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Besessen davon, die Menschen für ihre eigenen Zwecke unter Kontrolle zu bekommen, fechten die Mächte von Gut und Böse einen geheimen Krieg um die Seelen der Sterblichen aus. Dies ist die Geschichte des Sündenkrieges – des infernalen Konfliktes, der die Geschicke der Menschheit für immer verändern sollte. Die Triune sind gefallen und alles, was Uldyssian noch davon abhält, die Menschheit zu retten ist die Kathedrale des Lichts und ihr charismatischer Führer. Doch dieser Führer ist kein geringerer als der abtrünnige Engel Inarius, der die Welt der Menschen als sein persönliches Reich betrachtet. Himmel und Hölle haben nun Kenntnis von diesem einzigartigen Refugium und die fi nale Schlacht um die Seelen der Sterblichen hat jetzt begonnen!
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Seitenzahl: 559
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AUSSERDEM VON PANINI ERHÄLTLICH:
DIABLO: Der Sündenkrieg I – Geburtsrecht
Richard A. Knaak, ISBN 978-3-8332-4022-5
DIABLO: Der Sündenkrieg II – Die Schuppen der Schlange
Richard A. Knaak, ISBN 978-3-8332-4085-0
DIABLO: Der Sündenkrieg III – Der verhüllte Prophet
Richard A. Knaak, ISBN 978-3-8332-4086-7
DIABLO: Das Vermächtnis des Blutes
Richard A. Knaak, ISBN 978-3-8332-3896-3
DIABLO: Der Dunkle Pfad
Mel Odom, ISBN 978-3-8332-3897-0
DIABLO: Das Königreich der Schatten
Richard A. Knaak, ISBN 978-3-8332-3946-5
DIABLO: Der Mond der Spinne
Richard A. Knaak, ISBN 978-3-8332-3947-2
THE ART OF DIABLO
Großformat im Hardcover, ISBN 978-3-8332-3835-2
Weitere Titel und Infos unter www.paninishop.de
Der Sündenkrieg
Buch 3 Der verhüllte Prophet
Richard A. Knaak
Ins Deutsche übertragen von Ralph Sander
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Amerikanische Originalausgabe: “DIABLO: The Sin War III – The Veiled Prophet” von Richard A. Knaak, erschienen bei Simon and Schuster, Inc., 2007.
Copyright © 2007, 2021 Blizzard Entertainment, Inc. Alle Rechte vorbehalten.
Deutsche Ausgabe: Panini Verlags GmbH, Schlossstraße 76, 70 176 Stuttgart.
Geschäftsführer: Hermann Paul
Head of Editorial: Jo Löffler
Head of Marketing: Holger Wiest (E-Mail: [email protected])
Presse & PR: Steffen Volkmer
Übersetzung: Ralph Sander
Lektorat: Manfred Weinland
Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart
Satz und E-Book: Greiner & Reichel, Köln
YDDITP007E
ISBN 978-3-7367-9851-9
Gedruckte Ausgabe:
ISBN 978-3-8332-4086-7
1. Auflage, Dezember 2021
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PaniniComicsDE
PROLOG
… und nach der Vernichtung des Haupttempels der Triune und dem Verschwinden ihres Meisters zogen Uldyssian, Sohn des Diomedes, und seine Edyrem weiter, um auch noch die letzten Spuren dieser Konfession auszuradieren. Die Flammen der Gerechtigkeit und der Rache loderten erbarmungslos, um zu verzehren, was vom Kult der Drei noch übrig geblieben war.
Doch da gab es immer noch die Kathedrale des Lichts, und das Vakuum, das überall entstanden war, wo bis dahin die Triune gepredigt hatte, versuchten nun die Missionare des Propheten zu füllen. Zu keinem Zeitpunkt stellten sie sich den Edyrem in den Weg, doch sie folgten ihnen stets dichtauf, um beim Wiederaufbau zu helfen und Trost zu spenden.
Auf seine beständig wachsende Macht konzentriert und davon überzeugt, dass die Kathedrale sich der Rechtmäßigkeit seiner Sache nicht entgegenstellen konnte, ignorierte Uldyssian, was er als unterwürfige Bemühungen einschätzte. Nachdem er gegen Eiferer und Dämonen gekämpft hatte, verstand er das Wirken des Engels Inarius nicht, der den Massen als der gut aussehende jugendliche Führer der Konfession bekannt war. Selbst der Drache Trag’Oul und Inarius’ eigener, von ihm entfremdeter Sohn, der Nephalem Rathma, nahmen nicht zur Kenntnis, was der Engel zu ihrem Kampf gegen die Triune beitrug.
Doch wenn das ihr Vergehen war, dann galt es auch für Inarius, denn ihm entging, dass andere Notiz genommen hatten von seinem Kampf um die Seele jener Welt, die Sanktuarium genannt wurde – andere, deren Begehren es sein mochte, die Beute in ihren Besitz zu bekommen. Oder die, falls dies nicht gelang, einfach alles zerstören wollten.
Und niemand – nicht einmal der verhüllte Prophet oder Uldyssian selbst – erkannte zu diesem Zeitpunkt, was nach und nach aus dem Sohn des Diomedes wurde …
Aus den Büchern von Kalan
Zwölfter Band, Erstes Blatt
EINS
Der Mann in der Mitte des Pentagramms stieß einen gellenden Schrei aus, als Zorun Tzin gekonnt seine Magie einsetzte, um einen weiteren Fetzen Haut abzuziehen. Das kleine Stück rollte sich unverzüglich auf und hinterließ eine nässende Wunde. Muskeln und Sehnen wurden sichtbar und Blut strömte heraus. Es lief über den Körper der nackten Gestalt, ehe es sich zu den bereits vorhandenen Tropfen am Boden gesellte.
Der hagere, bärtige Magier störte sich nicht an den Spritzern auf den Steinplatten. Auch sie würden noch einem Nutzen zugeführt werden, der aber nichts mit dem zu tun hatten, was den dunkelhäutigen Kehjani gegenwärtig interessierte.
Dem Rat der Clans war es gelungen, die untereinander herrschenden Streitigkeiten zurückzustellen und ihn dringend zu ersuchen, so viel wie möglich über jene Fanatiker herauszufinden, die herumzogen und dabei unglaubliche Kräfte zur Schau stellten.
Dass diese … diese Edyrem, wie sie sich selbst nannten, den mächtigen Tempel der Triune zu Fall gebracht hatten, war dabei nicht einmal das Alarmierendste. Die Magierclans waren sogar überglücklich, von dieser mächtigen Konfession befreit worden zu sein, die alles darangesetzt hatte, den Einfluss der Zauberkundigen zu beschneiden – was zu einem Großteil auch der Grund für die ersten Fehden untereinander gewesen war. Jeder Clan hatte versucht, den anderen auszustechen und ihm seinen Rang streitig zu machen.
Nein, die Clans störten sich in erster Linie an der Tatsache, dass die Edyrem größtenteils ungebildete und ungeschulte Bauern waren. Das ging ihnen sogar so sehr gegen den Strich, dass sie sich zum ersten Mal seit langer Zeit in einer Sache einig waren.
Man hatte es mit Bauern, einfachen Arbeitern und dergleichen zu tun, und doch versprach ihr Anführer ihnen Fähigkeiten, an denen die Magier zeitlebens in mühevoller Kleinarbeit gefeilt hatten. Zudem ließ deren Umgang mit dieser Macht eine Gedankenlosigkeit erkennen, die gefährlich werden konnte. Es bestand kein Zweifel daran, dass die Edyrem eine Gefahr darstellten und in ihre Schranken verwiesen werden mussten.
Und wer eignete sich wohl besser für diese Aufgabe als die Magierclans? Unter deren strenger Führung würde man diese mysteriösen Kräfte angemessen erforschen und vielleicht sogar nutzen können.
„Ich frage dich noch einmal“, sprach Zorun mit rauer Stimme. „Du hast gesehen, wie die Fremden einen ganzen Tempel mit nichts weiter als ihren bloßen Händen in Schutt und Asche legten. Welche Worte benutzten sie dabei? Welche Gesten beschrieben sie?“
„Ich w-weiß es nicht!“, schrie der Gefangene. „Ich – ich schwöre!“
Der kahlköpfige Mann schien trotz des Verhörs durch den Magier immer noch in guter körperlicher Verfassung zu sein. Es handelte sich um eine der wenigen Tempelwachen, die sich dem Zugriff der Fanatiker hatte entziehen können. Zorun war einige Wochen lang damit beschäftigt gewesen, allein dieses eine Individuum auszuspähen, so tief im Untergrund hatten sich die überlebenden Triune verkrochen, um sich dort jedem Zugriff zu entziehen. „Ich schwöre, es ist s-so! Sie taten – sie taten nichts in dieser Art!“
Mit einer Geste sorgte der Kehjani dafür, dass sich das quadratische Stück Haut ruckartig vom Fleisch löste. Ein erneuter Schmerzensschrei kam dem Gefangenen über die Lippen. Der Magier mit der orangefarbenen Schärpe wartete ungeduldig, bis der Schrei verstummte, ehe er weitersprach. „Du kannst nicht von mir erwarten, dass ich dir glaube, sie hätten lediglich ihren Willen eingesetzt, damit etwas geschieht. So funktioniert Magie nicht. Dafür benötigt man Konzentration, Gesten und viel Übung.“
Der Gefangene reagierte nur mit angestrengtem Keuchen. Mit nachdenklicher Miene ging Zorun Tzin langsam um das Pentagramm herum. Der achteckige Raum, in dem er den Tag damit verbracht hatte, den ehemaligen Wachmann zu verhören, war makellos sauber und aufgeräumt. Jede Phiole, jedes Pergament und alle Artefakte befanden sich an ihrem angestammten Platz im jeweiligen Regal. Zorun war der Überzeugung, dass Sauberkeit und Ordnung von größter Wichtigkeit waren, um in den Zauberkünsten erfolgreich zu sein. Im Gegensatz zu anderen Magiern ließ er nicht zu, dass sich alle möglichen Dinge in seiner Kammer ansammelten, und niemals kam es so weit, dass Staub und Ungeziefer sein Arbeitszimmer in einen Schweinestall verwandelten.
Sogar wenn es um ihn selbst ging, strebte der Kehjani nach Makellosigkeit. Seine braune Tunika mit den breiten Schultern und die weite Hose waren stets frisch gereinigt. Seinen Bart stutzte er regelmäßig. Und sein schütterer werdendes graues Haar hatte er mit Öl eingerieben und kunstvoll nach hinten gekämmt, damit die Frisur in gewohnter Form blieb.
Die Art, wie er sein Leben führte, war womöglich ein Hinweis darauf, warum Zorun den Geheimnissen der Fanatiker mit solchem Eifer auf der Spur war. Sie stellten einen chaotischen Faktor dar, und ihre Zauberkünste schienen zu dem Zeitpunkt, da sich der Rat in dieser Angelegenheit an ihn wandte, von irgendwelchen Launen und Empfindungen abzuhängen.
In Wirklichkeit hatte Zorun sich insgeheim längst selbst mit der Situation befasst, als ihm der Rat diese Aufgabe übertrug. Natürlich ließ er ihn das nicht wissen, da er ihm ansonsten vielleicht nicht seine lange Liste an Forderungen erfüllt und erst recht keine weiteren Zugeständnisse gemacht hätte, für den Fall, dass er erfolgreich sein würde.
An Letzterem bestand für ihn kein Zweifel. Zorun würde niemals scheitern.
„Du hast diesen ascenischen Führer gesehen, diesen Uldyssian ul-Diomed, wie er genannt wird. Ist das richtig?“
„J-ja! Ja!“, schrie der Wachmann und klang fast schon dankbar dafür, dass er endlich einmal eine Antwort auf eine Frage geben konnte. „Ich sah ihn! Bleich! Er i-ist … w-war ein Bauer, heißt es!“
„Einer, der im Dreck wühlt“, murmelte der Zauberkundige verächtlich. „Kaum mehr als ein Tier.“
Die Gestalt über dem Pentagramm stieß ein Röcheln aus, das möglicherweise ein zustimmender Laut sein sollte.
„Es heißt, dass er selbst den Tempel zum Einsturz brachte. Hast du das gesehen?“
„N-nein!“
Diese Antwort erzürnte Zorun nur noch mehr. „Dann vergeude ich mit dir nur meine Zeit.“
Er beschrieb eine knappe Geste und plötzlich begann die blutende Gestalt nach Luft zu ringen. Ein erstickter Laut kam dem Wachmann über die Lippen, und er versuchte, nach seinem Hals zu greifen, der rund um den Adamsapfel massiv angeschwollen war. Aber selbst wenn es dem Gefangenen des Kehjani möglich gewesen wäre, seine Arme zu bewegen, hätte er nichts gegen Zoruns Werk unternehmen können.
Mit einem letzten heiseren Schrei sackte der Wachmann in sich zusammen. Zorun Tzin ließ den Körper zu Boden fallen, wo er in einer ungelenken Haltung auf dem Pentagramm liegen blieb.
„Terul!“
Auf seinen Befehl hin kam ein massiger Kehjani mit zu klein wirkendem Kopf in den Raum getrottet. Er trug nur eine schlichte Tunika. Sein Gesicht erinnerte stark an das eines jener kleinen Primaten, die von vielen Tiefländern als heilig verehrt wurden. Zorun dagegen konnte in ihnen ebenso wenig Verehrenswertes erkennen wie in seinem eigenen Diener. Terul war jedoch gut darin, klare Befehle auszuführen, ohne Fragen zu stellen – was auch der Grund dafür war, dass der Zauberkundige ihn ausgewählt und aus der Gosse geholt hatte.
Terul grunzte, mehr brachte er nicht zustande, und senkte zur Begrüßung seines Meisters den verkümmert wirkenden Kopf.
„Der Leichnam.“ Mehr musste Zorun nicht sagen, sein Diener verstand genau, was zu tun war. Terul hob den toten Wachmann hoch, als sei er so leicht wie Luft. Von dem Blut, das ihm dabei auf die Haut tropfte, nahm er keinerlei Notiz. Dem Riesen war von seinem Meister beigebracht worden, sich anschließend zu säubern.
Terul schlurfte mit dem Leichnam aus dem Zimmer. Es gab etliche Abwasserkanäle unter der Stadt Kehjan, die jenseits der Stadtmauern in den Fluss mündeten. Ab da würden sich die wilden Länder – die von alters her ebenfalls Kehjan genannt wurden – um den Abfall kümmern.
Den Blick auf die Blutlache und die rote Spur gerichtet, die Terul hinter sich zurückließ, sprach der Magier eine kurze Beschwörung und zeichnete die erforderlichen Symbole in die Luft. Zufrieden beobachtete er dann, wie sich die rote Flüssigkeit auf dem Pentagramm zusammenzog, ohne eine Spur zu hinterlassen.
Wie viele aus dem Rat waren schon zu einer solchen Leistung imstande? Zorun hatte zehn Jahre benötigt, um diesen Zauber zu vervollkommnen …
Er verzog das Gesicht. Zweifellos vermochte dieser Uldyssian ul-Diomed Vergleichbares mit einem einzigen kurzen Blick bewerkstelligen.
Das darf nicht wahr sein. Wenn überhaupt, dann sollte ich dazu in der Lage sein – nicht irgendein Narr von einem Bauern!
Zorun griff nach dem Umhang und verließ sein Arbeitszimmer. Er musste verschiedene Besuche absolvieren, um die für seine Arbeit unverzichtbaren Dinge zusammenzutragen. Das würde schwierige Verhandlungen mit denen erfordern, die nichts wissen sollten von dem Auftrag, der ihm erteilt worden war. Und auch seine Auftraggeber sollten so wenig wie möglich darüber erfahren. Die Geheimnisse eines Magiers waren wertvoller als Münzen oder Edelsteine. Sie waren so kostbar wie ein Leben.
Und wenn Zoruns Pläne aufgingen, dann würde ein solch kostbares Leben das des Asceniers Uldyssian sein.
„Ihr müsst mit Eurem Bruder sprechen“, forderte Rathma ihn auf, und in seiner sonst so ausdruckslosen Stimme schwang ein Hauch von Sorge mit. „Er wird umso leichtsinniger, je mehr sich seine Kraft manifestiert.“
„Was kann ich ihm sagen, das er noch nicht weiß?“, gab Mendeln schulterzuckend zurück. Das Paar war sich so ähnlich, wie es verschieden war. Rathma war größer als die meisten Leute, und seine Gesichtszüge waren so vollkommen, als hätte ein meisterlicher Bildhauer sie aus dem feinsten Stein gemeißelt. Die Haut war blasser als bei jeder anderen lebenden Person, was noch dadurch betont wurde, dass er ein schwarzes Gewand trug und dazu einen Umhang in gleicher Farbe mit großer Kapuze.
Im Vergleich dazu war Mendeln ul-Diomed von durchschnittlicher Größe und sehr viel schlichterem Auftreten. Er war der Sohn eines Bauern, doch er selbst hatte sich nicht als solcher erwiesen. Seine breite Nase gab ihm das Gefühl, hässlich auszusehen, wenn er sich mit dem Mann verglich, mit dem er sich in diesem Moment unterhielt. Sein dunkles Haar wirkte im Vergleich zu Rathmas pechschwarzem immer noch recht hell.
In ihrem Verhalten, der Art zu reden und sich zu kleiden, waren sie beide jedoch eher Brüder als er und Uldyssian. Mendeln trug ähnliche Kleidung wie Rathma, und seine Haut wies zwar noch einen Hauch Rosa auf, war jedoch viel blasser als gewöhnlich – besonders für einen Ascenier, der so wie sein Bruder und wie Serenthia so gebräunt sein sollte, dass man ihn eher für einen Tiefländer hätte halten können.
Es war allerdings auch nicht allzu überraschend, dass Mendeln Rathma so sehr ähnelte. Letzterer hatte den jüngeren Sohn des Diomedes als seinen Schüler auserkoren, womit er der erste Sterbliche wurde, der lernte, den gleichen Weg zu gehen wie jemand, der der Sohn eines Engels und einer Dämonin war.
„Er glaubt, er handelt sehr praktisch“, fuhr Mendeln fort. „Die Hinweise auf erneute Aktivitäten der Triune zwangen ihn dazu, diese Spezies ein für alle Mal auszumerzen. Für ihn und für viele andere erscheint das ein sinnvoller Weg. Selbst ich kann diese Logik nachvollziehen.“
Rathmas Umhang umwirbelte ihn, obwohl kein Wind wehte. Oftmals überlegte Mendeln, ob der Stoff wohl lebendig war, doch sprach er diese Frage nie laut aus.
„Aber damit nimmt er meinen Vater nicht zur Kenntnis“, machte die große Gestalt deutlich. Rathma war ein Archaischer, einer aus der ersten Generation und geboren auf einer Welt, die wenigen Auserwählten als das Sanktuarium bekannt war. So wie er waren alle seiner Generation die Nachkommen von Flüchtlingen aus dem Himmel und den Brennenden Höllen, die dem ewigen Streit den Rücken gekehrt und sich zusammengeschlossen hatten, um nach einer neuen Lebensweise zu suchen.
Diese Lebensweise hatten sie zumindest für eine Weile an einem von ihnen selbst erschaffenen Ort gefunden, wo sie vor den Blicken der beiden großen Mächte verborgen waren. Doch indem die Flüchtlinge gemeinsame Sache machten, leiteten sie zugleich ihren Niedergang ein. Vertrautheit führte dazu, dass sie sich untereinander vermischten und damit auch Rathmas Art entstand – die ersten Menschen.
Anfangs waren die neuen Kinder recht harmlos, doch als sich bei ihnen Kräfte zu entwickeln begannen – andere Kräfte als bei ihren Eltern und mit scheinbar grenzenlosem Potenzial –, da erklärte der Engel Inarius, zugleich der Anführer der Gruppe, sie zu Monstrositäten.
Nur mit Mühe war es einigen von seinesgleichen gelungen, ihn von einem sofortigen Vorgehen gegen die „Abscheulichen“ abzuhalten. Er und die anderen Flüchtlinge kamen überein, jeder in sein Heim zurückzukehren und dort sorgfältig über das Schicksal ihrer Kinder nachzudenken.
Doch unter ihnen befand sich eine, die ihren Entschluss bereits gefasst hatte. Inarius’ Geliebte, die Dämonin Lilith, stellte den anderen Dämonen und Engeln nach und metzelte einen nach dem anderen nieder. In ihrem Wahnsinn und Ehrgeiz sah sie sich als die Retterin der Kinder und damit als die Einzige, die das Recht hatte, deren Schicksal zu formen.
Ein Schicksal, bei dem sie die Herrin über alles war.
Doch bei alldem hatte sie Inarius hoffnungslos unterschätzt. Als der ihren Verrat aufdeckte, verstieß er sie aus dem Sanktuarium. Dann wandte er sich einem gigantischen Kristall, dem Weltenstein, zu – der geschaffen worden war, um das Sanktuarium geheim zu halten – und veränderte das Artefakt auf eine Weise, dass die den Kindern innewohnenden Kräfte nachließen, bis sie schließlich so verborgen waren, als hätten sie nie existiert.
Einige aus Rathmas Generation, die sogenannten Nephalem, hatten dagegen protestiert … und waren zermalmt worden. Der Rest hatte sich zerstreut, und Rathma selbst war gezwungen gewesen, sich jenseits der Ebene der Sterblichen zu verstecken. Über die Jahrhunderte hinweg waren die meisten seiner Art verschwunden, und die nachfolgenden Generationen wuchsen auf, ohne etwas von jenem Geburtsrecht zu ahnen, das man ihnen geraubt hatte. Doch damit war nun Schluss …
Mendeln wandte sich von Rathma ab und dachte über die Worte des anderen nach. Die beiden standen tief im Dschungel von Kehjan, in einiger Entfernung von dem Lager, das Uldyssians riesige Gefolgschaft errichtet hatte.
Der vorbeiziehende Brandgeruch kam jedoch nicht von dort, sondern aus Urjhani, einer Stadt, die eine halbe Tagesreise weiter südlich lag. Dort hatte Uldyssian einige der letzten Priester eines kleineren Tempels aufgespürt, den er anschließend niederbrennen ließ.
„Mein Bruder ist sich des Engels schmerzhaft bewusst“, erwiderte Mendeln schließlich. „So wie er sich auch immer Liliths bewusst sein wird.“
Inarius’ fester Überzeugung zum Trotz war die Dämonin aus ihrem Exil zurückgekehrt. Da der Engel mit dem Vordringen der Brennenden Höllen in seine Welt beschäftigt war, fiel ihm nicht auf, wie sie langsam und unmerklich den Weltenstein beeinflusste. Doch diese Manipulation hatte seine Absichten in ihr Gegenteil verkehrt und in vielen Menschen des Sanktuariums war ihr Potenzial geweckt worden.
Lilith hatte Uldyssian ausgewählt, ihre Schachfigur zu sein, indem sie seine schlummernden Kräfte weckte. Am Ende jedoch war es ihr nicht gelungen, ihn für ihre Sache zu gewinnen. Uldyssian hatte im Haupttempel gegen sie gekämpft, und ihr Leichnam war noch nicht unter dem Schuttberg hervorgeholt worden, der von dem hoch aufragenden Bauwerk übrig geblieben war. Jeder – auch Rathma – war sich sicher, dass sie nun endlich tot war. Doch zu Uldyssians Unglück – er hatte sie geliebt, als sie sich vor ihm als menschliche Frau namens Lylia ausgab – würde die Dämonin sich wohl niemals so ganz aus seinem Leben verbannen lassen …
„Und dafür kann ich mich nur bei ihm entschuldigen. Ich wusste, meine Mutter ist so böse, wie mein Vater scheinheilig ist … und über Generationen hinweg tat ich nichts anderes, als mich zu verkriechen.“
In Wirklichkeit traf es nicht zu, dass Rathma sich verkrochen hatte, doch Mendeln sagte nichts, was das Gewissen seines Mentors hätte erleichtern können. Und doch …
„Ich werde ihm gegenüber noch einmal die Missionare der Kathedrale erwähnen. Sie sagten zuvor, dass bereits mehrere von ihnen auf dem Weg nach Urjhani seien, obwohl wir die Stadt erst vor Kurzem verlassen haben. Das würde bedeuten, dass sie von der großen Kathedrale aus losgeschickt wurden, noch bevor wir überhaupt die Stadt erreichten.“
„Und das ist nicht das erste Mal, Mendeln. Es scheint, als würde mein Vater Uldyssians Weg kennen, noch bevor der selbst weiß, welche Richtung er einschlagen wird.“
„Das werde ich ebenfalls ansprechen.“ Mendeln blieb weiter auf der Stelle stehen, und plötzlich beobachtete er den Dschungel, als erwarte er, im nächsten Augenblick von einer Bestie angesprungen zu werden.
„Ich verberge ihn nicht vor Euch“, erklärte Rathma aufgebracht und ließ damit eine seltene Gefühlsregung erkennen. „Dass ich die Position Eures Freundes Achilios nicht kenne, ist von mir nicht bloß vorgetäuscht. Sowohl Trag’Oul als auch ich haben nach ihm gesucht, doch von dem Jäger ist keine Spur zu finden.“
„Aber Ihr wart derjenige, der ihn von den Toten auferstehen ließ!“
„Ich? Ich habe die Situation lediglich beeinflusst. Ihr seid derjenige, der Achilios zurückholte, Mendeln. Eure Gabe und Eure Verbindung zum Reich nach dem Tod waren das, was seine Rückkehr ermöglichte.“
Anstatt diese alte Diskussion wieder aufzugreifen, ließ Mendeln die schattenhafte Gestalt hinter sich zurück. Rathma versuchte nicht, ihn zurückzuhalten, und der Mensch, der mit dem Wesen seines Mentors vertraut war, wusste nur zu gut, dass der Archaische bereits mit den Schatten verschmolzen war.
Keiner von ihnen hatte ausgesprochen, was beide als Grund für Achilios’ Verschwinden vermuteten. Bei der einen Gelegenheit, als sie über die Möglichkeiten diskutierten, war Mendelns Mut beinahe völlig geschwunden. Welchen Sinn hatte es noch, die Welt verändern zu wollen, wenn diese schon bald nicht mehr existierte? Für Uldyssians Bruder war klar, was mit dem Jäger geschehen war.
Rathma hatte keinerlei dämonische Spuren rund um Achilios’ letzten bekannten Aufenthaltsort entdecken können. Das völlige Fehlen solcher Fährten ließ sich nur auf zweierlei Weise erklären: Zum einen mochte Inarius Achilios in seine Gewalt gebracht haben, um ihn gegen sie einzusetzen – ein erschreckender Gedanke. Doch so schlimm diese Möglichkeit – vor allem für Serenthia – auch war, stellte sie von den beiden denkbaren Szenarien immer noch die erfreulichere dar.
Was aber, wenn ein anderer Engel den Jäger mitgenommen hatte? Sie alle wussten, was das bedeutet hätte: Die Brennenden Höllen wüssten vom Sanktuarium – und das schon seit Jahrhunderten. Sie hätten es nur weiterexistieren lassen, weil sie sich für sein Potenzial interessierten – um Menschen als entscheidenden Faktor in den ewigen Krieg einzubeziehen.
Der Tempel der Triune war von den Dämonenfürsten – den Erzbösen – geschaffen worden, um Mendelns Rasse ins Spiel zu bringen. Hätte nicht Inarius deren Tun als eine persönliche Beleidigung aufgefasst – da er das Sanktuarium und alles, was es umfasste, als sein Eigen betrachtete –, dann würde die Menschheit vielleicht schon jetzt in den Krieg gegen die Engel geführt werden.
Wenn der Himmel aber nun tatsächlich von dieser Welt wusste, würde er entweder kämpfen, um sie in seinen Besitz zu bringen … oder sie einfach vernichten, damit sie den Dämonen nicht mehr von Nutzen sein konnte.
Dass dies auch die Auslöschung unzähliger Leben bedeutete, schien für keine der beiden Seiten von Belang zu sein.
Wir müssen unbedingt Achilios finden, überlegte Mendeln, als er den Rand des Lagers erreichte. Um unser aller Wohl müssen wir ihn unbedingt finden!
Seine Gedanken wurden jäh unterbrochen, als er mit einer unsichtbaren Macht zusammenprallte. Während er seine Nase rieb, tauchten zwei Gestalten auf – eine mit der dunklen Hautfarbe eines Tiefländers, die andere so blass, wie jeder Ascenier aussah, der neben einem Einheimischen stand.
Mendeln erkannte den zweiten Mann als einen der zahlenmäßig immer mehr schrumpfenden Parthaner, die als Erste von Uldyssian bekehrt worden waren. Inzwischen waren wohl kaum mehr als hundert von ihnen noch übrig, während zu Beginn ein Vielfaches dessen existierte. Da sie zu den Anhängern seines Bruders gehörten, die ihn von allen am längsten begleiteten, hatten sie sich bereits ungeheuren Gefahren stellen müssen, noch bevor es ihnen gelang, ihre Kräfte vollständig zu entfalten.
„Oh, verzeiht, Meister Mendeln!“, entschuldigte der Parthaner sich hastig. „Wir konnten ja nicht wissen, dass Ihr es seid!“
Der andere Edyrem nickte nervös, um diese Worte zu unterstreichen. Egal, ob sie aus dem Tiefland-Dschungel oder den Hochland-Wäldern kamen, begegnete ihm praktisch jeder von Uldyssians Anhängern mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Angst. Die Angst rührte von Mendelns Berufung her, die viel mit den Toten zu tun hatte. Und die Ehrfurcht … nun, er war klug genug, um zu wissen, dass es für sie nur einen Grund gab: Er war der Bruder ihres Anführers.
Erstaunlicherweise hatte eine Handvoll Anhänger damit begonnen, sich an ihn zu wenden, um von ihm zu lernen. Doch Mendeln hielt nicht viel von ihrem Interesse. Es fußte auf einer morbiden Faszination, was bestimmte Aspekte anging, auf weiter nichts … jedenfalls war er zu dieser Überzeugung gelangt.
„Ihr müsst Euch nicht entschuldigen“, erwiderte er. „Ich ging aus dem Lager, ohne mich abzumelden. Ihr habt nur Eure Befehle befolgt.“
Sie machten für Mendeln den Weg frei und sahen ihm sichtlich erleichtert nach, während er vorgab, davon nichts mitzubekommen.
Es war so, als hätte der jüngere Sohn des Diomedes mit dem Passieren der Wachen eine ganz andere Welt betreten, denn auf einmal war die Umgebung von Magie erfüllt. Farbige Energiesphären leuchteten wie Lampions auf einer Feier über das ganze riesige Lager verstreut, aber keine dieser Sphären war an einer Schnur befestigt, sondern sie alle schwebten über denjenigen, die sie gewirkt hatten. Es brannten zwar vereinzelt Feuer, doch sie dienten in erster Linie zum Kochen, nicht um Helligkeit zu spenden.
Die Sphären waren aber längst nicht alles. Während sich Mendeln einen Weg durch die Menge bahnte, wurde sein Blick auf die unterschiedlichsten magischen Darbietungen gelenkt. Ein dunkelhäutiger Tiefländer hatte einen leuchtenden Energiefaden erschaffen, der sich wie eine Schlange um sich selbst wand.
Ein anderer Edyrem ließ ein paar kleinere Steine vom Boden aufsteigen und bewegte sie dann so, als würde ein Unsichtbarer mit ihnen jonglieren.
Eine blonde Parthanerin ließ mitten in der Luft einen Speer entstehen und schleuderte ihn mit äußerster Präzision gegen einen weit entfernten Baum. Der Speer bohrte sich in den Stamm und verharrte einen Moment lang … dann löste er sich in Nichts auf, während die Parthanerin bereits einen neuen entstehen ließ …
Das waren nur ein paar Beispiele. Die zahlreichen von den Edyrem gewirkten Zauber unterschieden sich in Intensität und Geschick, doch dass die scheinbar unbedeutenden Gesichter um ihn herum Menschen aller Kasten und Berufe gehörten, die alle etwas beherrschten, was einst nur wenigen Auserwählten vorbehalten gewesen war, löste in Mendeln sowohl Erstaunen als auch Sorge aus. Gewöhnliche Menschen wie er selbst sollten ihr Leben eigentlich mit harter Feldarbeit verbringen – aus ihnen sollten keine mächtigen Magier werden.
Und genau das war es, was ihn so beunruhigte, während er zusah, wie ein erfinderischer Junge für seine jüngeren Geschwister – ja, zu Uldyssians „Armee“ gehörten sogar Kinder – etliche leuchtende Schmetterlinge entstehen ließ, die in ein Dutzend verschiedene Richtungen davonflatterten.
In gewisser Weise gingen viele von denen, die seinem Bruder folgten, recht naiv mit ihrem Potenzial um. Bestenfalls betrachteten sie es als ein Werkzeug wie beispielsweise eine Hacke, aber nicht als etwas, das sich womöglich gegen sie wenden und einen aus ihren eigenen Reihen brutal verstümmeln konnte.
Vielleicht bin ich auch nur zu hart in meinem Urteil, überlegte er. Sie haben für das gekämpft, woran sie glauben, und sie waren gezwungen, jene zu töten, die sie zu ihren Sklaven und Marionetten machen wollten.
Dennoch hielt er an seinen Bedenken fest. Mendeln war weiterhin der Ansicht, dass Magie etwas war, das man sorgfältig erlernen musste und das nur mit größter Vorsicht angewandt werden durfte. Man musste in diese Anwendung ganz allmählich hineinwachsen und sorgsam lernen, die damit verbundenen Gefahren zu respektieren.
Ein Stück weit vor ihm stieg ein sanftes, besänftigendes blaues Leuchten auf. Mendeln zögerte kurz, ging dann aber doch in diese Richtung weiter. Es gab keinen Grund, sich vor der Quelle zu fürchten, denn dabei handelte es sich lediglich um Uldyssian. Selbst inmitten einer solchen Anhäufung von Magie konnte man die Präsenz seines Bruders deutlich spüren.
Eine große Gruppe Edyrem stand oder saß um die Stelle herum versammelt, die Uldyssian zu seinem Lager erkoren hatte. Sehen konnte Mendeln seinen Bruder nicht, doch er fühlte ganz genau, wo er sich aufhielt. Ohne zu zögern begab er sich in die Menge, die ihm, sobald sie ihn bemerkte, eine Gasse bildete. Er musste nicht einmal die halbe Strecke durch die Versammelten zurücklegen, als er Uldyssian auch schon ausmachte.
Der Mann mit dem sandfarbenen Haar hatte den robusten Körperbau und das Aussehen eines Bauern – was Uldyssian noch vor nicht allzu langer Zeit auch tatsächlich gewesen war. Und sogar ein recht guter. Mit seinen breiten Schultern, dem kantigen Kinn und dem kurzen, gepflegten Bart sah er auf eine etwas derbe Weise gut aus, und genau das half ihm dabei, andere anzusprechen. Er hatte keinerlei Ähnlichkeit mit einem dieser herablassenden Propheten oder mit jenen sich ereifernden Propheten, mit denen die meisten seiner Anhänger vertraut waren. Er war einer von ihnen, einer aus dem gemeinen Volk. Er war erfolgreich gewesen, aber er hatte auch gelitten, und sein schlimmster Verlust war der Tod fast seiner ganzen Familie, die vor Jahren – bis auf Mendeln – der Pest zum Opfer gefallen war. Zu jener Zeit hatte sich Uldyssian an jeden Missionar gewandt, den er finden konnte, und um die Errettung seiner engsten Angehörigen gefleht. Die Antworten hatten stets nur aus hohlen Floskeln bestanden, und alle hatten ihm lediglich geraten, der jeweiligen Konfession eine großzügige Spende zukommen zu lassen.
Diese Tragödie hatte bei ihm einen brennenden Hass gegen Glaubensgemeinschaften wie die Triune oder die Kathedrale des Lichts entstehen lassen, lange bevor beide die Jagd auf ihn eröffnet hatten.
Uldyssian saß auf einem Baumstamm und sprach in ernstem Tonfall mit seinen Anhängern. Mendeln musste nicht zuhören, um zu wissen, dass sein Bruder den anderen Mut machte und ihnen erklärte, was es bedeutete, seinem Weg zu folgen. Seine Worte waren alle von hohem Wert, doch allzu oft befolgte Mendelns Bruder selbst nicht das, was er anderen riet.
In letzter Zeit hatte Uldyssian zugelassen, dass seine unglaublichen Fähigkeiten über sein Handeln bestimmten, obwohl es umgekehrt hätte sein sollen. Urjhani war dafür nur das jüngste Beispiel. Es war Uldyssians Absicht gewesen, die Priester gefangen zu nehmen, sie aber nicht zu töten. Er wollte ihnen Fragen über ihre wahren Herren, die Dämonenfürsten, stellen. Aber als einer von ihnen sich gegen die Edyrem zur Wehr setzte, weil er verzweifelt versuchte, das Unvermeidbare doch noch abzuwenden – ein Versuch, der mühelos abgewehrt werden konnte –, da hatte Uldyssian zu einem erzürnten Gegenschlag ausgeholt.
Im nächsten Moment waren die Priester von innen heraus explodiert, sodass die Fetzen ihrer Leichname in weitem Umkreis verstreut wurden. Uldyssian tat diesen Zwischenfall ab, als sei es von Anfang an seine Absicht gewesen, es so enden zu lassen.
„Sie gehörten zur Triune“, war das Argument, mit dem er jeden Protest von Mendeln im Keim erstickte, und dann befahl er, auch den letzten Tempel niederzubrennen, damit nichts mehr an die Existenz dieser Konfession erinnerte.
Jetzt schickte derselbe Mann, der so beiläufig diese lebenden Seelen in Stücke gerissen und ihre Tempel in Schutt und Asche gelegt hatte, seine Anhänger mit einem jovialen Nicken fort. Das Leuchten ließ ein wenig nach, blieb aber noch so kräftig, dass man es mühelos wahrnehmen konnte.
Außer Uldyssian blieb nur Serenthia zurück, die Tochter des Kaufmanns Cyrus, der als einer der Ersten Uldyssians Kräften zum Opfer gefallen war. Natürlich war das nicht seine Schuld gewesen, denn Lilith hatte die Situation so manipuliert, dass es zu diesen schrecklichen Folgen kommen konnte. Serenthia war eine wunderschöne Frau mit langen schwarzen Zöpfen und leuchtend blauen Augen. So wie bei Uldyssian war ihre einst blasse Haut von der Sonne gebräunt worden, und anders als die Brüder trug sie die weite, wallende Kleidung, die in den Tieflanden üblich war. Der Speer in ihrer rechten Hand war ihr ständiger Begleiter, und wenn es etwas gab, das ihrer Schönheit Abbruch tat, dann war es ihr entschlossener Gesichtsausdruck.
„Mendeln.“ Uldyssian erhob sich und begrüßte seinen Bruder, als hätte er ihn seit Tagen nicht mehr gesehen. „Wo bist du gewesen?“
„Außerhalb des Lagers.“
„Ah.“ Die Freude im Tonfall seines Bruders ließ ein wenig nach. „Wer war es diesmal? Der Drache oder ihre Brut?“
Mit seiner letzten Anspielung meinte er Lilith. „Ja, es war Rathma. Er warnt vor seinem Vater, der …“
Die Aura leuchtete jäh grell auf und ließ einige in der Nähe befindliche Anhänger erschrocken zusammenfahren. Schnell wandten sich aber alle wieder von ihm ab. „Es ist jedes Mal das Gleiche! Glaubt er, ich halte nicht nach seinem Vater Ausschau? Rathma wäre uns eine größere Hilfe, würde er an unserer Seite stehen, anstatt schnell wieder in der Dunkelheit unterzutauchen, nachdem er eine weitere angsterfüllte Warnung geflüstert hat.“
Das Leuchten nahm weiter an Intensität zu. Mendeln fühlte, wie sich in ihm ebenfalls Wut regte, hielt sie aber in Schach. „Du weißt, er riskiert so viel wie jeder von uns, Uldyssian, und du musst ihn nicht dafür hassen, dass er Liliths Nachkomme ist. Dass dem so ist, bedauert er mehr, als du dir jemals vorstellen kannst.“
Das blaue Leuchten wurde etwas schwächer. Uldyssian atmete aus. „Du … du hast Recht. Verzeih mir. Die letzten Tage waren lang und anstrengend, nicht wahr, Mendeln?“
„Mir scheinen die Tage mit jedem Atemzug länger und länger zu werden.“
„Mir fehlt der Bauernhof.“
„Mir fehlt er auch, Uldyssian. Ja, sogar mir fehlt er, das musst du dir mal vorstellen.“
Serenthia brach das einsetzende Schweigen nach einer Weile. Sie sah Mendeln mit zusammengekniffenen Augen an und fragte leise: „Irgendetwas von Achilios?“
„Du weißt, ich würde es dir sagen, wenn ich auch nur den kleinsten Hinweis hätte.“
Sie stieß das hintere Speerende auf den Boden und rötliche Energie tanzte über die Erde ringsum. Von allen Akolyten Uldyssians war Serenthia die mächtigste, doch leider wurde ein Teil ihrer Kraft durch die Sorge um den Jäger beherrscht, und je länger er unauffindbar blieb, desto sorgloser wurde sie in ihrem Umgang mit ihren besonderen Fähigkeiten. Dieses Verhalten entwickelte sich zu einer unter den Edyrem häufig anzutreffenden Verhaltensweise, und als Einziger, der nicht direkt zu dieser Gruppe gehörte, schien nur Mendeln davon überhaupt etwas zu bemerken.
„Achilios wird einen Weg finden, um zu dir zurückzukehren“, warf Uldyssian ein. „Ganz bestimmt, Serry.“
Seine Worte schienen sie nicht zu überzeugen. „Wenn er es könnte, dann würde er schon längst bei uns stehen.“
„Warte ab, du wirst schon sehen.“ Er legte eine Hand auf ihre Schulter, was die Tochter des Kaufmanns früher einmal hätte erröten lassen. Fast ihre ganze Kindheit hindurch hatte sie ihn bewundert … und dann auf einmal ihre Liebe zu Achilios entdeckt, der nur wenig später vom Dämon Lucion getötet geworden war. Uldyssian wandte sich wieder zu Mendeln um. „Und wie ich bereits sagte: Ich bleibe skeptisch, was den Engel angeht. Aber was kann er gegen uns unternehmen, was die Triune nicht schon getan hat? Rathma versteckt sich schon so lange, dass es ihm schwerfällt, zu glauben –“
Vom Rand des Lagers drang ein Aufschrei bis zu ihnen, gefolgt von zahlreichen wütenden Stimmen, die nicht den Edyrem gehörten. Uldyssian starrte in den Himmel und machte einen zwar aufgebrachten, nicht aber sonderlich überraschten Eindruck.
„Wir haben Gäste“, sagte er zu Mendeln und Serenthia. „Viele ungebetene Gäste …“
„Triune?“, fragte sie und hielt den Speer so, als wolle sie ihn jeden Moment werfen.
„Ich weiß nicht. Aber wer sollte es sonst sein?“ Uldyssian setzte sich in die Richtung in Bewegung, aus der der Schrei gekommen war. „Nun, wer auch immer es sein mag, wir werden ihn so begrüßen, wie wir es stets mit den Angehörigen des Tempels tun.“
Cyrus’ Tochter lächelte auf eine Weise, die Mendeln einen Moment lang an den Gesichtsausdruck erinnerte, den sie zur Schau gestellt hatte, als sie von Lilith übernommen worden war. Hastig lief sie hinter Uldyssian her, während Mendeln zurückblieb.
Er rührte sich nicht von der Stelle, auch wenn er einem Kampf nicht aus dem Weg gehen wollte.
Während der Lärm lauter wurde, wunderte sich Mendeln über diesen verzweifelten Überraschungsangriff. Das sah der Triune überhaupt nicht ähnlich, wobei fraglich war, ob sie überhaupt in der Lage war, eine nennenswert große Streitmacht aufzubieten. Ansonsten kam aus seiner Sicht eigentlich nur noch Inarius infrage – jedoch konnte Mendeln sich nicht vorstellen, dass dieser einen solch direkten und einfachen Weg wählte. Von Rathma hatte er erfahren, dass Inarius viel lieber im Verborgenen tätig wurde und die Geschehnisse so manipulierte, wie sie seinen Vorstellungen entsprachen …
Mendeln fluchte und rannte plötzlich den anderen hinterher. Ganz gleich, was diese Attacke nach außen hin auch darzustellen schien, dahinter musste sich ein anderer, viel schrecklicherer Zweck verbergen als der offensichtliche.
Und vielleicht war es bereits zu spät, etwas dagegen zu unternehmen.
ZWEI
Uldyssian verspürte keinerlei Unruhe, als er zum Rand des Lagers eilte. Er und seine Anhänger waren schon früher auf solch heimtückische Weise angegriffen worden. Lilith war es gelungen, die Friedenswahrer der Triune und die noch schändlicheren Morlu mittels eines Zaubers so gut zu tarnen, dass der Feind den Edyrem gefährlich nahe hatte kommen können. Dennoch war sie nicht in der Lage gewesen, Uldyssians Anhänger zu besiegen. Sich seiner Umgebung sehr wohl bewusst, hatte er rechtzeitig für genügend Sicherheitsvorkehrungen gesorgt. Das Lager war gut geschützt für den Fall, dass ein solch perfider Trick erneut versucht werden sollte.
Nun zahlte sich diese Maßnahme aus.
Etliche Edyrem standen da und hatten den Blick Richtung Dschungel gewandt, von wo aber nicht die disziplinierten, in Silber gekleideten Inquisitoren der Kathedrale gestürmt kamen … sondern eine wild zusammengewürfelte Truppe, die seiner eigenen Armee recht ähnlich war. Die Angreifer trugen nicht nur Schwerter, sondern auch Äxte, Heugabeln und anderes zu Waffen umfunktioniertes ehemaliges Werkzeug. Die Heranstürmenden brüllten lautstark, während sie auf die wartenden Edyrem losstürmten, und Uldyssian nahm eine enorme Wut wahr, die von ihnen ausging.
„Sie gehören weder zur Triune noch zur Kathedrale. Das sind ganz normale Leute!“, erklärte Serenthia, obwohl ihr Kommentar eigentlich überflüssig war. Sie riss ihren Speer hoch. „Das kann nicht sein! Es muss eine Illusion sein, um uns zu verwirren.“
Ihre Überlegung hatte einen durchaus berechtigten Hintergrund, war das Erzeugen von Illusionen für beide mächtige Konfessionen doch so selbstverständlich wie das Atmen. Uldyssian überwand die in ihm aufkommende Unsicherheit und streckte seine Linke aus.
Der Bereich vor ihm wurde von einer wahren Geräuschexplosion überrollt, die sich mühelos ihren Weg durch die Reihen der Angreifer bahnte. Männer – und auch Frauen, wie Uldyssian erkennen konnte – wurden durch die Luft gewirbelt, prallten gegen Bäume oder wurden von der Schwärze des nächtlichen Dschungels verschluckt. Sie stießen Entsetzensschreie aus, sobald sie starben, was ihn schaudern ließ, aber nicht davon abhielt, den nächsten Schlag gegen die Angreifer zu führen.
Unmittelbar neben ihm zielte Serenthia und schleuderte dann ihren Speer, der erst einen Mann durchbohrte und dann gleich noch einem zweiten mit ein- und demselben Wurf das Leben nahm. Noch während beide zu Boden sanken, kehrte der blutverschmierte Speer zu ihr zurück.
Die übrigen Edyrem überließen es jedoch nicht allein den beiden, diesen Kampf zu bestreiten. Ein anderer Angreifer ging in Flammen auf. Er taumelte rückwärts und stieß gegen zwei Männer, auf die das Feuer sofort übergriff. Alle drei sorgten in der Folge für Chaos in den eigenen Reihen, da die übrigen Angreifer verzweifelt versuchten, ihnen auszuweichen, und die geringste Berührung vermieden.
An anderer Stelle wurden Männer von Lichtsphären in die Lüfte gehoben und dann auf ihre Kameraden fallen gelassen. Ranken aus reiner Energie legten sich um den einen oder anderen Hals und zogen sich so fest zusammen, dass sie ihr Opfer erdrosselten.
Manche Verteidigungsmethoden der Edyrem wirkten auf den ersten Blick ganz gewöhnlich, so wie etwa Pfeil und Bogen, doch selbst hier kam ihre Macht ins Spiel. Die von den Bogenschützen abgefeuerten Pfeile wurden vom Willen der Edyrem so gelenkt, dass sie ihre Opfer exakt ins Herz trafen.
Die Angreifer verfügten ebenfalls über Bogenschützen, weshalb es Uldyssian irritierte, dass sie so lange warteten, diese zum Einsatz zu bringen.
Doch plötzlich war die Luft vom klar vernehmbaren Schwirren eines Pfeilschwarms erfüllt und dann regneten die ersten Geschosse auch schon auf die Edyrem herab.
Die Zielsicherheit der feindlichen Schützen war eher fragwürdig. Bei so vielen möglichen Zielen brauchten sie dennoch nicht zu fürchten, dass allzu viele Pfeile danebengingen.
Uldyssian musste seine Gegenmaßnahme nicht einmal mit einer Geste unterstreichen. Fast spielerisch leicht erlangte er die Kontrolle über die Pfeile, ließ sie eine scharfe Kurve beschreiben und schickte sie dann zurück in Richtung Dschungel.
Ein Geschoss nach dem anderen traf die Reihen der Angreifer, und gleich sechs Männer gingen im selben Augenblick zu Boden; jedem von ihnen war die Kehle durchbohrt worden.
Der Angriff entwickelte sich schnell zu einem Debakel für die Gegner, da von den Edyrem kaum jemand auch nur einen Kratzer davontrug. Die Schilde, die Uldyssians Wachen nach seinen Vorgaben erzeugt hatten, waren für die Waffen Sterblicher undurchdringlich, und es wunderte ihn, dass die Angreifer dies nicht in Erwägung gezogen hatten.
Sie schienen genau das zu sein, was ihr Äußeres auch vermuten ließ: einfache Bauern und andere ländliche Bewohner – eigentlich genau die Sorte Mensch, die sich den Edyrem bereitwillig hätte anschließen müssen, anstatt zu versuchen sie niederzumetzeln. Und doch ließ ihr Ansturm nicht nach, sondern wurde in ihrer Verzweiflung noch wütender.
Die meisten von ihnen waren dunkelhäutig, so wie die Torajaner und viele ihrer Cousins, aber zwischen ihnen befanden sich auch die ersten Tiefländer, die Uldyssian je zu Gesicht bekommen hatte. Ihre Haut war so hell, dass sie für Ascenier, wie er selbst einer war, hätten gehalten werden können. Es hieß, sie kämen aus einem Gebiet, zu dem auch der nördliche Teil der Hauptstadt gehörte.
Doch abgesehen von Lilith in ihrer falschen Identität als Lylia war Uldyssian während seiner Zeit in den Dschungelreichen noch auf keinen von ihnen getroffen.
Besagte Ähnlichkeit ersparte ihnen jedoch nicht das Schicksal ihrer dunkelhäutigen Kameraden. Uldyssian ließ sie ihren unüberlegten Ansturm mit hundertfachem Tod bezahlen. Die Leichen türmten sich in grotesker und entwürdigender Weise übereinander, doch Uldyssian wusste nicht, wie er dem Gemetzel ein Ende setzen sollte. Die Angreifer ließen in ihrem Vorrücken nicht nach, und seine eigenen Leute sahen in ihrer Siegesgewissheit keinen Grund, das zu beenden, was sich mehr und mehr zu einem Massaker entwickelte.
Hinter Uldyssian wurden Worte in einer fremden Sprache gemurmelt, die er nicht verstand. Zugleich stieg ein schwaches Leuchten hinter seinem Rücken auf.
Einer der toten Angreifer sprang auf wie eine Marionette, die man abrupt an ihren Fäden hochzog. Im ersten Moment schien es, als wolle die makabre Gestalt die Edyrem angreifen, doch dann wirbelte sie herum und stellte sich ihren ehemaligen Verbündeten entgegen. Ein zweiter und dann ein dritter Leichnam folgten ihrem Beispiel – bald darauf noch viele andere mehr.
Sie machten einen Schritt auf die Gegner zu und der Anblick der wandelnden Toten gebot dem Angriff auf das Lager schließlich Einhalt. Die Angreifer wandten sich ab und flohen in Panik, wollten nichts anderes mehr, als der gerade entstandenen Ghul-Armee zu entkommen.
Einige von Uldyssians Gefolgsleuten schleuderten den auf dem Rückzug befindlichen Angreifern noch Feuerbälle oder ganze Baumstämme hinterher. Doch dann wurde ihnen allmählich das volle Ausmaß des Erlebten bewusst.
Das Gelände rund um das Lager war von Leichen übersät, doch in den Reihen der Edyrem war nicht ein Toter zu beklagen.
Sie brachen in Jubel aus.
Uldyssian drehte sich zu Mendeln um, der mit fremder Zunge gesprochen hatte. Sein Bruder sah so leichenblass aus wie die Toten, die er hatte auferstehen lassen, und seine Hände umklammerten das Heft des Dolches, der aussah, als sei er aus Elfenbein geschnitzt … oder aus Knochen. Die Spitze der Klinge war nach unten gerichtet, doch dann drehte Mendeln sie nach oben und stieß ein einzelnes Wort hervor.
Vom Dschungel her drangen dumpfe Geräusche an Uldyssians Ohr, und als er über die Schulter blickte, sah er, wie die auferstandenen Toten auf den anderen Leichen zusammenbrachen. Einige der Edyrem reagierten mit Gesten, die sie schon in den Tagen der Triune oder der Kathedrale benutzt hatten. Sie waren zu einer Gewohnheit geworden, die sich nur schwer ablegen ließ, auch wenn inzwischen allen die schreckliche Wahrheit über beide Konfessionen bekannt war.
„Ich musste einfach etwas unternehmen, bevor noch mehr passiert“, erklärte Mendeln. „Es ist bereits zu einer Tragödie ausgeartet.“
„Die haben uns angegriffen, wie du dich sicher erinnern wirst.“ Trotz dieser Worte konnte Uldyssian es seinem Bruder nicht verübeln, dass er weitere Gemetzel verhindern wollte. „Sie bekamen nur, was sie verdienten.“
„Vielleicht …“
Uldyssian kannte diesen Tonfall, der ihn nur noch mehr verärgerte. „Auch wenn sie aussehen wie wir, solltest du dich nicht davon täuschen lassen, Mendeln. Falls sie nicht zur Triune gehören, sind sie auf irgendeine Weise Inarius’ Handlanger.“
„Zu schade, dass wir keinen von ihnen befragen können“, warf Serenthia ein. „Die Edyrem werden immer besser, Uldyssian. Es gibt unter den niedergestreckten Angreifern keine Überlebenden.“
„Das sollte auch so sein.“ Diesmal erschrak sogar Uldyssian über die Kälte in seiner Stimme. „Aber du hast Recht, dass es gut gewesen wäre, wenn uns jemand hätte erklären können, wer sich hinter dem Angriff verbarg. Sie besaßen die Macht, ihr Vorrücken zu tarnen, also müssen Dämonen oder Engel im Spiel gewesen sein. Dennoch kämpften sie wie Bauern – oder wie simple Handwerker …“ Mit einem Mal begriff er, was Mendeln ihm hatte sagen wollen. „Das ergibt keinen Sinn. Sie hätten wissen müssen, dass wir sie in Stücke reißen. Es ist längst überall bekannt, was wir in Toraja und den anderen Städten der Triune vollbracht haben …“
„Darf ich?“
Dass ausgerechnet sein Bruder es war, der sich zu Wort meldete, beunruhigte Uldyssian mehr, als er sich anmerken ließ. „Was?“
Mendeln sprach mit gesenkter Stimme, damit ihn die Edyrem, die dastanden und auf ihre Befehle warteten, nicht hören konnten. „Gib mir einen Moment, damit ich unter den … den Besiegten auswählen kann. Dann lass die anderen die Leichen wegbringen, damit sie bestattet oder verbrannt werden.“
„Auswählen?“ Serenthia wurde blass. „Was meinst du damit? Wofür auswählen?“
„Natürlich für eine Befragung.“
Uldyssian ließ sich keine Regung anmerken, während er seinen Anhängern befahl, sich um die Getöteten zu kümmern. Im Flüsterton sagte er dann zu seinem Bruder: „Geh jetzt sofort. Wähle zwei aus, aber nur zwei. Ich werde dir helfen, sie dorthin zu bringen, wo wir ungestört sind.“
„Sie sind vielleicht nicht diejenigen, die etwas wissen. Es wäre besser, wenn ich ein paar mehr …“
„Zwei, Mendeln! Nur zwei. Sag den anderen einfach, sie sollen die beiden nicht anrühren. Mehr nicht.“
Der in Schwarz gekleidete jüngere Bruder stieß einen Seufzer aus. „Es wird so geschehen, wie du es sagst. Ich gehe dann jetzt besser los, solange noch genügend Tote zur Verfügung stehen.“
Serenthia wartete, bis Mendeln außer Hörweite war, dann erklärte sie: „Ich liebe ihn wie einen guten Freund … und fast wie einen Bruder, Uldyssian, aber ich bin in Sorge um ihn. Es ist nicht richtig, dass er sich ständig mit Zaubern beschäftigt, die die Toten betreffen.“
„Ich bin darüber auch nicht sonderlich glücklich, aber nichts von dem, was er macht, ist als etwas Böses zu werten. Er hat viele von uns gerettet, mich selbst eingeschlossen.“
„Und er brachte Achilios zurück zu mir – wenn auch nur für ein paar Augenblicke …“ Tränen stiegen ihr in die Augen.
„Ich behalte Mendeln ständig im Blick, das kannst du mir glauben. Wenn er oder dieser verdammte Rathma irgendetwas tut, was meiner Meinung nach zu weit geht, so werde ich ihn nicht gewähren lassen, Serry. Auf keinen Fall, auch wenn es sich um meinen eigenen Bruder handelt.“
Er meinte, was er sagte, auch wenn ihr das gar nicht so sehr bewusst sein mochte. Falls Mendelns Bestreben ihn an einen Punkt führte, an dem er etwas Schauriges tat – derzeit wagte Uldyssian gar nicht, darüber nachzudenken, was das sein mochte –, dann würde der ältere Sohn des Diomedes dem Einhalt gebieten. Notfalls auch für immer. Uldyssian würde einfach keine andere Wahl bleiben.
Es war schlicht unmöglich, Mendelns Absicht völlig geheim zu halten, doch Uldyssian und Serenthia taten ihr Bestes, um die Aufmerksamkeit der Edyrem abzulenken, während Uldyssians Bruder nach den beiden Leichen suchte, die er für seine Zwecke auswählen wollte. Als er zwei entdeckte, die ihm geeignet erschienen, half Uldyssian ihm, sie aus dem Blickfeld der Edyrem zu schaffen. Serenthia blieb zurück, um jeden davon abzuhalten, sich dorthin zu begeben, wo die beiden Brüder ihrem Werk nachgingen.
„Das wird ganz bestimmt genügen“, entschied Mendeln. Sie hatten die Leichen zunächst vom Lager weggebracht und dann eine nach der anderen dorthin getragen, wo Mendeln glaubte, am besten arbeiten zu können.
Sie standen auf einer kleinen Lichtung, gut zehn Fußminuten vom Lager entfernt – was für Uldyssians Empfinden immer noch zu dicht bei den anderen war. In der Nähe lag ein schmaler Wasserlauf, ringsum standen die laubreichen Bäume dicht an dicht. Der Dschungel verbarg die beiden gut vor den Blicken der Edyrem, auch wenn die Empfindsameren unter ihnen vermutlich die beunruhigenden Energien wahrnehmen würden, die Mendeln zu beschwören beabsichtigte. Daran ließ sich aber nichts ändern, denn sein Bruder hatte ihn bereits wissen lassen, dass sich jede Form von Abschirmung ihrer Aktivitäten nachteilig auf seine Befragung auswirken würde.
Mit düsterer Miene brachte Mendeln die Toten in eine Position, in der sie Seite an Seite lagen. Die rechte Hand ruhte auf dem Herzen, die linke auf der Stirn.
„Warum tust du das?“, hörte Uldyssian sich fragen.
„Von Rathma und Trag’Oul lernte ich, dass die Seele den Verstand und das Herz berührt. Ich versuche, die Seelen dieser beiden zu rufen, und dadurch wird mein Ruf verstärkt. Es ist für das, was ich vorhabe, nicht unbedingt notwendig, doch es sollte das Ganze vereinfachen … schließlich ist mir bewusst, dass alles so schnell wie möglich erledigt werden sollte.“
„Das wäre in der Tat wünschenswert.“
Mendeln nickte und zog wieder die elfenbeinerne Klinge. Uldyssian konnte spüren, dass mit ihr etwas nicht stimmte, so als gehöre sie nicht völlig zu dieser Welt. Er empfand sie als abstoßend, auch wenn er wusste, was sie für ihn und seine Leute an Gutem geleistet hatte. Mendeln hatte während der letzten großen Schlacht gegen die Krieger der Triune einen Morlu nach dem anderen getötet. Viele seiner Anhänger waren dadurch verschont geblieben … Und dennoch musste Uldyssian sich zwingen, nicht vor dem Dolch zurückzuschrecken, der mit dem Tod zu tun hatte und auch mit dem, was jenseits des Todes lag. Letzteres war seiner Ansicht nach eine Sache, mit der sich kein Mensch je befassen sollte.
Als Mendeln sich über den Oberkörper des Toten beugte, wies die Klinge nach unten. Zu Lebzeiten war er wahrscheinlich ebenso wie Uldyssian ein Bauer gewesen. Der Mann mit den Anfängen einer Glatze hatte einen leichten Bauchansatz, kräftige Schultern und Arme und sah aus, als sei er lediglich eingeschlafen.
Mendeln führte die Spitze der Klinge genau über das Herz des Toten. Uldyssian hielt gebannt den Atem an, doch sein Bruder zeichnete nur eine Rune in die Luft, die in weißem Licht aufflammte, dann eine mattsilberne Färbung annahm. Insgesamt ließ Mendeln noch fünf weitere Runen folgen.
Als er damit fertig war, wiederholte er das Ritual über der Stirn, diesmal jedoch mit anderen Runen. Dann wechselte Mendeln zu der zweiten Leiche, einer Frau, die wohl gerade erst zwanzig Jahre alt war. Sie war dünn, ihre Miene wirkte verbissen, vor allem jedoch war sie für Uldyssians Empfinden zu jung, um in einen solchen Angriff verstrickt zu sein.
War sie wirklich, wonach sie aussah? Wenn ja, dann beunruhigte ihn das alles noch mehr, als es ohnehin der Fall war.
„Tritt bitte einen Schritt zurück, Uldyssian.“ Als sein älterer Bruder der Bitte nachgekommen war, ging Mendeln zu Füßen der beiden Toten in Position und hielt die Klinge hoch. Worte kamen in einem leisen Singsang über seine Lippen, Worte, die er auf magische Weise von Rathma gelernt hatte und die es fertigbrachten, dass sich Uldyssian die Nackenhaare sträubten. Winzige Blitze aus magischer Energie zuckten über den beiden Toten hinweg.
Mendeln blieb in seinen Singsang vertieft, während er sich hinkniete und so weit streckte, dass er mit der Dolchspitze die Hand berühren konnte, die auf dem Herzen des toten Mannes lag.
Uldyssian erschrak, als der Dolch eine feine Blutspur auf der Haut hinterließ. Mit Blut hätte er gar nicht mehr gerechnet. Bevor er jedoch etwas sagen konnte, ritzte Mendeln auch die Haut der Frau an.
Sonderbar war, dass sich an dem leuchtenden Dolch keinerlei Blutspuren zu befinden schienen, als Mendeln sich zurücklehnte.
Sein Bruder gab irgendein unverständliches Wort von sich und wartete ab. Nur wenige Augenblicke später bildete sich eine Art Nebel über den Toten, der nicht natürlichen Ursprungs sein konnte. Ranken wuchsen daraus hervor, von denen sich etliche nach den blutenden Händen ausstreckten. Das Blut, das sich eben auf der Haut zu sammeln begonnen hatte, verschwand so rasch, als würde es verdampfen – oder als würde es aufgesogen.
„Mendeln“, begann er, doch sein Bruder bedeutete ihm zu schweigen. Mehr und mehr des teilweise geronnenen Blutes verschwand, bis nichts mehr außer den offenen Schnitten übrig war.
Als sich der letzte rote Tropfen in Nichts auflöste, veränderte sich der Nebel und nahm die Form eines Körpers an – nein, es waren zwei Leiber. Einer in groben Zügen männlich, der andere vermutlich weiblich.
Die beiden Männer standen schweigend da, während Uldyssian darauf wartete, dass Mendeln ihm Anweisungen erteilte. Die Nebelgestalten veränderten ihre Form noch ein wenig mehr, was seinem Bruder zu missfallen schien.
„Das hätte zu einem besseren Resultat führen sollen“, ermahnte sich Mendeln. „Die Kontur sollte klarer sein und mehr an ihr früheres Selbst erinnern.“
„Können sie uns so denn nicht antworten?“, wollte Uldyssian wissen, der das Ganze so schnell wie möglich hinter sich bringen wollte. „Darum geht es doch schließlich, oder nicht?“
„Darum geht es in erster Linie.“ Nachdem Mendeln das eingeräumt hatte, schüttelte er erst den Kopf über seinen Misserfolg und zeigte dann mit dem Dolch auf den männlichen Schemen. „Unter welchem Namen kannte man dich?“
Zuerst war nur das Pfeifen des Windes zu hören, doch schließlich wurde aus dem Pfeifen ein verständliches Wort.
Hadeen … Hadeen …
Zufrieden mit diesem Ergebnis fuhr Mendeln fort. „Von woher kommst du?“
T-Toraja … Toraja …
„Toraja?“ Uldyssian stutzte. „Von so weit her?“
„Das ist eine beachtliche Strecke, das muss ich auch sagen.“ An den Geist gerichtet fragte der jüngere Bruder: „Was war deine Berufung? Warst du ein Apostel der Triune?“
Der Geist zögerte, als sei Mendelns Frage für ihn zu kompliziert, dann aber erwiderte er: Ich bestellte das Feld und baute Weizen an … so wie mein Vater … und mein Großvater … und mein …
„Genug davon! Beantworte meine Frage zur Triune! Warst du ein Apostel?“
Nein …
„Das muss eine Lüge sein, Mendeln. Warum sollte er den ganzen langen Weg mit solch finsteren Absichten zurücklegen?“
Mendeln reagierte mit einem Schulterzucken und fragte den Geist: „Warum bist du mit den anderen hergekommen und hast uns angegriffen, wenn du nicht der Triune dienst?“
Wieder ein Zögern, dann: Um das Land zu retten … um ganz Kehjan zu retten …
Diese Antwort hörte sich in Uldyssians Ohren absurd an. „Er wollte ganz Kehjan retten … vor uns? Aber wir sind doch diejenigen, die versuchen, alles zu retten.“
„Geduld, nur Geduld.“ Trotz seiner an seinen Bruder gerichteten Worte war es offensichtlich, dass auch Mendeln nicht verstand, worauf der Geist hinauswollte. Er kratzte sich am Kinn, dann wandte er sich der Frau zu. „Du da. Wie lautet dein Name?“
Vidrisi …
„Bist du hergekommen, um Kehjan vor denen zu retten, die sich in diesem Lager befanden?“
Die Antwort kam unverzüglich und war verblüffend. Ja …
Ehe Uldyssian erneut etwas sagen konnte, fragte Mendeln Vidrisis Geist: „Was hat dich hergeführt? Was veranlasste dich dazu, dich den anderen anzuschließen?“
Wir wussten … wir wussten, wir mussten …
„Nein! Was ich wissen will, ist … wer war der Erste, der dieses Vorgehen vorschlug?“
Der Schemen antwortete nicht, und beide Geister verloren viel von den wenigen klaren Umrissen, die sie überhaupt besaßen. Rasch stieß Mendeln weitere unverständliche Worte aus.
„Was ist?“, wollte Uldyssian wissen. „Was stimmt nicht?“
„Nicht jetzt!“ Sein Bruder zeichnete mehrere Symbole in die Luft, wobei er die meisten davon auf den Geist der Frau konzentrierte. Ihre Gestalt wurde wieder deutlicher, diesmal sogar noch klarer als zuvor. Doch Hadeens Geist verwandelte sich zurück in Nebel, der sich schnell verflüchtigte.
„Diesen dort habe ich verloren“, gestand Mendeln grimmig ein. „Aber sie ist noch an den Zauber gebunden.“ Er knurrte den Geist nahezu an: „Wer hat diesen Marsch in die Schlacht ins Leben gerufen? Wer hatte den Einfall dazu?“
Zuerst kam keine Antwort, doch Vidrisis Schatten blieb unverändert erhalten. Mendeln schrieb weitere Runen und murmelte ergänzende Worte.
Dann endlich war zu hören: Ich erinnere mich … an den Missionar … er sagte, es sei eine solche Tragödie … was die Fanatiker getan hätten … wie viele Unschuldige abgeschlachtet worden seien …
„Unschuldige?“, platzte es aus Uldyssian heraus. „Die Triune?“
So viele Unschuldige … gefangen zwischen dem Übel der Fanatiker und dem Verrat der Triune … Ich erinnere mich an den Missionar, wie er trauerte … und wie er wünschte, etwas könnte unternommen werden …
„Genug!“, befahl Mendeln dem Geist, der sofort verstummte, aber nicht verschwand.
Die Brüder tauschten Blicke, da sie nun beide die Antwort kannten. „Rathma hatte davor gewarnt, dass sein Vater sich hinter dem Geschehen bewegen und es sich zunutze machen würde.“
Uldyssian sah Mendeln finster an, obwohl es ihn nicht erboste, dass sein Bruder das Thema wieder angeschnitten hatte. Vielmehr ärgerte er sich über sich selbst – weil er unterschätzt hatte, wie hinterlistig und wie gründlich Inarius sein konnte.
„Der Engel hetzt also alle gegen uns auf, nicht wahr, Mendeln? Überall, wo wir gekämpft haben, tauchen kurz darauf seine ‚Missionare‘ auf, kümmern sich um die Verletzten, geben den Hungernden Nahrung und reden jedem ein, dass wir das Übel seien.“
„Obwohl wir es versucht haben, sind wir nicht völlig frei von Fehlern. Zweifellos rückt Inarius diese bedauerlichen Aspekte in den Mittelpunkt, bis die Überlebenden nichts anderes mehr wahrnehmen.“
Uldyssian stieß einen Fluch aus. Es gab nichts zu leugnen von dem, was Mendeln sagte. Dabei war er doch davon ausgegangen, dass die Einwohner von Toraja und allen anderen Städten die Wahrheit verstanden hätten, was die Triune und die Kathedrale anging. Er hatte nicht erwartet, dass die Überlebenden mit ihm und seinen Anhängern liebevolle Gedanken verbinden würden. Aber er war doch davon ausgegangen, dass man ihm und den Edyrem einen gewissen Respekt entgegenbrachte …
Nun wurde klar, dass die menschliche Natur stets zum Argwohn neigte, der von den Dienern des Propheten auch noch geschürt worden war. Ein loderndes Feuer regte sich plötzlich und brach so schnell und mit solcher Heftigkeit aus, dass Uldyssians gesunder Menschenverstand davon verzehrt wurde.
Er erkannte, wie dumm es von ihm gewesen war, zu glauben, Inarius würde ihm die Kontrolle über die Ereignisse überlassen. Warum sollte ein Engel einem sterblichen Feind so etwas zugestehen? Mit einem raffinierten Zug hatte Inarius den Kampf fast schon gewonnen. Dass er zudem in der Lage war, gewöhnliche Menschen zu solcher Entschlossenheit und Wut anzustacheln, dass sie durch den Dschungel marschierten, um sich einem mächtigen Gegner zu stellen, sprach für Fähigkeiten, die Uldyssian tief beeindruckten. Es war erschreckend.
Das brennende Gefühl in seinem Inneren wurde immer stärker, bis Uldyssian es nicht länger unterdrücken konnte. Sein Blick wanderte zu den Leichen …
Mendeln konnte sich gerade noch mit einem Sprung in Sicherheit bringen, dann brach rings um die Toten auch schon ein heftiges Feuer aus und ließ sie innerhalb von Sekunden zu Asche zerfallen. Die Flammen stiegen so hoch auf, dass sie sogar die umliegenden Bäume erfassten und ein kleines Inferno entfachten, dessen Ursprung Uldyssians Verärgerung war.
Der Schemen der Frau löste sich mit einem klagenden Geheul in Nichts auf.
Jemand fasste Uldyssian am Ärmel, doch er brauchte einen Moment, bis ihm bewusst wurde, dass es sich um seinen Bruder handelte, der ihm ins Ohr schrie.
„Du musst damit aufhören, Uldyssian! Sonst setzt du noch den ganzen Dschungel in Brand!“
Er wollte aber nicht aufhören, denn je mehr die Flammen auf die Umgebung übergriffen, desto besser fühlte er sich.
Verärgert stieß er Mendeln von sich weg.
Dann traf ihn etwas an der Brust und neuer Schmerz überkam ihn. Uldyssian schaute nach unten und entdeckte einen Pfeil, der tief in seinen Oberkörper eingedrungen war. Beiläufig fiel ihm dabei auf, dass es sich nicht einfach nur um einen Pfeil handelte, sondern um einen ganz speziellen.
Einen, der mit Erde überzogen war.
Uldyssian kippte haltlos nach vorn.
Der Schütze überwand das dichte Unterholz des Dschungels mit einem Sprung, dessen Eleganz eines Raubtiers würdig gewesen wäre. Schon bevor er den Pfeil abgefeuert hatte, war er in Bewegung gewesen. Schließlich war es nicht so, dass er danach strebte, unerkannt zu bleiben. Sie würden wissen, dass er der Schütze war, und wenn es nur der mit Erde bedeckte Pfeil war, der ihn verriet.
Achilios rannte durch den Dschungel, nicht weil er es so wollte, sondern weil es von ihm verlangt wurde. Er hatte seinen Befehl ausgeführt und einen Pfeil auf Uldyssian abgefeuert, doch damit war es noch längst nicht vorbei. Da war immer noch Serenthia …
Mit seinen glatten, an einen Falken erinnernden Gesichtszügen galt er zu Zeiten, als dies noch wichtig zu sein schien, als gut aussehender Mann. Er war blond und so drahtig gewesen, wie ein guter Jäger es sein musste, dazu kam seine außerordentliche Schnelligkeit. Viele junge Frauen im Dorf Seram hatten Achilios begehrt, doch er war immer nur an einer interessiert gewesen. Damals erschien es ihm als sehr tragisch, dass Serenthia nicht ihm, sondern Uldyssian zugetan gewesen war.
Der Tod hatte seine Einstellung zu vielen Dingen geändert. Er hielt inne, um zu lauschen, während er sich mit einer mondweißen Hand am nächsten Baumstamm abstützte. Als kein Geräusch zu hören war, das auf Verfolger hindeutete, verfiel Achilios in die menschliche Angewohnheit, sich nachdenklich am Kinn zu reiben. Anschließend musterte er die Erde, mit der sein Handrücken überzogen war. Trotz der Dunkelheit konnte er die Schicht gut erkennen, da es für seine Augen keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht gab.