rotes Licht glühte neben dem Schalter. Demnach war der Ghettoblaster eingeschaltet. Sonora beugte sich hinunter, hörte nichts. Der Schalter stand auf CD und das Programm blinkte. War Musik gelaufen, als der oder die Mörder hereingekommen waren? Sonora stellte sich die Mutter im Schlafzimmer vor, die Lautstärke der Musik übertönte den Lärm der Eindringlinge.

Sie würde es später überprüfen, wenn die Spurensicherung fertig war.

Über die Schulter schaute sie zum Bett. Ein wirrer Haufen sauberer Handtücher lag auf der rechten Hälfte, ein ordentlicher Stapel gefalteter Handtücher auf der linken. Falls die Mutter ‒ nenn die Frau beim Namen ‒, falls Joy Rechtshänderin war, hätte sie mit dem Rücken zur Schlafzimmertür gestanden.

Sonora ging zum Bett und schnüffelte an einem der Handtücher. Der Duft nach sauberer, frisch aus dem Trockner kommender Baumwolle war unverwechselbar. Wäsche direkt aus der Maschine.

Aber warum stellte sich die Frau mit dem Rücken zur Tür, wenn im Haus ein Kleinkind lebte? Sonora hätte erwartet, dass sie mit dem Gesicht zum Flur stand.

Die Tagesdecke war faltig und zerknittert, die Handtücher lagen dichter zusammen, als sie angenommen hatte. Die Spurensicherung würde die Tagesdecke auf Sperma und Blutspuren untersuchen, aber es war nichts zu erkennen.

Sie hob ein Kissen vom Kopfende des Bettes. Sie fand einen winzigen Schnuller und eine leere Flasche ‒ eine Saugflasche von Playtex, die Kunststoffteile waren von der weißen, dickflüssigen Säuglingsnahrung verschmiert, die in der Falte unter den Kissen steckte.

Demnach hatte Joy Stinnet die Wäsche gefaltet, eine Pause gemacht, um dem Baby die Flasche zu geben, während laute Musik aus dem Ghettoblaster drang.

Sonora wandte sich zum Schrank, während sie Sam und Crick beobachtete, die auf Händen und Knien und mit der Konzentration von Ingenieuren, die eine Brücke entwerfen, Spritzer untersuchten.

Eine riesige Menge Blut hatte auf dem Boden des Schranks eine Lache gebildet, die sich über gefutterte blaue Häschenpantoffeln und graue Schneestiefel aus Kunststoff ergoss. Jemand war in einen Stapel Jeans gefallen ‒ ungefähr dreißig Paar in unterschiedlichen Stadien der Abnutzung, Jeans für jedes vorstellbare Gewicht. Es war so eine Teenagermacke, wenn das Selbstbewusstsein von der Größe abhängt, bei der man die Jeans noch zuknöpfen kann, ohne bewusstlos zu werden.

Wessen Blut?, überlegte sie.

Nicht das des Vaters. Er war auf dem Stuhl sitzend erschossen worden. Und es war auch nicht das Blut der Tochter, ihre Kehle hatte man direkt auf dem Bett durchgeschnitten.

Dann blieben nur noch die Mutter und das Kind übrig.

Ein Stapel Waschlappen war auf den Boden gestürzt, als seien sie erst gefaltet und dann fallen gelassen worden. Hatte Joy Stinnet sie in der Hand gehalten, als sie angegriffen wurde? Hatte die Frau den begehbaren Schrank betreten, war dort überfallen worden und zum Bett zurückgekrochen? Das viele Blut und die Lache zeigten an, dass sie eine Weile dort gelegen hatte. Hatte man sie für tot gehalten? Das ergab keinen Sinn, falls sie gekidnappt worden war.

Sonora folgte im Geist der Blutspur vom Schrank zum Bett. Warum das Bett? Hatte das Baby dort gelegen ‒ auf dem Bett?

Sie schob sich an Sam und Crick vorbei. Die gerüschte Tagesdecke hing auf einer Seite hinunter, berührte beinah den Boden, als ob jemand sie hinuntergezogen oder -gerissen hätte. Die Blutspur führte direkt dorthin.

Sonora, nun auf allen vieren, hob die Decke an. Sie fand Dunkelheit, den Geruch nach Staub und den an Eisen erinnernden Gestank von Blut. Sie spürte es, bevor sie es sehen konnte, hörte das Flüstern ganz klar und deutlich.

Der Kopf der Frau war so nahe, dass Sonora mit dem Fuß leicht ihre rote, tränengefleckte Wange hätte streifen können. Joy Stinnets Augen waren offen, und ihr Mund bewegte sich.

»… gegrüßet seist du Maria, voll der Gnaden, der Herr ist mit dir, gebenedeit bist du unter den Weibern, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus. Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes. Gegrüßet seist du Maria, voll der Gnaden ….«

Sonora nahm alles innerhalb eines Herzschlags wahr: die vor Schmerz glasigen Augen der Frau, ihren weit aufklaffenden Unterleib, die linke Hand, die den langen, grausamen Schnitt vom Bauch zum Brustkorb bedeckte, der das graue und rosa weiße von blauen Adern durchzogene Gewirr ihrer Därme und die Ansammlungen gelber Fettklümpchen enthüllte. Und in ihrem rechten Arm ein Bündel, still, aber atmend, ein puppenhaftes Baby, dessen Augen fest zusammengekniffen waren und dessen Brust sich mit jedem schwachen Atemzug hob.

Das Flüstern. Das war es, was sie gehört hatte.

Kapitel 7

In ihrer gesamten Karriere als Detective war Sonora noch nie so nah daran gewesen, die Kontrolle zu verlieren, wie in diesem Moment, und der stetige Klang ihrer eigenen Stimme, die nach Sam rief, nach jemandem rief, der die Rettungssanitäter alarmierte, stand im Gegensatz zum Klopfen in ihrem Hals und dem Hämmern ihres Herzens.

Sam war schnell. Er hob das eine Ende des Bettes hoch, während Sonora auf die andere Seite rannte. Gemeinsam stemmten sie das Bett hoch, stellten es wieder ab, und rissen das Bettzeug hinunter. Die Frau unter dem Bett begann zu kreischen.

Sonora konnte nicht fassen, dass jemand so viel Blut verlieren konnte und trotzdem noch die Kraft fand, so laut zu schreien. Die Härchen auf ihren Armen stellten sich auf. Sie lief zu der Frau und kroch an ihre Seite.

»Ich bin Polizistin, Ma’am, Sie sind jetzt in Sicherheit. Ein Rettungswagen ist hier, wir werden Ihnen helfen.«

Die Frau wandte den Kopf und ihre Augen trafen die Sonoras. Die Intensität ihres Blicks ließ sie zurückzucken.

Die Frau hörte auf zu schreien, und Sonora konnte das Baby weinen hören. »Gott sei Dank«, hörte sie Sam sagen, sah ihn nach dem Baby greifen, das blutverschmiert war, ob mit dem eigenem oder dem der Mutter, konnte Sonora nicht sagen. Joy Stinnet griff mit ihrer linken Hand nach Sonora, ließ die Bauchwunde aufklaffen. Ihre Hand war kalt und glitschig und klebrig. Sonora zuckte zusammen und hielt sie fest.

»Männer ‒« Sie atmete in hastigen, keuchenden Zügen, als würde sie rennen, rennen, rennen.

»Ein Mann? Oder mehr als einer?«

»Der Engel kam. Er gab mir das Baby und befahl mir, nicht herauszukommen.« Die Frau würgte und presste Sonoras Hand. Etwas prickelte in Sonoras Hand wie ein elektrischer Schlag und sie spürte, wie das Blut aus den zerschnittenen Handflächen über ihre verschlungenen Finger strömte. Sie bemerkte die Hautfetzen, die von Joy Stinnets Unterarmen hinunterhingen, und spürte ein seltsames Kribbeln im Rücken. Verteidigungswunden machten sie immer fertig.

»Ich hörte, wie mein Mann nach Hause kam. Ich hörte ihn ‒«

»Können Sie mir sagen, wie die Männer aussahen? Haben Sie einen Namen gehört? Haben ‒«

»Mein kleiner Rusty hat gebellt.« Tränen flössen über Joy Stinnets Wangen. »Und sie haben auf ihn geschossen, ich habe ihn jaulen hören.«

Die Rettungssanitäter kamen wie der Blitz durch die Tür geschossen, die Eliteeinheit des Notrufs, die schweren, schwarzen Taschen sprangen auf. Ein beleibter Mann mit kurz geschorenen roten Haaren hockte sich neben Sonora, nickte ihr zu und lächelte die Frau an.

»Ich heiße Chris, Ma’am, Sie werden wieder gesund, verstehen Sie? Können Sie mir Ihren Namen sagen?«

»Das ist Joy«, sagte Sonora. Sie zog sich zurück, wartete darauf, beiseite geschoben zu werden, aber Chris schüttelte den Kopf.

»Okay, Joy, halten Sie durch. Ich schaue mir nur kurz Ihr hübsches kleines Mädchen an, sie hat nicht einen einzigen Kratzer. Detective Blair wird Ihre Hand halten und mit Ihnen reden. Okay, Joy, ich und meine Partner untersuchen Sie in der Zwischenzeit.«

Sonora fragte sich, woher er ihren Namen kannte, und spürte einen kurzen Stich der Enttäuschung, der, wie sie zu ihrer Schande wusste, der Feigheit entsprang. Sie hing immer noch am Haken. Sie konnte sich nicht zurückziehen und jemand anders weitermachen lassen.

»Joy? Joy, wissen Sie, wer das getan hat, haben Sie jemanden erkannt? Können Sie mir sagen, wie viele ‒?«

Die Lider der Frau flatterten, ihre Atmung ging schnell und flach. Sonora registrierte, dass ihre schwarzen, schulterlangen Haare an ihrem Hinterkopf klebten. Ihr von Wimperntusche verschmiertes Gesicht war totenblass, um ihre Augen lagen unheimliche, dunkle Schatten, die Sonora schon zuvor bei anderen Opfern gesehen hatte, die am Rand des Todes schwebten.

Die Hand krampfte sich um die Sonoras.

»Zwei Männer«, drängte Sonora.

»Zwei. Und der Engel.«

Ein weiterer Rettungssanitäter, seinem Schild zufolge hieß er Hodges, stand neben Chris und zog ein Funkgerät aus seinem Gürtel. »Das nächste Krankenhaus ist, da das weiter südlich geschlossen wurde, das ‒«

»Am Jewish hat Gillane Dienst.« Das war der Jüngere mit dem zurückgegelten schwarzen Haar, der gerade den Blutdruck maß.

Sonora war seltsam berührt, als sie den Namen hörte, seltsam berührt, aber getröstet. Gillane.

»Wir fahren zum Jewish«, beschloss der Rettungssanitäter namens Chris. Gute Entscheidung, dachte Sonora. »Legt einen großlumigen Zugang, damit wir etwas Flüssigkeit in sie hineinpumpen können.«

Sonora rätselte, was zum Teufel Joy Stinnet mit »der Engel« meinte. Menschen sagten alle möglichen Dinge, wenn sie den letzten Gang antraten.

»Sagen Sie es mir«, flehte Joy Stinnet, als der junge Sanitäter eine Sauerstoffmaske auf ihr Gesicht gleiten ließ. Sonora wusste, was sie wissen wollte.

Sie hörte ein statisches Knistern, als der rothaarige Sanitäter das Funkgerät aus seinem Gürtel riss, hörte das Drängen in seiner Stimme. »Eine Frau, Mitte Dreißig, Schnittwunde vom Nabel bis zum rechten Rippenbogen. Leber und Gedärme sind betroffen, hoher Blutverlust. Sauerstoff zehn Liter in der Minute. Blutdruck 80 palpatorisch, Herzfrequenz hundertzwanzig.«

Sonora barg die blutbedeckten Hände der Frau zwischen ihren eigenen, sah, dass aus der Bauchwunde etwas austrat, das wie Infusionslösung aussah. Was immer sie in sie hineinpumpten, kam sofort wieder heraus.