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Heinrich von Treitschkes 'Deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts' (Band 1&2) ist ein monumental detailliertes Werk, das die Geschichte Deutschlands im 19. Jahrhundert umfassend beleuchtet. Treitschke kombiniert akribische Forschung mit einem lebendigen Erzählstil, der es dem Leser ermöglicht, in die turbulenten politischen und sozialen Veränderungen dieser Zeit einzutauchen. Sein Werk wird oft als einflussreich für die nationalkonservative Bewegung seiner Zeit angesehen, da er die Herausforderungen und Errungenschaften Deutschlands mit großer Leidenschaft beschreibt. Der literarische Kontext von Treitschkes Werk zeigt seine einzigartige Perspektive als Historiker und Politiker, die in der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts verwurzelt ist. Heinrich von Treitschke, ein renommierter deutscher Historiker, Professor und Politiker, wurde durch seinen nationalistischen Ansatz und seine politische Aktivität bekannt. Seine tiefgreifende Kenntnis der deutschen Geschichte spiegelt sich in seinem Werk wider, das nicht nur eine historische Chronik ist, sondern auch politische und ideologische Standpunkte vermittelt. Als eine führende Figur im Deutschen Kaiserreich war Treitschke stark in die politische Debatte seiner Zeit involviert, was sein Werk mit einer einzigartigen Autorität und Perspektive ausstattet. 'Deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts' von Heinrich von Treitschke ist ein unverzichtbarer Text für all diejenigen, die sich für die deutsche Geschichte, Politik und Kultur des 19. Jahrhunderts interessieren. Treitschkes detaillierte Analyse und lebhafte Darstellung machen das Buch zu einer fesselnden Lektüre, die sowohl informative als auch inspirierende Einblicke in eine entscheidende Ära der deutschen Geschichte bietet.
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Seitenzahl: 709
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Inhalt
Es gibt viele Arten Geschichte zu schreiben, und jede ist berechtigt, wenn sie nur ihren Stil rein und streng einhält. Dies Buch will einfach erzählen und urteilen. Sollte die Darstellung nicht völlig formlos werden, so durfte ich den Lesern nur das fertige Ergebnis der Untersuchung vorlegen, ohne ihnen das Handwerkszeug der Forschung aufzuweisen oder sie mit polemischen Auseinandersetzungen zu belästigen.
Indem ich noch einmal zurückblicke auf die anderthalb Jahrhunderte, welche dieser Land zu schildern versucht, empfinde ich wieder, wie so oft beim Schreiben, den Reichtum und die schlichte Größe unserer vaterländischen Geschichte. Kein Volk hat besseren Grund als wir, das Andenken seiner hart kämpfenden Väter in Ehren zu halten, und kein Volk, leider, erinnert sich so selten, durch wieviel Blut und Tränen, durch wieviel Schweiß des Hirns und der Hände ihm der Segen seiner Einheit geschaffen wurde. Sie, lieber Freund, haben schon in der Paulskirche den Traum vom preußischen Reiche deutscher Nation geträumt und sind im Herzen jünger geblieben als mancher aus dem altklugen Nachwuchs; denn Sie wissen, wie erträglich die Sorgen der Gegenwart erscheinen neben dem Jammer der alten kaiserlosen Tage. Sie werden mich nicht tadeln, wenn Ihnen aus der gleichmäßigen Ruhe der historischen Rede dann und wann ein hellerer Ton entgegenklingt. Der Erzähler deutscher Geschichte löst seine Aufgabe nur halb, wenn er bloß den Zusammenhang der Ereignisse aufweist und mit Freimut sein Urteil sagt; er soll auch selber fühlen und in den Herzen seiner Leser zu erwecken wissen, was viele unserer Landsleute über den Zank und Verdruß des Augenblicks heute schon wieder verloren haben: die Freude am Vaterlande. (VII f.)
Die deutsche Nation ist trotz ihrer alten Geschichte das jüngste unter den großen Völkern Westeuropas. Zweimal ward ihr ein Zeitalter der Jugend beschieden, zweimal der Kampf um die Grundlagen staatlicher Macht und freier Gesittung. Sie schuf sich vor einem Jahrtausend das stolzeste Königtum der Germanen und mußte acht Jahrhunderte nachher den Bau ihres Staates auf völlig verändertem Boden von neuem beginnen, um erst in unsern Tagen als geeinte Macht wieder einzutreten in die Reihe der Völker.
Sie hatte einst in überschwellendem Tatendrang die Kaiserkrone der Christenheit mit der ihren verbunden, ihr Leben ausgeschmückt mit allen Reizen ritterlicher Kunst und Bildung, Ungeheures gewagt und geopfert, um die Führerschaft des Abendlandes zu behaupten. In den weltumspannenden Kämpfen ihrer großen Kaiser ging die Macht der deutschen Monarchie zugrunde. Auf den Trümmern des alten Königtums erhebt sich sodann eine junge Welt territorialer Gewalten: geistliche und weltliche Fürsten, Reichsstädte, Grafen und Ritter, ein formloses Gewirr unfertiger Staatsgebilde, voll wunderbarer Lebenskraft. Mitten im Niedergange der kaiserlichen Herrlichkeit vollführen die Fürsten Niedersachsens, die Ritter des Deutschen Ordens und die Bürger der Hansa mit Schwert und Pflug die größte Kolonisation, welche die Welt seit den Tagen der Römer gesehen: die Lande zwischen Elbe und Memel werden erobert und besiedelt, die skandinavischen und die slawischen Völker auf Jahrhunderte hinaus deutschem Handel, deutscher Bildung unterworfen. Aber Fürsten und Adel, Bürgertum und Bauerschaften gehen jeder seines eigenen Weges, der Haß der Stände vereitelt alle Versuche, diese Überfülle schöpferischer Volkskräfte politisch zu ordnen, die zerfallende Staatseinheit in bündischen Formen wiederaufzurichten.
Dann hat Martin Luther nochmals begeisterte Männer aus allen Stämmen des zersplitterten Volkes zu großem Wirken vereinigt. Der Ernst des deutschen Gewissens führte die verweltlichte Kirche zurück zu der erhabenen Einfalt des evangelischen Christentums; deutschem Geiste entsprang der Gedanke der Befreiung des Staates von der Herrschaft der Kirche. Unser Volk erstieg zum zweiten Male einen Höhepunkt seiner Gesittung, begann schlicht und recht die verwegenste Revolution aller Zeiten. In andern germanischen Ländern hat der Protestantismus überall die nationale Staatsgewalt gestärkt, die Vielherrschaft des Mittelalters aufgehoben. In seinem Geburtslande vollendete er nur die Auflösung des alten Gemeinwesens. Es ward entscheidend für alle Zukunft der deutschen Monarchie, daß ein Fremdling unsere Krone trug während jener hoffnungsfrohen Tage, da die Nation frohlockend den Wittenberger Mönch begrüßte und, bis in ihre Tiefen aufgeregt, eine Neugestaltung des Reiches an Haupt und Gliedern erwartete. Die kaiserliche Macht, dermaleinst der Führer der Deutschen im Kampfe wider das Papsttum, versagte sich der kirchlichen wie der politischen Reform. Das Kaisertum der Habsburger ward römisch, führte die Völker des romanischen Südeuropas ins Feld wider die deutschen Ketzer und ist fortan bis zu seinem ruhmlosen Untergange der Feind alles deutschen Wesens geblieben.
Die evangelische Lehre sucht ihre Zuflucht bei den weltlichen Landesherren. Als Beschützer des deutschen Glaubens behaupten und bewähren die Territorialgewalten das Recht ihres Daseins. Doch die Nation vermag weder ihrem eigensten Werke, der Reformation, die Alleinherrschaft zu bereiten auf deutschem Boden, noch ihren Staat durch die weltlichen Gedanken der neuen Zeit zu verjüngen. Ihr Geist, von alters her zu überschwenglichem Idealismus geneigt, wird durch die tiefsinnige neue Theologie den Kämpfen des politischen Lebens ganz entfremdet; das leidsame Luthertum versteht nicht die Gunst der Stunde zu befreiender Tat zu benutzen. Schimpflich geschlagen im Schmalkaldischen Kriege beugt das waffengewaltige Deutschland zum ersten Male seinen Nacken unter das Joch der Fremden. Dann rettet die wüste Empörung Moritz' von Sachsen dem deutschen Protestantismus das Dasein und zerstört die hispanische Herrschaft, aber auch die letzten Bande monarchischer Ordnung, welche das Reich noch zusammengehalten; in schrankenloser Willkür schaltet fortan die Libertät der Reichsstände. Nach raschem Wechsel halber Erfolge und halber Niederlagen schließen die ermüdeten Parteien den vorzeitigen Religionsfrieden von Augsburg. Es folgen die häßlichsten Zeiten deutscher Geschichte. Das Reich scheidet freiwillig aus dem Kreise der großen Mächte, verzichtet auf jeden Anteil an der europäischen Politik. Unbeweglich und doch unversöhnt lebt die ungestalte Masse katholischer, lutherischer, calvinischer Landschaften durch zwei Menschenalter trage träumend dahin, während dicht an unsern Grenzen die Heere des katholischen Weltreichs ihre Schlachten schlagen, die niederländischen Ketzer um die Freiheit des Glaubens und die Herrschaft der Meere kämpfen.
Da endlich bricht der letzte, der entscheidende Krieg des Zeitalters der Glaubenskämpfe über das Reich herein. Die Heimat des Protestantismus wird auch sein Schlachtfeld. Sämtliche Mächte Europas greifen ein in den Krieg, der Auswurf aller Völker haust auf deutscher Erde. In einer Zerstörung ohnegleichen geht das alte Deutschland zugrunde. Die einst nach der Weltherrschaft getrachtet, werden durch die unbarmherzige Gerechtigkeit der Geschichte dem Ausland unter die Füße geworfen. Rhein und Ems, Elbe und Weser, Oder und Weichsel, alle Zugänge zum Meere sind »fremder Nationen Gefangene«; dazu am Oberrhein die Vorposten der französischen Übermacht, im Südosten die Herrschaft der Habsburger und der Jesuiten. Zwei Drittel der Nation hat der greuelvolle Krieg dahingerafft; das verwilderte Geschlecht, das noch in Schmutz und Armut ein gedrücktes Leben führt, zeigt nichts mehr von der alten Großheit des deutschen Charakters, nichts mehr von dem freimütig heiteren Heldentum der Väter. Der Reichtum einer uralten Gesittung, was nur das Dasein ziert und adelt, ist verschwunden und vergessen bis herab zu den Handwerksgeheimnissen der Zünfte. Das Volk, das einst von Kriemhilds Rache sang und sich das Herz erhob an den heldenhaften Klängen lutherischer Lieder, schmückt jetzt seine verarmte Sprache mit fremden Flittern, und wer noch tief zu denken vermag, schreibt Französisch oder Lateinisch. Das gesamte Leben der Nation liegt haltlos jedem Einfluß der überlegenen Kultur des Auslandes geöffnet. Auch die Erinnerung an die Hoheit wundervoller Jahrhunderte geht der Masse des Volks über dem Jammer der Schwedennot, über den kleinen Sorgen des armseligen Tages verloren; fremd und unheimlich ragen die Zeugen deutscher Bürgerherrlichkeit, die alten Dome, in die verwandelte Welt. Erst anderthalb Jahrhunderte darauf hat die Nation durch mühsame gelehrte Forschung die Schätze ihrer alten Dichtung wieder aufgegraben, erstaunend, wie reich sie einst gewesen. Kein anderes Volk ward jemals so gewaltsam sich selber und seinem Altertum entfremdet; sogar das heutige Frankreich ist nicht durch eine so tiefe Kluft getrennt von den Zeiten seines alten Königtums. –
Die grauenhafte Verwüstung schien den Untergang des deutschen Namens anzukündigen, und sie ward der Anfang eines neuen Lebens. In jenen Tagen des Elends, um die Zeit des westfälischen Friedens beginnt unsere neue Geschichte. Zwei Mächte sind es, an denen dies versinkende Volk sich wieder aufgerichtet hat, um seitdem in Staat und Wirtschaft, in Glauben, Kunst und Wissen sein Leben immer reicher und voller zu gestalten: die Glaubensfreiheit und der preußische Staat.
Deutschland hatte durch die Leiden und Kämpfe der dreißig Jahre die Zukunft des Protestantismus für den gesamten Weltteil gesichert und zugleich den Charakter seiner eigenen Kultur unverrückbar festgestellt. Sein äußerster Süden ragte hinein in die katholische Welt der Romanen, seine Nordmarken berührten das harte Luthertum Skandinaviens, doch seine Kernlande blieben der Sammelplatz dreier Bekenntnisse. Die deutsche Nation war das einzige paritätische unter den großen Völkern und darum gezwungen, den blutig erkämpften kirchlichen Frieden in Staat und Gesellschaft, in Haus und Schule durch die Gewöhnung jedes neuen Tages zu befestigen. Vor Zeiten, da die römische Kirche noch die allgemeine Kirche war und die Keime des Protestantismus in sich umschloß, hatte sie unser Volk für die Gesittung erzogen, seine Kunst und Wissenschaft reich befruchtet. Als sie diese Mächte der Freiheit ausstieß und gestützt auf die romanischen Völker sich umgestaltete zu einer geschlossenen kirchlichen Partei, da gelang ihr zwar durch die Herrscherkunst des Hauses Habsburg einen Teil des Deutschen Reiches zurückzuerobern; dem Gemüte unseres Volkes blieb der jesuitische Glaube immer fremd. Die reichen geistigen Kräfte der neurömischen Kirche entfalteten sich prächtig in ihren romanischen Heimatlanden; in diesem feindlichen deutschen Boden, in diesem Volke geborener Ketzer wollten sie nicht Wurzel schlagen. Hier sang kein Tasso, kein Calderon, hier malte kein Rubens, kein Murillo. Fast niemand unter den faulen Bäuchen des deutschen Mönchtums wetteiferte mit dem Gelehrtenfleiße der ehrwürdigen Väter von St. Maur. Die Gesellschaft Jesu erzog unter den Deutschen viele fromme Priester und gewandte Staatsmänner, auch manche plumpe Eiferer, welche, wie Pater Busenbaum, mit ungeschlachter Germanenderbheit der Welt das Geheimnis verrieten, daß der Zweck die Mittel heilige; doch ihre gesamte Bildung war das Werk romanischer Köpfe, wie die sinnberauschenden Formen ihres Kultus. In Deutschland wirkte der neue Katholizismus nur hemmend und verwüstend; sein geistiges Vermögen verhielt sich zu der Gedankenwelt der deutschen Protestanten wie die unfruchtbare Scholastik unseres ersten Jesuiten Canisius zu der schlichten Weisheit der Werke Luthers. Rom wußte es wohl, Deutschland blieb die feste Burg der Ketzerei, trotz aller Massenbekehrungen der Gegenreformation. Das Mark unseres Geistes war protestantisch.
Die teuer erkaufte kirchliche Duldung bereitete die Stätte für eine maßvolle Freiheit, eine besonnene Verwegenheit des Denkens, die unter der Alleinherrschaft einer Kirche niemals gedeihen kann. Auf solchem Boden erwuchs, sobald das erschöpfte Volk wieder geniale Naturen zu ertragen vermochte, unsere neue Wissenschaft und Dichtung, die wirksamste Literatur der neuen Geschichte, protestantisch von Grund aus und doch weltlich frei und mild. Sie schenkte der verkümmerten Nation aufs neue eine mächtige Sprache, gab ihr die Ideale der Humanität und den Glauben an sich selbst zurück. Also sind unserem Volke selbst die Niederlagen der Reformation zuletzt zum Segen geworden. Gezwungen, alle die großen Gegensätze des europäischen Lebens in seinem eigenen Schoße zu beherbergen, ward Deutschland fähig, sie alle zu verstehen und mit der Kraft des Gedankens zu beherrschen. Seine Seele tönte von jedem Atemzuge der Menschheit. Seine klassische Literatur ward vielseitiger, kühner, menschlich freier als die früher gereifte Bildung der Nachbarvölker, hundertundfünfzig Jahre nach dem Untergange der alten deutschen Kultur durfte Hölderlin das neue Deutschland also anreden:
O heilig Herz der Völker, o Vaterland! Allduldend gleich der schweigenden Mutter Erd' Und alllverkannt, wenn schon aus deiner Tiefe die Fremden ihr Bestes haben.
Zugleich erwachte wieder die staatenbildende Kraft der Nation. Aus dem Durcheinander verrotteter Reichsformen und unfertiger Territorien hob sich der junge preußische Staat empor, von ihm ging fortan das politische Leben Deutschlands aus. Wie einst fast um ein Jahrtausend zuvor die Krone von Wessex alle Königreiche der Angelsachsen zum Staate von England vereinigte, wie das Königtum der Franzosen von der Isle de France aus, das ganze Mittelalter hindurch, die Teilstaaten der Barone und Kommunen eroberte und bändigte, so hat die Monarchie der brandenburgisch-preußischen Marken der zerrissenen deutschen Nation wieder ein Vaterland geschaffen. Das harte Ringen um die Anfänge der Staatseinheit gelingt gemeinhin nur der derben bildsamen Lebenskraft jugendlicher Völker; hier aber vollzog es sich im hellen Mittagslichte der neuen Zeit, gegen den Widerstand des gesamten Weltteils, im Kampfe mit den legitimen Gewalten des Heiligen Reichs und den unzähligen durch eine alte Geschichte verhärteten Gegensätzen des vielgestaltigen deutschen Lebens. Es war die schwerste Einheitsbewegung, die Europa erlebte, und nur der letzte, volle, durchschlagende Erfolg hat endlich die widerwillige Welt gezwungen, an das so oft aussichtslos gescholtene Werk zu glauben. –
Von Kaiser und Reich konnte die Neugestaltung des deutschen Staates nicht mehr ausgehen. Die alte, längst schon brüchige Reichsverfassung wurde seit dem Eindringen des Protestantismus zu einer häßlichen Lüge. Die letzten Folgen alles großen menschlichen Tuns bleiben dem Täter selber verhüllt, wie Martin Luther, da er von der Kirche des Mittelalters sich löste, ahnungslos die Bahn brach für die weltliche Wissenschaft unserer Tage, die seinen frommen Sinn empören würde: so hat er auch, indem er den Staat von der Vormundschaft der Kirche befreite, die Wurzeln jenes römischen Kaisertums untergraben, das er als treuer Untertan verehrte. Sobald die Mehrheit der Nation der evangelischen Lehre sich zuwandte, ward die theokratische Kaiserwürde ebenso unhaltbar wie ihre Stütze, das geistliche Fürstentum. Der gekrönte Schirmvogt und die Bischöfe der alten Kirche durften nicht herrschen über ketzerischem Volke. Darum wurde schon in den ersten Jahren der Reformation, auf dem Reichstage von 1525, die Forderung laut, daß die geistlichen Gebiete heimgeramscht, den benachbarten weltlichen Fürsten unterworfen würden; und an allen großen Wendepunkten der Reichspolitik ist der notwendige Gedanke der Säkularisation seitdem regelmäßig wieder aufgetaucht, denn aus ihm sprach die Natur der Dinge. Aber das unheilvolle Gleichgewicht der Kräfte und der Gegenkräfte, das jede Bewegung des Reiches hemmte, vereitelte auch diese unabweisbare Folge der Reformation. Die Mehrzahl der geistlichen Fürsten blieb erhalten, und mit ihnen die traumhaften Herrschaftsansprüche der Sacra Caesarea Majestas, obschon das deutsche Königtum, das diese römische Krone trug, längst aller Macht entkleidet, alle Hoheitsrechte der alten Monarchie längst übergegangen waren in die Hände der Landesherren.
Zwei Drittel des deutschen Volkes außerhalb der kaiserlichen Erblande bekannten das Evangelium, desgleichen alle mächtigen Fürstenhäuser mit Ausnahme der Wittelsbacher und der Albertiner. Das amtliche Deutschland aber blieb katholisch. Die Altgläubigen behaupteten die Mehrheit im Kurfürsten- wie im Fürstenrate, und das Kaisertum bewahrte noch immer seinen halb priesterlichen Charakter. Der Kaiser wurde durch die Krönung »ein Teilhaber unseres geistlichen Amtes«, gelobte dem Papste und der Kirche die gebührenden geistlichen Ehren zu erweisen; er war von Amts wegen Kanonikus mehrerer katholischer Stifter und empfing darum das Abendmahl in beiderlei Gestalt. Es ist nicht anders, unter dieser römischen Theokratie konnte die Ketzerei rechtlich nicht bestehen. Die erste große politische Tat der deutschen Lutheraner war jene Protestation von Speier, die dem neuen Glauben den Namen gab; sie erklärte rund heraus, die Evangelischen würden der Mehrheit im Reiche sich nicht fügen. Und also im Kampfe gegen das Reich, wie er begonnen, in beständiger Empörung hat sich der Protestantismus auch fürderhin behauptet. Er erzwang die Religionsfriedensschlüsse, dem alten Kaisereide wie dem Grundgedanken des heiligen Reichs schnurstracks zuwider, und bildete einen Staat im Staate, um die ertrotzte Glaubensfreiheit gegen die Mehrheit des Reichstages zu sichern. Das Corpus Evangelicorum blieb in milderen Formen doch ein nicht minder anarchischer, staatswidriger Notbehelf als die Konföderationen der polnischen Adelsrepublik.
Nur ein revolutionärer Entschluß, nur die Umwandlung des heiligen Reichs in einen Bund weltlicher Staaten konnte die Nation erretten aus solcher Unwahrheit ihres politischen Lebens: nur eine nationale Staatsgewalt, die ehrlich ihr weltliches Wesen eingestand, konnte den Altgläubigen wie den Evangelischen auf dem Boden des Gesetzes gerecht werden. Schon den beiden größten Publizisten unseres siebzehnten Jahrhunderts drängte sich diese Überzeugung auf: der Wortführer der schwedischen Partei, Hippolitus a Lapide predigte mit heißer Leidenschaft den Vernichtungskrieg wider das Kaisertum; der besonnenere Samuel Pufendorf sah das Reich »sicher wie einen rollenden Stein« der Umgestaltung in einen Staatenbund entgegeneilen. Auch das amtliche Deutschland empfand dunkel, wie sinnlos die alten Formen in der neuen Zeit geworden. Die Religionsfriedensschlüsse gaben sich selber nur für Waffenstillstände, vertrösteten die Nation auf bessere Zeiten, da »durch Gottes Gnade eine Vereinigung in Glaubenssachen zustande kommen wird«. Der westfälische Friede beauftragte den nächsten Reichstag, durch eine umfassende Verfassungsrevision die neu errungene Macht der Reichsstände in Einklang zu bringen mit den alten Rechten der Kaiserkrone. Doch das Haus Österreich verhinderte auch diesmal den Versuch der Reform. Die Reichsversammlung von 1654 ging unverrichteterdinge auseinander, und da der folgende Reichstag durch anderthalb Jahrhunderte zu Regensburg tagte, ohne seine wichtigste Aufgabe jemals in Angriff zu nehmen, so blieb der deutsche Staat in Wahrheit verfassungslos. In seinem öffentlichen Rechte lagen die Trümmerstücke dreier grundverschiedener Staatsformen wirr und unverbunden nebeneinander: die schattenhaften Überbleibsel der alten monarchischen Einheit, die verkümmerten Anfänge einer neuen staatenbündischen Ordnung, endlich, lebendiger als beide, der Partikularismus der territorialen Staatsgewalten.
Das Kaisertum hielt in allem Wandel der Zeit die alten Ansprüche monarchischer Machtvollkommenheit fest und gestattete niemals, daß ein Reichsgesetz ihm den Umfang seiner Rechte fest begrenzte. Der kaiserliche Oberlehnsherr empfing noch immer sitzend, mit bedecktem Haupte die Huldigung seiner knienden Untertanen, der Reichsstände; er übte, soweit sein Arm reichte, die Gerichtsbarkeit durch seinen Reichshofrat, als sei er wirklich noch der höchste Richter über Eigen und Lehen und über jeglichen Mannes Leib, wie einst in den Tagen des Sachsenspiegels. Noch immer schwenkte der Herold bei der Krönung das Kaiserschwert nach allen vier Winden, weil die weite Christenheit dem Doppeladler gehorche; noch sprach das Reichsrecht mit feierlichem Ernst von den Lehen des Reichs, die auf den Felsterrassen der Riviera von Genua und tief in Toskana hinein lagen; noch bestanden die drei Reichskanzlerämter für Germanien, Italien und Arelat; Nomeny und Bisanz und so viele andere, längst den Fremden preisgegebene Stände wurden noch auf den Reichstagen zur Abstimmung aufgerufen; der Herzog von Savoyen galt als Reichsvikar in Welschland, und niemand wußte zu sagen, wo des Heiligen Reiches Grenzpfähle standen. Dem Dichterauge des jungen Goethe wurde in dem altfränkischen Schaugepränge der Kaiserkrönung die farbenreiche Herrlichkeit des alten Reiches wieder lebendig; wer aber mit dem nüchternen Sinne des Weltmannes zuschaute, gleich dem Ritter Lang, dem erschien dies Kaisertum der verblaßten Erinnerungen und der grenzenlosen Ansprüche als ein fratzenhafter Mummenschanz, ebenso lächerlich und abgeschmackt, wie das Schwert Karls des Großen, das den böhmischen Löwen auf der Klinge trug, oder wie die Chorknaben von St. Bartholomäi, die durch ihr hellstimmiges fiat! vom hohen Chor herab im Namen der deutschen Nation die Erwählung des Weltherrschers genehmigten.
Die Umbildung des altgermanischen Wahlkönigtums zur erblichen Monarchie hat den meisten Völkern Westeuropas die Staatseinheit gesichert. Deutschland aber blieb ein Wahlreich, und die dreihundertjährige Verbindung seiner Krone mit dem Hause Österreich erweckte nur neue Kräfte des Zerfalles und des Unfriedens, denn das Kaisertum der Habsburger war unserm Volke eine Fremdherrschaft. Abgetrennt von der Mitte Deutschlands durch das starke Slawenreich in Böhmen, hatte die alte deutsche Südostmark schon früh im Mittelalter ihres eigenen Weges gehen und sich einleben müssen in die verschlungene Politik des ungarisch-slawisch-walachischen Völkergemisches der unteren Donaulande. Sie wurde sodann durch das Haus Habsburg zum Kernlande eines mächtigen vielsprachigen Reiches erhoben, durch falsche und echte Privilegien aller ernstlichen Pflichten gegen das deutsche Reich entbunden und erlangte bereits im sechzehnten Jahrhundert eine so wohlgesicherte Selbständigkeit, daß die Habsburger sich mit dem Plane tragen konnten, ihre deutschen Erblande zu einem Königreich Österreich zu vereinigen. Mitten im Gewimmel fremden Volkstums bewahrten die tapferen Stämme der Alpen und des Donautales getreulich ihre deutsche Art; sie nahmen mit ihrer frischen, herzhaften Sinnlichkeit rühmlich teil an dem geistigen Schaffen unseres Mittelalters. An dem lebensfrohen Hofe der Babenberger blühte die ritterliche Kunst; der größte Dichter unserer Staufertage war ein Sohn der Tiroler Alpen; die prächtigen Hallen von St. Stephan und St. Marien am Stiegen erzählten von dem Stolze und dem Kunstfleiß des deutschen Bürgertums in Niederösterreich. Alsdann wandte sich auch hier der deutsche Geist in freudigem Erwachen der evangelischen Lehre zu; in Böhmen wurde das Hussitentum wieder lebendig, und am Ausgang des Jahrhunderts der Reformation war der größte Teil der deutsch-österreichischen Kronländer dem Glauben unseres Volkes gewonnen. Da führte der Glaubenseifer des Kaiserhauses alle Schrecken des Völkermordes über Österreich herauf. Unter blutigen Greueln ward die Herrschaft der römischen Kirche durch die kaiserlichen Seligmacher wieder aufgerichtet, was deutschen Sinnes war und dem fremden Joche sich nicht beugte, Hunderttausende der Besten vom böhmischen Volke fanden eine neue Heimat in den Landen der evangelischen Reichsfürsten. Die daheim geblieben, verloren in der Schule der Jesuiten die Lebenskraft des deutschen Geistes: den Mut des Gewissens, den sittlichen Idealismus. Kirchlicher Druck zerstört die tiefsten Wurzeln des Volkslebens. Der helle Frohmut des österreichischen Deutschtums verflachte in gedankenloser Genußsucht, das leichtlebige Volk gewöhnte sich rasch an die verlogene Gemütlichkeit einer pfäffischen Regierung, die ihre kalte Menschenverachtung hinter läßlich bequemen Formen zu verbergen wußte.
Der Westfälische Friede gab diesem letzten großen Siege der Gegenreformation die gesetzliche Weihe. Der Kaiser genehmigte die Gleichberechtigung der drei Bekenntnisse im Reiche nur unter der Bedingung, daß seine Erblande der Regel nicht unterliegen sollten. Seitdem schied Österreich aus der Gemeinschaft des deutschen Lebens. Das einzige, was der zerrütteten Reichsverfassung noch Sinn und Inhalt gab, die gesicherte Glaubensfreiheit, war für die habsburgischen Länder nicht vorhanden; zur selben Zeit, da Deutschland in prunkenden Friedensfesten sich der endlich errungenen Versöhnung freute, ließ sein Kaiser die päpstliche Bulle, welche den Friedensschluß verdammte, in Wien und Prag, in Graz und Innsbruck an die Kirchtüren anschlagen. Auch nach dem Frieden arbeitet das Kaiserhaus unablässig an der Ausrottung der Ketzerei. Noch an hundert Jahre lang, bis zum Tode Karls VI., flutet in immer kürzeren Wellenschlägen die Auswanderung österreichischer Protestanten nach dem deutschen Norden hinüber, bis endlich alle Erblande den Todesschlaf der Glaubenseinheit schlummern. Zu Anfang des Dreißigjährigen Krieges bekannte sich die böhmische Grafschaft Glatz, bis auf eine einzige römische Gemeinde, zum evangelischen Glauben; als die Grenadiere König Friedrichs dort einzogen, war das Volk katholisch bis auf den letzten Mann, und mitten in dem neubekehrten Lande prangte die gnadenreiche Wallfahrtskirche von Albendorf, ein Siegesdenkmal für die Schlacht am Weißen Berge. Den katholischen Nachbarn in Bayern verfeindet durch Stammeshaß und uralte politische Gegnerschaft, argwöhnisch abgesperrt von jeder Berührung der norddeutschen Ketzerei, führen die deutsch-österreichischen Länder fortan ein stilles Sonderleben. Der Verkehr zwischen Böhmen und der unteren Elbe, im Mittelalter so schwunghaft, daß Kaiser Karl IV. hoffen durfte, ein großes Elbreich von Prag bis Tangermünde aufzurichten – alle die alten fruchtbaren Wechselwirkungen zwischen dem Nordosten und dem Südosten Deutschlands verfallen gänzlich, und an der sächsisch-böhmischen Grenze bildet sich allmählich eine scharfe Völkerscheide, ein grundtiefer Gegensatz der Gedanken und Lebensgewohnheiten. Von den seelenvollen Klängen der wiedererwachenden deutschen Dichtung, von den freien Reden unserer jungen Wissenschaft drang kaum ein Laut in diese abgeschiedene Welt. Während die deutsche Jugend um die Leiden des jungen Werther weinte und mit dem Räuber Moor auf die Tatenarmut des tintenklecksenden Säkulums zürnte, ergötzte sich das lustige Wien an den platten Zerrbildern der Blumauerschen Äneide. Allein die Werke der großen Tonsetzer Österreichs bekundeten, daß die schöpferische Macht des deutschen Geistes noch nicht ganz verloschen war in der schönen Heimat Walthers von der Vogelweide. Erst im neunzehnten Jahrhundert sollte das zertretene Deutschtum der Südostmarken wieder die Kraft finden, allen Arbeiten der modernen deutschen Kultur mit lebendigem Verständnis zu folgen.
Dergestalt hat die Politik der katholischen Glaubenseinheit die Donaulande auf lange hinaus unserm Volke entfremdet. Sie zerspaltete das alte Reich, sie schuf den vielbeklagten deutschen Dualismus; solange die Deutschen sich nicht selber aufgaben, durften sie auch den Widerstand gegen die Fremdherrschaft der Habsburger nicht aufgeben. Das Haus Österreich war im Verlaufe der Jahrhunderte mit der römischen Kaiserkrone so fest verwachsen, daß die Volksmeinung beide kaum noch zu trennen wußte; der einzige Nichtösterreicher, der während dieser letzten Jahrhunderte den deutschen Thron bestieg, Karl VII., erschien den Zeitgenossen wie ein Gegenkaiser. Eine tiefe innere Verwandtschaft verband das entdeutschte Kaisertum mit seinem alten Gegner, dem Heiligen Stuhle. Die Wiener Politik zeigt wie die römische jenen Charakterzug heuchlerischer Salbung, welcher die Theokratie zur unsittlichsten aller Staatsformen macht. In Wien wie in Rom die gleiche Unfähigkeit, das Recht des Gegners zu verstehen. Alle Habsburger, die heitere Liebenswürdigkeit Maria Theresias so gut wie der stumpfsinnige Hochmut Leopolds I., ertragen die Schläge des Schicksals in dem zuversichtlichen Glauben, daß ihr Haus dem Herzen Gottes am nächsten stehe, und nur böse, gottlose Menschen das fromme Erzhaus zu bekämpfen wagen. Hier wie dort dieselbe starre Unbeweglichkeit in allen Stürmen der Jahrhunderte: jeder schmähliche Friede, den die lebendigen Mächte der Geschichte dem alten Kaiserhause auferlegen, wird von den Habsburgern unterzeichnet mit dem stillen Vorbehalt, daß zur rechten Stunde die unveräußerlichen Rechte kaiserlicher Vollgewalt wieder in Kraft treten sollen, hier wie dort dieselbe Dreistigkeit theokratischer Mythenbildung und Rechtsverdrehung. Indem Maria Theresia sich wider den rechtmäßigen Kaiser Karl VII. empört, trägt sie selber die sittliche Entrüstung der beleidigten kaiserlichen Majestät zur Schau; als König Friedrich sodann ihrem drohenden Angriffe zuvorkommt, da schwingt ihr Gemahl, der als schlichter Privatmann an ihrem Hofe lebt, das kaiserliche Zepter und verurteilt den Feind der Königin von Ungarn als Rebellen gegen Kaiser und Reich; unbefangen, als verstände sich's von selber, nimmt nachher das kleine Haus Lothringen alle die herrischen Ansprüche des alten Kaisergeschlechtes wieder auf, und wie die Päpste von dem Throne des Apostelfürsten fabeln, so gebärden sich die Lothringer, als seien die Habsburger niemals ausgestorben. In Wien wie in Rom derselbe hoffärtig träge Kaltsinn gegen das Wohl des eigenen Volkes: sobald die Glaubenseinheit fest begründet und der schweigende Gehorsam der Untertanen gesichert ist, wird die gesamte Macht Österreichs nach außen gewendet. Alles Leben des Staates geht in der europäischen Politik auf, im Innern wird gar nicht regiert, die alte ständische Verwaltung schleppt sich gemächlich dahin in ihren verlebten Formen. Niemand denkt an die Ausbildung einer geordneten Regierungsgewalt, an die Pflege des Wohlstandes und der Bildung, an alle jene unscheinbar großen Aufgaben der inneren Politik, welche einem gesunden weltlichen Staate den besten Inhalt des Lebens bilden. Jahrhundertelang hat die Geschichte Österreichs neben zahlreichen fähigen Feldherren und Diplomaten kein einziges Talent der Verwaltung aufzuweisen. Erst unter Maria Theresia entsinnt sich die Krone wieder der nächsten Pflichten der Monarchie.
Indessen zeigte jene staatenbildende Kraft der neuen Geschichte, die überall zur festen Abrundung der Staatsgebiete drängte, auch in dem bunten Ländergemisch der habsburg-burgundischen Erbschaft ihre Wirksamkeit. Unter Leopold I. wird Ungarn erobert, die Stephanskrone erblich dem Hause Österreich übertragen. Damit beginnt die Geschichte der neuen österreichischen Großmacht, wie gleichzeitig mit dem Großen Kurfürsten die neue deutsche Geschichte. Der Hausbesitz der Habsburger wird zur geographischen Einheit, das Donaureich findet den Schwerpunkt seiner militärischen Macht in Ungarns kriegerischen Völkern. Starke wirtschaftliche und politische Interessen verbinden fortan die deutschen Erblande mit dem Völkergewimmel jener subgermanischen Welt, wo das Deutschtum nur mühsam ein geistiges Übergewicht behauptet; im Verlaufe der langen ruhmvollen Türkenkriege entsteht unter den deutschen, ungarischen und slawischen Kampfgenossen ein Bewußtsein der Gemeinschaft. Durch die Eroberung Ungarns wurde vollendet, was die Politik der Gegenreformation begonnen hatte: die Trennung Österreichs von Deutschland. Solange die Paschas der Osmanen auf der Königsburg von Ofen hausten, führte Osterreich den Markmannenkrieg für die deutsche Gesittung gegen die Barbarei des Ostens; nur mit Deutschlands Hilfe, durch das gute Schwert der Märker, der Sachsen, der Bayern gelang die Vertreibung der Türken aus Ungarn. Seit die Pforte in Schwäche versank, zerriß auch dies letzte Band gemeinsamer Gefahr, das unsere Nation noch an das Kaisertum gekettet hatte. Deutschland und Österreich waren nunmehr zwei selbständige Reiche, allein durch die Formen des Staatsrechts künstlich verbunden; die Zerstörung dieser unwahren Formen blieb für lange Jahrzehnte die große Aufgabe der deutschen Geschichte.
Schritt für Schritt befestigte sich seitdem die Staatseinheit des neuen Österreichs. Die Pragmatische Sanktion verkündete die Unteilbarkeit des kaiserlichen Hausbesitzes. Darauf gab der größte Herrscher des Habsburgerstammes den Erblanden, die bisher nur durch das Kaiserhaus, den Klerus, den Adel und das Heer verbunden gewesen, eine notdürftige gemeinsame Verfassung. Maria Theresia begründete das System des österreichisch-ungarischen Dualismus. Sie stellte die böhmisch-österreichische Hofkanzlei als höchste Behörde über die Kronländer diesseits der Leitha, während die Lande der Stephanskrone in ihrem althistorischen staatsrechtlichen Verbande blieben. Also ward mit sicherem Griffe die Form gebildet, welche allein dies an Gegensätzen überreiche Ländergewirr zusammenhalten konnte; nach mannigfachen, vergeblichen Anläufen zum Einheitsstaat wie zum Staatenbunde ist die Monarchie seitdem immer wieder zu den Gedanken der Kaiserin zurückgekehrt. Auch die Not und der Ruhm der Theresianischen Tage kräftigten den Bestand des Staates; durch acht schwere Kriegsjahre behauptete die stolze Habsburgerin, beharrlich unterstützt von ihren treuen Völkern, das Erbe ihres Hauses gegen eine mächtige Koalition und wie leuchtend auch während des Siebenjährigen Krieges das Gestirn König Friedrichs emporstieg, die Besiegten selber zur Bewunderung zwingend, das kaiserliche Heer trug doch die Kränze von Kollin und Hochkirch, freute sich der Heldengröße seines Loudon, ging mit berechtigtem Selbstgefühl aus dem gewaltigen Kampfe hervor. Lange bevor es ein Kaisertum Österreich gab, redete der allgemeine Sprachgebrauch Europas schon van dem österreichischen Staate und Heere.
Der Besitz der Stephanskrone gewährte dem Kaiserhaus die Möglichkeit, in der europäischen Politik eine feste Richtung folgerecht einzuhalten. Der Eroberer Ungarns, Eugen von Savoyen, wies dem Staate die verheißende Bahn nach dem Schwarzen Meere; vorzudringen bis zu den Mündungen des Stromes und die slawisch-walachischen Völker auf beiden Ufern einer überlegenen Gesittung zu unterwerfen, dies schien fortan der natürliche Beruf des Donaureiches.
Darum galt das entlegene Belgien, das den Staat beständig in die Händel Westeuropas zu verwickeln drohte, bald als eine unbequeme Last; schon zur Zeit der schlesischen Kriege begannen die seitdem beharrlich wiederkehrenden Versuche, den unhaltbaren Außenposten gegen ein nähergelegenes Gebiet auszutauschen. Gleichwohl lernte das Kaiserhaus niemals, in weiser Selbstbeschränkung die gesammelte Kraft des Staates gegen den Südosten zu wenden. Eine nationale Politik war in diesem Reiche der Völkertrümmer ohnehin unmöglich; zu keiner Zeit und am wenigsten in jener Epoche des Absolutismus hat die öffentliche Meinung auf Österreichs diplomatische Haltung irgendwelchen Einfluß ausgeübt. Die europäische Stellung des Staates ward jederzeit allein durch das persönliche Belieben seiner Herrscher bestimmt. Die Macht des Hauses war einst gegründet worden durch eine schlaue und kühne Familienpolitik, die planlos begehrlich nach allen Seiten hin um sich griff, ohne nach der Weltstellung und Eigenart der unterworfenen Länder zu fragen. Die Gedanken dieser dynastischen Staatskunst und die glänzenden Erinnerungen kaiserlicher Weltherrschaft bleiben auch in dem neuen Donaureiche noch lange lebendig. Die Hofburg hält ihre Herrscherstellung im deutschen Reiche beharrlich fest; sie versucht zugleich, durch die Eroberung Bayerns die vorderösterreichischen Besitzungen am Rheine mit den Kernlanden der Monarchie zu verbinden; seit Karl VI. nimmt sie auch die italienische Politik der spanischen Habsburger wieder auf und strebt, jenseits der Alpen die Oberhand zu behaupten; dazwischen hinein spielen in raschem Wechsel kecke Anschläge gegen Polen und die Osmanen: – ein Übermaß unsteter Herrschsucht, das den mächtigen Staat von einer Niederlage zur andern führt.
Also stand die kaiserliche Macht der protestantisch-deutschen Bildung feindselig, den europäischen Aufgaben der deutschen Politik gleichgültig, den Handelsinteressen unserer Küsten mit binnenländischer Beschränktheit gegenüber. Die Habsburg-Lothringer konnten in den unklaren Befugnissen des Kaisertums nur ein willkommenes Mittel sehen, um die gewaltige kriegerische Kraft deutscher Nation auszubeuten für die Zwecke des Hauses Österreich, die Machtfragen dieser Hauspolitik zu entscheiden durch den Mißbrauch der Formen des Reichsrechts. Die altehrwürdige kaiserliche Gerichtsbarkeit ward ein Tummelplatz für rabulistische Künste, Deutschlands auswärtige Politik ein unberechenbares Spiel. Das Reich, von der Hofburg bald fremden Angriffen preisgegeben, bald in undeutsche Händel hineingezogen, mußte regelmäßig den Preis für Österreichs Niederlagen zahlen. Holland und die Schweiz, Schleswig-Holstein, Pommern und das Ordensland, Elsaß und Lothringen gingen wesentlich durch die Schuld der Habsburger dem Reiche verloren: unersetzliche Verluste, minder schmachvoll für jene halbfremde Macht, welche die Kaiserpflicht mit den Interessen ihres Hauses nicht vereinigen konnte, als für die deutsche Nation, die nach solchem Unsegen der Fremdherrschaft nimmer den Willen fand, das Löwenbündnis mit Österreich zu zerreißen. (3-15.)
Es folgt eine Schilderung des Chaos der deutschen Reichsverfassung jener Zeiten und seine Folgen für das Leben der Nation, und dann die hier wiedergegebene Schilderung der
Auf dem Boden dieses Reichsrechts und seiner territorialen Staatsgebilde, und doch in scharfem Gegensatze zu beiden, ist der preußische Staat entstanden. Die zähe Willenskraft der norddeutschen Stämme war dem weicheren und reicheren oberdeutschen Volkstum in der Kraft der Staatenbildung von alters her überlegen. Nur solange der Sachsenstamm die Krone trug, blieb die deutsche Monarchie ein lebendiges Königtum; ihre Macht zerfiel unter den Händen der Franken und der Schwaben, zumeist durch den trotzigen Ungehorsam der sächsischen Fürsten. Dann erwuchsen in Niederdeutschland die zwei mächtigsten politischen Schöpfungen unseres späteren Mittelalters, die Hansa und der Deutsche Orden, beide unabhängig von der Reichsgewalt, oftmals mit ihr verfeindet. Im Norden stand die Wiege der Reformation; an dem Widerstande der Norddeutschen scheiterte die hispanische Herrschaft, und seit die undeutsche Politik der Habsburger den Dualismus im Reiche hervorgerufen, blieb der Norden das Kernland der deutschen Opposition. Die Führung dieser Opposition ging im Laufe des siebzehnten Jahrhunderts von dem unfähigen Geschlechte der Wettiner auf die Hohenzollern über. Der Schwerpunkt deutscher Politik verschob sich nach dem Nordosten.
Dort in den Marken jenseits der Elbe war aus dem Grundstock der niedersächsischen Eroberer, aus Einwanderern von allen Landen deutscher Zunge und aus geringen Trümmern des alteingesessenen Wendenvolkes ein neuer norddeutscher Stamm emporgewachsen, hart und wetterfest, gestählt durch schwere Arbeit auf kargem Erdreich wie durch die unablässigen Kämpfe des Grenzerlebens, klug und selbständig nach Kolonistenart, gewohnt mit Herrenstolz auf die slawischen Nachbarn herabzusehen, so schroff und schneidig, wie es die gutmütig gespaßige Derbheit des niederdeutschen Charakters vermag. Dreimal hatte dies vielgeprüfte Land das rauhe Tagewerk der Kulturarbeit von vorn begonnen: zuerst als die askanischen Eroberer die Tannenwälder an den Havelseen rodeten und ihre Städte, Burgen und Klöster im Wendenlande erbauten; dann abermals zu Beginn des fünfzehnten Jahrhunderts, als die ersten Hohenzollern den unter bayrisch-lützelburgischer Herrschaft völlig zerrütteten Frieden und Wohlstand sorgsam wiederherstellten; und jetzt wieder war Brandenburg durch die Schrecken der dreißig Jahre schwerer heimgesucht als die meisten deutschen Lande, mußte sich die ersten Anfänge der Gesittung von neuem erobern.
Die rauhe Sitte des armen Grenzlandes blieb während des Mittelalters im Reiche übel berüchtigt. Der römischen Kirche ist aus dem Sande der Marken niemals ein Heiliger erwachsen; selten erklang ein Minnelied an dem derben Hofe der askanischen Markgrafen. Die fleißigen Zisterzienser von Lehnin trachteten allezeit mehr nach dem Ruhme tüchtiger Landwirte als nach den Kränzen der Kunst und Gelehrsamkeit; den handfesten Bürgern der märkischen Städte verfloß das Leben in grober, hausbackener Arbeit, nur die Prenzlauer durften ihre Marienkirche mit den prächtigen Bauten der reichen Ostseestädte vergleichen. Allein durch kriegerische Kraft und starken Ehrgeiz ragte der Staat der Brandenburger über die Nachbarstämme hervor; schon die Askanier und die Lützelburger haben mehrmals den Plan erwogen, hier in der günstigen Lage zwischen dem Elb- und Odergebiete, zwischen den schwächlichen Kleinstaaten Mecklenburgs, Pommerns und Schlesiens eine Großmacht des Nordostens zu errichten. Noch größer schien sich das Schicksal der Marken zu gestalten, als die Burggrafen von Nürnberg den Kurhut empfingen: Friedrich I. war der Führer der deutschen Fürsten bei der Reformbewegung in Reich und Kirche, Albrecht Achill der bewunderte Held des ritterlichen Adels in den Kämpfen gegen die Städte. Zugleich begann im Innern eine kühne und feste monarchische Politik. Früher als das Heilige Reich erhielt die Mark ihren Landfrieden durch Friedrich I.; früher als in anderen Reichslanden wurde hier die Unteilbarkeit des Staates gesetzlich ausgesprochen durch die Gesetze Albrecht Achills. Adel und Städte beugten ihren trotzigen Nacken vor der Willenskraft der drei ersten Hohenzollern. Aber dem vielverheißenden Anlaufe entsprach der Fortgang nicht. Die Nachfolger jener hochstrebenden Helden sanken bald zurück in die bequeme Enge deutscher Kurfürstenpolitik. Sie verloren die kaum errungene landesherrliche Gewalt zum guten Teile wieder an den Landtag, hielten mit ihren übermütigen Herren Ständen wohl oder übel Haus, suchten wie alle mächtigeren Reichsfürsten Verwaltung und Rechtspflege ihres Landes vor jedem Eingriff der Reichsgewalt zu behüten und blieben dabei dem Kaiserhause hold und gewärtig; sie traten spät und zögernd in die lutherische Kirche ein, überließen die Führung der protestantischen Parteien gemächlich an Kursachsen und Kurpfalz.
Mit gutem Grunde sagt König Friedrich in den Denkwürdigkeiten seines Hauses: wie ein Fluß erst wertvoll werde, wenn er schiffbar sei, so gewinne die Geschichte Brandenburgs erst gegen Anfang des siebzehnten Jahrhunderts tiefere Bedeutung. Erst unter Kurfürst Johann Sigismund traten drei entscheidende Ereignisse ein, welche den Marken eine große Zukunft, eine von dem Leben der übrigen Reichsländer grundverschiedene Entwicklung verhießen: die Vereinigung des säkularisierten Deutsch-Ordenslandes mit Brandenburg, der Übertritt des Fürstenhauses zur reformierten Kirche, endlich die Erwerbung der niederrheinischen Grenzlande.
Auch andere Reichsfürsten, Katholiken wie Protestanten, hatten ihre Macht durch die Güter der alten Kirche erweitert. Im Ordenslande aber wagte die Politik der deutschen Protestanten ihren verwegensten Griff; auf Luthers Rat entriß der Hohenzoller Albrecht der römischen Kirche das größte ihrer geistlichen Territorien. Das gesamte Gebiet des neuen Herzogtums Preußen war entfremdetes Kirchengut; des Papstes Bann und des Kaisers Acht trafen den abtrünnigen Fürsten. Niemals wollte der Römische Stuhl diesen Raub anerkennen. Indem die märkischen Hohenzollern die Herzogskrone ihrer preußischen Vettern mit ihrem Kurhute verbanden, brachen sie für immer mit der römischen Kirche; ihr Staat stand und fiel fortan mit dem Protestantismus. Zur selben Zeit nahm Johann Sigismund das reformierte Bekenntnis an. Er legte damit den Grund für die folgenreiche Verbindung seines Hauses mit dem Heldengeschlechte der Oranier und trat aus der leidsamen Trägheit des erstarrten Luthertums hinüber in die Gemeinschaft jener Kirche, welche allein noch die politischen Gedanken der Reformation mit kriegerischem Mute verfocht. Der calvinische Landesherr beherrschte in den Marken ein hart lutherisches Volk; in Preußen saßen Lutheraner und Katholiken, in den niederrheinischen Landen die Bekenner aller drei großen Kirchen Deutschlands bunt durcheinander. Von dem Glaubenshasse der eigenen Untertanen bedroht, sah sich das Fürstenhaus gezwungen, allen kirchlichen Parteien durch duldsame Schonung gerecht zu werden. Dergestalt ward die eigentümliche Doppelstellung der Hohenzollern zu unserm kirchlichen Leben begründet: sie standen, seit die Macht der Pfälzer zerfiel, an der Spitze des streitbaren Protestantismus im Reiche und vertraten doch zugleich den Grundgedanken der neuen deutschen Gesittung, die Glaubensfreiheit. Mit dem Scharfblicke des Hasses sagten schon in den Tagen Johann Sigismunds kaiserliche Staatsmänner voraus: es stehe zu befürchten, daß der Brandenburger nunmehr der Führer der gesamten protestantischen Partei werden könne.
Mit der preußischen Herzogskrone gewann das Haus Hohenzollern jene stolze Kolonie des gesamten Deutschlands, die mit dem Blute aller deutschen Stämme noch reicher als die Mark benetzt war und sich vor allen Landschaften des Reiches einer großen und heldenhaften Geschichte rühmte: hier in dem »neuen Deutschland« hatte einst der Deutsche Orden die baltische Großmacht des Mittelalters aufgerichtet. Das entlegene, durch die Feindschaft des polnischen Lehnsherrn wie der skandinavischen und moskowitischen Nachbarn unablässig bedrohte Grenzland verwickelte den Staat der Hohenzollern in die wirrenreichen Kämpfe des nordischen Staatensystems. Während er also an der Ostsee festen Fuß faßte, erwarb Johann Sigismund zugleich das Herzogtum Cleve nebst den Grafschaften Mark und Ravensberg, ein Gebiet von geringem Umfang, aber hochwichtig für die innere Entwicklung wie für die europäische Politik des Staates: Lande von treu bewahrter alter Bauern- und Städtefreiheit, reicher und höher gesittet als die dürftigen Kolonien des Ostens, unschätzbare Außenposten an Deutschlands schwächster Grenze. In Wien und Madrid ward es als eine schwere Niederlage empfunden, daß eine neue evangelische Macht sich festsetzte dort am Niederrheine, wo Spanier und Niederländer um Sein oder Nichtsein des Protestantismus kämpften, dicht vor den Toren Kölns, der Hochburg des römischen Wesens im Reiche. Der junge Staat umschloß auf seinen fünfzehnhundert Geviertmeilen bereits fast alle die kirchlichen, ständischen, landschaftlichen Gegensätze, welche das Heilige Reich mit lautem Hader erfüllten: mit gespreizten Beinen gleich dem Koloß von Rhodus stand er über den deutschen Landen und stemmte seine Füße auf die bedrohten Marken am Rhein und Memelstrom.
Eine Macht in solcher Lage konnte nicht mehr in dem engen Gesichtskreise deutscher Territorialpolitik verharren; sie mußte versuchen, ihre weithin zerstreuten Gebiete zu einer haltbaren Masse abzurunden, sie war gezwungen, für das Reich zu handeln und zu schlagen, denn jeder Angriff der Fremden auf deutschen Boden schnitt ihr in ihr eigenes Fleisch. Und dieser Staat, der nur deutsches Land beherrschte, stand doch der Reichsgewalt in glücklicher Unabhängigkeit gegenüber. Jenen Reichsständen, deren Gebiete allesamt innerhalb der Reichsgrenzen lagen, war eine selbständige europäische Politik immerhin erschwert; andere Fürstengeschlechter, die sich durch die Erwerbung ausländischer Kronen den hemmenden Fesseln der Reichsverfassung entzogen, gingen dem deutschen Leben verloren. Auch dem Hause Brandenburg sind oftmals lockende Rufe aus der Ferne erklungen: die Herrschaft in Schweden, in Polen, in den Niederlanden, in England schien ihm offenzustehen. Doch immer hat bald die Macht der Umstände, bald die verständige Selbstbeschränkung des Fürstengeschlechts diese gefährlichen Versuchungen abgewiesen. Eine segensreiche Fügung, die dem ernsten Sinne nicht als Zufall gelten darf, nötigte die Hohenzollern in Deutschland zu verbleiben. Sie bedurften der fremden Kronen nicht; denn sie dankten ihre unabhängige Stellung in der Staatengesellschaft dem Besitze des Herzogtums Preußen, eines kerndeutschen Landes, das mit allen Wurzeln seines Lebens an dem Mutterlande hing und gleichwohl dem staatsrechtlichen Verbande des Reiches nicht angehörte. Also mit dem einen Fuß im Reiche, mit dem anderen draußen stehend, gewann der preußische Staat das Recht, eine europäische Politik zu führen, die nur deutsche Ziele verfolgen konnte. Er durfte für Deutschland sorgen, ohne nach dem Reiche und seinen verrotteten Formen zu fragen.
Dem Historiker ist nicht gestattet, nach der Weise der Naturforscher das Spätere aus dem Früheren einfach abzuleiten. Männer machen die Geschichte. Die Gunst der Weltlage wird im Völkerleben wirksam erst durch den bewußten Menschenwillen, der sie zu benutzen weiß. Noch einmal stürzte der Staat der Hohenzollern von seiner kaum errungenen Machtstellung herab; er trieb dem Untergange entgegen, solange Johann Sigismunds Nachfolger, Georg Wilhelm, aus matten Augen schläfrig in die Welt blickte. Auch dieser neue Versuch deutscher Staatenbildung schien wieder in der Armseligkeit der Kleinstaaterei zu enden, wie vormals die unter ungleich günstigeren Anzeichen aufgestiegenen Mächte der Welfen, der Wettiner, der Pfälzer. Da trat als ein Fürst ohne Land, mit einem Stecken und einer Schleuder Kurfürst Friedrich Wilhelm ein in das verwüstete deutsche Leben, der größte deutsche Mann seiner Tage, und beseelte die schlummernden Kräfte seines Staates mit der Macht des Wollens. Seitdem blieb die Kraft des zweckbewußten königlichen Willens der werdenden deutschen Großmacht unverloren. Man kann sich die englische Geschichte vorstellen ohne Wilhelm III., die Geschichte Frankreichs ohne Richelieu; der preußische Staat ist das Werk seiner Fürsten. In wenigen andern Ländern bewährte das Königtum so stetig jene beiden Tugenden, die seine Größe bilden: den kühnen, weit vorausschauenden Idealismus, der das bequeme heute dem größeren Morgen opfert, und die strenge Gerechtigkeit, die jede Selbstsucht in den Dienst des Ganzen zwingt. Nur der Weitblick der Monarchie vermochte in diesen armseligen Gebietstrümmern die Grundsteine einer neuen Großmacht zu erkennen. Nur in dem Pflichtgefühle der Krone, in dem monarchischen Staatsgedanken fanden die verfeindeten Stämme und Stände, Parteien und Kirchen, welche dieser Mikrokosmos des deutschen Lebens umfaßte, ihren Schutz und ihren Frieden.
Schon in den ersten Jahren des Großen Kurfürsten tritt die Eigenart der neuen deutschen Macht scharf und klar heraus. Der Neffe Gustav Adolfs, der sein junges Heer unter dem alten Protestantenrufe »Mit Gott« in die Schlachten führt, nimmt die Kirchenpolitik seines Oheims wieder auf. Er zuerst ruft in den Hader der Kirchen das erlösende Wort hinein, fordert die allgemeine unbedingte Amnestie für alle drei Bekenntnisse. Es war das Programm des Westfälischen Friedens. Und weit über die Vorschriften dieses Friedensschlusses hinaus ging die Duldung, welche die Hohenzollern im Innern ihres Landes walten ließen. Brandenburg galt vor dem Reichsrechte als ein evangelischer Stand und wurde doch der erste Staat Europas, der die volle Glaubensfreiheit gewährte. Das bunte Sektenwesen in den Niederlanden verdankte seine ungebundene Bewegung nur der Anarchie, der Schwäche des Staates; hier aber ruhte die Gewissensfreiheit auf den Gesetzen einer kraftvollen Staatsgewalt, die sich das Recht der Oberaufsicht über die Kirchen nicht rauben ließ. In den anderen deutschen Territorien bestand überall noch eine herrschende Kirche, die den beiden anderen Konfessionen nur den Gottesdienst nicht gänzlich untersagen durfte; in Brandenburg stand die Krone frei über allen Kirchen und schützte die Parität. Derweil Österreich seine besten Deutschen gewaltsam austreibt, öffnet eine Gastfreundschaft ohnegleichen die Grenzen Brandenburgs den Duldern jeglichen Glaubens, wieviel tausendmal ist in den Marken das Danklied der böhmischen Exulanten erklungen: »Dein Volk, das sonst im Finstern saß, von Irrtum ganz umgeben, das findet hier nun sein Gelaß und darf in Freiheit leben!« Als Ludwig XIV. das Edikt von Nantes aufhebt, da tritt ihm der kleine brandenburgische Herr als Wortführer der protestantischen Welt kühn entgegen und bietet durch sein Potsdamer Edikt den Söhnen der Märtyrerkirche Schirm und Obdach. Überall, wo noch die Flammen des alten Glaubenshasses aus dem deutschen Boden emporschlagen, schreiten die Hohenzollern schützend und versöhnend ein. Sie rufen die Wiener Judenschaft an die Spree, sie sichern »via facti«, des Reiches ungefragt, den Protestanten Heidelbergs den Besitz ihrer Kirchen, sie bereiten den evangelischen Salzburgern in Ostpreußen eine neue Heimat. So strömte Jahr für Jahr eine Fülle jungen Lebens in die entvölkerten Ostmarken hinüber; das deutsche Blut, das die Habsburger von sich stießen, befruchtete die Lande ihres Nebenbuhlers. Beim Tode Friedrichs II. bestand etwa ein Drittel der Bevölkerung des Staates aus den Nachkommen der Einwanderer, die seit den Tagen des Großen Kurfürsten zugezogen.
Erst diese Kirchenpolitik der Hohenzollern hat das Zeitalter der Religionskriege abgeschlossen; sie zwang schließlich die besseren weltlichen Fürsten zur Nachahmung und entzog zugleich den geistlichen Staaten das letzte Recht des Daseins: denn wozu noch geistliche Reichsfürsten, seit die katholische Kirche unter den Flügeln des preußischen Adlers gesicherte Freiheit fand? Friedrich Wilhelm erwarb im Westfälischen Frieden die großen Stifter Magdeburg, Halberstadt, Minden, Cammin. Sein Staat ward wie kein anderer in Deutschland durch die Güter der römischen Kirche bereichert, doch er rechtfertigte den Raub, denn er übernahm mit dem Kirchengute zugleich die großen Kulturaufgaben, welche die Kirche des Mittelalters einst für den unreifen Staat erfüllt hatte, Armenpflege und Volkserziehung, und er verstand den neuen Pflichten zu genügen. Dasselbe Gebot der Selbsterhaltung, das die Hohenzollern nötigte, Frieden zu halten zwischen Katholiken und Protestanten, drängte sie auch, innerhalb der evangelischen Kirche zwischen den Gegensätzen zu vermitteln. Der Gedanke der evangelischen Union blieb dem preußischen Staate eigentümlich, seit Johann Sigismund zuerst den lutherischen Eiferern das Zetern wider die Calvinisten untersagte, und was anfänglich die Not erzwang, ward endlich zur politischen Überlieferung, zur Herzenssache des Fürstenhauses.
Wie der preußische Staat also der deutschen Nation den kirchlichen Frieden sicherte, der ihr erlaubte, wieder teilzunehmen an dem Schaffen der Kulturvölker, so gab er ihr auch zurück, was ihr seit den Tagen der Glaubensspaltung fehlte: einen Willen gegen das Ausland. Überall im Reiche verkamen reiche Kräfte in engen Verhältnissen, und wer hoch hinausstrebte, eilte in die Fremde; da faßte Friedrich Wilhelms gewaltige Hand die dürftigen Mittel der ärmsten deutschen Gebiete entschlossen zusammen und zwang sein Volk, der Heimat zu dienen, und zeigte dem Weltteil wieder, was das deutsche Schwert vermöge. Das Reich zehrte von alten Erinnerungen, bewahrte die Staatsformen des Mittelalters mitten im neuen Europa; diese norddeutsche Macht aber wurzelte fest in der modernen Welt, über den Trümmern der alten Kirchenherrschaft und der altständischen Rechte stieg ihre starke Staatsgewalt empor, sie lebte den Sorgen der Gegenwart und den Plänen einer großen Zukunft. Mit einem Schlage führte Friedrich Wilhelm seinen mißachteten kleinen Staat in die Reihe der europäischen Mächte ein; seit der Schlacht von Warschau stand Brandenburg den alten Militärstaaten ebenbürtig zur Seite, wie eine Insel schien diese festgeeinte kriegerische Macht urplötzlich emporzusteigen aus der tobenden See deutscher Vielherrschaft, vor den verwunderten Blicken eines Volkes, das längst verlernt, an raschen Entschluß und großes Gelingen zu glauben. So scharf wehte der frische Luftzug des bewußten politischen Willens durch die Geschichte des neuen preußischen Staates, so straff und gewaltsam ward jeder Muskel seines Volks zur Arbeit angespannt, so grell erschien das Mißverhältnis zwischen seinem Ehrgeiz und seinen Mitteln, daß er bei Freund und Feind durch anderthalb Jahrhunderte nur als eine künstliche Schöpfung galt. Die Welt hielt für das willkürliche Wagnis einiger Lieblinge des Glücks, was der notwendige Neubau des uralten nationalen Staates der Deutschen war.
Preußen behauptete wie in den deutschen Glaubenshändeln, so auch in den großen Machtkämpfen des Weltteils eine schwierige Mittelstellung. Solange das protestantische Deutschland willenlos darniederlag, zerfiel Europa in zwei getrennte Staatensysteme, die einander selten berührten. Die Staatenwelt des Südens und Westens kämpfte um die Beherrschung Italiens und der rheinisch-burgundischen Lande, während die Mächte des Nordens und Ostens sich um die Trümmerstücke des deutschen Ordensstaates und um den Nachlaß der Hansa, die Ostseeherrschaft, stritten. Der Osten und der Westen begegneten sich nur in dem einen Verlangen, die ungeheure Lücke, die in der Mitte des Weltteils klaffte, immerdar offen zu halten. Nun erhob sich die jugendliche deutsche Macht, das vielverspottete »Reich der langen Grenzen«. Sie gehörte dem Weltteil an, ihr versprengtes Gebiet berührte die Marken aller Großmächte des Festlands. Sobald sie anfing mit selbständigem Willen sich zu bewegen, griffen die Mächte des Westens in die Händel des Ostens ein, immer häufiger verschlangen und durchkreuzten sich die Interessen der beiden Staatensysteme.
Der geborene Gegner der alten, auf Deutschlands Ohnmacht ruhenden Ordnung Europas, stand Preußen in einer Welt von Feinden, deren Eifersucht seine einzige Rettung blieb, ohne irgendeinen natürlichen Bundesgenossen, denn noch war der deutschen Nation das Verständnis dieser jungen Kraft nicht aufgegangen. Und dies in jener Zeit der harten Staatsräson, da der Staat nur Macht war und die Vernichtung des Nachbarn als seine natürliche Pflicht betrachtete, wie das Haus Savoyen sich hindurchwand durch die Übermacht der Habsburger und der Bourbonen, ebenso, doch ungleich schwerer bedrängt mußte Preußen sich seinen Weg bahnen zwischen Österreich und Frankreich hindurch, zwischen Schweden und Polen, zwischen den Seemächten und der trägen Masse des Deutschen Reiches, mit allen Mitteln rücksichtsloser Selbstsucht, immer bereit, die Front zu wechseln, immer mit zwei Sehnen am Bogen.
Kurbrandenburg empfand bis in das Mark seines Lebens, wie tief das ausländische Wesen sich in Deutschland eingefressen hatte. Alle die zuchtlosen Kräfte ständischer Libertät, welche der strengen Ordnung der neuen Monarchie widerstrebten, stützten sich auf fremden Beistand, holländische Garnisonen lagen am Niederrhein und begünstigten den Kampf der clevischen Stände wider den deutschen Landesherrn, die Landtage von Magdeburg und der Kurmark rechneten auf Österreich, der polenzende Adel in Königsberg rief den polnischen Oberlehnsherrn zu Hilfe gegen den märkischen Despotismus. Im Kampfe mit der Fremdherrschaft wurde die Staatseinheit dieser zerstreuten Gebiete und das Ansehen ihres Landesherrn begründet. Friedrich Wilhelm zerstörte die Barriere der Niederländer im deutschen Nordwesten, vertrieb ihre Truppen aus Cleve und Ostfriesland; er befreite Altpreußen von der polnischen Lehenshoheit und beugte den Königsberger Landtag unter seine Souveränität. Dann ruft er der tauben Nation sein Mahnwort zu: »Gedenke, daß du ein Deutscher bist!« und versucht die Schweden vom Reichsboden zu verdrängen. Zweimal gelang der Mißgunst Frankreichs und Österreichs, den Brandenburger um den Lohn seiner Siege, um die Herrschaft in Pommern zu betrügen; den Ruhm des Tages von Fehrbellin konnten sie ihm nicht rauben. Endlich wieder, nach langen Jahrzehnten der Schande, ein glänzender Triumph deutscher Waffen über die erste Kriegsmacht der Zeit; die Welt erfuhr, daß Deutschland wieder wage, sein Hausrecht zu wahren. Der Erbe der deutschen Kirchenpolitik Gustav Adolfs zersprengte den verwegenen Bau des skandinavischen Ostseereiches, den das Schwert jenes Schwedenkönigs zusammengefügt. Die beiden künstlichen Großmächte des siebzehnten Jahrhunderts, Schweden und Holland, begannen zurückzutreten in ihre natürlichen Schranken, und der neue Staat, der sich an ihrer Stelle erhob, zeigte weder die ausschweifende Eroberungslust der schwedischen Militärmacht noch den monopolsüchtigen Kaufmannsgeist der Niederländer. Er war deutsch, er begnügte sich, das Gebiet seiner Nation zu schirmen und vertrat gegen die Weltherrschaftspläne der Bourbonen den Gedanken des europäischen Gleichgewichts, der Staatenfreiheit. Als die Republik der Niederlande dem Angriff Ludwigs XIV. zu erliegen drohte, da fiel Brandenburg dem Eroberer in den erhobenen Arm; Friedrich Wilhelm führte den einzigen ernsthaften Krieg, den das Reich zur Wiedereroberung des Elsasses gewagt hat, und noch auf seinem Sterbebette entwarf er mit seinem oranischen Neffen den Plan, das evangelische und parlamentarische England zu retten vor der Willkür der Stuarts, der Vasallen Ludwigs. Überall, wo diese junge Macht allein stand, kämpfte sie siegreich, überall unglücklich, wo sie dem Wirrwarr des Reichsheeres sich anschließen mußte.
So erwies sich die neue Staatsbildung schon in ihren Anfängen als eine europäische Notwendigkeit. Deutschland aber fand endlich wieder einen Mehrer des Reichs. Mit dem Aufsteigen Preußens begann die lange blutige Arbeit der Befreiung Deutschlands von fremder Herrschaft. Seit hundert Jahren von den Nachbarn beraubt, sah das Reich jetzt zum ersten Male das ausländische Regiment von einigen Schollen deutscher Erde zurückweichen. In diesem einen Staate erwachte wieder, noch halb bewußtlos, wie trunken vom langen Schlummer, der alte, herzhafte, vaterländische Stolz. Das treue Landvolk der Grafschaft Mark begann den kleinen Krieg gegen die Franzosen, die Bauern von Ostpreußen setzten in wilder Jagd den fliehenden Schweden nach. Wenn die Bauernlandwehr der Altmark, an den Elbdeichen Wache haltend wider die Schweden, auf ihre Fahnen schrieb: »wir sind Bauern von geringem Gut und dienen unserm gnädigsten Kurfürsten und Herrn mit Gut und Blut«, so klingt uns aus den ungelenken Worten schon derselbe Heldensinn entgegen, welcher dereinst in freieren Tagen Deutschlands Schlachten schlagen sollte unter dem Rufe: »Mit Gott für König und Vaterland!«
Während die Hausmacht der Habsburger aus Deutschland hinaus wuchs, drängte ein stetig waltendes Schicksal den Staat der Hohenzollern tief und tiefer in das deutsche Leben hinein, zuweilen wider den Willen seiner Herrscher. (24-33.)
Nicht Friedrich hat den deutschen Dualismus geschaffen, wie Mit- und Nachwelt ihm vorwarf; der Dualismus bestand seit Karl V., und Friedrich war der erste, der ernstlich ihn zu vernichten versuchte. Sobald die Verständigung mit dem Wiener Hofe sich als unmöglich erwies, faßte der König den kühnen Gedanken, die Kaiserkrone für immer dem Hause Österreich zu entwinden und also das letzte Band zu zerreißen, das diese Dynastie noch an Deutschland kettete. Er näherte sich den bayrischen Wittelsbachern, dem einzigen unter den mächtigeren deutschen Fürstengeschlechtern, das gleich den Hohenzollern nur deutsche Lande beherrschte und gleich ihnen in Österreich seinen natürlichen Gegner sah; er begründete zuerst jenes Bündnis zwischen den beiden größten rein deutschen Staaten, das sich seitdem so oft, und immer zum Heile für das Vaterland erneuert hat. Der Kurfürst von Bayern empfing die kaiserliche Würde, und Friedrich hoffte diesem neuen Kaisertume, das er selber »mein Werk« nannte, an der Krone Böhmen einen festen Rückhalt zu sichern.
Und alsbald erwachte in Berlin wie in München wieder jener rettende Gedanke der Säkularisation, der sich allezeit unabwendbar aufdrängte, sobald man die heilende Hand legte an den siechen Körper des Reichs. Es war im Werke, die Macht der größeren weltlichen Reichsstände, welche Friedrich als die allein lebensfähigen Glieder des Reichs erkannte, auf Kosten der theokratischen und republikanischen Territorien zu verstärken; eine rein weltliche Staatskunst schickte sich an, die politischen Ideen der Reformation zu verwirklichen. Einige geistliche Gebiete Oberdeutschlands sollten säkularisiert, auch mehrere Reichsstädte den benachbarten fürstlichen Gebieten zugeschlagen werden. Mit gutem Grunde klagte Österreich, wie schwer dies von Preußen geleitete bayrische Kaisertum den Adel und die Kirche zu schädigen drohe. Traten jene unfertigen Gedanken ins Leben, so war der deutsche Dualismus nahezu beseitigt, die Reichsverfassung, selbst wenn ihre Formen blieben, in ihrem Wesen umgestaltet; Deutschland wurde ein Bund weltlicher Fürsten unter Preußens beherrschendem Einfluß; die geistlichen Staaten, die Reichsstädte, der Schwarm der kleinen Grafen und Herren, des habsburgischen Rückhalts beraubt, verfielen dem Untergange, und das Trutzdeutschland im Herzen des Reichs, die Krone Böhmen, ward für die germanische Gesittung erobert. So konnte Deutschland aus eigener Kraft jene notwendige Revolution vollziehen, die ihm zwei Menschenalter später der Machtspruch des Auslandes schimpflich auferlegt hat. Aber das Haus Wittelsbach, ohnehin dem deutschen Leben entfremdet durch die erbliche Verbindung mit Frankreich wie durch die Härte katholischer Glaubenseinheit, erwies in großer Zeit eine klägliche Unfähigkeit; der Nation fehlte jedes Verständnis für die verheißungsvolle Gunst des Augenblicks. Auf einer Rundreise durch das Reich gewann der König einen so trostlosen Einblick in die Zwietracht, die Habgier, die sklavische Angst der kleinen Höfe, daß er für immer seine deutschen Hoffnungen herabzustimmen lernte; auch seine eigene Macht reichte noch nicht aus, den tapferen Widerstand der Königin von Ungarn gänzlich zu brechen. Der Zweite Schlesische Krieg endete trotz der Triumphe von Hohenfriedberg und Kesselsdorf mit der Wiederherstellung des österreichischen Kaisertums. Das Reich verblieb in seiner verfassungslosen Zerrüttung, Franz von Lothringen bestieg den Kaiserthron nach dem Tode Karls VII., und von neuem schloß sich der alte Bund zwischen Österreich und der katholischen Reichstagsmehrheit.
Die Lösung des deutschen Dualismus war mißlungen; schroffer, feindseliger denn je zuvor gingen die Parteien im Reiche auseinander. Gleichwohl blieb dem Könige ein dauernder Gewinn gesichert: die Großmachtstellung Preußens. Er hatte Bayern vom Untergange gerettet, die Macht seines eigenen Landes um mehr als ein Drittel verstärkt, die lange Kette habsburgisch-wettinischer Gebiete, welche den preußischen Staat im Süden und Osten umschloß, mit einem kühnen Stoße zersprengt, das stolze Kaiserhaus zum ersten Male vor einem Reichsfürsten tief gedemütigt. Er dankte alle seine Siege allein der eigenen Kraft und trat den alten Mächten mit so festem Stolze entgegen, daß selbst Horatio Walpole gestehen mußte, dieser Preußenkönig halte jetzt die Wage des europäischen Gleichgewichts in seinen Händen. Sachsen, Bayern, Hannover, alle die Mittelstaaten, welche soeben noch mit der Krone Preußen gewetteifert, wurden durch die schlesischen Kriege für immer in die zweite Reihe zurückgeworfen, und hoch über den zahllosen kleinen Gegensätzen, die das Reich zerklüfteten, erhob sich die eine Frage: Preußen oder Österreich? Die Frage der deutschen Zukunft war gestellt. Der König blickte jetzt aus freier Höhe auf das Gewimmel der deutschen Reichsstände hernieder, gab auf beleidigende Zumutungen gern die spöttische Antwort, ob man ihn etwa für einen Herzog von Gotha oder für einen rheinischen Fürsten halte; er spielte bereits, den kleinen Nachbarn gegenüber, die Rolle des wohlmeinenden Gönners und Beschützers, die er in seinem Anti-Machiavell als die schönste Pflicht des Starken bezeichnet hatte, und schon sammelte sich am Reichstage eine kleine preußische Partei, die norddeutschen Höfe begannen ihre Prinzen im Heere des Königs dienen zu lassen.
Unterdessen verwuchs die neue Erwerbung überraschend schnell mit der Monarchie; der Staat erprobte zum ersten Male auf einem weiten Gebiete jene starke Anziehungs- und Anbildungskraft, die er seitdem in deutschen und halbdeutschen Landen überall bewährt hat. Die frischen Kräfte der modernen Welt hielten ihren Einzug in die verwahrloste, unter ständischem und geistlichem Drucke darniedergehaltene Provinz; das monarchische Beamtentum verdrängte die Adelsherrschaft, das strenge Recht den Nepotismus, die Glaubensfreiheit den Gewissenszwang, das deutsche Schulwesen den tiefen Seelenschlaf pfäffischer Bildung; der träge knechtische Bauer lernte wieder auf ein Morgen zu hoffen, und sein König verbot ihm, den Beamten kniend den Rock zu küssen.