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Susan ist verzweifelt. Sie kann sich, ihre Familie und ihre Freunde nach wie vor nicht gegen Jonathans dämonische Kräfte schützen. Wird es Jonathans Erzfeind Raymond gelingen, den Fluch, der über der Stadt und ihren Einwohnern liegt, zu brechen und Jonathan erneut zu verbannen? Ein dramatischer Kampf zwischen Gut und Böse entbrennt. Letztendlich liegt die Rettung in Susans Händen …
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Seitenzahl: 571
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Dieses Buch widme ich meiner Familie
und meinem Mann.
Für die liebevolle Unterstützung
in allen schwierigen Lebenslagen.
Ich bin froh, dass ich euch habe
und würde euch nicht missen wollen.
Eine Tinktur mit Folgen
Hexen gibt es doch
Der erste, reale Kontakt
Neugierige Nachbarn
Endlich Antworten?
Hoffnungslosigkeit
Eine nervenaufreibende Nacht
Erklärungsversuche
Die Reise in die Vergangenheit
Puzzleteile
Ein erster Lichtblick
Vorsichtige Annäherungsversuche
Endlich erwacht
Entscheidungen –
Raymonds Gedanken
Kein Ende in Sicht
Eine belastende Entdeckung
Ein schwerwiegender Fehler
Lucy
Das Böse schläft nie – Jonathans Gedanken
Rückzug?
Keine andere Wahl
Konfrontation mit dem Bösen
Aufklärungen
Unvermeidliches Aufeinandertreffen
Ungeplante Konfrontation
Ein Lichtblick
Der Kampf beginnt
Die aufregendsten Sommerferien meines Lebens waren noch nicht zu Ende.
Was würde noch geschehen?
Der Mord an Nancy Scott ist weiterhin ungeklärt.
Tina liegt noch immer im Koma.
Die Fehlgeburt, die Alex’ Mutter erleiden musste, stürzt die ganze Familie in Verzweiflung.
War wirklich Jonathan an den ganzen Ereignissen schuld? Kann Miranda helfen?
Ist Raymond die Hilfe, die ich mir so sehnlichst wünsche?
Ich hoffe, bald eine Antwort auf meine Fragen zu bekommen …
Benommen setzte ich mich aufrecht. Mein Handy war der Grund für mein plötzliches Erwachen. Ich schaute auf das Display, es war Mike. Mit starkem Herzklopfen hob ich ab.
»Ja, Mike. Was gibt’s?«
»Susan, hast du vielleicht Zeit? Kommst du heute ins Krankenhaus? Mir geht es nicht so gut.« »Sicher«, nuschelte ich verschlafen.
»Habe ich dich geweckt? Das tut mir leid.«
»Nein, Quatsch, alles in Ordnung«, sagte ich schnell. »Ich bin erst spät eingeschlafen, wollte aber sowieso gerade aufstehen. Ist etwas mit Tina?« Er schluckte. »Nein, alles unverändert. Ich wollte nur mal so mit jemandem reden.«
»Okay, kein Problem. Ich mache mich fertig und komme dann vorbei.«
»Gut, bis dann.«
»Ja, bis später.« Er legte auf.
Schnell zog ich mich an und lief ins Bad. Danach schnappte ich mir meinen Autoschlüssel und rannte ein Stockwerk tiefer zu Alex. Ich wollte ihn fragen, ob es okay wäre, wenn ich heute später zu ihm kommen würde. Da ich das Gefühl hatte, dass Mike ein Gespräch unter vier Augen vorziehen würde.
Ich läutete zweimal und wartete. Schließlich öffnete mir Taylor. »Hallo, Susan«, begrüßte er mich freundlich. »Wie geht’s dir?«
»Ganz gut. Ist Alex da?«
»Sicher, komm rein. Er ist in seinem Zimmer.« Hastig lief ich an Taylor vorbei und klopfte an Alex’ Zimmertür. Schnell öffnete er sie mir. »Susan, ich habe schon gewartet.« Verlegen sah er zu Boden. Erst jetzt fiel mir die nächtliche Aktion von ihm wieder ein. Wahrscheinlich war ihm das im Nachhinein peinlich gewesen. »Alex«, sagte ich schnell und ich musste panisch dabei ausgesehen haben, denn sein Gesicht veränderte sich schlagartig.
»Was ist los?«, fragte er mit weit aufgerissenen Augen. »Nichts Schlimmes. Mike hat mich eben angerufen. Er würde gerne mit mir reden. Wäre es okay für dich, wenn ich nach dem Krankenhaus zu dir käme?« »Ja, sicher«, er sah verunsichert drein.
»Ich muss dir dann etwas erzählen«, murmelte ich und schenkte ihm ein leichtes Lächeln. Er erwiderte es, wenn auch zögernd. »In Ordnung«, sagte er schließlich. »Dann sehen wir uns später.« »Ja, bis dann«, rief ich hektisch und verließ schnell die Wohnung.
Zwanzig Minuten später kam ich schließlich am Krankenhaus an. Immer wieder spukte das Bild von dem Jungen, Raymond, durch meinen Kopf. Davon wollte ich Alex später unbedingt noch erzählen. Im zweiten Stock fand ich schließlich Mike vor. Er saß in der Besucherecke und wartete auf mich. Völlig außer Atem begrüßte ich ihn. »Hi, Mike.«
»Hallo«, flüsterte er. »Du hättest dich wegen mir nicht so beeilen brauchen.«
»Machst du Witze? Ich habe dir doch gesagt, dass du mich anrufen sollst, wenn du etwas hast. Glaubst du, ich sage das einfach nur so?« Nach dieser Aussage lächelte er leicht.
»Danke.« »Noch habe ich nichts getan. Also: Was gibt’s?« Offen sah ich ihn an. Auch wenn mich in meinem Kopf tausend andere Dinge beschäftigten, versuchte ich, mich nun nur auf Mike zu konzentrieren. Mit wem konnte er sonst groß über Tina sprechen?
Um uns herum war es mehr als hektisch. Ich fand, dass die Situation noch schlimmer geworden war. Die Gänge waren voll mit Menschen.
»Wollen wir lieber zu Tina gehen?«, fragte ich leise. »Dort haben wir etwas mehr Ruhe.« Er nickte. Sein Gesicht war reglos wie ein Stein, ohne jegliche Emotion. Das machte mir Angst. Wir standen auf und zogen uns die grünen Kittel an, dann öffneten wir leise das Krankenzimmer. Ich hatte mich an den Anblick von Tina immer noch nicht gewöhnt. Es war noch immer erschreckend. Wie gerne würde ich sie wieder gesund vor mir stehen sehen. Hoffentlich würde sich mein Wunsch bald erfüllen. Wir setzten uns neben Tinas Bett auf zwei Stühle. Sie sah immer noch so aus, als würde sie schlafen, ganz friedlich.
»Ab und zu lese ich ihr ihre Lieblingsbücher vor«, flüsterte Mike. »Ich weiß nicht, ob sie es hören kann. Aber so hab ich etwas Ablenkung.«
»Worüber wolltest du mit mir reden?«, fragte ich und schaute ihn interessiert an. Er zögerte, dann sah er mich an. »Weißt du, Susan, ich habe das Gefühl, die ganze Situation nicht mehr lange aushalten zu können. Ich weiß nicht, was ich tun würde, wenn ich sie ganz verlieren würde. Ich weiß, dass ein Dasein ohne sie für mich nicht infrage käme.« Ich sah ihn aufmerksam an. »Wie meinst du das?« Er sah zu mir auf. Sein Blick wirkte, als hätte er sich aufgegeben. »Du meinst, du würdest dir das Leben nehmen?«, fragte ich völlig schockiert.
Er gab mir keine Antwort, sondern sah zu Tina. »Mike, so etwas darfst du nicht mal denken.«
»Susan, überleg doch mal. Wenn die Ferien vorbei sind und ich wieder in die Schule muss, ohne Tina … Das packe ich einfach nicht. Ich brauche sie an meiner Seite, so wie ich die Luft zum Atmen brauche.« Tränen liefen ihm über das Gesicht. Ich weiß nicht, ob er es bemerkte. Wahrscheinlich hatte er sich schon daran gewöhnt.
»Aber ich bin doch auch noch da«, sagte ich verzweifelt. »Sicher, ich bin nicht Tina, aber ich kann dich auch unterstützen, wenn du bei irgendetwas Hilfe brauchst.«
»Das ist lieb gemeint, Susan, aber wie du selbst schon sagst: Es wäre nicht dasselbe.« Unsicher sah er mich an. »Aber ich rechne es dir hoch an, dass du so schnell zu mir gekommen bist, als ich dich angerufen habe. Ich schulde dir etwas.«
»Du schuldest mir Garnichts, Mike. Aber du könntest mir einen Gefallen tun.« Fragend sah er mich an. »Und was?«
»Du könntest aufhören, über so einen Mist nachzudenken. Denk lieber daran, wie schön es sein wird, wenn es Tina wieder besser geht und man sie aus dem Krankenhaus entlässt. All die schönen Dinge, die du mit ihr erleben könntest. Überlege dir zum Beispiel eine nette Überraschung für sie. Ich weiß, sie wird wieder gesund werden.«
»Woher willst du das wissen?« Sein Blick sah herzzerreißend aus. Ich blickte zu Tina, dann zu ihm. »Mike, ich spüre es. Ich spüre, dass sie kämpft. Es ist für sie noch lange nicht die Zeit, zu gehen und für dich auch nicht. Du hast nur dieses eine Leben, also wirf es nicht so einfach weg.«
Nachdenklich sah er mich an und dachte über meine Worte nach. Nach einer gefühlten Ewigkeit sagte er dann schließlich: »Du hast recht.« Innerlich spürte ich einen ganzen Felsen von meinem Herzen fallen. »Du musst positiv denken, Mike. Lass Tina deine Liebe und dein Vertrauen in sie spüren, dass sie wieder gesund wird und dann wird sie auch gesund werden.«
Für einen kurzen Bruchteil konnte ich wieder den alten Mike in seinen Augen entdecken. Den ehrgeizigen Mike. Den Mike, der um sein Glück kämpfte und nicht darauf wartete, dass es ihm in den Schoß fiel. Er lächelte leicht.
»Was?«, fragte ich ihn direkt. »Sicher, dass du keine psychologische Ausbildung hast, von der ich nichts weiß?« Ich musste lachen. »Na ja«, ich lächelte verlegen. »Ich habe einen Vater, der Psychologe ist. Wahrscheinlich habe ich diese Gabe von ihm geerbt.«
»Nur wenige haben das Talent, mich wieder etwas aufzubauen. Eine Person davon ist Tina. Ich bin beeindruckt.« Er lächelte mich respektvoll an. »Wenn wir so weitermachen, werden wir ja noch richtig gute Freunde«, sagte ich mit gespielt empörtem Gesichtsausdruck. Mike schlug sich mit der Hand vor den Mund. »Ja, das wäre ja ein Skandal.« Schön, dass ich ihn wenigstens ein bisschen dazu bringen konnte, mit mir zu scherzen. Einen Augenblick lang hatte er mir mit seiner Aussage richtig Angst gemacht.
Ich blieb noch eine längere Zeit bei Mike und Tina. Erst als ich sicher war, dass er auf keine dummen Gedanken mehr kam, verabschiedete ich mich von ihm und fuhr nach Hause. Aber nicht, bevor ich ihm eingebläut hatte, dass er mich anrufen sollte, wenn er merkte, dass es wieder schlimmer werden würde oder wenn es etwas Neues über Tina zu berichten gab.
Als ich zu Hause ankam, ging ich direkt in den ersten Stock und klingelte bei Alex. Er schien mich schon zu erwarten, denn er öffnete mir sofort die Tür. »Hi, Susan«, rief er und strahlte mich an, »komm rein.« Wir gingen in sein Zimmer. Automatisch ließ ich mich auf sein Bett fallen, es war wie ein zweites Zuhause für mich. Alex setzte sich neben mich. Aufmerksam sah er mich an. »Und? Wie geht es Mike und Tina?« Seufzend streckte ich mich ausgiebig und gähnte herzhaft. Ich hatte das Gefühl, dass ich den ganzen Tag Schwerstarbeit geleistet hatte. Das Gespräch mit Mike hatte mich psychisch echt fertiggemacht. »Bei Tina hat sich immer noch nichts getan«, begann ich mit monotoner Stimme zu sprechen. »Und Mike geht es mies.« Ich sah ihn an. »Richtig mies!« Alex hörte mir aufmerksam zu. »Ist es nur wegen Tina oder noch aus einem anderen Grund?« Ich zögerte, denn ich wusste nicht, ob ich es Alex sagen oder doch besser für mich behalten sollte. Anderseits konnte es nicht schaden, wenn es noch jemanden gab, der ein Auge auf Mike warf.
Ich atmete schwerfällig ein und aus. Alex drängte mich zu keiner Antwort. Er wartete geduldig darauf, dass ich weitersprach. »Er sagte, dass er ohne Tina nicht weiter leben könnte.« Alex sah mich fragend an. »Wenn sie es nicht schaffen sollte …« Ich verzog das Gesicht bei diesem Gedanken. Die Vorstellung gefiel mir genau so wenig wie Mike. »Dann würde er nicht mehr weiter leben wollen.« Alex sah mich immer noch verständnislos an. »Er würde dann in Betracht ziehen, sein Leben selbst zu beenden.«
Nun schaute er mich mit großen Augen und entsetztem Gesichtsausdruck an. »Das ist furchtbar«, sagte er leise. »Und glaubst du, er würde das wirklich tun?« Ich schüttelte energisch den Kopf. »Ich habe es ihm so weit ausgetrieben. Er würde sich jetzt nichts antun, … momentan zumindest. Es wird Zeit, dass es Tina besser geht. Ich weiß nicht, ob ich ihn noch einmal aus so einem Tief herausbekommen würde, aber als ich gegangen bin, war er schon viel besser drauf und sah positiver in die Zukunft. Mein Vater hat schon recht, wenn er sagt, man müsse darüber sprechen, wenn man Kummer hat. Denn wenn man es mit sich selbst ausmachen will und alles in sich hinein frisst, wird es meistens nur noch schlimmer.« Alex nickte. »Hoffen wir mal, dass er wirklich keinen Mist baut.«
»Ich denke nicht, dass er sich jetzt etwas antun würde. Er will ja für Tina da sein.« Alex sah nachdenklich auf seine Hände. »Oh Mann! Ich bin ja mal gespannt, was uns die nächste Zeit noch erwartet.«
Schließlich sah Alex wieder zu mir auf. »Du hast heute Mittag gesagt, dass du mir etwas erzählen wolltest.«
»Oh ja!«, rief ich laut und war plötzlich richtig aufgekratzt. Den nächtlichen Traum hatte ich durch den ganzen Stress fast vergessen. »Erzähl«, sagte er grinsend, nun wurde er neugierig. »Ich hatte heute Nacht einen faszinierenden Traum«, sagte ich euphorisch. Bei dem Gedanken an Raymond mussten meine Augen leuchten. »Was für einen?«
»Also«, begann ich, »erst hatte ich meinen üblichen Albtraum. Den, den ich immer habe. Wo ich durch den Wald laufe und Jonathan hinter mir her ist.« Alex nickte aufmerksam, gespannt, was ich ihm nun erzählen würde. »Normalerweise falle ich doch immer über diese eine Baumwurzel«, plapperte ich weiter. »Aber diesmal sah ich links von mir ein ganz helles Licht scheinen.«
»Ein Licht?«
»Ja, es war links von mir im Wald. Ich fühlte mich wie magisch davon angezogen und bog nach links ab, um zu schauen, was es war. Bis ich schließlich auf einer Lichtung ankam. Ich glaube, es war dieselbe Lichtung, wo ich auch Jonathans Exfreundin getroffen habe.«
Alex blieb nur Zeit, zu nicken. Zum Reden hatte ich ihn gar nicht kommen lassen. »Dort war dann dieses schöne, warme, helle Licht. Ich blieb also auf der Lichtung stehen und wartete darauf, was geschah. Kurze Zeit später wurde das Licht immer geringer und ich konnte eine Person erkennen. Erst nur die Umrisse und als das Licht dann ganz verschwand, sah ich einen Mann vor mir.«
»Einen Mann?«, fragte Alex. »Wen?«
»Ich kannte ihn nicht. Er war etwas älter als wir und trug Kleidung, die zum 19. Jahrhundert passen würde. Er hatte braune, etwas längere Haare und braune Augen. Auf seiner Schulter hatte er einen Falken sitzen.«
»Und dann?«, fragte Alex mit erwartender Miene. »Ich fragte ihn, wer er sei und er antwortete mir, dass er Raymond hieße und hier sei, um mir zu helfen.«
»Zu helfen? Bei was?«
Ich strahlte Alex an. »Jonathan.« Alex sah mich mit großen Augen an. »Bist du sicher?«, fragte er, immer noch perplex über diese Nachricht. »Ja, er hat es mir gesagt.« Dann wurde Alex wieder ernst. »Es war aber leider nur ein Traum, Susan.«
Meine Euphorie verschwand so schnell, wie sie gekommen war. Missmutig spielte ich an Alex’ Bettdecke herum. »Ja, du hast recht«, brummelte ich trotzig. »Für den Bruchteil einer Sekunde hatte ich Hoffnung.«
»Hat er denn noch etwas zu dir gesagt?«
»Wir wollten uns weiter unterhalten, aber ich bin dann durch Mikes Anruf aufgewacht.«
Plötzlich fiel mir etwas ein. »Aber Jonathans Exfreundin hat auch im Traum zu mir gesprochen und sie ist auch irgendwie real. Zumindest auf dem Foto. Es würde mir ja schon genügen, wenn Raymond uns einen Tipp wegen Jonathan geben könnte. Dass er nicht wirklich existiert, ist klar.«
»Dann bleibt uns nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass du vielleicht noch einmal von ihm träumst. Vielleicht erfährst du dann ja mehr.« Ich seufzte. »Ja, hoffentlich hast du recht.«
Alex sah verlegen drein.
»Was ist?«
Er zögerte. »Ähm, Susan? Fandest du das eigentlich blöd? Heute Nacht, meine ich.« Er sah auf seine Hände. Ich musste grinsen. Er sah schon süß aus, wenn er so verlegen war.
»Nein, warum sollte ich das denn blöd gefunden haben?«
»Keine Ahnung«, er zuckte mit den Schultern.
»Nein, ich fand es eigentlich ganz cool.« Nun sah er zu mir auf. »Echt?«
»Echt!«
Mein Grinsen wurde breiter. »Außerdem siehst du echt heiß in Boxershorts aus.«
»Haha«, nun wurde Alex knallrot, dann musste er lachen. »Was meinst du wie blöd die Misses Timer schauen würde, wenn sie mich nachts so vor eurer Tür gesehen hätte.« Bei diesem Gedanken musste ich auch lachen. »Ja, die hätte sonst was gedacht.«
Den restlichen Abend verbrachte ich noch bei Alex und wir redeten über Dieses und Jenes. Der Name Jonathan fiel nur wenig.
Auch wenn Raymond nur ein Traum war, hoffte ich doch insgeheim, dass ich ihn vielleicht noch einmal in meinem Traum wiedersehen könnte. Und hoffentlich hatte ich dann mehr Zeit, mit ihm zu sprechen.
Als ich oben in unserer Wohnung ankam, saß meine Mutter missmutig vor dem Fernseher. Sie nahm kaum Notiz von mir. Das langte mir jetzt aber. Ich holte aus der Küche ein Glas mit Orangensaft und ging in mein Zimmer. Ich schraubte das grüne Fläschchen auf und kippte den Inhalt in den Saft. Hopp oder topp, dachte ich mir. Ich roch noch einmal an dem Glas, ob es auffiel, dass da noch etwas anderes darin war, außer Orangensaft. Aber man bemerkte keinen Unterschied. Mit einem etwas mulmigen Gefühl im Bauch machte ich mich auf den Weg ins Wohnzimmer.
»Hi, Mum«, sagte ich mit einer Unschuldsmiene. »Hallo, Susan.« Sie sah nicht vom Fernseher auf, sondern starrte, ohne jede Regung im Gesicht, auf die Werbung, die dort gerade lief. Ich setzte mich neben sie. »Hier, Mum. Trink das.« Sie sah zu mir auf und schaute auf das Glas. »Was ist das?«
»Orangensaft. Ich habe gelesen, dass das mit das Beste ist, wenn man sich schlapp und krank fühlt.« Zu meinem Erstaunen nahm sie das Glas in die Hand und trank alles auf einmal leer. Das ging ja einfacher, als ich dachte. Lächelnd nahm ich ihr das Glas wieder ab. »Leg dich etwas hin, Mum. Du siehst müde aus.«
»Ja, vielleicht hast du recht.« Sie schaltete den Fernseher aus und machte sich auf den Weg in ihr Schlafzimmer. »Schlaf gut, meine Kleine.«
»Du auch, Mum.«
Ich ging wieder zurück in mein eigenes Zimmer. Nervös lief ich dort hin und her. Hoffentlich hatte ich das Richtige getan. Hoffentlich wirkte es. Ich wünschte mir so sehr, dass es nicht schlimmer werden würde. Nun blieb mir nur, abzuwarten. Würde ich am nächsten Tag schon eine Besserung bemerken? Ich hoffte es.
Wie ein kleines Kind, das sich auf den Weihnachtsmorgen freute, legte ich mich ins Bett und schloss die Augen. Ich hoffte so, Raymond zu sehen. Ziemlich bald schlief ich ein.
Ich hatte zwar erneut eine albtraumreiche Nacht, aber Raymond konnte ich nicht entdecken. Völlig enttäuscht darüber, wachte ich am nächsten Tag auf.
Ich war direkt schlecht gelaunt und krabbelte missmutig aus dem Bett. Ich war etwas verwundert, weil aus der Küche laute Musik kam. Neugierig lief ich in den Flur, um nachzusehen, was dort vor sich ging. Was ich dann sah, ließ mich komplett verstummen. Meine Mutter lief in einem Pyjama durch die Küche. Sie hatte sich einen Kochlöffel als Mikrofonersatz genommen und sang lauthals das Lied aus dem Radio mit. Dabei tanzte sie ausgelassen. Als ich auf den Küchentisch sah, verschlug es mir die Sprache. Er stand voll mit gekochten Sachen. Pfannkuchen, Rührei, Muffins und vielen anderen Leckereien. Meine Mutter musste seit Stunden auf gewesen sein. Ich war sprachlos.
Schließlich entdeckte sie mich in der Küchentür. »Susan, Schatz«, begrüßte sie mich überschwänglich und nahm mich in die Arme. »Setz dich, ich habe gekocht.«
»Das sehe ich.« Immer noch unfähig, etwas dazu zu sagen, setzte ich mich an den Küchentisch. »Mum? Geht’s dir gut?«, fragte ich misstrauisch.
»Mir ging es noch nie besser, Susan.«
Ich musste zugeben, dass meine Mutter auch wirklich besser aussah. Sie war nicht mehr so blass und sie hatte wieder dieses Strahlen in den Augen, was ich so mochte. »Ich komme gleich wieder«, sagte ich schnell zu ihr und holte mein Handy aus meinem Zimmer. Danach lief ich wieder in die Küche und schickte Alex eine SMS. Drei Buchstaben sollten genügen, um ihm den Ernst der Lage bewusst zu machen: S.O.S.
Ich verschickte die Nachricht, dann beobachtete ich weiterhin skeptisch meine Mutter. Ich war ja froh, dass es ihr besser ging. Aber dass es gleich so ins Gegenteil überging, darauf war ich nicht gefasst gewesen. Keine drei Minuten später klopfte es an der Wohnungstür.
»Ich geh schon«, sagte ich schnell und rannte in den Flur. Als ich die Wohnungstür öffnete, stand Alex in Trainingshose und T-Shirt davor. Ich schien ihn wieder einmal geweckt zu haben. Seine Haare waren komplett verstrubbelt und er gähnte herzhaft. »Was ist los?«, fragte er müde und zeigte auf sein Handy. »Alex«, sagte ich im Flüsterton, »das glaubst du nie …« Doch ehe ich weiterreden konnte, kam meine Mutter auch schon aus der Küche geschwebt.
»Alex, Schätzchen, komm doch rein.« Sie zog ihn am Arm in den Flur und schob ihn unsanft in die Küche. Dann bugsierte sie ihn auf einen Stuhl an den Küchentisch. »Hier. Iss.« Sie stellte ihm einen Teller mit bestimmt dreißig Pfannkuchen hin und kippte eine ganze Flasche Ahornsirup darauf. Dann nahm sie wieder ihren Kochlöffel und sprang lauthals und schief mitsingend durch die Wohnung.
Alex sah mich mit offenem Mund an. Er schien genauso sprachlos zu sein wie ich. Schließlich fand er seine Sprache wieder. »Was ist denn mit ihr los?«, fragte er leise. Er deutete erst auf meine Mutter, dann auf das viele Essen auf dem Tisch. »Davon kannst du eine ganze Armee ernähren.« Ich musste lachen. Ich beugte mich zu ihm herüber. »Gestern Abend habe ich ihr die Tinktur meiner Tante gegeben.« Alex starrte mich an. »Das ist das Resultat«, sagte ich grinsend und zeigte auf meine Mutter, die gerade dabei war, Farbe zu holen, um den Flur neu zu streichen. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, stammelte Alex.
»Meinst du, ich sollte meine Tante besser mal anrufen, ob es normal ist, dass sich meine Mutter so verhält?« Alex sah zu meiner Mutter, die nun wie irre versuchte, den Flur zu streichen. Dann grinste er mich an. »Besser wäre es.« Wir standen auf und liefen in mein Zimmer. Sofort wählte ich die Nummer von meiner Tante. Nach einigen atemlosen Sekunden ging sie schließlich ran. »Ja?«
»Ähm, Miranda?«
»Ja.«
»Hier ist Susan.«
»Hi, Susan. Wie kann ich dir weiterhelfen?«
»Also, es ist Folgendes …«
»Ja?«
»Ich habe meiner Mutter gestern Abend die Tinktur verabreicht.«
»Und weiter?«
»Na ja, … sie verhält sich etwas merkwürdig.« Draußen konnte ich hören, dass sie die Musik noch mehr aufdrehte. »Inwiefern?«, hörte ich meine Tante sagen.
»Also, gestern Abend war sie noch sehr depressiv und kaum ansprechbar. Aber jetzt … Wie soll ich das beschreiben? Also, sie dreht die Anlage auf und versucht, laut mitzusingen. Sie tanzt und ist gerade dabei, die Wohnung neu zu streichen.«
»Ist doch schön, wenn es ihr besser geht, Susan.« An der Stimme meiner Tante konnte ich hören, dass sie lächelte.
»Also muss ich mir keine Gedanken machen?«
»Nein, es ist völlig normal, dass es am Anfang etwas stärker wirkt. Das lässt mit der Zeit nach und dann hast du deine alte, gut gelaunte Mutter wieder.«
»Okay, dann bin ich ja erleichtert.«
»Gibt es sonst noch etwas Neues bei dir?«, fragte sie vorsichtig. »Nein, eigentlich nicht.« »Gar nichts?«, hakte sie nach. Ich überlegte kurz. »Nein. Nicht dass ich wüsste.«
»In Ordnung. Wenn es irgendetwas Neues geben sollte oder du noch irgendwelche Fragen hast, dann kannst du mich ja wieder anrufen.«
»Mach ich und Dankeschön.«
»Nichts zu danken.« Sie legte auf.
Alex sah mich fragend an. »Sie meinte, es wäre normal und das würde sich mit der Zeit wieder legen«, sagte ich erleichtert und setzte mich auf mein Bett. »Wow«, rief Alex grinsend. »Respekt. Hätte nicht erwartet, dass es so gut wirkt oder dass es überhaupt wirkt.«
»Ja, hätte ich auch nicht gedacht. Aber es ist doch gut so, oder nicht?«
»Klar, besser als andersherum.«
»Ja, das denke ich auch.«
»Und? Hast du die Nacht noch einmal von Raymond geträumt?« Die Frage zog meine Stimmung wieder etwas herunter.
»Nein, leider nicht.«
Alex sah mich mitfühlend an. »Vielleicht träumst du die nächsten Tage ja noch einmal von ihm.«
»Ja, ich hoffe es. Vielleicht war es ja auch wirklich nur ein Hirngespinst und es hatte nicht wirklich etwas zu bedeuten.«
»Das kannst du nicht wissen«, sagte Alex mit seinem puren Optimismus. »Ich würde es erst mal abwarten. Jetzt werde ich erst einmal nach unten gehen und mich umziehen. Sehen wir uns heute noch?«
»Ja, sicher. Wenn du magst, komme ich in zwei Stunden vorbei und wir fahren zum Krankenhaus.«
»Gut, ich bin dann startklar.«
Er verließ mein Zimmer. Ich konnte meine Mutter hören, wie sie versuchte, Alex zum Tanzen zu überreden. Aber anscheinend konnte sie ihn nicht dazu bringen, weil ich kurze Augenblicke später die Wohnungstür hören konnte.
Anders als erhofft, träumte ich die nächsten Tage nicht von Raymond. Langsam gab ich die Hoffnung auf, dass ich ihn noch mal sehen würde.
Die nächsten Tage verbrachte ich überwiegend im Krankenhaus. Alex wich kaum von meiner Seite und Mike hatte sich zum Glück auch wieder etwas gefangen. Meine Mutter war nach zwei Tagen wieder völlig die Alte und ich war froh darüber. Seit Kurzem ging sie auch wieder arbeiten.
Jonathan war ich nun schon länger nicht mehr begegnet. Ich wusste nur nicht, ob das gut oder schlecht war. Wer wusste schon, was er gerade ausheckte.
Nachdem es meiner Mutter besser ging, rief ich direkt meinen Vater an. Ich teilte ihm mit, dass er sich nun wirklich keine Sorgen mehr zu machen bräuchte. Er war zwar etwas beruhigter, aber ich hatte trotzdem das Gefühl, dass er lieber persönlich vorbeigekommen wäre, um sich ein Bild von den ganzen Umständen zu machen. Gott sei Dank, konnte ich ihm das noch einmal ausreden, aber lange würde ich ihn nicht mehr aufhalten können. Es musste also schnellstens, Jonathan betreffend, eine Lösung her.
Alex war stundenlang im Internet und hatte versucht, etwas über die Verbannung der Dämonen herauszufinden. Aber nichts von dem, was er fand, brachte uns weiter. Wir waren schon kurz davor, aufzugeben und uns mit unserem Schicksal abzufinden. Bis ich eines Nachts einen Traum hatte, der alles verändern sollte.
In meinem Traum war ich wieder im Wald. Der Unterschied war, dass es taghell war und ich überhaupt keine Angst empfand. Langsam lief ich die Waldwege entlang. Plötzlich hörte ich über mir einen Falken kreischen. Zu meiner Überraschung sah der Falke genau so aus, wie der, den Raymond dabei hatte. Sein geschmeidiges Gefieder wirkte fast so, als würde es leuchten. Das konnte nur Lennox sein, ich spürte es einfach. Der Falke wich nicht von meiner Seite und ab und zu zog er große Kreise um mich herum.
Irgendwann drehte ich mich um und rief ihm zu: »Lennox, wo ist Raymond?« Sofort harrte er über mir in der Luft aus und verließ den Waldweg. Kurzerhand folgte ich ihm. Ich hatte Mühe, mit ihm mitzuhalten, denn er war sehr schnell. Es kam mir ewig lang vor, als ich mich durch das dickste Gebüsch schlug. Endlich kam ich auf der altbekannten Lichtung an. Schnell sah ich mich um und plötzlich tauchte vor mir in den Bäumen Raymond auf. Lennox hatte sich wieder auf seiner Schulter niedergelassen. Mein Herz schlug schneller, als er vortrat und nur wenige Schritte von mir entfernt innehielt.
»Hallo, Susan«, er lächelte sanft. »Hallo, Raymond«, erwiderte ich leise. »Ich sehe, du hast mich nicht vergessen.«
»Nein, habe ich nicht.« Ich wollte gleich zum Thema kommen, weil ich Angst hatte, wieder aufzuwachen, bevor ich Näheres erfahren hatte. »Du sagtest beim letzten Mal, dass du hier bist, um mir mit Jonathan zu helfen.«
»Das ist richtig«, sagte er ruhig. Ich zögerte. »Aber wie willst du mir helfen? Und woher kennst du Jonathan? Woher kommst du genau?« Raymond legte einen Finger auf seinen Mund und ich verstummte sofort. »Ich weiß, du hast sehr viele Fragen, Susan, und ich möchte sie dir gerne alle beantworten. Aber dies ist weder der richtige Ort, noch die richtige Zeit, um es zu tun. Hör mir bitte nur zu und ich hoffe, du kannst mir folgen.« Ich nickte gespannt und lauschte ihm angestrengt, ich wollte keines seiner Worte verpassen.
»Ich wurde gerufen, um dich zu schützen. Und um Devils Lake wieder in seinen Normalzustand zurück zu versetzen.
Sprich: Um Jonathan zu verbannen.« Ich sah ihn mit großen Augen an. Blieb aber still, damit er mir alles in Ruhe erklären konnte.
»Ich dachte mir, dass es für dich weniger ein Schock wäre, wenn ich dich erst im Traum kontaktieren würde, als wenn du mich zuerst leibhaftig vor dir stehen sehen würdest. Du würdest sicher denken, dass du nun völlig den Verstand verloren hättest.« Er lächelte leicht. »Wenn es für dich in Ordnung ist, Susan, würde ich mich dir gerne real vorstellen.« Ich nickte benommen, verstand aber nur die Hälfte. »Du meinst, nicht im Traum, sondern bei mir zu Hause?«, stammelte ich.
»Das ist richtig.« Er sprach sehr ruhig und mit klarer Stimme.
»Okay«, sagte ich schnell. »Wann?«
»Sobald es dir passt«, er lächelte nun noch breiter.
»Du kannst jederzeit zu mir kommen.«
»Ich werde dir Lennox schicken, wenn es mir richtig erscheint.«
Ich nickte zustimmend.
»Hast du mir bis hierhin folgen können?«, fragte er liebevoll.
»Ja, du möchtest mich real treffen und du bist gerufen worden, um mir zu helfen. Meine Fragen beantwortest du mir, wenn wir uns real sehen.«
»Richtig.«
»Gut, dann weiß ich Bescheid.« Ich war total nervös. Was passierte hier? Ich hatte so viele Fragen und es fiel mir schwer, sie jetzt nicht stellen zu dürfen. »Du wirst gleich aufwachen, Susan. Aber du wirst dich an jedes meiner Worte erinnern können.« Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, erwachte ich auch schon in meinem Bett. Mein Herz raste. Ich hatte ihn wiedergesehen und er wollte mir helfen, uns helfen. Er würde leibhaftig bei mir zu Hause auftauchen. Aber wie war das möglich? In meinem Kopf drehte sich alles. Das war einfach zu viel. War er ein Geist? Wer schickte ihn? Und wie wollte er Jonathan besiegen?
Ich zog mich schnell an, um es brühwarm Alex zu erzählen. Taylor öffnete mir die Tür und ich stürzte, ohne anzuklopfen, in Alex’ Zimmer. Er schlief wie ein Baby, aber da konnte ich jetzt keine Rücksicht drauf nehmen. »Alex«, rief ich und schüttelte ihn unsanft aus dem Schlaf. »Schnell! Wach auf!«
»Was ist?«, fragte er benommen und schreckte schnell hoch, als er mich erkannte. »Alex, er war wieder da.«
»Wer war wieder da?« »Raymond!« Sofort war er hellwach.
»Wann? Wo?« »In meinem Traum. Heute Nacht.«
Als Alex sich aufrecht hingesetzt und sich den Schlaf aus den Augen gerieben hatte, begann ich ihm den ganzen Traum zu erzählen. Aufmerksam hörte er mir zu. Als ich schließlich die Erzählung beendet hatte, sah er mich mit großen Augen an. »Wahnsinn«, sagte er leise. »Und er will mit dir Kontakt aufnehmen? Real? Bei dir zu Hause?«
»Ja.«
»Also, wenn der wirklich in echt auftauchen sollte, dann zweifle ich wirklich an meinem Verstand. Ich meine, dass es Dämonen gibt, ist schon zu viel für mich, aber dass jetzt noch … Dass jemand aus einem Traum real wird, unmöglich.«
»Jonathan wurde auch real und er war in meinem Traum«, erwiderte ich trotzig. »Dass Jonathan hinter dir her war, hast du aber erst gesehen, nachdem du ihn real getroffen hattest.«
»Glaubst du, ich spinne?«, fragte ich in einer ungewöhnlich hohen Stimme.
»Nein, natürlich nicht, Susan. Ich möchte nur nicht, dass du dich da in irgendetwas verrennst. Natürlich möchte ich auch, dass wir eine Lösung finden, aber ich glaube nicht, dass dies der richtige Weg ist. Du kannst dich nicht auf jemanden verlassen, der gar nicht existiert. Dämonen? Okay. Verrückt genug. Aber Geister? Ich bitte dich …« Wütend stand ich auf. »Ich hätte es dir gar nicht erzählen sollen«, sagte ich beleidigt. »Meinst du, für mich ist es einfach?«
»Nein, ich …«
»Ach, weißt du was, Alex? Vergiss es!« Ich drehte auf dem Absatz um und lief aus seinem Zimmer. »Susan, warte!« Doch ich reagierte nicht. Ich fühlte mich unverstanden und wollte nur noch nach Hause. Oben in meinem Zimmer angekommen setzte ich mich auf meine Fensterbank und schaute aus dem Fenster. Ich gab die Hoffnung nicht so schnell auf wie Alex. Ich hoffte, dass ich mich nicht irrte und Raymond bei mir auftauchen würde.
Alex versuchte, bei mir zu klopfen und zu klingeln, aber ich öffnete nicht die Tür. Ich war noch zu sauer auf ihn. Schließlich schrieb er mir eine SMS:
Hi, Susan. Es tut mir leid. Ich meinte das nicht so. Bitte öffne die Tür.
Aber ich schrieb nicht zurück. Ich hatte einfach keinen Nerv dafür.
Den ganzen Tag über wartete ich an meinem Fenster auf ein Zeichen von Raymond, aber nichts war zu sehen. Mittlerweile hatte ich die schrecklichen Schmerzen in immer kürzeren Abständen. Auch darauf hoffte ich, von Raymond eine Antwort zu bekommen. Vielleicht wusste er ja, ob Jonathan wirklich etwas damit zu tun hatte.
Die nächsten drei Tage blieb ich nur zu Hause und hoffte, dass ich Raymond sehen würde. Ich wusste, es war albern, aber es war der einzige Strohhalm in Sachen Jonathan, an den ich mich noch klammern konnte. Doch nichts geschah. Die nächsten zwei Tage liefen ähnlich ab. Mit Mike hielt ich telefonisch Kontakt. Er nahm es mir nicht übel, dass ich nicht vorbeikam und ich wusste, dass Tina auch nicht sauer auf mich sein würde. Mike erzählte ich, dass es mir nicht gut ginge. Immerhin war meine Mutter wieder die Alte. Das freute mich wirklich. Endlich hatte ich die Mutter wieder, die viel lachte, Späße machte und mich zwang, zu essen. Das war mir lieber als die depressive Mutter. Damit die nicht wieder auftauchte, war ich bereit, Opfer zu bringen. Dazu gehörte eben auch das regelmäßige Essen. Sie hatte ja recht, ich war wirklich zu dünn.
Mit Alex hatte ich mich halbwegs wieder vertragen. Er meinte es nicht böse, als er sagte, dass er nicht so ganz daran glauben wollte, dass Raymond real vor mir stehen würde. Ich war ihm nicht mehr böse. Schließlich wollte ich es mir auch nicht mit dem einzigen Menschen verscherzen, der wirklich immer und zu jeder Tages- und Nachtzeit, für mich da war. Jede Nacht hoffte ich, von Raymond zu träumen, und dass er mir sagte, was schiefgelaufen war.
In der siebten Nacht wurde mein Warten endlich belohnt. Als ich einschlief und zu träumen begann, musste ich gar nicht lange suchen. Raymond stand direkt vor mir. »Raymond«, sagte ich voller Erleichterung. »Was ist los? Ich habe auf dich gewartet und du bist nicht gekommen. Alex hält mich für völlig bescheuert, weil ich auf dich gewartet habe. Ich glaube ja selbst langsam, dass ich meinen Verstand verliere.« Ich war völlig außer mir. Im Nachhinein war es mir ziemlich peinlich, dass ich Raymond so angefahren hatte. Er hörte mir aufmerksam zu und unterbrach mich nicht einmal. Erst als ich mich halbwegs beruhigt hatte, begann er zu sprechen.
»Susan, ich habe versucht, zu dir zu kommen. Aber irgendetwas an dir hindert mich daran, zu erscheinen.«
»Wie meinst du das?«, fragte ich mit offenem Mund.
»Ich kann es dir nicht genau sagen. Am besten versuchst du mal, Kontakt mit deiner Tante aufzunehmen. Damit wir herausfinden können, woran es liegen könnte.«
»Meiner Tante? Du meinst Miranda?«
»Ja.«
»Aber was hat sie damit zu tun?« Ich war völlig perplex und irritiert. »Mehr als du denkst«, sagte er mit seiner klaren Stimme. »Auch wenn du mich noch nicht kennst, Susan, du musst versuchen, mir zu vertrauen. Es ist wichtig, dass du mir vertraust.« Ich war völlig außerstande, klar zu denken. Was hatte meine Tante jetzt damit zu tun? Raymonds Augen waren warm und klar. Ich konnte nicht anders, als ihm zu vertrauen. Auch wenn das vielleicht sehr naiv war. »Aber was soll ich denn zu ihr sagen?«, fragte ich. »Was soll ich sagen, damit sie mich nicht für verrückt erklärt?«
»Sag ihr einfach, dass ich dir im Traum erschienen wäre und dir gesagt hätte, dass du etwas Negatives an dir hättest, was mir nicht erlaubt, zu dir zu kommen.«
»Weiß sie denn etwas mit diesem Satz anzufangen?«
»Ganz sicher weiß sie das.«
Etwas in Raymonds Blick sagte mir, dass er die Wahrheit sprach. Selbst wenn nicht: Was hatte ich für eine Wahl? Eine andere Alternative gab es nicht. »Okay, ich mach’s«, sagte ich leise. Raymond lächelte mich an. »Du wirst sehen, Susan, alles wird sich zum Guten wenden.«
»Ich hoffe es«, murmelte ich vor mich hin.
Raymond kam näher und berührte sanft meine Schulter. Sofort durchfuhr mich eine sehr angenehme Wärme und ich fühlte mich sicher und entspannt. Es war ein unglaubliches Gefühl. Mein Puls normalisierte sich und mein Herz schlug kräftig und regelmäßig. Ich fühlte mich sicher und geborgen. Mein Kopf war völlig leer von negativen Gedanken. Es war schön, mal an nichts denken zu müssen. Raymond entzog mir seine Hand wieder und lächelte mich liebevoll an. »Kontaktiere deine Tante, Susan, und wir werden uns schon sehr bald wiedersehen. Sobald du herausgefunden hast, was mich daran hindert, zu dir zu kommen, werde ich bei dir sein. Versprochen.«
Sobald ich aus meinem Traum erwachte, rappelte ich mich aus meinem Bett auf und nahm mein Handy in die Hand. Ich zögerte kurz. War es richtig, meine Tante jetzt anzurufen? Es musste richtig sein. Der Traum war zu real, zu wirklich, um ein Fake zu sein. Wenn ich mich an Raymonds Worte halten würde, die ich sagen sollte, würde es schon nicht schiefgehen. Wenn meine Tante nicht verstand, wovon ich sprach, dann war es leider wirklich nur ein Traum und ich war genau so weit wie vorher. Aber daran wollte ich jetzt nicht denken.
Angespannt lauschte ich dem Freizeichen in meinem Handy.
»Ja?« Meine Tante war sehr schnell am anderen Ende der Leitung zu hören gewesen. Ob sie meinen Anruf schon erwartet hatte?
»Hallo, Miranda. Ich bin es, Susan.«
»Hallo, Susan.«
»Also, der Grund warum ich anrufe, ist vielleicht etwas sonderbar.«
»Schieß los«, sagte sie freundlich. »Du kannst mir alles sagen und mich alles fragen.«
»Also, ich hatte einen Traum von einem Jungen namens Raymond.« Am anderen Ende war nichts zu hören, also sprach ich einfach weiter. »Er wollte Kontakt zu mir aufnehmen, aber es gelang ihm nicht.« Ich zögerte. »Jedenfalls sollte ich dir von ihm ausrichten, dass ich etwas an mir hätte, weshalb er sich nicht zeigen könnte. Etwas Negatives.« Immer noch Stille am anderen Ende der Leitung. Das machte mich noch nervöser. »Interessant«, hörte ich meine Tante murmeln.
»Susan?«
»Ja?«
»Hast du vielleicht die Möglichkeit, zu mir zu fahren?« Etwas verwundert darüber, dass meine Tante das alles wie selbstverständlich hinnahm, sagte ich bloß: »Sicher.«
»Okay, dann schau, dass du so schnell wie möglich zu mir kommst. Es ist wichtig. Ich werde dir alles Nähere dann erklären.«
»Gut.«
»Ach, Susan?«
»Ja?«
»Vielleicht wäre es gar nicht so schlecht, wenn du Alex mitbringen würdest. Er weiß ja sowieso schon über alles Bescheid.«
»Okay, mach ich.«
Sie legte auf.
Woher wusste sie, dass Alex über alles Bescheid wusste? Mein Herz begann zu rasen. Vorbei war der schöne Zustand, den ich bei Raymond im Traum verspürte. Jetzt war ich wieder nervös und aufgeregt. Schnell rief ich Alex an und erzählte ihm die Kurzfassung am Telefon. Wie gebannt hörte er mir zu. Sofort erklärte er sich dazu bereit, mit zu meiner Tante zu fahren. Kurze Zeit später fanden wir uns beide in meinem Wagen wieder.
Ich war unglaublich nervös, Alex ebenso. Nun war er sich gar nicht mehr so sicher, ob das alles nicht doch real war, da meine Tante sofort wusste, wovon ich sprach, als ich ihr von Raymond erzählte. Aber auch er war verwundert darüber, was sie wohl damit zu tun haben könnte. Ich war froh, als wir endlich den Wald erreichten, in dem meine Tante lebte. Kurze Zeit später erreichten wir schließlich ihr Haus und hielten an. Ich war sehr aufgeregt. Ich war erleichtert, dass Alex dabei war. Auch er wirkte angespannt. Noch bevor wir die Veranda betraten, öffnete uns Miranda die Tür. Rabe Raxs saß wieder auf ihrer Schulter. Freudig begrüßte sie uns und bat uns einzutreten. Wenig später fanden wir uns dann mit einer Tasse Brennnesseltee in der Sitzecke wieder. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Von daher war ich sehr erleichtert darüber, dass meine Tante das Gespräch begann.
»Ihr habt sicher viele Fragen«, sagte sie freundlich und sah uns beide abwechselnd an. Ich nickte. »Also, wer ist Raymond?«, begann ich sie direkt zu fragen. Meine Tante sah mich lange an. »Susan, die Geschichte, die du in diesem Buch gelesen hast, die erste Geschichte, sie ist wahr. Aber das weißt du ja sicherlich schon.« Ich nickte. »Nun ja und Raymond habe ich gerufen, damit er euch beschützt und Jonathan wieder verbannt. Wie er es schon damals tat. Wenn wir ihn nicht sofort stoppen, eskaliert die Situation noch mehr. Damals waren es schwere Zeiten für die Menschheit gewesen. Nur schwer erholten sie sich von ihm. Sie mussten viele Verluste betrauern.«
»Du hast ihn gerufen?«, fragte ich leise.
»Ja.« Sie lächelte mich offen an.
»Aber, wie?«
Meine Tante stand auf und ging zu dem langen Bücherregal. Dann holte sie ein großes, schweres Buch hervor und kam damit zu ihrem Platz zurück. »Hiermit«, sie deutete auf das Buch. Wir sahen sie beide ungläubig an.
»Raymond wurde damals erschaffen, um sich gegen Jonathan zu stellen. Er ist quasi der Gegenpart zu ihm. Der Gute, um es leichter zu erklären.« Wir waren immer noch sprachlos.
»Dieses Buch gehörte sämtlichen Hexen vor mir. Die Geschichte wurde an jede weitergegeben. Auch wie man Raymond wieder rufen könnte, falls es noch einmal so sein sollte, dass Jonathan wieder in dieser Welt erscheinen würde. Da ich mit dem Ritual bestens vertraut bin, habe ich Raymond gerufen. All die Dinge, die in Devils Lake passieren, die Krankheiten, das Wetter, die Stimmungsschwankungen der Menschen, dafür konnte nur Jonathan infrage kommen. Aus diesem Grund hatte ich dich damals angerufen, Susan. Als ich erfuhr, was bei euch los war, hatte ich das Gefühl, sofort handeln zu müssen.«
Alex vergaß neben mir zu atmen. Leicht stupste ich ihn mit meinem Fuß an, bis ich ihn wieder schwer einatmen hörte. Das war wirklich unglaublich, was meine Tante da erzählte.
»Als ihr dann zu mir kamt und Raxs dein Buch fand«, sie strich ihm liebevoll über sein Gefieder, »wusste ich, dass ich richtig lag. Anhand eurer Reaktion über dieses Buch, gerade über die erste Geschichte, war ich mir sicher, richtig zu liegen.« Sie sah zu Raxs auf. »Ihr müsst wissen, Raxs ist kein normaler Rabe.«
»Nein, natürlich nicht«, stammelte Alex leise vor sich hin. Er schien ziemlich durch den Wind zu sein und ich konnte es ihm nicht verübeln. »Er spürt, wenn es etwas Negatives im Raum gibt oder er findet Indizien dafür. Wie dieses Buch zum Beispiel. Manchmal glaube ich, er kann meine Gedanken lesen.« »Klar, wieso nicht?«, sagte Alex leise und starrte fassungslos auf meine Tante.
»Wo wir nun zum wichtigsten Thema kommen. Raymond sagte, du hättest etwas Negatives an dir und deshalb könnte er nicht erscheinen?«
»Ja«, begann ich, aber Alex unterbrach meinen Satz. Er stand auf und lief nervös auf und ab. »Stopp, stopp, stopp! Sie sind eine Hexe?«
»Ja«, sagte meine Tante freundlich und lächelte ihn an.
»Eine richtige Hexe? Wie aus einem Märchen?« Sein Mund blieb offen stehen.
»Wie du siehst, Alex, ist es kein Märchen. Aber wenn du darauf bestehst: Ja, wie aus einem Märchen. Dennoch gibt es Unterschiede zu denen und mir.«
»Welche?«, fragte Alex und es klang mehr wie ein Flüstern.
»Ich habe keine Warzen und keinen Buckel und ich locke auch keine Kinder in mein Haus, um sie dann aufzufressen. Obwohl, … etwas Appetit hätte ich schon …« »Das ist nicht witzig«, rief er jetzt fast panisch.
Ich musste lachen. Meine Tante erzählte das alles so locker, dass ich überhaupt keine Angst oder Unsicherheit verspürte. Wenn es schon Dämonen gab, wieso sollte es dann nicht auch Hexen geben? Mich wunderte langsam gar nichts mehr. Außerdem: Wer konnte schon von sich behaupten, eine Hexe in der Familie zu haben? Kurz konnte ich ein Bild vor meinem inneren Auge wahrnehmen, wie Tina vor mir stand und sagte: »Deine Tante ist eine Hexe? Cool. Frag sie doch mal, wie man die Blonde von der Parallelklasse loswerden könnte. Die starrt nämlich Mike immer so an.« Oder Mike, wie er verzweifelt versuchte, meine Tante dazu zu überreden, in ihrer Glaskugel nach den nächsten Lottozahlen zu schauen. Ich lächelte in mich hinein bei diesem Gedanken.
Alex stand immer noch fassungslos im Raum. »Das ist nicht witzig«, sagte er noch einmal. »Alex«, sagte meine Tante behutsam und stand auf. »Ich bin keine böse Hexe, sondern halte mich lieber auf der hellen, der guten Seite auf. Sicher würde ich niemals zulassen, dass anderen Leuten Leid geschieht. Ich helfe den Menschen. Niemals würde ich aus Neid, Hass, Wut oder Missgunst jemandem etwas antun. Glaubst du mir das?«
Einen Moment zögerte Alex. »Ja, sicher«, sagte er schließlich verlegen dreinblickend.
»Es ist nur alles etwas zu viel für mich.« »Das glaube ich dir gerne. Aber Fakt ist, dass wir mitten in einer schwierigen Situation stecken und nur Raymond dazu in der Lage ist, uns zu schützen. Also bitte, setz dich wieder zu Susan und wir überlegen gemeinsam, was zu tun ist.« Er nickte zustimmend und setzte sich wieder neben mich.
Rabe Raxs flog eine Runde in dem Zimmer und setzte sich schließlich auf Alex’ Schulter. Erschrocken zuckte dieser zusammen. »Keine Angst, er will dich nur beruhigen.« Ängstlich schaute Alex zu Raxs. Dann stammelte er etwas, das sich wie »nichts für ungut, Mann« anhörte.
Ich musste lachen. Alex sah irgendwie süß aus, so wie er da saß. So hilflos und völlig fertig mit der Welt. Raxs ließ ein leises Krächzen verlauten und machte es sich dann wieder auf Alex’ Schulter gemütlich. »Er mag dich«, stellte meine Tante lächelnd fest. »Das will schon was heißen. Den Postboten hat er neulich angefallen …
Ach! Ehe ich es vergesse, ich wollte ihm ja noch eine Genesungskarte schicken. Hoffentlich verheilen seine Wunden im Gesicht schnell wieder.« Alex’ Augen wurden größer. Unsicher sagte er an Raxs gewandt: »Braver Vogel, netter Vogel.« Raxs begann zu dösen. Erleichtert atmete Alex aus und konzentrierte sich wieder auf das Gespräch.
»Wie gesagt«, begann ich von Neuem. »Raymond sagte, dass ich etwas Negatives an mir hätte. Was könnte das denn sein?« Raxs öffnete seine Augen wieder und sah zu mir herüber. Meine Tante musterte mich nachdenklich. »Steh mal bitte auf, Susan.« Ich tat es und Miranda lief grübelnd um mich herum. »Hm«, machte sie immer wieder. »Gehe ich recht in der Annahme, dass du zu Jonathan in Kontakt stehst?«
»Ja, leider«, seufzte ich. »Von Anfang an? Bevor die Umstände so schlimm wurden?«
»Ja.«
Meine Tante setzte sich wieder auf ihren Platz. »Erzähl mir alles. Ich muss jedes kleinste Detail wissen und wenn es für dich auch noch so nebensächlich erscheint.« Und so erzählte ich meiner Tante die ganze Geschichte zwischen Jonathan und mir. Die guten Erlebnisse, wie auch die schlechten. Schließlich auch die Sache mit dem Kuss, bei der ich direkt rot anlief, als ich davon sprach. Meine Tante lauschte mir gebannt. Auch Alex war sofort bei der Sache und gemeinsam erzählten wir alles, was wir wussten. Inklusive meiner Albträume und meinen Schmerzen. Meine Tante stellte nur wenige Zwischenfragen. Schließlich, nach etlichen Minuten des Durchredens, ließ ich mich völlig geschafft in die Kissen fallen. Ich fühlte mich ausgelaugt und leer.
Meine Tante sah auf mein Armband. »Gab er dir das vor oder nach dem Kuss?« Sie deutete auf das Armband. »Danach.«
»Also erst, nachdem er wahrscheinlich in deinen Gedanken gelesen hat, dass du für ihn nicht dasselbe empfindest, wie er für dich.« Ich zuckte mit den Schultern. »Ja, ich denke schon.«
»Interessant. Dass er eventuell etwas für dich empfindet, erschwert die Sache noch enorm. Obwohl es für ihn denkbar unmöglich ist, dass er noch einmal wahre Liebe empfinden könnte.«
»Noch einmal?«, fragte ich laut.
Wieder fiel mir der Traum mit seiner Exfreundin ein und das Foto von ihr. Auch dies berichtete ich meiner Tante. »Das sollte dir alles besser Raymond erklären, Susan. Er war dabei. Vielleicht kann er es dir sogar zeigen.«
»Zeigen?«
»Anderes Thema«, sagte sie und winkte ab. »Aber er wird dir alles über Jonathan erklären können. Kann ich das Armband mal sehen?«
»Sicher«, ich hielt ihr meinen Arm hin. »Du hast mir gar nicht erzählt, dass du von dem Idioten etwas geschenkt bekommen hast«, sagte Alex schmollend. »Sorry, ich hatte nicht daran gedacht.«
»Hättest du mal tun sollen. Ich hätte dir auch sagen können, dass damit bestimmt etwas nicht stimmt. Alles, was von dem kommt, kann nur schlecht sein.«
»Ach, Alex. Sei nicht sauer.« Meine Tante schmunzelte, als sie uns beide beobachtete. Wir mussten wie ein altes Ehepaar aussehen.
Miranda konzentrierte sich wieder auf das Armband. »Hm«, machte sie erneut. »Das strahlt enorm viel Negatives aus. Wenn es nicht sogar verantwortlich für deine Schmerzen ist!« Sie wandte sich zum Raben. »Raxs, was meinst du dazu?« Müde streckte sich der Rabe und flog herunter auf meinen Arm. Misstrauisch beäugte er das Armband. Dann begann er, laut zu krächzen und wild mit den Flügeln zu schlagen.
»Er sieht es genauso«, schlussfolgerte meine Tante im nachdenklichen Ton. »Vielleicht war das Armband das letzte Mal noch nicht stark genug, als ihr bei mir wart. Das würde auch erklären, warum es Raxs nicht aufgefallen ist und er es nicht als Gefahr gesehen hat. Wobei, das kommt ganz auf seine Laune an. Alles zeigt er mir auch nicht an. Nur, wenn etwas bewusst eine Gefahr für mich sein könnte. Oder er fand das Buch einfach nur wichtiger als das Armband. Okay, Raxs, du kannst wieder schlafen gehen.« Wie selbstverständlich flatterte er wieder auf Alex’ Schulter. Von Alex hörte ich wieder so etwas, das wie »ich brauch mein Gesicht noch« klang.
»Kannst du es abnehmen, Susan?« Ich versuchte, das Armband am Verschluss zu öffnen. Doch nichts tat sich. Es rührte sich nicht einmal. »Es geht nicht ab«, murmelte ich nervös. »Hat er dir das Armband angelegt?«
»Ja.«
»Dann kann sicherlich auch er es nur wieder abnehmen«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu mir. Sie zog meinen Arm wieder zu sich heran und schaute sich den Verschluss genau an. Dann stand sie auf und kam mit einer Lupe wieder zurück. »Dachte ich es mir doch.«
»Was?«, sagten Alex und ich wie aus einem Mund. »Ein Fluch liegt auf diesem Armband. Siehst du das Zeichen?« Sie hielt mir die Lupe hin. Ich nahm sie und schaute mir den Verschluss genau an. Dort war ein kleines Zeichen zu sehen, das man mit bloßem Auge sicher nicht erkennen konnte. Es sah aus wie ein Gesicht aus Flammen mit roten Augen. Ich zeigte es Alex, der nervös neben mir hin und her zappelte. Erst als Raxs lauthals krächzte und mit den Flügeln schlug, verhielt sich Alex wieder still. Anscheinend hatte er Angst um sein Gesicht.
»Das ist sein Zeichen«, flüsterte meine Tante. Schnell stand sie auf und lief im Zimmer auf und ab. »Sicher hat er dir das angebracht, um deine negativen Energien zu entziehen. Die braucht er ja, um stärker zu werden. Sprich: Wenn es dir schlecht geht, du traurig oder wütend bist, dann merkt er es und das befriedigt ihn natürlich zutiefst. Er will, dass du leidest.« Sie sah mich mit großen Augen an. »Was für ein Schwein«, protestierte Alex und versuchte, mir das Armband abzunehmen. Doch es rührte sich nicht. »Wir werden es nicht abbekommen«, sagte meine Tante leise. »Jonathan hat an alles gedacht. Nur der Urheber, der diesen Fluch aktiviert hat, kann das Armband auch wieder abnehmen. Sprich: Nur Jonathan kann dich davon befreien. Ich bezweifle, dass er das tun würde. Das wäre gegen seine Prinzipien. Deshalb kann Raymond nicht zu dir kommen. Alles, was übernatürlich positiv ist, kann keinen realen Kontakt zu dir aufbauen.« Sie sah wieder auf das Armband. »Das Einzige, was ich tun könnte, wäre, den Fluch einzudämmen.«
Sie lief zu einem kleinen Schrank und holte ein Buch heraus. Schnell blätterte sie darin und murmelte unverständliche Worte vor sich hin. »Da ist es ja«, sagte sie schließlich laut, so dass Alex und ich erschrocken zusammenzuckten. »Eindämmen von Flüchen«, las sie laut. »Komm mal her, Susan.« Ich lief zu ihr herüber. Schnell nahm sie meinen Arm. »Tut das weh?«, fragte ich zögernd. Liebevoll lächelte sie mich an. »Nein, keine Angst. Du wirst überhaupt nichts spüren. Sicher willst du doch, dass die Schmerzen aufhören und Raymond zu dir kommen kann, oder?« Ich nickte, biss mir aber nervös auf die Unterlippe.
Unsicher legte ich meinen Arm vor ihr auf den Tisch. Sie holte ein kleines Fläschchen aus dem altbekannten Schrank und öffnete es. Den Inhalt kippte sie vorsichtig über das Armband. Doch es war nichts Flüssiges. Es sah aus wie ein Nebelschleier, der sich vorsichtig um das Armband legte. Fasziniert sah ich auf die Substanz. »Wahnsinn«, sagte ich leise. Meine Tante murmelte noch ein paar Beschwörungsformeln. Schließlich schimmerte das Armband hell von allen Seiten. Es war zwar noch schwarz, aber es war umgeben von einem warmen Licht. Zufrieden begutachtete meine Tante ihr Werk. »So, meine Liebe, die Gefahr ist eingedämmt.« Vorsichtig strich ich über das Armband. Es fühlte sich glatt und warm an. Richtig angenehm. »Jetzt habe ich keine Schmerzen mehr?«
»Nein«, erwiderte sie strahlend. Erleichtert atmete ich aus. Die Schmerzen würde ich so gar nicht vermissen. Ich war froh, sie nun endlich los zu sein.
»Es ist zwar keine Dauerlösung«, sagte sie schulterzuckend, »aber fürs Erste sollte es genügen. Ich werde mich dann mal schlau machen, ob es noch andere Möglichkeiten gibt, das blöde Ding los zu werden.«
»Und Raymond kann nun Kontakt zu ihr aufnehmen?«, fragte Alex unsicher. »Ja, sobald er spürt, dass das Negative gebannt ist, wird er sich bemerkbar machen.«
»Wie?«, fragte Alex erstaunt. »Er wollte mir seinen Falken schicken«, erklärte ich gut gelaunt und grinste. »Ja, klar. Wieso nicht? Dann schickt er eben seinen Falken.« Alex schüttelte mit dem Kopf. »Mach ich auch immer so, Briefe waren gestern.«
»Er muss sich erst noch an die Umstände gewöhnen«, sagte ich mit entschuldigendem Blick zu Miranda gewandt. »Kein Problem«, erwiderte sie lächelnd. »Irgendwann wird er es schon noch akzeptieren. Er muss sich erst einmal an diese neue Welt herantasten.«
»Wenn er das überhaupt will«, sagte Alex mit genervtem Gesichtsausdruck.
»Hexen, Dämonen, Falken, die Botschaften schicken, Raben, die negativen Einfluss erkennen. Tztztz, … bald liefern sie mich ein«, hörte ich ihn zu sich selbst murmeln. Ich dagegen hatte da überhaupt kein Problem mit, denn ich fand diese neue Welt, all die neuen Möglichkeiten, wirklich spannend. Vor allem wollte ich es Jonathan endlich heimzahlen. Wegen Tina und all den Menschen, die er verletzt hatte und gerade in diesem Augenblick sicher verletzte.
»Gab es Merlin eigentlich wirklich?«, fragte Alex meine Tante. »Merlin? Sicher gab es den.«
»Klar, wieso auch nicht? Er kam bestimmt ab und zu auf einen Tee vorbei«, fassungslos schüttelte er den Kopf. »Und Drachen?« Meine Tante wollte gerade zustimmen, als Alex schließlich abwinkte. »Nichts für ungut, lassen Sie uns später darüber reden. Das wird nun wirklich zu viel für mich.« Miranda lächelte ihn verständnisvoll an.
»Am besten fahrt ihr jetzt, Susan. Versuche, Alex etwas aufzubauen. Er ist ziemlich durch den Wind«, sagte sie im Flüsterton zu mir. Ich nickte. »Aber erzählt niemandem von den Dingen, die wir besprochen haben. Auch nicht, dass ich eine Hexe bin. Natürlich auch nicht deiner Mutter. Nur wir drei und Raymond dürfen davon erfahren. Hast du mich verstanden?« Ich nickte angespannt in ihre Richtung. »Gut, Susan.« Liebevoll nahm sie mich in den Arm.
»Wir haben noch viele Möglichkeiten, über die ganzen Dinge zu sprechen. Wir werden uns nun sicher öfter sehen.« Ich nickte. »Aber für heute ist es genug. Es wird sonst zu viel für Alex.« Ich schaute zu Alex. Er erklärte gerade Raxs, dass er ganz sicher nichts gegen Raben hätte. »Du hast recht«, flüsterte ich kichernd. »Komm, Alex. Wir fahren«, rief ich ihm zu.
Alex stand auf und Raxs flog zu meiner Tante auf die Schulter. Als wir an der Haustür ankamen, sagte sie noch schnell: »Und sagt Bescheid, wenn Raymond bei euch war, damit ich weiß, ob mein Zauber gewirkt hat.«
»Machen wir, Miranda.« Ich nahm sie noch einmal in den Arm und drehte mich dann zum Auto. »Na dann«, sagte Alex zu meiner Tante gewandt. »Dann machen Sie es mal gut und nichts für ungut.«
Er wollte gerade gehen, als Miranda ihm ihre Hand hinhielt. Skeptisch beäugte er sie. Schließlich nahm er sie doch in seine. Meine Tante grinste ihn an. »Und?« »Was und?«, fragte er irritiert.
»Hat sie gebissen?«
Mit hochrotem Kopf murmelte er so etwas wie: »Sehr witzig!«
Danach kam er zu mir zum Auto. Miranda winkte uns noch zu und ich hörte sie lauthals über Alex’ Verhalten lachen. Beleidigt grummelnd setzte er sich neben mich auf den Beifahrersitz. Ich stand wie unter Strom. Ich hatte das Gefühl, dass der Zauber meiner Tante schon wirkte.
Mein Armband von Jonathan fühlte sich ganz warm und leicht auf meiner Haut an. Das helle Licht, das es kurz umgab, war nun nicht mehr zu sehen. Aber man konnte noch eindeutig spüren, dass es mir keinen Schaden mehr antun konnte. Vielleicht bildete ich mir das ja auch nur ein. Selbst wenn, das machte mir nichts aus. Fakt war, dass ich endlich mal wieder das Gefühl hatte, richtig durchatmen zu können. Ich konnte einfach nicht anders, als die ganze Zeit zu grinsen. Meine Tante war eine Hexe. Na und? Was war so schlimm daran? Gerade in der jetzigen Zeit konnte ich eine Hexe gut an meiner Seite gebrauchen. Ich empfand richtige Abenteuerlust und das Bedürfnis, es Jonathan endlich heimzuzahlen. Ich würde kein Mitleid mit ihm haben, wenn er dann schließlich verbannt sein sollte.
Alex sah mich missgelaunt von der Seite an. Die Arme hatte er trotzig vor seiner Brust verschränkt. »Sag mal: Bin ich hier der Einzige, der das alles ein bisschen merkwürdig findet?«, fragte er laut. Immer noch breit grinsend sah ich zu ihm herüber. »Ach, Alex. Sei doch froh, dass sich jetzt endlich alles zum Guten wenden wird.«
»Ich soll froh sein?«, fragte er fast hysterisch. »Susan, ich habe gerade einer Hexe die Hand geschüttelt. Einer Hexe!« Diese zwei Worte betonte er noch einmal extra. Ich versuchte, nicht laut über seinen Gesichtsausdruck zu lachen. »Und noch vor Kurzem stand ich einem Dämon gegenüber. Einem Dämon! Okay, an diesen Gedanken habe ich mich schon langsam gewöhnt, aber jetzt noch eine Hexe. Was kommt als Nächstes? Riesen? Zauberer? Na ja, wenn es Hexen gibt, gibt es sicherlich auch Zauberer«, sagte er mehr zu sich selbst als zu mir. »Oder Drachen? Elfen? Was kommt als Nächstes, Susan?« Ich zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nur, dass Raymond jetzt endlich Kontakt zu uns aufnehmen kann und wir Jonathan dann endlich ein für alle Mal loswerden.«
Alex sah mich an und dachte eine Weile über meine Worte nach. Schließlich sagte er: »Aber wer oder was ist Raymond? Ist er ein Geist, oder was?«
»Ich weiß es nicht. Meine Tante hat ja zu uns gesagt, dass uns Raymond alles Weitere erklären könnte.«
»Genau genommen hat sie gesagt, dass Raymond uns alles zeigen wird«, sagte er gereizt. »Wie will er uns denn alles zeigen? Hat er vielleicht eine Zeitmaschine dabei, mit der wir in jede Zeit zurückreisen können?«
»Nun wirst du aber albern«, sagte ich lachend.
»Wundern würde mich gar nichts mehr«, entgegnete er immer noch schmollend.
»Wann meldet er sich denn jetzt?« Sein Ton klang noch immer gereizt.
»Sobald er merkt, dass er sich mir zeigen kann.«
»Da bin ich ja mal gespannt«, murmelte er schnaubend.
»Mal sehen, was das wieder für ein Vogel ist. Wer weiß, was hier um uns herum kreucht und fleucht?« Ängstlich sah er sich um. »Vampire oder Werwölfe, die nur darauf warten, dass wir uns in ihrer Nähe aufhalten.«
»Ich denke, bis jetzt hast du es ganz gut geschafft, zu überleben«, sagte ich lachend.
»Ja, bis jetzt. Dennoch werde ich das Gefühl nicht los, dass sich das alles sehr bald ändern wird. Der Gedanke, dass ich mir immer um meine Zukunft Gedanken gemacht habe. All die normalen Dinge, wie College, Frau, Kinder, … Und jetzt so was.« Er machte eine ausladende Handbewegung. »Wusch!
Das war’s, Mister Fuller. Sie müssen sich jetzt leider mit Dämonen, Hexen und Geistern zufriedengeben.«
Einige Minuten sagte niemand etwas. Schließlich fuhr ich mit meinem Auto rechts ran. Dann sah ich zu Alex. »Warum hältst du?«, fragte er irritiert und gab seine ablehnende Haltung auf. »Ist Raymond hier irgendwo?« Er sah sich um. »Nein«, erwiderte ich ruhig und wieder bemerkte ich einen Kloß in meinem Hals. Das Brennen in meinen Augen, dass ich die letzten Minuten verspürte, während Alex sprach, wurde stärker. »Was ist los?«, fragte Alex leise. Sofort wurde seine Stimme etwas sanfter, als er sah, dass ich gleich meine Fassung verlieren könnte. »Ich hätte dir das alles besser nicht erzählen sollen«, begann ich, leise zu schluchzen. »Dann könntest du jetzt dein normales Leben weiterführen und dich um ein College kümmern. Du müsstest nicht mit mir durch die Gegend fahren und überlegen, wie wir einen Dämon loswerden.« Alex schluckte. »Susan, ich …« Doch ich wollte das nicht hören.