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Sir Philip auf Freiersfüßen: Einst war die Tochter seiner Nachbarn ein entzückender Wildfang – jetzt ist sie zu einer atemberaubenden Schönheit erblüht. Wenn er die Augen schließt, träumt er nur noch davon, Bethany in kalten Nächten mit heißen Küssen zu wärmen. Mit jedem Tag wächst Sir Philip Stavelys Verlangen nach seiner Angebeteten ins Unermessliche. Doch warum weist die betörende Bethany ihn so beharrlich ab?
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Seitenzahl: 283
© 2023 für die deutschsprachige Ausgabe by MIRA Taschenbuch in der Verlagsgruppe Harper Collins Deutschland GmbH, Hamburg © 2009 by Anne Ashley Originaltitel: »The Transformation of Miss Ashworth« Erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V. / SARL Übersetzung: Vera Möbius Covergestaltung von Birgit Tonn / Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH Coverabbildung von Delbars / Getty Images ISBN E-Book 9783745753899
Cover
Impressum
Inhalt
Dezemberbächte voller Zärtlichkeit
Titel
1. KAPITEL
2. KAPITEL
3. KAPITEL
4. KAPITEL
5. KAPITEL
6. KAPITEL
7. KAPITEL
8. KAPITEL
9. KAPITEL
10. KAPITEL
11. KAPITEL
12. KAPITEL
13. KAPITEL
14. KAPITEL
15. KAPITEL
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Contents
September 1814
Seufzend wandte Miss Bethany Ashworth ihren Blick von der einst vertrauten Landschaft ab und sah ihre Reisegefährtin an. „Ich bin es so müde, Ann“, gestand sie leise. „Von diesem rastlosen Leben habe ich mehr als genug.“
„Kein Wunder.“ Ann Stride lächelte liebevoll und mitfühlend. „In den letzten fünf Jahren sind wir kreuz und quer durch Europa gezogen. Und was mich betrifft – die letzten Wochen in Paris erschienen mir besonders anstrengend.“
„Nicht nur das ewige Reisen zerrt an meinen Nerven“, erklärte Bethany und blickte wieder aus dem Kutschenfenster. „Was mich viel mehr ärgert, ist meine Unentschlossenheit.“ Voller Selbstironie begann sie zu lachen. „Viel zu oft bekunde ich den Wankelmut, den man unserem Geschlecht nachsagt. Diese Schwäche darf ich mir nicht länger gestatten. Nun muss ich mich endlich zusammennehmen und an die Zukunft denken.“
Besorgt runzelte Ann die Stirn. „Bereust du deinen Entschluss, nach Ashworth House zurückzukehren? Wie ich mich erinnere, warst du dir nach dem Tod deines lieben Papas nicht sicher.“
„Nein, diese Entscheidung bedaure ich keineswegs.“ Ein rätselhaftes Lächeln umspielte Beth’ Lippen, die in den letzten Jahren so mancher Gentleman reizvoll gefunden hatte. „Sie könnte sich als sehr sinnvoll erweisen … Aber ob ich für immer dort bleiben will – das steht auf einem anderen Blatt. Zum Glück werden wir nicht gezwungen sein, hier auf dem Lande auszuharren, wenn uns nach Abwechslung dürstet. Und wenn es so ist, sollte es uns nicht überraschen, angesichts unseres Lebensstils in dieser ganzen langen Zeit. Aber – nein, Ann, ich bereue es nicht, zu dem Haus zurückzukehren, in dem ich aufgewachsen bin“, bekräftigte sie, ehe sie sich auf praktischere Erwägungen konzentrierte. „Und vorausgesetzt, der unentbehrliche Rudge hat seine Pflicht erfüllt, erwartet uns ein angenehmer Aufenthalt – solange wir ihn genießen wollen.“
Die Reisegefährtin atmete erleichtert auf. „Nun, dann freue ich mich auf Ashworth House, und es würde mir gefallen, dort Wurzeln zu schlagen. Zumal uns in England gewiss ein kälterer Winter bevorsteht als auf der Iberischen Halbinsel. Da ich sieben Jahre älter bin als du, zehrt das Nomadenleben allmählich an meinen Kräften.“
„In diesem Fall, meine liebe Ann, werde ich unsere Reise abkürzen.“ Beth öffnete das Fenster und wies den Fahrer der Postkutsche an, bei der nächsten Einfahrt abzubiegen.
Wenig später zügelte der Kutscher das Gespann vor einem imposanten schmiedeeisernen Tor, und einer der Postreiter blies in sein Horn, um die Aufmerksamkeit des Pförtners zu erregen.
Sichtlich erbost über die Störung, trat ein kleiner, untersetzter Mann aus dem Pförtnerhaus. „Und was haben Sie auf Stavely Court zu schaffen, wenn ich fragen darf?“, stieß er hervor, von der Ankunft der Postkutsche mit den vier Reitern kein bisschen beeindruckt.
„Das ist einzig und allein meine Sache!“, rief Beth lächelnd und lenkte seinen Blick auf sich. „Sperren Sie das Tor auf, George Dodd, und lassen Sie mich passieren! Sonst beschwere ich mich bei Ihrem Herrn, wenn ich ihn nächstes Mal sehe.“
Wohl eine halbe Minute lang spähte der Pförtner zwischen den Gitterstäben hindurch und musterte die junge Dame, die aus dem Kutschenfenster schaute. Dann verzog sich sein zerfurchtes, wettergegerbtes Gesicht zu einem breiten Grinsen. „Gott sei meiner Seele gnädig! Wenn das nicht Sie sind, Miss Bethany! Nach all den Jahren!“ Ohne Zögern öffnete er die beiden Torflügel und eilte zu der Kutsche, so schnell ihn seine arthritischen O-Beine trugen. „Hätt’ ich nicht gedacht, dass ich Sie noch mal sehe.“ In seinen dunklen Augen glänzte es verdächtig.
„Wie geht es Ihnen, Dodd?“, fragte Beth sanft. „Ihre Gelenke scheinen Sie wieder zu plagen.“
„Ach, so schlimm ist es nicht. Und jetzt, wo Sie wieder daheim sind, fühle ich mich gleich viel besser. Da bin ich sicher nicht der Einzige. Vor ein paar Wochen ist der Master aus London zurückgekommen. Sie werden ihn oben im Haus antreffen, Miss.“
Sofort erlosch ihr Lächeln. „Um die Wahrheit zu gestehen, Dodd – ich bin nicht hier, um Ihren Herrn zu besuchen. Seit drei Wochen bin ich unterwegs, nun möchte ich die Abkürzung über Sir Philips Land benutzen. Aber ich will Sie nicht in Schwierigkeiten bringen.“
„Fahren Sie nur zu, Miss Beth, das wird dem Master ganz bestimmt nichts ausmachen.“
Stavely Court wirkte nicht so sehr durch seine Größe beeindruckend, sondern dank der grandiosen Architektur und des prächtigen Parks, auf den fast jedes der zahlreichen Fenster des Herrschaftshauses den Blick freigab. Daher fiel die Postkutsche, die die Ländereien ihres Bruders durchquerte, Lady Chalford unweigerlich ins Auge, als sie aus dem Westfenster der Bibliothek sah.
„Beim Lunch hast du gar nicht erwähnt, dass du Besuch erwartest, Philip. Wäre ich informiert gewesen, hätte ich auf meinen Mittagsschlaf verzichtet, denn solange ich hierbleibe, übernehme ich gern die Pflichten einer Gastgeberin. Zumindest sollte ich deine Besucher begrüßen.“
Nur kurz blickte Sir Philip Stavely von seinen Papieren auf, um seiner Schwester zu erklären, sein einziger Besucher, der Verwalter, sei bereits am Vormittag erschienen.
Missbilligend schüttelte Lady Chalford den Kopf. „Wenn das so ist, nutzt jemand wieder einmal deine Gutmütigkeit aus und fährt über dein Land. In mancher Hinsicht bist du viel zu großzügig. Was zu Beginn des Sommers passiert ist, weißt du doch – jemand hat auf dich geschossen! Wirklich, du dürftest fremden Leuten nicht gestatten, deinen Grundbesitz zu überqueren. Nicht einmal, wenn sie in einer Postkutsche mit vier Postillions reisen.“
Nicht im Mindesten beunruhigt, unterzeichnete Sir Philip ein Dokument mit seinem schwungvollen Namenszug, bevor er neben seine Schwester ans Fenster trat. „Es würde mich sehr überraschen, wenn jener Schuss kein Versehen gewesen wäre, Connie. Vermutlich wollte der übereifrige Sohn eines Nachbarn sein Jagdgewehr ausprobieren. Und in dieser Kutsche sitzen sicher keine Fremden. Sonst hätte Dodd das Osttor nicht geöffnet. Wenn mich nicht alles täuscht, hat dieses Gefährt eine lange Fahrt hinter sich. Wahrscheinlich ist es in London aufgebrochen.“
Lady Chalford starrte ihren Bruder verblüfft an. Bei dieser Gelegenheit hätte ein Beobachter die charakteristischen Stavely-Züge erkannt, die beide besaßen – die schmale aristokratische Nase, die klaren grauen Augen.
Aber im Gegensatz zu seiner Schwester hatte Sir Philip seinen Augen früher ein mutwilliges Funkeln erlaubt, zum Entzücken zahlreicher Damen. Sein Haar war etwas dunkler als das seiner älteren Schwester, er hatte es in weichen Wellen aus der hohen Stirn gekämmt. Auch das markante Kinn, die wohlgeformten, nicht zu vollen Lippen und die perfekt geschwungenen Brauen trugen zu seiner attraktiven äußeren Erscheinung bei.
So gut sah seine Schwester nicht aus. Ihre Jugendblüte begann zu welken, und ihre füllige Figur zeugte von den fünf Kindern, die sie ihrem Gemahl während der vierzehnjährigen Ehe geschenkt hatte. Trotzdem wurden die Spuren einstiger Schönheit immer noch von reiferen Gentlemen bewundert.
„Jetzt nimmst du mich auf den Arm, Philip“, tadelte sie ihren Bruder in mildem Ton. „Wie kannst du das wissen?“
„Indem ich meine Augen und meinen Verstand benutze, Constance. Erstens, nur wenige Menschen können sich den Luxus einer Postkutsche mit vier Reitern leisten. Die wohlhabenden Leute, die hier leben, verfügen genau wie ich über ihre eigenen Kutschen. Zweitens, die meisten größeren Häuser liegen nordöstlich von meinem Landgut. An der Westgrenze gibt es nur ein einziges Haus, dessen Besitzerin jahrelang abwesend war. Vielleicht kehrt sie jetzt in einer gemieteten Chaise heim.“
„Oh …“ Aufgeregt rang Connie nach Luft. „Also glaubst du, die junge Bethany Ashworth ist nach all den Jahren zurückgekommen?“
Solch lebhafte Emotionen wie seine Schwester zeigte Sir Philip nicht. „Natürlich kann ich es erst mit Sicherheit sagen, wenn ich mit Dodd gesprochen habe. Augustus Ashworth, die Mitglieder seiner Familie und seine Gäste gehörten zu den wenigen Privilegierten, die mit der Erlaubnis unseres Vaters die Abkürzung durch den Park benutzen durften, um das Dorf schneller zu erreichen.“ Während die Postkutsche hinter stattlichen Ulmen verschwand, trat Philip an einen Tisch, auf dem mehrere Karaffen standen. „Wie ich hörte, wurden vor zwei oder drei Wochen die Fensterläden von Ashworth House geöffnet. Außerdem hat man ein paar Dienstmädchen aus dem Dorf und Handwerker eingestellt, die das Haus in bewohnbaren Zustand bringen sollen. Und irgendjemand – keine Ahnung, wer – kaufte Vorräte in beträchtlichen Mengen.“
„Dann steht es fest, Bethany kommt nach Hause.“ Lady Chalford ergriff ein Glas Fruchtlikör, das Sir Philip ihr reichte. „Welche andere Erklärung könnte es geben?“ Sie arrangierte ihre Röcke und sank in einen Sessel.
Voller Zuneigung musterte Philip seine Schwester, nachdem er ihr gegenüber Platz genommen hatte. Ihren Verstand hatte er niemals überschätzt. Aber er wusste ihre Herzensgüte zu würdigen. „Sogar eine ganze Reihe Erklärungen, meine Liebe“, erwiderte er und nippte an seinem Brandy. „Zumindest einen Insassen der Kutsche muss Dodd erkannt haben. Gewiss, es könnte Beth gewesen sein – oder der Verwalter des verstorbenen Colonel Ashworth, der beauftragt wurde, das Haus für neue Bewohner herzurichten.“ Lächelnd beobachtete er, wie Connie verwirrt blinzelte. „Es wäre möglich, dass Beth das Haus verkauft hat. Da sie so lange verreist war, fühlt sie sich wohl kaum mit ihrem einstigen Heim verbunden. Und wie ich mich jetzt entsinne, teilte Lady Barfield mir bei unserer letzten Begegnung in London mit, ihre Nichte würde vorerst in Paris bleiben.“
Eine Zeit lang schwieg Constance nachdenklich. „Weißt du, Philip – ich fand ihr Verhalten schon immer ziemlich seltsam.“
„Meinst du Beth oder Lady Barfield?“
„Natürlich Beth !“, betonte Connie, sichtlich erstaunt über die Frage. „Warum sie zu der Verwandten ihrer Mutter nach Plymouth gezogen ist, habe ich nie verstanden. Lady Barfield war doch stets ihre Lieblingstante, nicht wahr?“
„Das würde ich nicht behaupten“, entgegnete Philip. „Sicher, nach dem Tod ihrer Mutter verbrachte Beth einige Monate bei der Schwester ihres Vaters. Lady Barfield spielte auch eine wesentliche Rolle bei Beth’ Erziehung und besuchte Ashworth House viel öfter als alle anderen Verwandten. Aber vergiss nicht – im Frühling 1808 wurde Colonel Ashworth dringend nach London berufen und segelte bald danach mit Wellesley nach Spanien. Deshalb hatte die arme Beth kaum Zeit, zu entscheiden, wo sie wohnen wollte. Wer weiß, vielleicht glaubte sie, Lady Barfield hätte sich lange genug in ihr Leben eingemischt. Oder vielleicht wollte sie die Familie nicht zusätzlich belasten, weil diese mit der Planung von Eugenies Zukunft beschäftigt war.“
Nachdem er seine verstorbene Braut erwähnt hatte, warf Lady Chalford ihm unter gesenkten Wimpern hervor einen besorgten Blick zu. Nur selten sprach er über jene Zeit seines Lebens, geschweige denn über seine Verlobung mit Lord Barfields geliebter ältester Tochter. Wann immer das Thema in den letzten Jahren angeschnitten worden war, hatte er sofort einen anderen Gesprächsstoff gesucht – ein Umstand, der Ihre Ladyschaft indes nicht an ihren nächsten Worten hinderte. „Das ist es ja, was mir so sonderbar vorkommt. Beth und Eugenie standen sich sehr nahe – eher wie Schwestern als wie Cousinen. Also müsste man annehmen, bei den Hochzeitsvorbereitungen, in so erfreulichen Zeiten, hätte sie sich lieber bei den Barfields aufgehalten.“
Über das Gesicht ihres Bruders schien ein Schatten zu gleiten, die halb geschlossenen Augen verbargen, was immer er empfinden mochte. „Sicher hatte Beth ihre Gründe, um bei der Tante ihrer verstorbenen Mutter zu leben“, erklärte er in entschiedenem Ton, der bekundete, dass er nicht beabsichtigte, sich weiter darüber zu äußern.
Wenn Sir Philip sich in Stavely Court aufhielt, passte er sich ländlichen Gepflogenheiten an. Auch der nächste Morgen bildete keine Ausnahme. Während seine Schwester in ihrem Schlafzimmer frühstückte, nahm er die Mahlzeit allein im Speisesalon ein. Danach ritt er zu einem Treffen mit seinem Verwalter.
Auf dem Rücken eines seiner edlen Pferde bot er um diese frühe Stunde einen gewohnten Anblick. Schon in jungen Jahren hatte er ein lebhaftes Interesse für die Landwirtschaft entwickelt, und seit er vor sieben Jahren den Titel geerbt hatte, war seine Liebe zu den Ländereien noch gewachsen.
Er befasste sich mit sämtlichen Aspekten der Gutsverwaltung, und das Wohl der Pächter, die seine ausgedehnten Ländereien im West Country bewirtschafteten, lag ihm am Herzen. Der Verwalter wusste, dass er sich mit allen Problemen an seinen Dienstherrn wenden konnte – ein Privileg, das er häufig nutzte. Aber da sie erst am Vortag eine Besprechung abgehalten hatten, waren die Geschäfte an diesem Morgen bald erledigt. Und so konnte Sir Philip den restlichen Vormittag so gestalten, wie es ihm gefiel, denn er musste erst zum Lunch nach Stavely Court zurückkehren.
Er ritt an der Ostgrenze des Wildparks entlang, als ihm plötzlich etwas einfiel. Umgehend lenkte er seinen Wallach zum Pförtnerhaus, wo er Dodd, einen seiner ältesten Angestellten, in seinem kleinen Gemüsegarten arbeiten sah.
„Guten Morgen, Sir. Soll ich den Jungs im Herbst wieder beim Abholzen helfen?“
„Nur wenn Sie sich gut genug fühlen, Dodd. Aber ich bin aus einem anderen Grund hier. Gestern Nachmittag sah ich eine Postkutsche mit vier Reitern durch den Park fahren. Kam sie durch dieses Tor herein?“
„In der Tat, Sir! Kann man’s denn glauben – nach all den Jahren ist Miss Bethany wieder da.“ Grinsend nahm Dodd seinen Hut ab und strich über den kahlen Schädel. „So ein erfreulicher Anblick für meine alten Augen … Es stört Sie doch nicht, dass sie durch den Park gefahren ist?“ Unsicher schaute er zu der hochgewachsenen Gestalt im Sattel auf.
„Natürlich nicht. Aber bleiben Sie wachsam, Dodd. Nicht nur Miss Ashworth ist in letzter Zeit über den Kanal nach England zurückgekehrt“, fügte Sie Philip hinzu, denn er dachte an die – keineswegs grundlosen – Befürchtungen seiner Schwester. „In dieser Grafschaft weiten sich die Unruhen aus. Nach dem Ende des Krieges gegen Frankreich sind viele Heimkehrer verbittert, weil sie keine Arbeit finden …“ Er unterbrach sich und ließ den Blick über die malerische Landschaft schweifen. Seines Wissens hatte hier niemand mehr eine Waffe erhoben, seit seine Ahnen im siebzehnten Jahrhundert gegen die Anhänger Cromwells zu Felde gezogen und besiegt worden waren. Er konzentrierte sich wieder auf die Ankunft der jungen Dame, die er fast seit ihrer Geburt kannte. Und plötzlich erwachte seine Neugier, was nur mehr selten geschah. „Haben Sie Miss Ashworth auf Anhieb erkannt, Dodd? Dann hat sie sich anscheinend nicht allzu sehr verändert.“
„Ein bisschen schon, Sir. Richtig erkannt hab ich sie erst auf den zweiten Blick. Sie ist viel schlanker als damals, aber das strahlende Lächeln ist geblieben. Daran würde ich Miss Beth überall erkennen. Sogar den dunkelsten Tag würde es erhellen.“
„Da haben Sie recht, Dodd.“ Vor Philips innerem Auge erschienen Bilder aus der Vergangenheit, fast vergessene Erinnerungen an ein Mädchen, das in Breeches über das benachbarte Landgut galoppiert war. Damals hatte Bethany sich wie ein Junge aufgeführt, doch schließlich war Henrietta Stainton zu der längst überfälligen Einsicht gelangt, dass sie sich um die Erziehung ihrer Nichte kümmern musste. Die Verwandlung zu einer manierlichen jungen Dame glückte, bevor Bethany ihr Zuhause verließ – zu seinem Missvergnügen, wie er sich entsann. Und jetzt? War sie inzwischen verheiratet und Mutter geworden?
Aus unerklärlichen Gründen irritierte ihn der Gedanke. „Saß sie allein in der Kutsche, Dodd? Oder wurde sie von jemandem begleitet?“
„Kann ich nicht genau sagen, Sir. Die Kurzsichtigkeit, wissen Sie. Aber ich glaube, da war jemand bei ihr.“
Philip verabschiedete sich von dem alten Mann und machte sich auf den Rückweg nach Stavely Court. Aber auf halbem Weg wurde er zum zweiten Mal von ungewohnter Neugier erfasst – nicht zuletzt wegen der beunruhigenden Frage, ob Beth verheiratet war. Und so änderte er die Richtung und ritt durch den Park nach Westen.
Jenseits der Grenzmauer, in einem idyllischen Tal, lag das Dorf. Hier wohnten die meisten seiner Bediensteten. Weiß getünchte Cottages säumten die Hauptstraße, an deren Ende die kleine Kirche stand. Dahinter waren in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts mehrere Ziegelhäuser errichtet worden.
Ashworth House, das stattlichste der neueren Gebäude, erhob sich in einem großen Garten, von einer Eibenhecke gegen die Straße abgeschirmt.
Jahrelang hatte es für Philip keinen Grund mehr gegeben, hierher zu reiten. Als er in die Zufahrt bog, entdeckte er deutliche Spuren einer beklagenswerten Vernachlässigung. Der Garten wirkte verwildert, das Haus schien an einigen Stellen reparaturbedürftig.
Nachdem er abgestiegen war und sein Pferd an einem Pfosten festgebunden hatte, klopfte er an die Tür, die kurz darauf von der Haushälterin geöffnet wurde. Die Frau kannte ihn seit seiner Kindheit und machte keinen Versuch, ihre Freude über das Wiedersehen zu verbergen.
„Ah, Sir Philip! Wie lange ist es her, seit Sie zuletzt hier waren! Kommen Sie doch herein, Miss Beth wird sich freuen über Ihren Besuch. Im Moment ist sie mit diesem Mann unterwegs. Aber sie wollte zum Lunch wieder da zu sein.“
„Diesem Mann?“ In Philips Magengrube breitete sich ein beklemmendes Gefühl aus.
„Ja, Sir. Mr Rudge. Kümmert sich vorbildlich um sie, lässt sie kaum aus den Augen. Heute schauen sie sich Pferde drüben in Markham an, dort ist Markttag. Aber Mrs Stride ist da, eine sehr nette Dame. Sicher wird sie Ihnen bis zu Miss Beth’ Rückkehr Gesellschaft leisten. Wenn Sie bitte mitkommen wollen, Sir – ich mache Sie mit ihr bekannt.“
Verwirrt von den spärlichen Informationen, folgte Philip der Haushälterin in den Salon, in dem alles ein wenig verblichen wirkte. Vor dem Kamin saß eine Frau, die sich so heimisch zu fühlen schien, dass man sie für die Hausherrin hätte halten können.
Sie legte ihre Näharbeit beiseite und erhob sich. Philip schätzte sie etwa so alt wie seine Schwester, doch man sah ihr die Jahre nicht so deutlich an. Als sie ihn begrüßte, Platz zu nehmen bat und ihm eine Erfrischung anbot, merkte er zudem, dass sie gebildet war. Offensichtlich entstammte sie besseren Kreisen, denn sie schien sich in seiner Gegenwart kein bisschen befangen zu fühlen.
Dies alles verwirrte Philip noch zusätzlich zu den Fragen, die ihm durch den Sinn gingen. „Vergeben Sie mir, dass ich Ihnen so kurz nach Ihrer Ankunft die Aufwartung mache, Ma’am. Ausnahmsweise habe ich meiner Neugier gestattet, die Regeln der Höflichkeit zu missachten. Früher kannten Miss Ashworth und ich uns sehr gut. Deshalb möchte ich die Freundschaft unverzüglich erneuern.“
„Sicher wird sie sich freuen, Sie wiederzusehen, Sir Philip. Als wir gestern durch Ihren Park fuhren, erwähnte sie, dass Sie ihr erlaubt haben, die Abkürzung zu benutzen, weil Sie einander schon so lange kennen.“
Er nippte an dem Wein, den sie ihm eingeschenkt hatte. „Wenn ich eine Frage stellen darf, Ma’am – sind Sie mit Beth verwandt?“
„Natürlich dürfen Sie fragen, Sir. Ich bin eine bezahlte Gesellschafterin. Allerdings würde Beth es niemals so bezeichnen. Mein Mann war Major in der Armee, und ich folgte ihm nach Spanien. Nachdem er bei Talavera gefallen war, suchte ich eine Möglichkeit, nach England zurückzureisen, und hatte das Glück, dass Colonel Ashworth mich engagierte – weil seine Tochter unerwartet in Spanien eintraf.“
Philip hob die Brauen. „Unerwartet?“
„Nun, zumindest gewann ich den Eindruck. Aber ihre Anwesenheit war dem Colonel keineswegs unangenehm, ganz im Gegenteil. Und er tat alles, um sie zu schützen.“ Lächelnd schüttelte Mrs Stride den Kopf. „Nicht dass Beth viel Schutz brauchen würde … Wie Sie zweifellos wissen, Sir, kann sie so gut reiten und schießen wie die meisten Männer. Sie hat mir erzählt, das sei das Ergebnis ihrer etwas ungewöhnlichen Erziehung.“
„Oh ja, ihre Erziehung war sogar extrem ungewöhnlich. Von ihrem liebevollen Vater ermutigt, schockierte sie die ganze Grafschaft, weil sie sich wie ein Junge benahm.“
„Vermutlich waren Sie nicht schockiert, Sir“, bemerkte Mrs. Stride, nachdem sie Sir Philip aufmerksam gemustert hatte.
„Sie sind sehr scharfsinnig, Ma’am. Nein, ich hegte keine moralische Entrüstung, und ich fand den Entschluss des Colonels, Beth’ Erziehung seiner Schwester anzuvertrauen, sogar bedauerlich. In Lady Henrietta Barfields Obhut verlor Beth einen Teil ihres natürlichen Charmes.“
Mit diesen Worten schien er Ann Stride zu überraschen, doch ehe sie eine Frage stellen konnte, ging die Tür auf, und die junge Hausherrin stand auf der Schwelle.
Einige Momente lang sagte niemand etwas. Wie Ann erkannte, war ihre Freundin über die Anwesenheit des Besuchers in Kenntnis gesetzt worden, denn in ihren blauen Augen zeigte sich keine Verblüffung. Bethanys Miene wirkte völlig ausdruckslos, und so ließen sich ihre Gedanken nicht erraten. Als Sir Philip aufstand, musterte sie ihn ungeniert von Kopf bis Fuß.
Dagegen wirkte Sir Philip bei ihrem Anblick wenn nicht verblüfft, so doch erstaunt. Dann erinnerte er sich an seine Manieren, eilte zu ihr und ergriff ihre Hände. „Welch eine Freude, dich wiederzusehen …“ Die Stirn leicht gerunzelt, musterte er ihre ebenmäßigen Züge. Anscheinend wollte er sich vergewissern, dass der Wildfang, der ihn vor all den Jahren so schwärmerisch auf Schritt und Tritt verfolgt hatte, und diese selbstbewusste junge Dame ein und dieselbe Person waren.
Fast ein halbes Jahrzehnt hatte sie in Spanien verbracht und wegen des Krieges dort wohl so mancherlei Entbehrungen erlitten. Jene harten Zeiten hatten ihrem Gesicht eine reizvolle Reife verliehen. Ihre hellblauen Augen hielten seinem prüfenden Blick stand. Die gerade kleine Nase und die vollen Lippen hatten sich nicht verändert. Nur die Konturen ihres erhobenen Kinns erschienen ihm etwas prägnanter und deuteten auf eine neue Entschlusskraft hin.
„Wie gut du aussiehst, meine liebe Beth“, fügte er hinzu. Als er spürte, dass sie ihm ihre Hände entziehen wollte, ließ er sie sofort los.
„Du auch, Philip“, erwiderte sie und schenkte ihm ihr strahlendes Lächeln, bevor sie an ihm vorbei zu Mrs Stride ging. „Sag, Ann, habe ich nicht oft genug beklagt, wie ungerecht die Zeit ist, weil sie die meisten Männer bevorzugt? Andererseits wirkt sich eine gewisse Unmäßigkeit auf beide Geschlechter ungünstig aus … Da wir gerade davon reden – darf ich dich zu einem längeren Besuch verleiten, indem ich dein Weinglas nachfülle, Philip?“
Bereitwillig stimmte er zu. Ann lehnte das Angebot ab und entschuldigte sich mit der Erklärung, sie müsse in ihrem Schlafzimmer ein Nähgarn suchen, das farblich besser zu ihrer Handarbeit passte.
Nachdem sie den Salon verlassen hatte, bekam Beth’ Lächeln einen ironischen Zug. „Also wirklich, ich werde die gute Ann ermahnen und auffordern müssen, die Pflichten einer Gesellschafterin etwas ernster zu nehmen. Warum lässt sie mich mit einem begehrenswerten Junggesellen allein? Was hat sie sich bloß dabei gedacht?“ In ihren Augen sah Philip ein vertrautes mutwilliges Funkeln, und so fand er ihre nächste Bemerkung nicht unerhört. „Aber sie glaubt sicher, bei dir bin ich nicht in Gefahr. Andererseits – ein Baronet wäre eine fabelhafte Partie, und wie unüberlegt ich mich manchmal verhalte, ist allgemein bekannt. Bedenke bloß, welchen Skandal ich heraufbeschwören könnte, wenn ich dich kompromittieren würde!“
Lachend warf er den Kopf in den Nacken. „Du hast dich kein bisschen geändert.“
„Das würde ich nicht sagen“, erwiderte sie und ergriff sein Glas. „Trinkst du einen Portwein mit mir?“ Angesichts seiner unverhohlenen Missbilligung seufzte sie. „Ja, ich weiß, dieses Getränk schickt sich nicht für Damen. Trotzdem habe ich es auf meinen Reisen schätzen gelernt und den guten Rudge beauftragt, ein paar Kisten zu kaufen.“
„Darf ich fragen, wer der ‚gute Rudge‘ ist?“
Sie füllte die Gläser, dann sank sie anmutig in den Sessel gegenüber von Philip. „Sozusagen mein Majordomus. Ein bisschen raubeinig. Der Himmel weiß, was meine Gäste von ihm halten werden … Wenn er jemanden nicht ausstehen kann, macht er daraus keinen Hehl. Er war Papas Offiziersbursche.“
Als sie den Colonel erwähnte, sprach er ihr sein aufrichtiges Beileid aus. Er hatte seinen Nachbarn nicht nur respektiert, sondern auch gemocht. „Wie ich hörte, ist er erst kurz vor dem Ende des Spanienfeldzugs gefallen.“
Die Wimpern halb gesenkt, blickte Beth auf ihr Glas, und Philip glaubte Tränen in ihren Augen zu sehen. „Ja, als er für Wellington das Terrain sondierte, wurde er in den Rücken geschossen, kurz bevor die Armee in Frankreich einmarschierte. Ein paar Tage später starb er. Es war gut so“, fügte sie zu seiner Überraschung hinzu. „Denn wie mir einer der Militärärzte einige Monate zuvor mitgeteilt hatte, litt mein Vater an beginnender Auszehrung. Er starb im Dienst an seinem Vaterland. So wie er es gewünscht hätte … Er wurde in Spanien begraben, und ich blieb bei der Armee, bis wir Paris erreichten. Sicher war das in seinem Sinne.“ Sie trank einen Schluck und sah Philip über den Rand ihres Glases hinweg an. Schließlich fuhr sie fort: „In diesen letzten Jahren haben wir beide geliebte Menschen verloren. Die traurige Nachricht von Eugenies Tod erhielt ich erst nach mehreren Wochen. Papa schrieb dir auch in meinem Namen, um unser Beileid zu bekunden. Hoffentlich hast du seinen Brief bekommen?“
„Gewiss, vielen Dank.“
In seinen Augen hatte tiefes Mitgefühl gestanden, als vom Tod ihres Vaters die Rede gewesen war. Jetzt zeigte er erstaunlicherweise keinerlei Emotionen. Sie hatte erwartet, dass die Erwähnung seiner verstorbenen Verlobten ihn bekümmerte. Doch das schien nicht der Fall.
„Ich schrieb meiner Tante und meinem Onkel regelmäßig aus Spanien, um sie auf dem Laufenden zu halten“, berichtete Beth, als das Schweigen lastend wurde. „Was Tante Hetta betrifft – sie ist eine eingefleischte Pragmatikerin. Zweifellos wird sie stets um ihre älteste Tochter trauern, aber das hinderte sie nicht daran, für die anderen Mädchen zu sorgen. Inzwischen hat sie immerhin drei unter die Haube gebracht, eine bewundernswerte Leistung.“
„Ja, in der Tat“, stimmte Philip zu, und seine Lippen verzogen sich zu einem schwachen Lächeln. „Wie man so schön sagt, das Leben geht weiter.“ Er trank sein Portweinglas leer und stand auf. „Da wir gerade davon reden, darf ich dich und Mrs Stride einladen, am Freitagabend bei uns auf Stavely Court zu dinieren? Nach deiner Kleidung zu schließen, hast du die Trauerzeit beendet.“
„Bei uns?“, wiederholte Beth verwirrt.
„Connie wohnt für ein paar Wochen bei mir und spielt meine Gastgeberin.“
„Hat sie ihre Familie mitgebracht?“
„Großer Gott, nein!“ Allein schon bei diesem Gedanken erschauerte er. „Wenn ich auch ein liebevoller Bruder bin, die fünf Kinder würde ich nicht ertragen. Den ganzen Frühling waren sie der Reihe nach krank und trieben ihre Mutter an den Rand der Erschöpfung. Jetzt erholt sie sich bei mir und genießt eine wohlverdiente Ruhepause. Das behauptet sie zumindest. In Wirklichkeit hat sie beschlossen, meinen dreißigsten Geburtstag nicht ohne ein grandioses Fest verstreichen zu lassen.“
Lachend erhob sich nun auch Beth. „Wenn das so ist – besten Dank für die Einladung, die wir sehr gern annehmen.“
„Wunderbar! Es ist nur ein Dinner, nichts Besonderes, aber du wirst Gelegenheit finden, deine Bekanntschaft mit einigen Nachbarn zu erneuern und ein paar neue kennenzulernen.“ Höflich zog er ihre Hand an die Lippen und verabschiedete sich.
Als die Salontür geöffnet wurde, wandte Beth sich vom Fenster ab. Von dort aus hatte sie ihrem Besucher nachgeschaut, bis er die Zufahrt hinabgeritten und aus ihrem Blickfeld verschwunden war.
Die Rückkehr ihrer Freundin überraschte sie ebenso wenig wie die fadenscheinige Ausrede, mit der sie sich vorhin entfernt hatte. Da Ann sehr scharfsinnig und eine gute Beobachterin war, konnte ihr die besondere Verbindung zwischen dem Herrn von Stavely Court und der Herrin von Ashworth House nicht entgangen sein. Obwohl Beth sich bemüht hatte, ihre Gefühle zu verbergen …
Das tat sie auch jetzt. Auf dem Weg zum Sideboard, auf dem die Karaffen standen, warf sie Ann einen spöttischen Blick zu. „Der Status einer bezahlten Gesellschafterin mag dir zustehen. Aber falls du auch die Rolle einer Anstandsdame übernehmen willst – vergiss es. Ich müsste dich wegen mangelnder Fähigkeiten sofort entlassen.“
Keineswegs gekränkt, lachte Ann. „Meine Liebe, ich wusste, dass dir keine Gefahr droht. Ohne jeden Zweifel ist Sir Philip Stavely ein respektabler Gentleman. Und so gut aussehend!“
Beth, die gerade ihr Glas nachfüllen wollte, hielt inne. „Du hältst ihn für gut aussehend?“
„Oh ja. Du etwa nicht?“
„Eigentlich nicht. Interessant, das durchaus. Jedenfalls fand ich ihn stets vertrauenswürdig, und ich werde ihn niemals anders beurteilen.“
„Du kennst ihn natürlich lange genug, um dir eine Meinung über seinen Charakter gebildet zu haben. Obwohl ich, als wir gestern durch seinen Park fuhren und du deine Beziehung zu ihm erwähntest, den Eindruck gewann, ihr wärt nur befreundete Nachbarn.“
„So ist es, liebe Ann. Gib mir dein Glas, ich schenke dir noch etwas von dem widerwärtigen Gebräu ein, das du bevorzugst.“
Nachdem sie Platz genommen hatten, beschloss Beth, etwas genauer zu erklären, was Philip ihr bedeutete. Zunächst erinnerte sie Ann an die Abende in Spanien, die sie in Gesellschaft Colonel Ashworths und anderer Offiziere verbracht hatten. „Wie du dich sicher entsinnst, genoss ich eine ungewöhnliche Erziehung.“
„Allerdings. Oft genug hat dein Vater betont, du seist ein richtiger Wildfang gewesen und schamlos in Breeches herumgelaufen.“
Beth lachte belustigt. „Oh ja. Erst später beschwerte er sich über mein unmögliches Benehmen. Aber zuvor ermutigte er mich sogar dazu, den Sohn zu ersetzen, der ihm nicht vergönnt war. Wäre er nicht der jüngste von drei Brüdern, sondern der Erbe des Titels gewesen, hätte er vermutlich noch einmal geheiratet, in der Hoffnung auf einen Stammhalter.“
In ihren Sessel zurückgelehnt, ließ Beth ihre Gedanken in die Vergangenheit wandern.
„Wie du weißt, verlor ich meine Mutter sehr früh. Nur vage Erinnerungen sind mir geblieben – an den Duft ihres Parfüms, an sanfte Worte und Liebkosungen. Umso lebhafter erinnere ich mich an Papa. Er gab mir Reitunterricht und zwang mich nie, einen Damensattel zu benutzen. Den wollte er mir erst kaufen, als ich zehn Jahre alt war. Natürlich protestierte ich heftig. Und so bekam ich die Reitkleidung eines Jungen. Was er dir in Spanien erzählte, darf dich nicht täuschen, Ann. Er war unendlich stolz auf die Reitkünste seines kleinen Mädchens. Außerdem lernte ich genauso gut schießen wie er. Nur ganz selten tadelte er mich, wenn ich meiner leidgeprüften Gouvernante entwischte, um mit ihm auf die Jagd zu gehen oder zu angeln. Manchmal begleiteten uns Philip und sein Vater, und so lernten wir uns näher kennen. Jedes Jahr freute ich mich, wenn mein großer Freund in den Ferien nach Hause kam. Für mich war er gleichsam ein älterer Bruder, und ich folgte ihm auf Schritt und Tritt.“
Einige Sekunden lang starrte Beth in ihr Glas, um ihre Gedanken zu ordnen, dann lächelte sie und schüttelte den Kopf.
„Armer Junge! Wahrscheinlich fand er mich furchtbar lästig. Aber er war immer geduldig mit mir … Selbstverständlich konnte es nicht so weitergehen. Um Himmels willen, die Enkelin eines Earls rannte in Breeches herum!“ In gespieltem Entsetzen hob sie die Brauen. „Das durfte man nicht länger dulden. Tante Henrietta hielt ihrem Bruder sämtliche Fehler vor, die meine Erziehung betrafen, und ihm blieb keine andere Wahl, als ihren Rat zu befolgen und mich nach Bath in ein Internat für junge Damen zu schicken, das auch ihre älteste Tochter Eugenie besuchte. Anfangs ärgerte ich mich maßlos darüber, und ich war wütend, weil Tante Hetta sich in mein Leben einmischte. Aber wie ich letzten Endes zugeben musste, hatte sie recht. Wenn ich jemals auf eine gute Partie hoffen wollte, durfte ich mich nicht skandalös benehmen. Außerdem fand ich die Jahre im Internat gar nicht so schlimm. Ich teilte das Zimmer mit meiner Cousine. Wir freundeten uns an. Zumindest gewann ich den Eindruck …“
Verwundert bemerkte Ann eine gewisse Bitterkeit, die in Beth’ Stimme mitschwang. In den letzten fünf Jahren hatte die junge Dame ihre Cousine immer nur voller Zuneigung erwähnt und Eugenies verfrühten Tod aufrichtig bedauert. „Aber du bist stets in Verbindung mit ihr geblieben“, rief sie Beth in Erinnerung, auch weil sie mehr über jenen Lebensabschnitt ihrer Freundin erfahren wollte.
„Ja, wir schrieben uns regelmäßig. Mindestens einmal im Jahr besuchten Papa und ich Lord Barfields Anwesen in Surrey. Und plötzlich – kurz nach Eugenies erfolgreicher erster Saison in London – beschloss Tante Hetta, mit ihr hierherzukommen. Danach erschienen sie alle paar Monate bei uns. Dummerweise glaubte ich, Eugenie würde diese häufigen Reisen machen, um mich zu sehen.“ Beth’ Gelächter klang freudlos und hohl. „Welch ein Irrtum! In Wirklichkeit suchte sie die Nähe eines gewissen begehrenswerten Junggesellen, dessen Aufmerksamkeit sie in London erregt hatte.“
„Kein Wunder, dass du traurig warst, Liebes“, meinte Ann voller Mitgefühl.
„Oh ja, ich war verzweifelt. In meiner Naivität hatte ich mir eingebildet, Philip würde so oft in unserem Haus auftauchen, um mich, die Gefährtin seiner frühen Jugend, zu treffen – und nicht, um das schöne Mädchen anzuhimmeln, in das er sich Hals über Kopf verliebt hatte.“
Beth erhob sich und trat wieder ans Fenster. Ein längeres Schweigen senkte sich über den Raum. Nur das Knistern des Kaminfeuers war zu hören.
„Sicher tat ich Philip unrecht, als ich ihm sein Verhalten übel nahm“, fuhr sie irgendwann fort. „Dass er Eugenie so leidenschaftlich liebte, hätte ich verstehen müssen. Sie war unglaublich schön, mit goldblondem Haar und strahlenden blauen Augen. Und sie besaß ein so sanftes, gewinnendes Wesen …“ Sie seufzte. „Was ich damals nicht wusste – Waldo Stavely empfahl seinem Neffen, noch ein Jahr zu warten, ehe er die Verlobung bekannt gab, und Philip ging bereitwillig auf den Vorschlag seines Onkels ein. Unter den Umständen war das begreiflich. Er war noch sehr jung, knapp vierundzwanzig, und er musste sich an seine große Verantwortung gewöhnen. Erst wenige Monate zuvor hatte er den Titel geerbt. Aber gewisse Dinge kann man nicht lange geheim halten. Bald sprach sich herum, dass die Verlobung im nächsten Frühling verlautbart werden sollte. In der Zwischenzeit segelte Papa mit Wellington nach Portugal. Dort verbrachte er den Sommer 1808.“
Beth drehte sich wieder zu ihrer Freundin um.
„Ich konnte unmöglich hierbleiben. Töricht, wie ich damals war, fühlte ich mich zutiefst verletzt, grollte Eugenie und ihrer Mutter und konnte mir nicht vorstellen, die Gesellschaft der beiden jemals wieder zu ertragen. Deshalb zog ich zur unverheirateten Tante meiner Mutter nach Plymouth. Natürlich wusste ich, dass man von mir erwartete, im nächsten Jahr bei der Verlobungsfeier in Surrey dabei zu sein. Die Monate verstrichen, das gefürchtete Datum rückte immer näher. In meiner Verzweiflung buchte ich eine Passage auf einem Schiff nach Portugal, nur etwa eine Woche vor der offiziellen Verlobung. Meine arme Großtante Matilda schöpfte keinen Verdacht, bis sie den Brief fand, den ich vor meiner Flucht für sie hinterlegt hatte. Gewiss machte sie sich schreckliche Sorgen, obwohl ich ihr versicherte, dass ich eine Kabine mit der Witwe eines Militärarztes teilte, die als meine Anstandsdame fungieren sollte.“