Diablo: Der Sündenkrieg 1 - Richard A. Knaak - E-Book
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Diablo: Der Sündenkrieg 1 E-Book

Richard A. Knaak

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Beschreibung

Besessen davon, die Menschen für ihre eigenen Zwecke unter Kontrolle zu bekommen, fechten die Mächte von Gut und Böse einen geheimen Krieg um die Seelen der Sterblichen aus. Dies ist die Geschichte des Sündenkrieges – des infernalen Konfliktes, der die Geschicke der Menschheit für immer verändern sollte. 3000 Jahre bevor das Grauen nach Tristram kam, war Uldyssian, Sohn des Diomedes, ein einfacher Bauer aus dem kleinen Dörfchens Seram. Doch sein ruhiges und idyllisches Leben endet abrupt als er unter Mordverdacht gerät. Es soll zwei Missionare bestialisch ermordet haben. Uldyssian setzt alles daran, seinen Namen rein zu waschen, doch dann nimmt er eigenartige Veränderungen an sich wahr. Er besitzt plötzlich beängstigende Fähigkeiten, über die kein Sterblicher jemals verfügen sollte ...

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AUSSERDEM VON PANINI ERHÄLTLICH:

DIABLO: Der Sündenkrieg I – Geburtsrecht

Richard A. Knaak, ISBN 978-3-8332-4022-5

DIABLO: Der Sündenkrieg II – Die Schuppen der Schlange

Richard A. Knaak, ISBN 978-3-8332-4085-0

DIABLO: Der Sündenkrieg III – Der verhüllte Prophet

Richard A. Knaak, ISBN 978-3-8332-4086-7

DIABLO: Das Vermächtnis des Blutes

Richard A. Knaak, ISBN 978-3-8332-3896-3

DIABLO: Der Dunkle Pfad

Mel Odom, ISBN 978-3-8332-3897-0

DIABLO: Das Königreich der Schatten

Richard A. Knaak, ISBN 978-3-8332-3946-5

DIABLO: Der Mond der Spinne

Richard A. Knaak, ISBN 978-3-8332-3947-2

THE ART OF DIABLO

Großformat im Hardcover, ISBN 978-3-8332-3835-2

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Der Sündenkrieg

Buch 1

Geburtsrecht

Richard A. Knaak

Ins Deutsche übertragen von Ralph Sander

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Amerikanische Originalausgabe: „DIABLO: The Sin War I – Birthright“ von Richard A. Knaak, erschienen bei Simon and Schuster, Inc., 2006.

Copyright © 2002, 2021 Blizzard Entertainment, Inc. Alle Rechte vorbehalten.

Deutsche Ausgabe: Panini Verlags GmbH, Schlossstraße 76, 70176 Stuttgart.

Geschäftsführer: Hermann Paul

Head of Editorial: Jo Löffler

Head of Marketing: Holger Wiest (E-Mail: [email protected])

Presse & PR: Steffen Volkmer

Übersetzung: Ralph Sander

Lektorat: Manfred Weinland

Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart

Satz und E-Book: Greiner & Reichel, Köln

YDDITP005E

ISBN 978-3-7367-9881-6

Gedruckte Ausgabe:

ISBN 978-3-8332-4022-5

1. Auflage, April 2022

Findet uns im Netz:

www.paninibooks.de

PaniniComicsDE

PROLOG

Die Welt war zu jener Zeit noch jung, und nur wenigen war sie als Zuflucht bekannt. Ebenso wussten nur wenige, dass Engel und Dämonen nicht nur existierten, sondern dass einige von ihnen die Entstehung Sanktuarios, der Zuflucht, überhaupt erst herbeigeführt hatten. Die Namen Inarius, Diablo, Rathma, Mephisto und Baal – um nur einige Mächtige und oftmals Gefürchtete zu nennen – waren noch keinem Sterblichen über die Lippen gekommen.

In jener Zeit also, da man nichts vom ewigen Streit zwischen den Hohen Himmeln und den Brennenden Höllen wusste, mühte sich der Mensch, einfach nur zu leben, um dann irgendwann den Weg alles Irdischen zu nehmen. Er ahnte nichts davon, dass schon zu jener Zeit beide unsterblichen Seiten ein Auge auf ihn und das in ihm schlummernde Potenzial geworfen hatten und dass darüber ein Konflikt entflammen sollte, der viele Jahrhunderte andauern würde.

Von allen, die so schrecklich ignorant waren, was das furchtbare Schicksal Sanktuarios anging, war Uldyssian ul-Diomed – Uldyssian, der Sohn des Diomedes – der Blindeste von allen. Und er war zugleich auch derjenige, der sich inmitten all der Wirren wiederfand, die spätere Verfasser der geheimen Weltenchronik den Sündenkrieg nannten.

Es war kein Krieg im herkömmlichen Sinne. Natürlich gab es Kämpfe, Schlachten, aber in erster Linie war er geprägt von Seelenqual und Seelenraub. Ein Krieg, der auf ewig die Unschuld Sanktuarios befleckte und derer, die es bevölkerten. Ein Krieg, der alle veränderte, am schlimmsten jene, die sich dessen gar nicht bewusst waren.

Ein Krieg, der gewonnen und zugleich auch verloren wurde …

Aus den Büchern von Kalan

Erster Band, zweites Blatt

EINS

Der Schatten schob sich über Uldyssian ul-Diomeds Tisch und tauchte nicht nur einen großen Teil der Fläche in Dunkelheit, sondern auch seine Hand und das noch nicht getrunkene Ale.

Der Bauer mit dem sandblonden Haar musste nicht aufblicken, um zu sehen, wer ihn in seiner kurzen Pause vom Tagwerk störte. Er hatte den Fremden mit anderen im Boar’s Head sprechen hören, der einzigen Taverne des abgelegenen Dorfes Seram, und er hatte gebetet, der Mann möge nicht auch an seinen Tisch kommen.

Es war blanke Ironie, dass ausgerechnet der Sohn des Diomedes betete, der Fremde möge ihn in Frieden lassen, denn wer da vor Uldyssian stand, war kein Geringerer als ein Missionar der Kathedrale des Lichts. In seinem silbrigweißen Gewand und dem hohen Kragen gab er ein imposantes Bild ab – wenn man den Saum übersah, der deutlich erkennbar mit dem Morast von Seram in Berührung gekommen war, und zweifellos schaffte er es, bei vielen Dorfbewohnern Ehrfurcht zu wecken.

Bei Uldyssian jedoch wühlte seine Anwesenheit nur schreckliche Erinnerungen auf, und der Bauer zwang sich voller Ärger, seinen Blick nicht von dem vor ihm stehenden Krug abzuwenden.

„Habt Ihr das Licht gesehen, mein Bruder?“, fragte der Fremde endlich, als deutlich geworden war, dass der potenziell zu Bekehrende beabsichtigte, ihn auch weiterhin zu ignorieren. „Hat das Wort des großen Propheten Eure Seele berührt?“

„Sucht Euch einen anderen“, murmelte Uldyssian und ballte die freie Hand unwillkürlich zur Faust. Er trank den letzten Schluck Ale aus, in der Hoffnung, seine Bemerkung würde der unerwünschten Unterhaltung rechtzeitig ein Ende setzen.

Der Missionar jedoch wollte sich damit nicht zufrieden geben. Stattdessen legte er seine Hand auf den Unterarm des Bauern, womit er das Ale davon abhielt, Uldyssians Lippen zu erreichen. Dann sagte der junge Mann: „Wenn Ihr nicht an Euch denken wollt, dann denkt an diejenigen, die Ihr liebt! Wollt Ihr deren Seelen im Stich lassen und …“

Der Bauer stieß einen Schrei aus, und sein Gesicht wurde rot vor Zorn, den er nicht länger beherrschen konnte. Er sprang auf und packte den erschrockenen Missionar am Kragen. Als der Tisch umkippte, fiel der Krug zu Boden, das Ale spritzte auf den Holzboden, ohne dass Uldyssian Notiz davon nahm. Ringsum verfolgten die übrigen Gäste – darunter auch einige Reisende, die hier eher selten zu finden waren – die Auseinandersetzung mit einer Mischung aus Besorgnis und Interesse. Aus Erfahrung wussten alle, es war besser, sich aus solchen Konfrontationen herauszuhalten. Einige Dorfbewohner, die den Sohn des Diomedes kannten, schüttelten den Kopf und tuschelten untereinander darüber, welche unglückliche Wahl an Gesprächsthemen der Fremde getroffen hatte.

Der Missionar war noch eine Handbreit größer als Uldyssian, der mit seinen etwas mehr als sechs Fuß selbst schon nicht zu den kleinen Männern zählte. Doch der breitschultrige Bauer wog eineinhalb mal so viel wie er, und das Gewicht verteilte sich vollständig auf Muskeln, die er der Arbeit auf dem Feld und dem Umgang mit den Tieren verdankte. Uldyssian war ein bärtiger Mann mit kantigem Kiefer und grobschlächtigen Gesichtszügen, die typisch waren für diese Region westlich des großen Stadtstaates Kehjan, dem Juwel der östlichen Hälfte der Welt. Tiefbraune Augen brannten sich in die blasser gefärbten des hageren und überraschend jungen Priesters der Kathedrale.

„Die Seelen der meisten Mitglieder meiner Familie können vom Propheten längst nicht mehr eingesammelt werden, Bruder! Sie starben vor fast zehn Jahren an der Pest!“

„Ich w-werde für … für sie alle beten …“

Seine Worte machten Uldyssian nur noch zorniger, hatte er doch monatelang unablässig für seine Eltern, seinen älteren Bruder und seine beiden Schwestern gebetet, als sie leiden mussten. Tag und Nacht hatte er oftmals völlig ohne Schlaf zu der Macht gefleht, die über sie wachte – zuerst, damit sie sich erholten, später dann, als es keine Hoffnung mehr gab, damit ihr Tod schnell und schmerzlos käme.

Keines seiner Gebete war erhört worden. Aufgewühlt und hilflos hatte Uldyssian zusehen müssen, wie einer nach dem anderen qualvoll starb. Nur er und sein jüngster Bruder Mendeln hatten überlebt, um alle anderen zu beerdigen.

Schon da waren Missionare unterwegs gewesen, die von den Seelen seiner Familie sprachen und davon, dass ihre jeweilige Konfession die Antwort auf alles hatte. Alle hatten sie Uldyssian zugesichert, er werde Frieden mit dem Verlust seiner Liebsten schließen, solange er dem jeweiligen Glaubenspfad folgte.

Doch Uldyssian, einst ein gottesfürchtiger Mann, hatte jeden Einzelnen von ihnen sehr lautstark bloßgestellt. Ihre Worte klangen hohl und leer, und seine Weigerung erschien ihm nach einer Weile berechtigt, erwies sich doch die Existenz dieser Konfessionen als so flüchtig wie die Jahreszeiten.

Aber nicht alle Glaubensrichtungen verschwanden wieder so schnell, wie sie kamen. Die Kathedrale des Lichts war zwar jüngeren Ursprungs, doch sie wirkte weitaus stärker als alle Vorgänger. Sie und der vor etwas längerer Zeit gegründete Tempel der Triune schienen sich recht schnell zu den beiden vorherrschenden Institutionen zu entwickeln, die es auf die Seelen der Bewohner von Kehjan abgesehen hatten. Für Uldyssian kam der beharrliche Eifer, mit dem sie neue Anhänger zu gewinnen versuchten, einem emsigen Wettkampf gleich, der in einem krassen Gegensatz zu ihren spirituellen Botschaften stand.

Das war ein weiterer Grund, weshalb Uldyssian mit keiner von beiden Seiten etwas zu tun haben wollte.

„Betet für Euch selbst, aber nicht für mich und die Meinen“, knurrte er. Die Augen des Missionars traten hervor, als Uldyssian ihn am Kragen packte und ihn mühelos hochhob, bis die Füße in der Luft baumelten.

Der gedrungene Mann mit dem schütteren Haupthaar hinter der Theke kam in den Schankraum, um einzugreifen. Tibion war ein paar Jahre älter als Uldyssian und konnte es körperlich nicht mit ihm aufnehmen, doch er war ein guter Freund von Diomedes gewesen, und mit seinen Worten verschaffte er sich Gehör bei dem wütenden Bauern. „Uldyssian! Wenn du dich schon nicht beherrschen kannst, dann verschone wenigstens meine Taverne, ja?“

Der Angesprochene zögerte, als die Worte des Wirts seine Wut durchdrangen. Sein Blick wanderte von dem fahlen Gesicht vor ihm zu Tibions rundlicher Miene und wieder zurück. Mit einem missmutigen Ausdruck ließ er den Mann los, der in einer unwürdigen Haltung auf dem Boden zusammensank.

„Uldyssian …“, begann Tibion, doch der Sohn von Diomedes wollte sich nicht noch mehr anhören. Mit zitternden Händen und ausholenden Schritten verließ er die Schenke, wobei seine schweren, abgetragenen Stiefel ein hartes Geräusch auf den ausgetretenen Dielen verursachten.

Draußen angekommen, atmete Uldyssian die kalte, klare Luft ein, die seinen Zorn milderte. Fast sofort bedauerte er, wozu er sich in der Taverne hatte hinreißen lassen. Er bedauerte nicht seine Gründe dafür, aber dass er vor so vielen, die er kannte, ein solches Verhalten an den Tag gelegt hatte – und das nicht zum ersten Mal.

Es änderte nichts daran, dass die bloße Anwesenheit des Akolythen der Kathedrale in Seram ihm einen Stich ins Herz versetzte. Uldyssian war mittlerweile ein Mann, der nur noch das glaubte, was er mit eigenen Augen sah oder was er mit seinen Händen berühren konnte. Er konnte die Veränderungen am Himmel sehen und daran erkennen, wann er sich mit der Feldarbeit beeilen musste und wann ihm noch genug Zeit blieb, um seine Arbeit in einem gemächlicheren Tempo abzuschließen. Das Getreide, das sein Schuften aus dem Boden hervorbrachte, ernährte ihn und die anderen. Dies waren Dinge, auf die er sich verlassen konnte, nicht aber die gemurmelten Gebete der Kleriker und Missionare, die seiner Familie nichts als falsche Hoffnungen gemacht hatten.

Seram war ein Dorf mit ungefähr zweihundert Einwohnern und damit für manche klein, für andere von passabler Größe. Uldyssians Hof lag zwei Meilen nördlich davon. Einmal in der Woche begab er sich hierher, um alle notwendigen Vorräte zu besorgen, wobei er sich immer eine kurze Pause gönnte, um in der Taverne etwas zu essen und zu trinken. Seine Mahlzeit hatte er gegessen, sein Ale war verschüttet worden, und nun galt es für ihn nur noch, seine übrigen Aufgaben zu erledigen, ehe er sich auf den Heimweg machte.

Von der Taverne abgesehen, die zugleich als Herberge diente, gab es nur noch vier andere wichtige Gebäude in Seram – das Versammlungshaus, das Handelshaus, die Quartiere der Dorfwache und die Schmiede. Alle waren von der gleichen einfachen Bauweise wie der Rest der Häuser in Seram. Sie hatten spitze, strohgedeckte Dächer und darunter ein Bauwerk aus Holzbrettern auf einem Unterbau, der aus mehreren Schichten Stein und Lehm bestand. Typisch waren für die meisten Gebiete, die unter dem Einfluss von Kehjan standen, nach oben in einem Spitzbogen auslaufende Fenster, die an jeder Hausseite in einer Dreiergruppe angeordnet waren. Aus einiger Entfernung war es sogar unmöglich, die Gebäude voneinander zu unterscheiden.

Morast blieb an seinen Stiefeln kleben, als Uldyssian weiterging. Seram war zu provinziell, als dass die Straßen gepflastert oder zumindest mit Steinen bedeckt gewesen wären. Es gab einen schmalen, trockenen Weg auf der gegenüberliegenden Seite jener Straße, auf der sich Uldyssian gerade voranbewegte. Doch er verzichtete darauf, dorthin zu wechseln. Als Bauer war er es gewöhnt, eins zu sein mit dem Boden.

Am östlichen Rand des Dorfes – der damit Kehjan am nächsten war – befand sich das Handelshaus. Neben der Taverne war es der Ort in Seram, an dem es am geschäftigsten zuging. Hierher kamen alle Einwohner mit ihren Waren, um sie gegen etwas anderes einzutauschen oder sie an durchreisende Händler zu verkaufen. Wenn neue Waren vorrätig waren, wurde ein blaues Banner an der Tür aufgehängt. Als Uldyssian näherkam, sah er, dass Cyrus’ schwarzhaarige Tochter Serenthia genau damit gerade beschäftigt war.

Cyrus und seine Familie betrieben das Handelshaus schon seit vier Generationen, und sie gehörten zu den wichtigsten Familien im Dorf, ohne dass sie sich edler kleideten als sonst jemand. Der Kaufmann sah nicht auf seine Kunden herab, die zum größten Teil zugleich seine Nachbarn waren. Serenthia beispielsweise trug ein schlichtes braunes Kleid, das am Mieder dezent geschnitten war und dessen Saum über den Knöcheln verlief. So wie die meisten im Dorf trug sie zweckmäßige Stiefel, die sich zum Reiten ebenso eigneten wie dazu, die morastige, von Furchen durchzogene Hauptstraße entlangzugehen.

„Gibt es etwas Interessantes?“, rief er Serenthia zu, um auf andere Gedanken zu kommen.

Cyrus’ Tochter drehte sich um, als sie den Klang seiner Stimme vernahm. Ihr volles, langes Haar flatterte im Wind. Bei ihren leuchtend blauen Augen, der elfenbeinfarbenen Haut und den von Natur aus kräftig roten Lippen war sich Uldyssian sicher, dass sie nichts weiter benötigte als ein entsprechendes Kleid, um es mit den schönsten blaublütigen Frauen von Kehjan aufnehmen zu können. Das schlichte Kleid verbarg nicht die Kurven ihres Körpers, und es lenkte auch nicht ab von der anmutigen Art, mit der sie sich in gleich welcher Umgebung bewegte.

„Uldyssian! Bist du schon den ganzen Tag hier?“

Etwas an ihrem Tonfall ließ den Bauern das Gesicht verziehen. Serenthia war mehr als ein Jahrzehnt jünger als er, und er hatte mit ansehen können, wie sie vom Kind zur Frau wurde. Für ihn war sie fast wie eine der Schwestern, die er verloren hatte. Doch umgekehrt war Uldyssian für sie eindeutig sehr viel mehr als nur eine Art Bruder. Sie hatte die Avancen der jüngeren und wohlhabenderen Bauern abgewiesen, ganz zu schweigen vom Kokettieren durchreisender Händler. Der einzige andere Mann, an dem sie Interesse zeigte, war Achilios, Uldyssians guter Freund und der beste Jäger von ganz Seram. Es war allerdings schwierig zu sagen, ob das vielleicht nur an dessen Verbindung zu Uldyssian lag.

„Ich bin gleich nach der ersten Stunde des Tages eingetroffen“, erwiderte er. Als er näherkam, konnte er hinter Cyrus’ Gebäude mindestens drei Wagen erkennen. „Eine recht große Karawane für Seram. Was ist los?“

Sie war damit fertig, das Banner zu hissen, und band das Seil fest. Mit einem Blick über die Schulter, hin zu den Wagen, erwiderte sie: „Sie haben sich verirrt. Sie wollten eigentlich durch Tulisam reisen.“

Tulisam war die nächstgelegene Siedlung, eine Stadt, die mindestens fünfmal so groß war wie Seram. Sie lag auch mehr auf dem Weg von Kehjan zur See, wo sich die großen Häfen befanden.

„Der Lenker muss ein Neuling sein“, brummte Uldyssian.

„Nun, welcher Grund auch dazu geführt haben mag, auf jeden Fall haben sie sich entschlossen, einiges zu tauschen. Vater versucht, seine Begeisterung im Zaum zu halten. Sie haben einige sehr schöne Dinge, Uldyssian.“

Für den Sohn von Diomedes waren schöne Dinge in erster Linie entweder gute, robuste Werkzeuge oder auch ein neugeborenes Kalb, das gesund zur Welt gekommen war.

Er wollte etwas sagen, da bemerkte er eine Frau bei den Wagen. Sie war so gekleidet wie eine Edelfrau aus einem jener Häuser, die sich darum bemühten, die Lücke in der Führung zu schließen, die von den jüngsten Kämpfen der herrschenden Magierclans gerissen worden war. Ihr volles goldblondes Haar hatte sie hinter dem Kopf mit einem silbernen Band zusammengebunden, sodass der Blick auf ihr erhabenes, elfenbeinfarbenes Gesicht durch nichts gestört wurde. Mit funkelnden grünen Augen betrachtete sie ihre Umgebung. Die schmalen, vollkommenen Lippen öffneten sich einen Spaltbreit, als die Frau die Landschaft östlich von Seram in Augenschein nahm. Über den Schultern ihres wallenden smaragdfarbenen Kleides trug sie einen Pelz, das Mieder war eng geschnürt, und auch wenn ihre Kleidung das Sinnbild der herrschenden Kasten war, ließ sie keinen Zweifel daran, dass ihre Trägerin eine überaus weibliche Figur hatte.

Gerade als dieses faszinierende Geschöpf in Uldyssians Richtung schauen wollte, fasste Serenthia ihn völlig unerwartet am Arm. „Du solltest mit nach drinnen kommen und es dir selbst ansehen, Uldyssian.“

Während sie ihn zu der hölzernen Doppeltür zog, sah der Bauer sich noch einmal kurz um, konnte die Edelfrau aber nirgends entdecken. Hätte er nicht von seiner Unfähigkeit gewusst, seine Fantasie spielen zu lassen, wäre Uldyssian fast auf den Gedanken gekommen, die Frau sei nur ein Produkt seiner Einbildung gewesen.

Serenthia zerrte ihn förmlich nach drinnen und zog die Tür hinter ihnen mit einem auffallend lauten Knall zu. Drinnen war ihr Vater ins Gespräch mit einem Kaufmann vertieft und blickte nur kurz auf, als er sie hereinkommen hörte. Die beiden älteren Männer schienen um etwas zu feilschen, das Uldyssian für einen recht edlen purpurfarbenen Stoff hielt.

„Ah! Der gute Uldyssian!“ Der Kaufmann setzte vor jedermanns Namen ein „gut“, ausgenommen bei seinen eigenen Angehörigen. Es war eine Angewohnheit, die Uldyssian stets zum Lächeln brachte. Cyrus selbst schien es gar nicht zu bemerken. „Wie geht es Euch und Eurem Bruder?“

„Wir … wir sind wohlauf, Meister Cyrus.“

„Gut, gut.“ Mit diesen Worten widmete sich der Ladenbesitzer wieder seinen Geschäften. Mit dem Ring aus silbergrauem Haar um seinen ansonsten kahlen Schädel und seinen klugen Augen wirkte Cyrus auf ihn mehr wie ein Kleriker – wie jene, die sich in entsprechende Gewänder hüllten. Außerdem hatte Uldyssian aus dem Mund dieses Mannes schon sehr viel weisere Worte gehört. Er empfand großen Respekt vor Cyrus, was zum Teil auch damit zusammenhing, dass der Kaufmann – der gebildeter war als die meisten anderen Einwohner von Seram – Mendeln unter seine Fittiche genommen hatte.

Beim Gedanken an seinen Bruder, der mehr Zeit in den vier Wänden hier als auf dem Hof verbrachte, sah Uldyssian sich um. Auch wenn Mendeln ähnlich wie er selbst gekleidet sein würde – Stoffhemd, Kilt und Stiefel – und die Brüder einander hinsichtlich der Augen und der breiten Nase ähnlich sahen, genügte ein Blick auf ihn, um bei jedem Betrachter die Frage aufzuwerfen, ob er tatsächlich ein Bauer war.

Obwohl er auf dem Hof aushalf, war das Bestellen der Felder eindeutig nicht Mendelns Berufung. Er interessierte sich schon immer mehr dafür, Dinge zu studieren – ob es Käfer waren, die sich in den Boden eingruben, oder Worte auf irgendeinem jener Pergamente, die Cyrus ihm auslieh.

Uldyssian konnte ebenfalls lesen und schreiben, und darauf war er auch stolz. Doch er sah nur die praktische Seite dieser Fertigkeiten. Es gab Gelegenheiten, bei denen ein Vertrag geschlossen werden musste, und da war es notwendig, Dinge niederzuschreiben und Gewissheit zu haben, dass sie auch das aussagten, was alle Beteiligten meinten. Das verstand der ältere Bruder durchaus. Doch lesen um des Lesens willen oder um etwas zu erfahren, was für die täglichen Arbeiten nicht von Bedeutung war … einen solchen Wunsch konnte Uldyssian nicht nachvollziehen.

Seinen Bruder, der diesmal mit ihm ins Dorf geritten war, konnte er nirgends entdecken, doch dafür wurde er auf etwas anderes aufmerksam. Es war ein Anblick, der auf schmerzhafte Weise wieder die Erinnerung an den Vorfall im Boar’s Head wach werden ließ.

Im ersten Moment glaubte er, die Gestalt sei eine Gefährtin des Missionars, der an ihn herangetreten war. Doch als sich die junge Frau etwas mehr in seine Richtung drehte, erkannte der Bauer, dass sie völlig andere Gewänder trug. Sie waren von einem tiefen Azurblau, auf der Brust befand sich ein stilisierter goldener Widder mit großen gewundenen Hörnern, und darunter sah Uldyssian ein schillerndes Dreieck, dessen Spitze genau bis zu den Hufen des Tieres reichte. Ihr Haar trug die Frau schulterlang. Ihr Gesicht war rund, jugendlich und äußerst attraktiv. Doch ihr fehlte es an etwas – und das war der Grund, weshalb Uldyssian für sie keinerlei Verlangen verspürte: Es war, als sei sie lediglich eine leere Hülle, kein lebendiger Mensch.

Solchen wie ihr war er früher schon begegnet. Sie war eine absolute Anhängerin ihres Glaubens. Er kannte auch diese Gewänder, und die Tatsache, dass sie allein dort stand, veranlasste ihn dazu, sich voller Angst umzusehen. Sie reisten niemals allein, sondern immer zu dritt, je einer für jeden ihrer Orden …

Serenthia wollte ihm irgendeine Spielerei zeigen, doch Uldyssian hörte sie nur reden, ohne ein Wort wahrzunehmen. Er überlegte, ob er den Raum verlassen sollte.

Dann gesellte sich eine zweite Gestalt zu der Frau, ein Mann mittleren Alters von kraftvoller Statur und mit aristokratischen Gesichtszügen, der mit seinem Kinngrübchen und der ausgeprägten Stirn auf das schwache Geschlecht die gleiche Wirkung haben musste, wie das Mädchen auf Männer. Er trug ein goldenes Gewand mit engem Kragen. Auf dem Stoff war ebenfalls das Dreieck zu sehen, diesmal jedoch über einem grünen Blatt.

Der Dritte aus der Gruppe war noch immer nirgends zu sehen, doch Uldyssian wusste, er konnte nicht weit weg sein. Die Diener des Tempels der Triune blieben nie lange voneinander getrennt. Während die Missionare der Kathedrale des Lichts oftmals allein wirkten, handelten die Akolythen der Triune im Einklang miteinander. Sie predigten den Pfad der Drei, der lenkenden Geister Bala, Dialon und Mefis, die angeblich wie liebevolle Eltern oder freundliche Lehrer über einen Sterblichen wachten. Dialon war der Geist der Entschlossenheit, was der starrsinnige Widder versinnbildlichte. Bala stand für die Schöpfung, dargestellt als Blatt. Mefis, dessen Diener momentan fehlte, verkörperte die Liebe. Die Akolythen dieses Ordens trugen einen roten Kreis auf der Brust, das übliche kehjanische Symbol für das Herz.

Da er die Predigten aller drei Orden längst kannte und er das Debakel aus der Taverne nicht wiederholen wollte, versuchte Uldyssian sich in den Schatten zurückzuziehen. Unterdessen war Serenthia endlich aufgefallen, dass er ihr längst nicht mehr zuhörte. Sie stemmte die Hände in die Hüften und warf ihm einen Blick zu, der ihn, als sie noch ein Kind gewesen war, immer hatte einlenken lassen. „Uldyssian! Ich dachte, du wolltest dir ansehen, was …“

„Serry“, unterbrach er sie und benutzte ihren Kosenamen. „Ich muss mich auf den Weg machen. Hat mir dein Bruder zusammengestellt, um was ich ihn bat?“

Während sie nachdachte, schürzte sie die Lippen. Uldyssian betrachtete aus dem Augenwinkel die beiden Missionare, die in eine Unterhaltung vertieft waren. Beide machten einen verwirrten Eindruck, so als sei etwas entgegen ihren Vorstellungen verlaufen.

„Thiel sagte mir nichts, sonst hätte ich davon gewusst, dass du in Seram bist. Ich werde ihn suchen und fragen.“

„Ich komme mit.“

Alles war besser, als den Jagdhunden der Triune ausgeliefert zu sein. Der Tempel war einige Jahre vor der Kathedrale gegründet worden, doch inzwischen schien der Einfluss von beiden gleich groß zu sein. Es hieß, der Hohe Magistrat von Kehjan sei mittlerweile ein Bekehrter des Tempels, während der Lord-General der kehjanischen Wache angeblich Anhänger der Kathedrale war. Der Zwist zwischen den Magierclans – der inzwischen oftmals an kriegerische Auseinandersetzungen grenzte – hatte viele dazu veranlasst, bei einer der beiden Religionen Zuflucht zu suchen.

Ehe Serenthia ihn in den hinteren Teil des Gebäudes führen konnte, wurde sie von Cyrus zu sich gerufen. Mit einem entschuldigenden Blick in Uldyssians Richtung ging sie hinüber zu ihrem Vater.

„Warte hier, ich bin gleich zurück.“

„Ich werde allein nach Thiel suchen“, schlug er vor.

Serenthia musste bemerkt haben, wie er flüchtig zu den Missionaren schaute. Ihre Miene nahm einen ermahnenden Ausdruck an. „Uldyssian, nicht schon wieder.“

„Serry …“

„Uldyssian, diese Leute sind Gesandte eines heiligen Ordens! Sie wollen dir nichts Böses! Wenn du dich doch wenigstens dazu durchringen könntest, sie anzuhören! Ich sage ja nicht, dass du dich gleich einem von ihnen anschließen sollst, aber die Botschaften, die beide predigen, sind es wert, gehört zu werden.“

Sie hatte ihn schon einmal so ermahnt, gleich nachdem er in der Taverne den Missionar der Triune zurechtgewiesen und nachdem er lang und breit darüber gesprochen hatte, dass das gewöhnliche Volk keinen von ihrer Art brauchte. Boten die Akolythen sich etwa an, die Schafe zu scheren oder die Ernte einzubringen? Halfen sie, die von Schlamm und Morast verschmutzte Kleidung zu reinigen, oder gingen sie zur Hand, wenn ein Zaun repariert werden musste? Nein. Uldyssian hatte bei dieser und bei späteren Gelegenheiten klar und deutlich gesagt, dass sie alle nur eines konnten: den Menschen eintrichtern, ihre Konfession sei besser als jede andere. Und das, obwohl diese Menschen kaum etwas mit den Vorstellungen von Engeln und Dämonen anfangen konnten, geschweige denn an sie glaubten.

„Sie können noch so schöne Worte wählen, Serry, aber ich sehe nur, wie sie sich gegenseitig zu übertrumpfen versuchen und wer mehr Narren für sich gewinnen kann, als würde das einen von ihnen zum Sieger machen.“

„Serenthia“, rief Cyrus erneut. „Komm zu mir, Mädchen!“

„Vater braucht mich“, erklärte sie mit bedauerndem Blick. „Ich bin gleich zurück. Bitte, Uldyssian, reiß dich zusammen.“

Der Bauer sah ihr nach, wie sie davoneilte, dann versuchte er sich auf einige der Objekte zu konzentrieren, die im Handelshaus zum Verkauf oder Tausch standen. Es gab Werkzeuge aller Art, die auf dem Hof von Nutzen sein konnten, unter anderem Hacken, Schaufeln und eine Auswahl an Hämmern.

Uldyssian strich mit dem Finger über die Klinge einer neuen Eisensichel. Handwerklich stellte sie das Beste dar, was man in einem Dorf wie Seram finden konnte. Allerdings hatte er davon gehört, dass auf einigen Höfen nahe Kehjan manche Lords ihre Arbeiter bereits mit Sicheln arbeiten ließen, deren Kanten aus Stahl waren. Eine solche Entwicklung war für Uldyssian weitaus bedeutender als irgendwelche Worte, die sich dem Geist und der Seele widmeten.

Plötzlich ging jemand zügig an ihm vorbei in den hinteren Teil des Gebäudes. Uldyssian sah goldblondes, hochgebundenes Haar und den Anflug eines Lächelns, bei dem der Sohn des Diomedes hätte schwören können, es habe ihm gegolten.

Ohne sich dessen im ersten Moment bewusst zu sein, folgte Uldyssian der Adelsfrau, die durch die Hintertür verschwand, als sei sie hier zuhause.

Er durchschritt die Tür nur einen Augenblick später, und zunächst konnte er von der Frau keine Spur entdecken. Was er stattdessen sah, war sein Wagen, der tatsächlich beladen war. Thiel konnte er nirgends ausmachen, doch das war nichts Ungewöhnliches. Wahrscheinlich half Serenthias Bruder bereits einem anderen bei dessen Arbeit.

Da er die Ware bereits bezahlt hatte, begab Uldyssian sich zu seinem Wagen. Als er näher kam, sah er neben seinem Pferd etwas Grünes aufblitzen.

Es war sie, die Edelfrau. Sie stand auf der anderen Seite neben dem Tier, sprach leise mit ihm und streichelte mit ihrer schlanken Hand das Maul. Uldyssians Pferd schien von ihr wie gebannt zu sein und stand völlig reglos da. Der alte Gaul war ein Sturkopf, und nur, wer ihn gut kannte, konnte sich ihm nähern, ohne Gefahr zu laufen, gebissen zu werden. Dass diese Frau genau das schaffte, war für den Bauern eine bemerkenswerte Tatsache.

Sie bemerkte ihn und lächelte ihn an, was ihr ganzes Gesicht strahlen und ihre Augen aufleuchten ließ.

„Verzeiht mir … ist das Euer Pferd?“

„Das ist es, Mylady … und Ihr habt Glück, noch immer beide Hände zu besitzen. Es beißt gern zu.“

Wieder strich sie über das Maul, und das Tier zeigte nach wie vor keine Regung. „Oh, mich würde er nicht beißen.“ Sie beugte sich vor, bis ihr Gesicht auf gleicher Höhe mit dem Maul war. „Stimmt’s? Das würdest du nicht, oder?“

Uldyssian machte unwillkürlich einen Satz nach vorne, da er fürchtete, sie könnte sich irren. Aber auch jetzt geschah nichts.

„Ich besaß einmal ein Pferd, das diesem hier sehr ähnlich war“, fuhr sie fort. „Es fehlt mir sehr.“

Auf einmal wurde ihm bewusst, wo sie beide sich befanden, und er sagte: „Herrin, Ihr solltet Euch nicht hier aufhalten, sondern bei der Karawane bleiben.“ Manchmal waren Reisende mit Händlern unterwegs, weil sie so den Schutz der Wachen des Händlers genossen. Uldyssian konnte nur vermuten, dass dies auch auf diese Frau zutraf, wenngleich es so schien, als sei sie ohne Eskorte unterwegs. Selbst im Schutz einer Karawane war eine junge Frau, die allein reiste, Gefahren ausgesetzt. „Ihr wollt doch nicht hier zurückgelassen werden.“

„Aber ich reise nicht mit der Karawane“, erwiderte die Edelfrau. „Ich reise überhaupt nirgendwohin.“

Er wollte nicht glauben, dass er richtig gehört hatte. „Mylady, Ihr beliebt zu scherzen! An einem Ort wie Seram gibt es nichts für Euch …“

„Es gibt auch sonst nirgends etwas für mich. Warum also nicht Seram?“ Sie verzog den Mund zu einem zaghaften Lächeln. „Und Ihr müsst mich auch nicht ‚Mylady‘ oder ‚Herrin‘ nennen, sagt Lylia zu mir …“

Uldyssian wollte etwas darauf erwidern, doch in diesem Augenblick hörte er, wie hinter ihm die Tür aufging und Serenthia ihm zurief: „Da bist du ja! Hast du Thiel gefunden?“

Er schaute über die Schulter. „Nein, aber es ist alles hier, Serry.“

Plötzlich schnaubte sein Pferd und wollte vor ihm zurückweichen. Uldyssian bekam das Zaumzeug zu fassen und gab sich alle Mühe, das widerborstige Tier zu bändigen. Die Augen waren weit aufgerissen, die Nüstern aufgebläht, und er bekam den Eindruck, dass sein Pferd erschreckt oder verängstigt war. Das ergab keinen Sinn, denn sein Gaul konnte Serenthia besser leiden als ihn. Und die Edelfrau …

Sie war nirgends zu sehen! Uldyssian suchte verstohlen die Umgebung ab, während er sich fragte, wie sie spurlos hatte verschwinden können. Er vermochte ziemlich weit zu schauen, doch überall entdeckte er nur weitere Fahrzeuge. Wenn sie nicht auf einen der abgedeckten Wagen geklettert war, konnte sich der Bauer ihren Verbleib nicht erklären.

Serenthia kam zu ihm, da sein Verhalten sie ein wenig neugierig machte. „Wonach suchst du? Fehlt doch noch irgendetwas?“

Er riss sich zusammen, um zu antworten: „Nein, nein … wie gesagt, es ist alles da.“

Eine vertraute – und unerwünschte – Gestalt trat durch die Tür. Der Missionar sah sich um, als suche er etwas oder jemanden.

„Ja, Bruder Atilus?“, fragte Serenthia.

„Ich suche unseren Bruder Caligio. Ist er nicht hier?“

„Nein, Bruder, hier ist niemand außer uns beiden.“

Bruder Atilus musterte Uldyssian nicht mit dem üblichen religiösen Eifer, den der Bauer nur zu gut von anderen seiner Art kannte. Stattdessen war der Blick des Missionars geprägt von … Argwohn?

Er deutete gegenüber Serenthia eine Verbeugung an, dann zog er sich zurück. Sie wandte sich wieder Uldyssian zu. „Musst du schon so früh aufbrechen? Ich weiß, du fühlst dich in der Gegenwart von Bruder Atilus und den anderen nicht wohl, aber … könntest du nicht meinetwegen noch eine Weile bleiben?“

Aus unerklärlichen Gründen verspürte Uldyssian Unbehagen. „Nein … nein, ich muss zurück. Aber wo wir gerade davon sprachen, dass jemand gesucht wird – hast du Mendeln gesehen? Ich war davon ausgegangen, ihn bei deinem Vater zu finden.“

„Oh, das hätte ich dir sagen müssen! Achilios war vor Kurzem hier, und er wollte Mendeln etwas zeigen. Die beiden haben sich dann auf den Weg zum westlichen Wald gemacht.“

Uldyssian brummte missbilligend. Mendeln hatte ihm versprochen, rechtzeitig fertig zu sein, um mit ihm nach Hause zu reiten. Normalerweise hielt sein Bruder Wort, aber Achilios musste auf etwas Ungewöhnliches gestoßen sein. Mendelns größte Schwäche war seine unstillbare Neugier, was der Jäger eigentlich hätte wissen und nicht noch anstacheln sollen. Wenn der jüngere Sohn des Diomedes sich erst einmal mit einer Sache beschäftigte, verlor er jegliches Zeitgefühl.

Auch wenn Uldyssian nicht ohne seinen einzigen noch lebenden Angehörigen aufbrechen wollte, stand ihm nicht der Sinn danach, sich in der Nähe der Anhänger der Triune aufzuhalten. „Ich kann nicht bleiben. Ich werde mit dem Wagen Richtung Wald fahren und hoffen, den beiden dort zu begegnen. Sollte Mendeln aus irgendeinem Grund zurückkehren, ohne dass wir uns begegnet sind …“

„Werde ich ihm sagen, wo er dich finden kann“, versprach Serenthia, die aus ihrer Enttäuschung keinen Hehl machte.

Wieder fühlte sich der Bauer unbehaglich, nun aber aus einem nachvollziehbareren Grund. Er drückte sie kurz – und lediglich freundlich – an sich, dann stieg er auf seinen Wagen. Cyrus’ Tochter trat einen Schritt zurück, als er den alten Gaul antrieb, damit der sich in Bewegung setzte.

Er sah zu ihr zurück, als sich der Wagen voranbewegte, und sein eindringlicher Gesichtsausdruck sorgte dafür, dass sich ihre Miene ein wenig aufhellte.

Uldyssian nahm von ihrer Reaktion gar keine Notiz, denn seine Gedanken waren längst nicht mehr bei der schwarzhaarigen Tochter des Kaufmanns. Nein, das Gesicht, das sich in sein Gedächtnis eingebrannt hatte, gehörte einer Frau, deren Haar goldblond war.

Einer Frau, die einer Kaste angehörte, die weit – sehr weit – über der eines gewöhnlichen Bauern stand.

ZWEI

Mendeln war sich durchaus der Tatsache bewusst, dass sein Bruder wütend auf ihn sein würde. Doch er stand vollkommen im Bann seiner Neugier. Außerdem war alles Achilios’ Fehler, der es besser hätte wissen müssen.

Gut neun Jahre lagen zwischen den beiden noch lebenden Söhnen des Diomedes, was in mancher Hinsicht genügte, um die zwei nicht als Brüder anzusehen. Uldyssian benahm sich oftmals eher so wie Mendelns Onkel oder sogar wie sein Vater. Soweit Mendeln seinen Vater noch in Erinnerung hatte und in Zusammenhang mit allem, was Cyrus, Tibion und einige andere Ältere aus dem Dorf ihm über die Jahre hinweg erzählten, hätte Uldyssian in Aussehen und Verhalten gar als Diomedes’ Zwillingsbruder durchgehen können.

Mendeln sah seinem Bruder ähnlich, war aber einen halben Fuß kleiner und nicht annähernd so kräftig, auch wenn er seinen Körper durch die auf einem Hof anfallenden Arbeiten gestärkt hatte. Doch sein Gesicht war schmäler und länger – ein Erbe seiner Mutter, wie man ihn wissen ließ –, und seine Augen waren so schwarz, dass sie wie dunkle Edelsteine funkelten. Von wem er diese Augen hatte, vermochte niemand im Dorf zu sagen. Schon früh hatte er allerdings herausgefunden, dass er bis auf seinen Bruder und Achilios fast jeden verängstigen konnte, wenn er ihn mit seinen Blicken förmlich durchbohrte.

„Was hältst du davon?“, murmelte Achilios hinter ihm.

Mendeln zwang sich, den Blick von der faszinierenden Entdeckung des Jägers abzuwenden. Achilios war ein blonder, drahtiger Mann, fast so groß wie Uldyssian und mit dem Gesicht eines Falken. Anders als Mendeln, dessen Kleidung fast identisch war mit der seines Bruder, nur etwas dunkler, trug der Jäger Wams und Hose in den Farben Grün und Braun, was es ihm erlaubte, mit dieser Umgebung zu verschmelzen. Seine weichen Lederstiefel dienten dem Zweck, sich so leise wie ein Tier durch den Wald zu bewegen. Sein schlanker Körperbau ließ seine Behändigkeit erahnen und auch die Kraft, die in ihm steckte.

Mendeln hatte einmal versucht, einen Pfeil mit dem großen Bogen abzuschießen, der Achilios ganzer Stolz war. Er war kläglich gescheitert. Achilios zählte in Seram nicht nur zu den Besten dieses Handwerks, er war auch – zumindest nach Mendelns Einschätzung – vielen Jägern aus anderen Dörfern überlegen. Schon oft hatte Mendeln zugesehen, wie sich Achilios mit den erfahrenen Wachleuten vorbeiziehender Karawanen gemessen und jedes Mal gewonnen hatte.

„Es … es sieht sehr alt aus“, brachte Mendeln schließlich heraus.

Dass ihm diese banale Erkenntnis peinlich war, entging nicht einmal Achilios. Doch der Jäger nickte, als würde er einem Weisen zuhören. Obwohl er ein halbes Jahrzehnt älter war als Mendeln, behandelte er den jüngsten Sohn des Diomedes, als sei er der Quell allen Wissens dieser Welt. Das war einer der wenigen Punkte, die zwischen Achilios und Uldyssian für Missstimmung sorgten, da Letzterer fast nie einen praktischen Nutzen in dem sah, was sein Bruder lernte. Aber immerhin tolerierte er es.

„Merkwürdig …“ Der Bogenschütze strich sich durch seine dichte Mähne, die fast etwas von einem Löwen hatte. „Ich bin hier schon oft langgekommen, und ich schwöre dir, es war vorher nie da!“

Mendeln nickte nur, da er sich wieder auf den Fund seines Gefährten konzentrierte. Achilios hatte einen so scharfen Blick, dass er ihn darum nur beneiden konnte. Er selbst musste dagegen oftmals Pergamente aus nächster Nähe betrachten, um das geschriebene Wort darauf, das er so liebte, zu erkennen.

Bei diesem speziellen Fund ging er sogar noch dichter heran, da die in die Oberfläche geritzten Symbole an vielen Stellen von Wind und Wetter fast völlig abgeschliffen waren. Einige von ihnen hätte er nicht einmal mehr sehen können, selbst wenn er seine Nase gegen den Stein gepresst hätte. Das Objekt vor ihm war eindeutig über eine lange Zeit der Natur ausgesetzt gewesen. Doch wie sollte das möglich sein, wenn es nach Achilios’ Aussage erst vor Kurzem hier aufgetaucht war?

Er kniete davor nieder und schätzte die Ausmaße. Die Grundfläche maß in Breite und Länge je einen Fuß, und das Objekt reichte – hätte er sich aufrecht hingestellt – bis etwa eine Handbreit unter seine Knie. Die flache Spitze besaß ungefähr die halbe Länge und Breite der Grundfläche, womit der Stein insgesamt Dimensionen hatte, die man unmöglich übersehen konnte.

Mendeln berührte den Boden davor. „Und in der unmittelbaren Umgebung gab es in letzter Zeit keine Veränderungen?“

„Nein.“

Mendeln strich fast ehrfürchtig mit den Fingern über einige der leichter erkennbaren Symbole. Erkennbar waren sie allerdings nur in dem Sinn, dass er sie sehen konnte, von einem Entziffern war er weit entfernt. Eine besonders auffallende Markierung verlief so, dass ihr Anfang und Ende sich trafen. Als Mendeln sie berührte, sprang das Gefühl auf ihn über, etwas von unglaublichem Alter vor sich zu haben.

Unwillkürlich schüttelte er den Kopf. Nein, nicht alt, dachte er, sondern zeitlos.

Mendelns Verstand stockte angesichts dieses plötzlichen Gedankens, der ihm noch nie in den Sinn gekommen war. Zeitlos. Wie sollte so etwas möglich sein?

Der Stein selbst war von ebenmäßigem Schwarz, während die geheimnisvollen Symbole darauf silbern schimmerten. Auch das versetzte ihn in Erstaunen, da es nicht so aussah, als seien sie mit dieser Farbe überzogen worden. Das Geschick, mit dem dieser Stein bearbeitet worden war, deutete auf einen Kunsthandwerker, der begnadeter war als jeder, den man in Seram oder in einer der anderen größeren Siedlungen der gesamten westlichen Region hätte finden können.

Erst verspätet bemerkte Mendeln, dass Achilios ihn an der Schulter gepackt hatte und ihn schüttelte.

„Was ist?“, fragte er verwundert.

Der Bogenschütze beugte sich zögerlich über ihn, die Stirn hatte er in tiefe Sorgenfalten gelegt. „Als du ihn berührt hast, warst du mit einem Mal völlig reglos! Du hast nicht mal mehr mit der Wimper gezuckt, und ich hätte schwören können, dass du auch keinen Atem mehr geschöpft hast!“

„Ich … das ist mir nicht aufgefallen.“ Mendeln fühlte sich versucht, das Artefakt noch einmal zu berühren, um herauszufinden, ob sich das Phänomen wiederholen würde. Doch er vermutete, dass das Achilios nicht gefallen hätte. „Hast du ihn auch schon berührt?“

Erst nach kurzem Zögern antwortete er: „Ja.“

„Aber dir ist nicht das Gleiche widerfahren?“

Achilios wurde blass, als er an sein Erlebnis dachte. „Nein. Nein.“

„Was dann? Hast du irgendetwas anderes wahrgenommen?“

„Ich spürte eine … eine Leere, Mendeln. Sie erinnerte mich an den Tod.“

Als Jäger kam der Mann fast täglich mit dem Tod in Berührung, da er auf der einen Seite Tiere tötete, auf der anderen aber auch Wildschweinen, Wildkatzen und Bären begegnete, für die er zur Beute hätte werden können. Doch die Art und Weise, wie er nun vom Tod sprach, verlieh dem Begriff eine neue und viel unheilvollere Bedeutung. Sie löste bei Mendeln aber keine Furcht aus, sondern – auf eine absonderliche Weise – Neugier.

„In welcher Beziehung?“, fragte Mendeln fast ungeduldig. „Kannst du es besser beschreiben? War es …“

Achilios’ Miene war schlagartig wie verschlossen, und mit einer knappen Handbewegung unterbrach er ihn. „Das ist alles. Danach habe ich mich sofort auf die Suche nach dir begeben.“

Es steckte eindeutig mehr dahinter, aber Mendeln bedrängte ihn nicht weiter. Vielleicht würde er die Information nach und nach seinem Gefährten entlocken können. Im Augenblick würde er sich stattdessen mit dem Artefakt begnügen.

Er griff nach einem abgebrochenen Ast und wischte damit über den Boden nahe dem Fuß des Objekts. Das mysteriöse Relikt schien tief im Grund eingelassen zu sein, doch wie tief? Steckte unter der Oberfläche womöglich mehr als darüber? Wieder war die Versuchung groß, es zu berühren, es diesmal sogar mit beiden Händen zu fassen. Wie viel hilfreicher es doch wäre, wenn er es mit auf den Hof hätte nehmen können, um sich in Ruhe damit zu befassen.

Mendeln zuckte zusammen. Der Hof! Uldyssian!

Er sprang auf und erschreckte damit den sonst so unerschütterlichen Achilios. Die Entdeckung dieses Steins schien den Bogenschützen in einer Weise aufzuwühlen, wie Mendeln es bei ihm noch nie beobachtet hatte. Achilios war für seine Furchtlosigkeit bekannt, aber jetzt schien er Mendeln anzusehen, als wolle er sich bei ihm vergewissern, dass er nicht alles nur träumte. Das hatte es tatsächlich nie zuvor gegeben.

„Ich muss zurück“, erklärte er dem Jäger. „Uldyssian wird sich fragen, wo ich bin.“ Er wollte seinen älteren Bruder nicht enttäuschen, auch wenn es diesem umgekehrt wohl weniger ausgemacht hätte. Doch Mendeln lebte mit der Erinnerung an die schreckliche Bürde, die Uldyssian auf sich geladen hatte, als ihre Angehörigen zunächst krank wurden und dann einer nach dem anderen starben.

„Und was ist damit?“, brummte Achilios und deutete mit dem Bogen auf das Artefakt. „Lassen wir das einfach so, wie es ist?“

Nach kurzem Nachdenken erwiderte Mendeln: „Wir werden den Fund verdecken. Komm, hilf mir dabei.“

Die beiden sammelten Zweige und Gestrüpp, und obwohl sie das Artefakt schnell den Blicken entzogen hatten, kam es Mendeln so vor, als müsse es von jedem Vorbeigehenden auch jetzt noch sofort bemerkt werden. Er überlegte, ob sie noch weitere Anstrengungen unternehmen sollten, es zu verbergen, entschied aber, dass es so genügte. Bei der ersten sich bietenden Gelegenheit würde er wieder herkommen.

Nun, da sich Mendeln auf den Rückweg konzentrierte, fiel ihm der abrupte Wetterumschwung auf. Der Tag war bislang recht sonnig gewesen, doch jetzt brauten sich im Westen dichte Wolken zusammen, als wollte ein Unwetter hereinbrechen. Auch der Wind war stärker geworden.

„Sonderbar“, murmelte Achilios, dem das offenbar auch erst jetzt bewusst geworden war.

„Das ist es wirklich“, bestätigte Mendeln. Er betrachtete Wind und Wetter weniger in Bezug auf die Jagd, wie es sein Gefährte tat, sondern interessierte sich mehr für Luftströmungen und dergleichen. Auch wenn sein Bruder Uldyssian – der das Wetter nur unter dem Aspekt seiner Wirkung auf Ernte und Vieh beurteilte – deswegen immer wieder den Kopf schüttelte, konnte er nicht leugnen, dass Mendeln aufgrund seiner etwas anderen Sichtweise häufig Einfälle hatte, die ihnen ihre Arbeit etwas erleichterten.

Die Wolkendecke zog sich rasch zu. Zwar ließ er gegenüber Achilios keine Bemerkung über das seltsame Wetter fallen, doch als der Jäger einmal gleich mehrere Schritte vor ihm war, warf Mendeln einen Blick über die Schulter zu dem Stein.

Dabei begann er zu grübeln.

Auch Uldyssian bemerkte die Wetterveränderung, schob sie aber auf eine jener Launen der Natur, an die sich ein Bauer gewöhnen musste. Er hoffte, Mendeln würde bald von dort zurückkehren, wohin Achilios ihn geführt hatte. Aber selbst wenn dies in Kürze der Fall sein sollte, sah es ganz danach aus, dass die Brüder zumindest einen Teil des Rückwegs im Regen würden zurücklegen müssen. Die rasch aufgezogenen Wolken deuteten auf ein besonders heftiges Unwetter hin. Doch Uldyssian hoffte, dass es wenigstens noch eine Weile dauern würde, ehe es mit aller Macht niederging. Wenn er und Mendeln es wenigstens noch bis zu der tiefer gelegenen Weggabelung schafften, die schnell überschwemmt wurde, dann würde der Rest des Weges kein Problem mehr darstellen.

Die Zügel fest umschlossen, saß er auf dem Bock und schaute in die Richtung, in die sich die beiden Serenthia zufolge begeben hatten. Mendeln und Achilios waren sicher vernünftig genug, um zu verstehen, dass er ihnen ein Stück entgegenkam – und um entsprechend zu reagieren. Zumindest war das bei Achilios der Fall.

Während er wartete, kehrten seine Gedanken zu jenem Gesicht zurück, das von goldblondem Haar eingerahmt war. Auch wenn Uldyssian die Frau nur zweimal kurz gesehen hatte, wusste er, dass er ihren Anblick nicht so schnell wieder vergessen würde. Das lag nicht nur an ihrer Schönheit – die an sich schon unvergesslich genug war –, sondern auch an der Art, wie sie gesprochen und sich verhalten hatte. Etwas an dieser Edelfrau hatte sofort den Wunsch in Uldyssian geweckt, sie zu beschützen, stärker noch als er seinem Bruder hatte beistehen wollen, als ihre Familie so tragisch dezimiert worden war.

Lylia. Der Bauer ließ sich den Namen, der etwas Melodisches besaß, immer wieder durch den Kopf gehen. Ein lauter Donner riss ihn aus seinen Träumereien und er dachte wieder an Mendeln. Er stellte sich aufrecht hin, da er hoffte, so eine bessere Sicht zu bekommen. Die beiden mussten inzwischen doch fast wieder zurück in Seram sein.

Etwas Grünes erregte seine Aufmerksamkeit, aber es war nicht das Grün, das einen Jäger eins werden ließ mit dem Wald, sondern ein Smaragdgrün, das dafür sorgte, dass Uldyssian augenblicklich seinen Bruder und dessen Freund vergaß.

Lylia schlenderte soeben gemächlich in den Wald, womit sie die Sicherheit des Dorfs hinter sich gelassen hatte. Ihrem ausdruckslosen Gesicht nach zu urteilen, war ihr wohl gar nicht bewusst, welche Gefahr das aufziehende Unwetter für sie bedeuten konnte. In dieser Region kamen manchmal heftige Winde so plötzlich auf, dass sie Bäume entwurzelten.

Uldyssian sprang vom Wagen und lief ihr nach. Auch wenn es vor allem Sorge um Lylia war, die ihn antrieb, verspürte er zugleich auch eine gewisse freudige Erregung. Er machte sich keine Illusionen, was seine Chancen bei einer Edelfrau wie ihr anging, aber sein Herz schlug schneller beim bloßen Gedanken, wieder mit ihr reden zu können.

Als sie in Sicht kam, tobte der Wind bereits um einiges stärker. Aber obwohl das Wetter immer schlechter wurde, schien Lylia davon keine Notiz zu nehmen. Sie hatte die Lippen geschürzt und den Blick zu Boden gerichtet.

So schnell Uldyssian auch lief, holte er sie doch erst ein, als sie bereits ein ganzes Stück in den Wald vorgedrungen war. Der hoch gewachsene Bauer wollte mit seiner fleischigen Hand nach ihr greifen, überlegte es sich dann aber anders. Schließlich sollte sie sich nicht mehr als unbedingt nötig erschrecken. Was immer ihr durch den Kopf ging, es musste schwer auf ihr lasten, wenn sie so in ihre Gedanken vertieft war.

Da ihm nichts Besseres einfiel, räusperte er sich.

Lylia straffte die Schultern und sah hinter sich. „Oh, Ihr seid es.“

„Verzeiht, Mylady …“

Prompt lächelte sie ihn schüchtern an. „Ich sagte Euch doch schon, nennt mich Lylia. Was ich einst war, kann ich nie wieder sein.“ Als er mit verwunderter Miene reagierte, fügte sie an: „Und wie nenne ich Euch, Sir Bauer?“

Ihm war bis dahin nicht aufgefallen, dass er sich ihr nie vorgestellt hatte. „Ich bin Uldyssian, der Sohn des Diomedes.“ Ein grollender Donner erinnerte ihn daran, bei welchem Wetter sie beide unterwegs waren. „My… Lylia, Ihr solltet nicht hier unterwegs sein. Es zieht ein schweres Unwetter auf. Am besten ist es, wenn Ihr irgendwo Zuflucht sucht, zum Beispiel in der Taverne. Sie ist das robusteste Gebäude in ganz Seram.“

„Ein Unwetter?“ Sie sah zum Himmel und schien erst jetzt den Wetterumschwung zu bemerken. Die Wolkendecke war so dicht, dass der Tag fast so finster wie die Nacht anmutete.

Auch auf die Gefahr hin, sich ihren Zorn zuzuziehen, ergriff Uldyssian schließlich Lylias Handgelenk. „Im Moment sieht es noch nicht ganz so bedrohlich aus.“

Doch Lylia wandte sich ab und blickte in eine andere Richtung. Einen Moment später rang sie erschrocken nach Atem.

Uldyssian folgte ihrem Blick, konnte aber nichts sehen. Dennoch stand die Edelfrau wie erstarrt da, als habe sie etwas entdeckt, das sie über die Maßen entsetzte.

„Lylia … Lylia, was ist?“

„Ich dachte, ich hätte gesehen … ich dachte … nein, ich muss mich geirrt haben …“

Obwohl er nun nah bei ihr stand, wusste er noch immer nicht, was sie so sehr beunruhigte. „Wo ist es? Was meint Ihr gesehen zu haben?“

„Dort!“ Sie zeigte auf einen Teil des Waldes, wo die Bäume besonders dicht standen. „Ich … ich glaubte …“

Er fühlte sich versucht, sie kurzerhand nach Seram zu bringen und später hierher zurückzukehren. Doch ihre Reaktion war so heftig, dass er sich Sorgen zu machen begann, was sich wohl dort vor ihnen befand. Mit einem Mal musste er an Mendeln denken, der noch immer nicht aufgetaucht war.

„Bleibt hier.“ Uldyssian ging los und zog sein Messer.

Das Unterholz wurde dichter, und an manchen Stellen reichte ihm das Wildgras bis zur Hüfte. Wie Lylia hier noch irgendetwas hatte sehen wollen, war ihm zwar ein Rätsel, dennoch vertraute er darauf, dass er keinem Phantom nachjagte.

Als er schließlich die fragliche Stelle erreichte, bekam er eine Gänsehaut. Ein Angstgefühl, so stark, dass es den sonst so unerschrockenen Bauern fast zur Umkehr bewegt hätte, überkam ihn. Ein schwacher Geruch von Krankheit stieg ihm in die Nase und weckte Erinnerungen an die Pest und an seine Familie …

Uldyssian wollte keinen Schritt mehr weitergehen … und doch tat er genau das.

Der Anblick vor ihm ließ den Bauern auf ein Knie niedersinken. Es war das Einzige, was er tun konnte, wenn er die jüngste Mahlzeit in seinem Magen belassen wollte. Das Messer entglitt seinen Fingern und war im Angesicht dieser grässlichen Entdeckung vergessen.

Was einmal ein Mann gewesen war – zumindest ging Uldyssian aufgrund der Größe davon aus, dass es sich um einen solchen handeln musste –, lag zerfetzt am Fuß der ersten Bäume. Der komplette Rumpf des Toten war fachmännisch aufgeschnitten worden, so wie Uldyssian es mit einer Kuh nach dem Schlachten zu tun pflegte. In der unmittelbaren Umgebung war alles blutgetränkt, die Erde hatte sich stellenweise in einen tiefroten Morast verwandelt. Ein Teil des Gedärms war aus dem aufgeschlitzten Bauch des Opfers gequollen, und Fliegen machten sich bereits über diese reichhaltige Beute her.

Als sei es nicht genug gewesen, den Rumpf aufzuschneiden, war ihm auch die Kehle durchtrennt worden, und der Schnitt war so breit, dass eine Faust darin Platz gefunden hätte. Das Gesicht war rot vom Blut aus den Wunden, und Blätter klebten wie eine bizarre Dekoration daran. Nach genauem Hinsehen kam Uldyssian zu dem Schluss, dass er den Mann, den er da vor sich hatte und der etwa in seinem Alter war, nicht kannte.

Doch das, was von dem zerfetzten Gewand noch zu erkennen war, genügte, um das Opfer zu identifizieren. Die Farbe des Stoffs an sich war schon ein ausreichender Hinweis, aber spätestens das Symbol des Ordens räumte jeden Zweifel aus.

Uldyssian hatte Bruder Caligio gefunden, den verschwundenen Akolythen der Triune.

Hinter dem Bauern rang jemand mühsam nach Luft, und als er herumwirbelte, stand Lylia da, die Augen weit aufgerissen. Sie wurde blass, verdrehte die Augen, bis nur noch das Weiße zu sehen war … und sank dann zu Boden.

Uldyssian sprang auf und bekam sie gerade noch zu fassen, bevor sie hart aufschlagen konnte. Einen Moment stand er da und hielt ihren schlaffen Körper, ohne zu wissen, was er tun sollte. Jemand musste von dem Mord erfahren, am besten Hauptmann Tiberius, der Chef der Wache von Seram. Auch Dorius, der Dorfvorsteher, musste wissen, was sich hier zugetragen hatte.

Die Edelfrau in seinen Armen stöhnte leise auf, und für Uldyssian war damit klar, dass er sich zunächst einmal um sie kümmern musste.

Zum Glück bedeutete es für ihn nicht viel Mühe, Lylia zu tragen. Er ging so schnell durch den Wald, wie es seine kostbare Last erlaubte, und musste ständig darauf achten, wohin er trat. Sonst wäre er Gefahr gelaufen, dass sie beide stürzten.

Er empfand es als große Erleichterung, als er endlich den Dorfrand erreichte. Wieder klang Donnergrollen auf, doch das Unwetter hielt sich bislang noch zurück.

„Uldyssian!“

Als er seinen Namen hörte, stolperte er und hätte Lylia beinahe fallen lassen. Er fand sein Gleichgewicht wieder und sah nach, woher der Ruf gekommen war.

Seine Angst ließ augenblicklich nach, als er Mendeln und Achilios erblickte, die ihm entgegengelaufen kamen. Sie waren offenbar selbst eben erst eingetroffen. Mendeln war noch ein wenig außer Atem, und Achilios hatte ein blasses Gesicht, auch wenn der Jäger noch nichts von Uldyssians grausiger Entdeckung wissen konnte.

Die beiden kamen näher, und er rief ihnen zu: „Dort im Wald hinter mir liegt ein Toter. An der Stelle, an der der Wald dichter wird.“

Mit einem Blick auf die Frau in den Armen des Bauern fragte der Jäger: „Ein Unfall?“

„Nein …“

Achilios machte ein finsteres Gesicht, während er nickte. Er zog einen Pfeil aus dem Köcher, setzte ihn an die Sehne seines Bogens und ging dann kommentarlos in die Richtung, die Uldyssian ihm angezeigt hatte.

„Was ist mit ihr?“, wollte Mendeln wissen. „Wer ist sie? Wurde sie verletzt?“

„Sie ist ohnmächtig.“ Uldyssian verspürte eine ungewohnte Furcht. Er hoffte, Lylia würde endlich aufwachen, doch sie lag unverändert schlaff in seinen Armen. „Sie sah den Toten ebenfalls.“

„Sollen wir sie zu Jorilia bringen?“ Jorilia war die Heilerin von Seram, eine ältere Frau, die von manchen für eine halbe Hexe gehalten wurde, die man aber ihres Könnens wegen respektierte. Sie war diejenige, die den Brüdern seinerzeit eine Kräutermischung gab, durch die die Schmerzen ihrer Familie wenigstens ein bisschen gelindert werden konnten. Für Uldyssian und Mendeln hatte sie mehr geleistet als alle Gebete zusammen.

Uldyssian schüttelte den Kopf. „Sie braucht nur Ruhe. Sie muss ein Zimmer im Boar’s Head haben.“ Er zögerte. „Aber so können wir sie nicht durch die Vordertür ins Gasthaus tragen …“

„Es gibt einen Hintereingang nahe der Treppe, die zu den Räumen im oberen Stockwerk führt.“ Mendeln erwies sich in dieser Situation als so bedachtsam, wie man es nur von wenigen hätte erwarten können. „Du kannst sie dort hinein ins Haus bringen, während ich Tibion frage, welches ihr Zimmer ist.“

Der Vorschlag seines Bruders war perfekt, und Uldyssian atmete erleichtert durch. „So machen wir es.“

Mendeln musterte ihn eindringlicher, als ihm lieb war. Was den jüngeren Sohn des Diomedes anging, war Lylia eine völlig fremde Frau, doch für Uldyssian war sie das ganz offensichtlich nicht.

Anstatt ihm erst einmal alles zu erklären, trieb Uldyssian ihn zur Eile an. Mendeln schloss sich ihm an, und sie unterhielten sich nicht weiter. Wegen des bevorstehenden Wetterumschwungs begegneten sie keinem der Einwohner von Seram, die sie womöglich nur mit Fragen aufgehalten hätten. Für Uldyssian war das erfreulich und unerfreulich zugleich. Denn sosehr ihm daran gelegen war, Lylia schnell und sicher in ihr Quartier im Gasthaus zu bringen, wollte er doch auch, dass man an höherer Stelle von dem abscheulichen Mord an dem Akolythen erfuhr. Schließlich gab er sich aber damit zufrieden, dass Achilios gewiss die Wache oder den Dorfvorsteher informieren würde.

Als sie sich dem Boar’s Head näherten, trennten sich ihre Wege. Uldyssian ging hinten um das Haus herum und fand den rückwärtigen Eingang. Mit ein wenig Fingerspitzengefühl gelang es ihm, die Tür zu öffnen, ohne Lylia loslassen zu müssen.

Im Gasthaus begab er sich sofort über die Holztreppe nach oben. Zum Glück waren die Blicke der meisten Gäste auf die Vordertür gerichtet, da sein Bruder offenbar zur gleichen Zeit hereingekommen war wie er, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Während Uldyssian hinaufeilte, hörte er, wie Mendeln einige der Gäste, die ihn kannten, unüblich laut grüßte.

Am Kopfende der Treppe wartete er, und endlich folgte ihm sein Bruder nach. „Sie hat hier keine Unterkunft“, erklärte Mendeln. „Darum musste ich erst ein Zimmer mieten – auf unsere Kosten. War das richtig von mir?“

Uldyssian nickte und sah zu den fünf Türen. „Welche?“

„Diese hier“, sagte sein Bruder und zeigte auf eine einzelne Tür, die von den anderen ein Stück entfernt war. „Die ist etwas privater.“

Nach einem zustimmenden Blick öffnete Mendeln ihm die Tür. Da sie sich in Seram befanden, war die Unterkunft sehr nüchtern eingerichtet. Abgesehen vom Bett mit Daunendecke, einem Tisch und einem Stuhl nahe dem einzigen Fenster gab es keine Möbelstücke. An den Wänden waren Haken angebracht, um Mäntel und Ähnliches aufzuhängen, außerdem gab es Platz für die Tasche oder Truhe eines Reisenden.

Bevor Uldyssian etwas sagen konnte, meinte Mendeln: „Sie muss ihre Habseligkeiten bei der Karawane untergebracht haben. Soll ich zu Serenthia gehen und mich darum kümmern?“

Auch wenn es ihm missfiel, Cyrus’ Tochter in diese Angelegenheit hineinzuziehen, sah Uldyssian keine andere Lösung. „Ja, tu das.“

An der Tür blieb Mendeln stehen und sah seinen älteren Bruder an. „Woher kennst du diese Frau?“

„Wir begegneten uns zufällig.“ Mehr erwiderte Uldyssian nicht, und nach einem Moment verließ Mendeln dann wirklich das Zimmer.

Behutsam legte er die Edelfrau aufs Bett, dann hielt er inne und betrachtete sie. Wieder war er wie gefesselt von ihrem perfekt anmutenden Gesicht, und er fragte sich, was sie wohl dazu veranlasst haben mochte, allein durch die Welt zu ziehen. Sicherlich wäre es Lylia gelungen, einen reichen Edelmann zu finden, der sie geheiratet hätte. War sie womöglich blutsverwandt mit einem der unterlegenen Magierclans? Zumindest wäre es eine Erklärung gewesen.

Noch während er spekulierte, öffnete sie plötzlich die Augen und setzte sich erschrocken auf. „Was … was ist geschehen?“

„Erinnert Ihr Euch an den Wald?“

Sie hielt entsetzt die Hand vor den Mund. „Das war alles … das sah ich alles wirklich?“

Uldyssian nickte.

„Und Ihr … Ihr habt mich hierher gebracht. Wo ist hier?“

„Das Boar’s Head. Es ist das einzige Gasthaus in Seram, Herrin … Lylia. Wir dachten, Ihr hättet hier ein Zimmer.“

„Aber ich habe kein …“

„Mein Bruder hat sich darum gekümmert“, meinte er beiläufig. „Und dann haben wir Euch hergebracht. Mendeln ist jetzt unterwegs, um Eure Sachen bei der Karawane zu holen.“

Lange sah sie ihn einfach nur an. „Mendeln und Euer Bruder … das ist ein und dieselbe Person, verstehe ich das richtig?“

„Ja.“

Die Edelfrau nickte, dann fragte sie: „Und der … Leichnam?“

„Ein Freund kümmert sich darum. Ihm kann ich vertrauen, dass er alles Notwendige veranlasst. Achilios wird die Wache verständigen, anschließend unseren Dorfvorsteher.“

Lylia zog die Knie an, bis sie das Kinn darauf abstützen konnte, und schlang die Arme um ihre Beine. Dass sie dabei ihr elegantes Kleid völlig zerknitterte, schien sie nicht zu stören. „War der … der Mann, den wir fanden, auch ein Freund von Euch?“

„Er?“ Uldyssian schüttelte den Kopf. „Ein verdammter Missionar … vom Tempel der Triune. Seine Gefährten hatten zuvor nach ihm gesucht.“ Er dachte kurz nach. „Sie kamen mit der Karawane her. Habt Ihr …“

„Ja, ich sah sie, aber ich sprach kein Wort mit ihnen. Ich habe nur wenig Vertrauen in ihre Lehren, und in die der Kathedrale ebenfalls nicht.“

Dieses Eingeständnis, das seine eigenen Ansichten über beide Konfessionen widerspiegelte, war für Uldyssian auf unerklärliche Weise eine Erleichterung. Doch dann rief der Bauer sich zur Ordnung, denn sosehr der Beruf dieses Mannes ihn persönlich auch störte, hatte er doch kein so grausames Ende verdient.

Beim Gedanken daran wurde Uldyssian klar, dass er gehen und sich um diese Angelegenheit kümmern musste. Als derjenige, der den toten Missionar zuerst gefunden hatte, war es seine Sache, dem Dorfoberen zu erzählen, was er wusste.

Er runzelte die Stirn, als ihm die Edelfrau in den Sinn kam. Er würde es nach Kräften vermeiden, die Sprache auf Lylia zu bringen. Sie hatte schon genug durchmachen müssen.

„Ich möchte, dass Ihr hierbleibt“, wies er sie an, während er sich innerlich wunderte, dass er fähig war, gegenüber einer Frau aus einer so hohen Kaste einen solchen Ton anzuschlagen. „Bleibt hier und ruht Euch aus. Ich muss mit denjenigen reden, die sich um den Leichnam kümmern werden. Ihr müsst nicht mitkommen.“

„Aber ich sollte dabei sein … oder nicht?“

„Es ist nicht wirklich notwendig. Ihr habt nur gesehen, was ich auch sah, und Ihr habt den Mann ebenfalls nicht gekannt.“

Sie erwiderte darauf nichts, doch Uldyssian konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Lylia wusste, er setzte seinen Ruf aufs Spiel, wenn er sie auf diese Weise beschützte. Die Edelfrau lehnte sich auf dem Bett nach hinten. „Nun gut, wenn Ihr das wünscht. Ich werde hier warten, bis ich wieder von Euch höre.“

„Gut.“ Er ging zur Tür und überlegte sich bereits, was er sagen würde.

„Uldyssian?“

Er sah sie an.

„Vielen Dank.“

Errötend ging der Bauer hinaus. Trotz seines massigen Körpers gaben die Stufen keinen Laut von sich, als er darauftrat. Am Fuß der Treppe angekommen, warf er einen Blick in die Taverne. Alle dort verhielten sich ganz normal, was bedeutete, dass sich der Leichenfund noch nicht herumgesprochen hatte. Er konnte Achilios für diese Verschwiegenheit nur danken. Seram würde noch früh genug einen Schock erleiden, immerhin lag der letzte Mord mehr als vier Jahre zurück, und der war die Folge einen Streits zwischen dem alten Aronius und seinem Stiefsohn Gemmel gewesen. Bei dem Streit, der in betrunkenem Zustand geführt wurde, ging es um Landnutzungsrechte, wobei Gemmel als Verlierer dastand. Als Aronius wieder nüchtern war, gestand er seine Schuld ein und wurde mit einem Wagen in die große Stadt gebracht, wo er für seine Tat büßen musste.

Doch jenes Gemetzel, das Uldyssian gesehen hatte, war nicht die Folge von zu viel Alkohol, sondern sah mehr nach der Tat eines Verrückten oder einer Bestie aus. Ganz bestimmt steckte niemand aus dem Dorf dahinter, schon eher ein Bandit, der auf der Durchreise war.