Diablo - Richard A. Knaak - E-Book

Diablo E-Book

Richard A. Knaak

0,0

Beschreibung

Getrieben von schrecklichen Albträumen findet sich Lord Aldric Jitan in den Ruinen einer mysteriösen Grabstätte wieder. Er will einen unbeschreiblichen Schrecken entfesseln, der seit der Zerstörung Tristrams in der Vergessenheit begraben liegt. Angezogen von der Dunkelheit, die sich überall im Land ausbreitet, stößt der Nekromant Zayl auf die Fährte des Lords.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 536

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



AUSSERDEM VON PANINI ERHÄLTLICH:

DIABLO: Das Vermächtnis des Blutes

Richard A. Knaak, ISBN 978-3-8332-3896-3

DIABLO: Der Dunkle Pfad

Mel Odom, ISBN 978-3-8332-3897-0

DIABLO: Das Königreich der Schatten

Richard A. Knaak, ISBN 978-3-8332-3946-5

DIABLO: Der Mond der Spinne

Richard A. Knaak, ISBN 978-3-8332-3947-2

THEARTOFDIABLO

Großformat im Hardcover, ISBN 978-3-8332-3835-2

Weitere Titel und Infos unter www.paninishop.de

Der Mond der Spinne

Richard A. Knaak

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Amerikanische Originalausgabe: „DIABLO: Moon of the Spider“ von Richard A. Knaak, erschienen bei Simon and Schuster, Inc., 2006.

Copyright © 2006, 2020 Blizzard Entertainment, Inc. Alle Rechte vorbehalten.

Deutsche Ausgabe: Panini Verlags GmbH, Schlossstraße 76, 70176 Stuttgart.

Geschäftsführer: Hermann Paul

Head of Editorial: Jo Löffler

Head of Marketing: Holger Wiest (E-Mail: [email protected])

Presse & PR: Steffen Volkmer

Übersetzung: Ralph Sander

Lektorat: Manfred Weinland, Christian Steudner

Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart

Cover Art von Glenn Rane

Satz und E-Book: Greiner & Reichel, Köln

YDDITP004E

ISBN 978-3-7367-9896-0

Gedruckte Ausgabe:

ISBN 978-3-8332-3947-2, 1. Auflage, Oktober 2020

Findet uns im Netz:

www.paninibooks.de

PaniniComicsDE

Für Chris Metzen und Marco Palmieri

EINS

Die dichten grauen Wolken hüllten weite Bereiche der Nordseite des Gebirges ein. Ein kalter Wind schnitt sich tief ins Fleisch eines jeden Mannes der Reisegruppe. Nur die hagere Gestalt, die einen dünnen schwarzen Kapuzenmantel trug und die Gesellschaft anführte, schien davon ausgenommen. In dieser Höhe fanden sich sogar Spuren von Schnee, aber vor allem herrschte hier Frost. Er verlieh dem Tannenwald, durch den sie pirschten, einen todesgleichen Schimmer.

Zwei Schritte hinter dem Führer zog Lord Aldric Jitan seinen dick mit Pelz gefütterten Mantel enger um den Leib. Unter der Kapuze aus schwerem, braunweißen Stoff lugten die zusammengekniffenen Augen – eines tiefbraun, das andere eisblau – des rothaarigen Edelmanns hervor und beobachteten wachsam die Landschaft zu beiden Seiten des Weges. Seinen kantigen Kiefer presste er voller Ungeduld zusammen.

„Wie weit noch, Hexenmeister?“, fragte er. Jedes Wort wurde von einer dichten weißen Atemwolke begleitet.

„Nicht mehr sehr weit, Mylord“, erwiderte die in Schwarz gekleidete Gestalt ruhig und gelassen. Anders als der Edelmann und die fünf stämmigen, bewaffneten Krieger bewegte er sich auf dem unebenen Pfad in einer Weise voran, als unternehme er eine gemütliche Bergwanderung. Für einen so schmal gebauten und gelehrt klingenden Mann war seine Stimme überraschend tief, tiefer noch als die von Lord Jitan. Er warf einen Blick nach hinten auf den breitschultrigen Aristokraten – einen Mann, der im Wuchs Ähnlichkeit mit seinen Soldaten hatte – und ließ dabei etwas von seinem kurz geschnittenem grauen Haar und dem kantigen Gesicht zum Vorschein kommen. Seine Augen waren zu solch schmalen Schlitzen zusammengekniffen, dass der Eindruck entstand, Aldric habe seine Augen im Gegensatz dazu weit aufgerissen. Die Haut wies einen dunkleren, leicht gelblichen Farbton auf, fast so, als sei der Sprecher an Gelbsucht erkrankt. „Ich möchte sogar behaupten, dass sich bald die ersten Hinweise auf unser Ziel manifestieren werden.“

„Ich fühle gar nichts.“

„Eure Fähigkeiten sind nicht so geschult wie meine, Mylord, doch dem wird ja schon bald abgeholfen werden, nicht wahr?“

Aldric schnaubte. „Nichts anderes ist Sinn und Zweck unserer Exkursion. Oder, Hexenmeister?“

Der Mann an vorderster Position wandte sich ab, sodass der Edelmann nur noch die Rückseite der schwarzen Kapuze betrachten konnte. „Natürlich, Mylord.“

Wieder verfielen sie in Schweigen. Hinter Aldric mühten sich die fünf Diener mit dem schweren Gepäck ab. Neben Lebensmittelvorräten und Decken mussten sie auch Spitzhacken, große Hämmer sowie Schaufeln tragen. Zudem lastete jedem der Männer ein Schwert am Gürtel. So einsam die Wälder auch scheinen mochten, lauerten dort doch große Gefahren. Eine besondere Bedrohung stellten die Wendigos dar. Diesen riesigen Bestien begegnete man nur selten – und kaum jemand war so töricht, sie zu jagen –, doch wenn es geschah, musste man sie schnell töten. Wendigos ernährten sich von Fleisch, bevorzugt Menschenfleisch. Die Legende besagte, dass sie nicht immer solche Monster gewesen waren, doch das scherte in den Westlichen Königreichen niemanden. Dort zählten nur die blutigen Fakten, und so lautete das Motto: Nur ein toter Wendigo war ein guter Wendigo.

Immerhin konnte Lord Aldric Jitan bestätigen, dass tote Wendigos zumindest für einen warmen Mantel, wie er ihn trug, taugten.

Einige Minuten verstrichen, doch der Edelmann vermochte nach wie vor nichts wahrzunehmen. Er forschte in der Ferne vor ihnen, fühlte aber nichts anderes als die weiter anhaltende Verlassenheit der Berglandschaft. Für das südwestliche Westmarch war diese Region extrem einsam. Sie hatte so gar nichts von den Ebenen, die von üppig bewachsenem, fruchtbaren Boden und angenehmem Niederschlag geprägt waren. Und die der Grund waren, weshalb alle anderen Regionen der Welt mit Neid auf die Westlichen Königreiche blickten.

Selbst der dichte Tannenwald, durch den sie sich gerade bewegten, wirkte dagegen steril und geisterhaft. Lord Jitan schnaubte verächtlich. Und dies hier war einmal das Herz des antiken Westmarch gewesen? Der Ort, an dem sich einst die großen und beherrschenden Paläste der Söhne von Rakkis über die aufstrebenden ersten Königreiche des Landes in den Himmel erhoben hatten?

Die schimmelnden Pergamente und die zerbröselnden Steinplatten, mit denen sich Aldric monatelang befasst hatte, wussten von einem viel wärmeren, viel prächtigeren Land zu berichten, von Anwesen, die so groß gewesen waren wie ganze Städte und die von jeweils einer der fünf Linien geführt wurden, die alle den legendären Paladin-Lord zum Ahnen hatten.

Heutzutage kannten nur noch wenige die Herkunft von König Rakkis – dem Gründer und ersten Herrscher über Westmarch – und von diesen wenigen, zu denen auch Aldric zählte, war den meisten nicht viel mehr als die Tatsache bekannt, dass er aus dem Osten gekommen war, möglicherweise sogar von der anderen Seite des Dschungels von Kehjistan. Als ein Mann, der glaubte, ein Nachfahr jenes Lords zu sein, war Aldric von dieser Darstellung überzeugt, erklärte sie doch auch die enge Stellung seiner eigenen Augen.

Was mit dem Letzten der Rakkis-Linie geschehen war, ließ sich nur vermuten. Doch nur wenige sannen überhaupt noch über ihn nach, denn das Vermächtnis war in der modernen Zeit fast völlig in Vergessenheit geraten. Lord Jitan nahm an, dass es in ferner Vergangenheit einen Machtkampf zwischen verschiedenen Gruppen gegeben hatte, die alle nach einem bestimmten Objekt strebten, das ihnen Macht verleihen sollte. Es existierten gleich mehrere Hinweise darauf, was ihn überhaupt erst auf den Gedanken gebracht hatte, sich selbst auf die Suche danach zu begeben. Doch bis zu dem Tag, da er eher zufällig jenem Mann begegnet war, der nun vor ihm schritt, hatte jede Spur für den Edelmann in einer Sackgasse geendet.

Sackgassen konnte Aldric nicht gebrauchen. Die Träume wurden mit jeder Nacht schlimmer, quälten und lockten ihn zugleich. Sie deuteten auf Feinde hin, die seine Schwächen herauszufinden versuchten, schattenhafte Gestalten, die für Aldric erschreckend real geworden waren, obwohl keine von ihnen ihr Gesicht erkennen ließ und nur Unverständliches sprach. In jeder Nacht waren die flüsternden Phantome ein Stück näher gerückt, um ihn zu überfallen, und mit jeder Nacht war seine Angst gewachsen. Oft erwachte er schweißgebadet, davon überzeugt, dass man seine Schreie überall auf dem Gelände hatte hören können.

Doch diese Träume lieferten ihm gleichzeitig den ersten Hinweis, der ihn zur Geschichte jener Lords Rakkis geführt und schließlich dazu veranlasst hatte, in diese kalte Bergregion aufzusteigen. Jedes Mal, wenn Aldric um ein Haar von seinen gesichtslosen, grässlichen Feinden überwältigt worden wäre, war er durch irgendeinen Umstand gerettet worden. Zunächst war es nur ein unscheinbares Objekt gewesen, das auf magische Weise in seinen Händen auftauchte. Doch mit jedem weiteren Traum gewann es ein wenig an Kontur, bis es sich zu einer Kugel entwickelte, einer riesigen Perle mit sonderbaren und doch vertrauten Markierungen. Gleichzeitig hatten Dinge Gestalt angenommen, die auf die Verbindung dieser Kugel zu den Rakkis hindeuteten – alte, verrottende Banner mit dem unversehrten Symbol des Hauses, feuchte Katakomben, in deren Stein ein knurrender Wolf gemeißelt war … und vieles mehr.

Die meisten Männer hätten schlicht geglaubt, verrückt zu sein. Doch Lord Aldric Jitan war nicht wie die meisten Männer. Schon lange bevor er auf den Gedanken gekommen war, das Blut der Söhne von Rakkis könne durch seine Adern fließen, hatte Aldric sich als einer von wenigen gesehen. Denn er war mit magischen Fähigkeiten gesegnet – auch wenn diese nur schwach ausgeprägt sein mochten. In seinen Träumen jedoch waren sie stärker geworden, kaum dass er die große Perle berührte. Und das war auch der einzige Grund, warum sein Ich in jenen Träumen bislang hatte überleben können.

Da Lord Jitan nicht nur in seinen Träumen, sondern auch bei wachem Bewusstsein überleben wollte, schien es ihm der sinnvollste Weg, nach dem zu suchen, worauf sein Unterbewusstsein ihn immer wieder stieß. Niemand konnte ihn von seinem Glauben abbringen, das zu finden, was der Teufel aus dem Osten mit einem ebenso bemerkenswerten wie seltsamen Namen belegt hatte …

„Spinnenmond!“

Aldric blieb so abrupt stehen, als wäre er genauso erfroren wie all die Bäume ringsum. Hoffnungsvoll schaute er nach vorn. Doch das sich ihm bietende Bild war unverändert trostlos.

„Hexenmeister“, fauchte der Edelmann. „Bei den Lords, was sollte dieser Ausruf eben? Hier ist weit und breit nichts, was diesen Namen verdiente!“

Sein Führer drehte sich nicht einmal nach ihm um. „Eure Sinne sind nicht präzise genug ausgerichtet. Ihr vermögt ganz offenbar nicht das zu sehen, was uns umgibt. Aber ich kann Euch versichern, unser Ziel liegt unmittelbar vor uns.“ Er streckte einen Arm nach hinten und bedeutete Aldric mit der schmächtigen, gelbstichigen Hand, zu ihm zu kommen. „Hierher, dann werde ich Euch einen Vorgeschmack auf das geben, was Ihr zu kontrollieren begehrt.“

Das ließ sich Lord Jitan nicht zweimal sagen. Von seinen inneren Dämonen angetrieben, bahnte er sich seinen Weg, bis er neben der schmalen Gestalt stand. Die fünf Diener, die viel schwerer bepackt waren als er, gaben sich alle Mühe, mit ihrem Herrn Schritt zu halten.

„Wo? Wo denn, verdammt?“ Vor sich sah er nur Berge aus Fels und Eis, dazu den immer gleichen, nicht enden wollenden Wald.

Der andere Mann streckte plötzlich die vergilbte Hand aus, packte Aldric und drückte dessen Handgelenk mit solcher Kraft, dass er zusammenzuckte. „Seht …“

Und mit einem Mal sah der Aristokrat aus dem Westen, was der Hexenmeister meinte.

Alles war so wie zuvor, doch nun erkannte er Unterschiede, die seinen oberflächlichen Blicken bislang entgangen waren. Die Berge aus Fels und Eis wiesen Konturen auf, die man bemerkte, wenn man nur genau genug hinschaute – Konturen, die die Natur nicht selbst geschaffen haben konnte.

Lord Jitan ließ seinen Blick langsam über die Felswand wandern und nahm in sich auf, was diese Umrisse zu bedeuten hatten.

„Könnt Ihr es jetzt fühlen?“, wollte sein Begleiter wissen, der den Griff um sein Handgelenk lockerte.

Aldric nickte. Wie hatte ihm das nur entgehen können? Und wieso hatte er es nicht, lange bevor er es sah, zu fühlen vermocht?

Die Feste des Letzten von Rakkis’ Söhnen …

Vor ihnen lag etwas, das ein Ignorant lediglich als eine große, ovale Einbuchtung zwischen zwei Felskämmen wahrgenommen hätte. Aber natürlich waren diese Felskämme viel zu gleichmäßig und stellten – wie Aldrics nunmehr erwachten Sinne erkannten – die Seitenwände des Eingangs zu einem viel größeren Bauwerk dar, das sich etliche Stockwerke hoch über sie erhob. Rakkis’ Sohn hatte das gewaltige Anwesen ganz nach seinen Wünschen und Erfordernissen in den Fels gebaut. Wo immer Gestein im Wege war, war es abgetragen worden. So war eine terrassenförmig angelegte Stadt entstanden, die sich auf jeder Ebene imposant ausdehnte. Es gab kleine Villen und Straßen, die alle gezeichnet waren von jahrhundertelanger Erosion. Weiter oben stand ein Turm, von dem aus der Herrscher auf sein Reich hatte hinabblicken können. Aldric kniff die Augen ein wenig zusammen, bis er erkannte, dass das, was ihm zunächst als eine von der Natur geschaffene Ausprägung in der Felslandschaft erschienen war, in Wahrheit der aufragende Arm einer großen Statue war, die durchaus Rakkis selbst darstellen mochte.

Der Edelmann grinste, während er die Erkenntnis verarbeitete, auf das Gesuchte gestoßen zu sein. Unter Schnee, Eis und Stein befand sich eine Erhebung, die es mit allem aufnehmen konnte, was er je mit eigenen Augen gesehen hatte, erst recht in Westmarch.

Die Diener hinter ihm raunten einander aufgeregt zu. Sie dachten zweifellos an vergessene Schätze. Aldric nahm sie kaum wahr. Er wusste, dass alles Wertvolle dieser Art längst geraubt worden war. Der Pöbel würde sich mit dem Lohn begnügen müssen, den er so großzügig zahlte.

Doch was seine eigene Schatzsuche anging …

Sein Blick wurde von einer Einbuchtung am Fuß der ausladenden Ruinen angezogen. Lord Jitan ging bis zu dieser Stelle und betrachtete die Schichten aus Erde und Eis, die ihn jetzt noch von seinem Ziel fernhielten. Er drehte sich zu seinen Dienern um und herrschte sie an: „Was ist? Legt eure Ausrüstung ab und fangt an zu graben!“

Sie begaben sich sofort an die Arbeit, da sie völlig zu Recht den Zorn ihres Herrn fürchteten. Während das Scheppern der Spitzhacken und Schaufeln die anhaltende Stille störte, begann Aldric sich zu fragen, ob dieser Lärm nicht womöglich die alten Herrscher selbst aus ihrem Schlaf wecken könnte. Sonderbarerweise war seine Neugier stärker als sein Unbehagen. So wenig war über sie bekannt, doch als einer ihrer mutmaßlich letzten Nachfahren verfocht Aldric die Ansicht, dass ihre Geschichte auch die seine war. Wären die Dinge anders gekommen, würde er vielleicht heute in diesem hohen Turm sitzen, als Herr über ganz Westmarch und darüber hinaus.

Als Herr über alles!

Dem Aristokraten ging der Gedanke durch den Kopf, dass es vielleicht seine Vorfahren waren, die aus dem Abgrund des Todes nach ihm gesucht hatten, um ihm diesen Schlüssel zu seiner Zukunft zu geben. Der Schlüssel würde all seine Feinde hinfortfegen. Und dann …

In diesem Moment schrie ein stämmiger, flachsblonder Diener auf, der eine Spitzhacke in der Hand hielt. Mitsamt seiner Waffe fiel er durch ein plötzlich entstandenes Loch in Eis und Gestein hinab in einen gierigen Schlund, der ihn auf der Stelle verschlang. Die anderen Diener wichen sofort ein paar Schritte zurück, um ihr Leben nicht bei einem ohnehin vergeblichen Rettungsversuch aufs Spiel zu setzen. 

Lord Jitan erreichte das Loch im Boden gerade noch rechtzeitig, um den todbringenden Aufprall zu hören. Er ignorierte das Missgeschick und spähte angestrengt in die Finsternis.

„Licht!“, befahl er. „Ich brauche Licht!“

Kaum hatte er ausgesprochen, bemerkte er neben sich ein knochenbleiches Leuchten, das von einem Objekt in der Hand des Hexenmeisters ausging. Die weiten Ärmel seines Mantels verdeckten den Gegenstand vor Aldrics Blicken, doch für den Edelmann zählte in diesem Augenblick nur, dass er ausreichend Licht hatte, um sehen zu können, was dieser Schlund im Boden verbarg.

Geborstene Steinstufen führten in einer nach rechts verlaufenden Spirale zwei Stockwerke weit in die Tiefe. Der zerschmetterte Leib des glücklosen Dieners lag neben der untersten Stufe, die Spitzhacke war im Lichtschein eben noch auszumachen.

„Sollen wir hinabsteigen, Mylord?“, fragte der verhüllte Zauberkundige.

Lord Jitans Antwort bestand darin, dass er sofort zur Tat schritt. Die Gestalt neben ihm kicherte kurz und folgte ihm dann.

Die ungewohnte Beleuchtung, für die Aldrics Führer sorgte, tauchte den Raum, in den die Gruppe hinabstieg, in ein unheimliches Licht. Es schien, als würden sie von wilden, wolfsartigen Kreaturen aus den Wänden angesprungen, obwohl es sich bei ihnen um Steinköpfe handelte, die das Wolfsmotiv der alten Lords übernommen hatten. Jeder der Köpfe war dreimal so groß wie der eines erwachsenen Mannes, und das mit Reißzähnen bewehrte Maul war weit aufgerissen, als wolle es nach jedem schnappen, der ihm zu nahe kam. Die glatten Schädel gingen über in kraftvolle Schulterpartien. Unter jedem Kopf ragte zudem ein Pfotenpaar aus der Mauer.

Die Detailfülle war so reichhaltig, dass Lord Jitan einzelne Haare an den Tierköpfen erkennen konnte. Ihn überkam der Wunsch, einen der Köpfe zu berühren, um zu erfahren, wie er sich anfühlte. Doch als er einen Schritt in Richtung des Schädels machte, der ihm am nächsten war, verspürte er plötzlich eine unheilvolle Ahnung, und mit einem Stirnrunzeln wich der Edelmann gleich wieder zurück.

Sein Begleiter schritt voran und tauchte weitere Abschnitte der lang gestreckten Kammer in blasses Licht. Ein heftiges Einatmen – die erste Abweichung von dem ansonsten so unerschütterlichen Verhalten des Zauberkundigen – ließ Aldric aufhorchen.

„Was ist …“, begann er, kam aber nicht weiter, da ihm die Worte fehlten.

Ein Sarkophag, mannshoch und mindestens dreimal so lang wie ein normalgroßer Mensch. Er bestand aus einem Aldric unbekannten Material. Kein Stein, den er je gesehen hatte, nicht einmal der weißeste Marmor, konnte es mit dieser glatten, glänzenden Oberfläche aufnehmen. Als die beiden sich ihm näherten, schimmerte er sogar im fahlen Lichtschein so, als sei er lebendig.

Eine Perle. Daran fühlte sich Aldric bei diesem Anblick erinnert. Der Sarkophag wirkte, als sei er aus einer riesigen, schillernden Perle gefertigt worden.

Ganz gleich, welche Stelle er begutachtete, nirgends war eine Fuge zu sehen, das Objekt wirkte tatsächlich wie aus einem Guss. Das war jedoch nicht das einzig Sonderbare. Aldric Jitan betrachtete die Rundungen und eigenartigen Markierungen, die von innen heraus zu leuchten schienen, je länger er sie ansah.

„Das stammt nicht von den Söhnen von Rakkis“, sagte er leise. „Das sollte gar nicht hier sein.“

Der andere schüttelte den Kopf. „Nein, Mylord, es stammt nicht von den Wolfsherrn. Hattet Ihr das erwartet? Was Ihr seht, ist das Werk eines Vizjerei … und es sollte sehr wohl hier sein, und zwar exakt hier.“

Der Edelmann wartete auf eine ausführlichere Erklärung, doch diese folgte nicht. Aldric nahm den Sarkophag weiter in Augenschein. Dabei fiel ihm eine Markierung auf, die oben am Rand des Lichtscheins zu sehen war.

„Hexenmeister …“

Der Mann bewegte sich nach vorn, wodurch das Symbol, das Aldric genauer sehen wollte, besser vom Licht erfasst wurde.

Einer der Diener schnappte nach Luft, als er die Bedeutung des Symbols erkannte, und wich erschrocken ein paar Schritte nach hinten. Damit blieb er genau vor einem der großen Wolfsköpfe stehen.

Von einem ohrenbetäubenden Brüllen begleitet, bewegte sich die Steinfigur mit weit aufgerissenem Maul nach vorn. Die Kiefer schlossen sich um den Kopf des vor Schreck erstarrten Mannes … und bissen zu.

Der enthauptete Rumpf fiel zu Boden, während der Wolf in seine ursprüngliche Position zurückkehrte und wieder versteinerte. Das Maul war nun geschlossen, der Boden darunter von dunkelroten Blutspritzern übersät.

Die verbliebenen drei Diener zogen sich zur Treppe zurück, doch ein scharfer Blick von Lord Jitan genügte, um sie zu ihm zurückkehren zu lassen. Beruhigt darüber, dass sie ihm doch noch gehorchten, widmete er sich wieder dem Symbol, das auf dem oberen Teil des kunstvoll gefertigten Sarkophags prangte. Trotz der Kräfte, die aus dem Inneren strahlten und die er deutlich fühlen konnte, zögerte Aldric nicht und zeichnete mit einem Finger die leuchtenden, karmesinroten Konturen nach, die seine Gefolgsleute so in Angst versetzt hatten.

Ein großer Kreis … und darin die stilisierte Darstellung einer achtbeinigen Kreatur. Einer Spinne.

„Das Zeichen des Spinnenmondes“, flüsterte der Edelmann.

„Habe ich zu viel versprochen?“, fragte der andere Mann.

Lord Jitan suchte nach einem Weg, wie er den Sarkophag öffnen konnte, doch seine Finger fanden keinen Spalt und keinen Griff. „Sind wir noch zeitig genug?“

„Ja, das sind wir.“

Je länger seine Versuche ohne greifbares Resultat blieben, desto hektischer wurde Aldric. Schließlich schlug er einfach nur mit aller Kraft auf das Spinnenemblem.

Frustriert wirbelte er zu seinen Dienern herum. „Brecht ihn auf! Schnell!“

Sichtlich widerstrebend traten die Männer mit ihren Spitzhacken vor.

„Mylord …“, wollte der Zauberkundige einwerfen, doch Jitan hörte nicht auf ihn.

Stattdessen zeigte er auf die Mitte des Symbols. „Zielt darauf!“

Wie ein Mann gingen die drei vor, jeder Hieb traf genau ins Ziel, doch die Oberfläche trug nicht den kleinsten Kratzer davon. Stattdessen brach der Kopf einer Spitzhacke ab, flog durch den Raum und prallte scheppernd gegen eine Wand. Als das geschah, befahl Aldric seinen Männern, aufzuhören.

„Hexenmeister?“

„Ja, ich verfüge über die Mittel.“

Wütend drehte sich Lord Jitan zu ihm um: „Und warum lasst Ihr dann zu, dass wir kostbare Zeit vergeuden?“

Anstatt den Edelmann erst noch darauf aufmerksam zu machen, dass der ihm gar nicht zugehört hatte, schlug er vor: „Diese drei könnten sich im Moment nützlicher machen, wenn sie Fackeln entzündeten. Wir werden dieses Licht gleich benötigen.“

Eine Geste genügte, dann machten sich Aldrics Männer an die Arbeit. Sekunden später hielten sie brennende Fackeln hoch.

Der Hexenmeister steckte daraufhin das Objekt weg, mit dem er bis dahin die Grabstätte erhellt hatte. Er schob die Kapuze nach hinten und betrachtete zufrieden den Sarkophag.

„Ich warte“, herrschte Aldric ihn an.

„Geduld ist für das Gleichgewicht von größter Bedeutung“, bekam er zur Antwort. Der Hexenmeister hob eine Hand. Auf der Innenfläche funkelte ein winziger schwarzer Kristall. „Und das gilt auch für die Opfergabe.“

Plötzlich wuchsen winzige Beine aus dem Kristall – acht an der Zahl. Zum Erstaunen aller, ausgenommen der Zauberkundige, sprang der Kristall aus der Hand und landete auf dem Symbol.

Während die Spitzhacken nicht einmal Kratzspuren hinterlassen hatten, bohrten sich die acht Gliedmaßen an verschiedenen Stellen rings um den Mittelpunkt des roten Symbols in den Deckel. Dann war ein kurzes Zischen zu vernehmen, und der Deckel glitt zur Seite weg.

Lord Aldric Jitan fragte nicht, woher der andere diesen makabren Schlüssel hatte. Ihm lag nur daran, dass der Weg endlich frei war. Er beugte sich vor und warf einen Blick in den Sarkophag.

Eine lange Gestalt in einem Gewand lag darin, doch etwas stimmte nicht.

„Bringt die Fackeln her!“, befahl Aldric seinen Männern.

Im flackernden Lichtschein wurde offenbar, wer da vor ihnen lag. Auch wenn Aldric nicht damit gerechnet hatte, die Überreste eines der Söhne von Rakkis vorzufinden, ließ die Identität des Beigesetzten ihn doch zusammenzucken.

„Es ist einer von ihnen. Ein Vizjerei!“

Vizjerei waren Hexenmeister, deren Herkunft ebenfalls im Osten lag, doch sie waren von einer weltlicheren Natur als Aldrics Begleiter. Sie besaßen Ehrgeiz, sie hatten Wünsche, und in seinem Leben hatte Lord Jitan einige von ihnen für ihre schändlichen Dienste entlohnt. Nicht alle waren von so dubiosem Wesen, doch für Aldric war die Unterscheidung zwischen guten und bösen Vizjerei nebensächlich.

Warum aber sollte man sich die Mühe machen, einen aus den eigenen Reihen ausgerechnet an diesem Ort zu bestatten? Warum hatte man dafür überhaupt erst den beschwerlichen Weg bis hierher zurückgelegt?

Haut überzog die Knochen des alten Zauberkundigen, der auch noch einige graue Büschel Bart- und Haupthaar aufwies. Um den ausgemergelten Leib war das Turinnash gewickelt, ein orangefarbenes, an den Schultern weit geschnittenes Gewand – sein Stil hatte sich über Jahrhunderte hinweg kaum verändert. Goldene Runen, die wohl die Macht des Trägers verstärken und Schaden von ihm abwenden sollten, überzogen den Stoff. Brustharnisch und Gürtel waren aus Gold und deuteten auf einstigen Ruhm und Reichtum hin, doch für den Edelmann war das nicht von Bedeutung. An einer Seite des Toten lag einer der mit Runen versehenen Stäbe, die im Allgemeinen von den Angehörigen des Ordens benutzt wurden.

In den knorrigen, dürren Händen, die auf dem Leib ruhten, befand sich das eigentliche Objekt von Lord Jitans Begierde.

Es war nicht so groß wie in seinen Träumen, doch das änderte nichts daran, dass es atemberaubend aussah. Es hatte die Größe eines Apfels, vielleicht war es auch noch ein wenig größer. Es erinnerte an eine Perle, die in der Farbe des Mondes leuchtete – ein perfekter Vollmond, der den Sarkophag grobschlächtig und matt wirken ließ. Eine ganze Stadt, nein ganz Westmarch hätte man damit wohl kaufen können.

Hätte Aldric beim Anblick des Artefakts an nichts anderes gedacht, dann hätte er vielleicht wirklich ganz Westmarch gekauft. Denn dann wäre es für ihn in jeder anderen Hinsicht nutzlos gewesen.

Obwohl die verkrampften Finger des toten Vizjerei darum gelegt waren, konnte man deutlich die acht schwarzen Streifen sehen, die sich in einem perfekten Muster über die Perle zogen. Sie waren der Grund dafür, dass man das Objekt als den Spinnenmond bezeichnete – der Grund, weshalb er nach diesem Schatz gesucht hatte.

Lord Jitan wollte bereits danach greifen, doch sein schattenhafter Begleiter verhinderte, dass er überhaupt die Hand heben konnte.

„Einem Toten etwas abzunehmen, ist wohl nichts für einen Mann von Eurem Stand, Mylord“, gab er zu bedenken. Sein Tonfall ließ zugleich erahnen, dass mehr als bloßes Standesdenken hinter der Bemerkung steckte.

Aldric zog eine Augenbraue hoch, dann schnippte er mit den Fingern und sagte zu dem Diener, der gleich neben ihm stand: „Rolf! Hol mir das Ding da heraus!“

Der Mann verzog den Mund, deutete aber eine kurze Verbeugung an. Seine Fackel gab er einem der anderen, dann stellte er sich neben den Sarkophag. Mit einem Räuspern streckte er seine Finger aus, um die Beute für seinen Herrn zu beschaffen.

Die Finger strichen leicht über die des Toten in seinem Gewand.

Sofort kreischte Rolf auf. Eine feurige Aura erfasste sowohl den Leichnam des Vizjerei als auch den Diener.

Die Verwandlung vollzog sich innerhalb einer einzigen Sekunde. Die Lebensessenz wurde aus Rolfs Leib gesogen, so wie es Lord Jitan mit dem Saft aus einem Stück Orange zu tun pflegte. Die Haut des Dieners verdorrte, die Augen versanken in ihren Höhlen. Seine stämmige Statur schrumpfte zu einem Skelett zusammen. Bis zuletzt versuchte er, sich von dem Toten zu lösen, doch es wollte ihm nicht gelingen.

Während der ausgetrocknete Leichnam zu Boden sank, setzte sich plötzlich der mumifizierte Vizjerei auf.

Seine Haut war immer noch trocken und rissig, doch nun befand sich auch ein wenig Fleisch darunter. Das Gesicht des Ghuls bewegte sich, gelbliche Zähne wurden gebleckt, und als die Lider hochklappten, gaben sie nicht den Blick auf ein Augenpaar frei, sondern auf gelbliche Eiterblasen.

Aus der dürren Kehle entstieg ein gutturaler Ton, gleichzeitig spürte Aldric, wie große magische Kräfte erweckt wurden.

Etwas, das von einem blassen Leuchten umgeben war, kam aus der Richtung des Zauberkundigen geflogen, der den Edelmann begleitet hatte. Aldric rechnete damit, dass das Leuchten dort einschlug, wo einst das Herz des Ghuls gesessen hatte, doch im letzten Moment beschrieb es eine Kurve und bohrte sich in die verwesende Stirn der Gestalt.

Der kadavergleiche Ghul stieß ein heftiges Keuchen aus … dann zerfiel sein Körper augenblicklich zu Asche, die in den Sarkophag zurücksank.

Der grauhaarige Mann neben Aldric trat gelassen an den Sarkophag und zog das heraus, was er auf den Ghul geworfen hatte: einen Dolch, von dem Lord Jitan wusste, dass er nicht aus Metall bestand. Er war weiß – das Weiß von Elfenbein … oder von Knochen. Obwohl die Fackeln dicht an den Sarkophag gehalten wurden, war noch immer zu sehen, dass der Dolch von innen heraus schwach leuchtete.

„Der Weg zu Euren Wünschen ist nun frei, Mylord“, verkündete der Dolchträger.

Aldric Jitan wollte nicht länger warten. Er wagte es, den Spinnenmond aus den Überresten dessen zu lösen, was einmal die Finger des Vizjerei gewesen waren. Kein grausamer Zauber traf ihn, kein Ghul versuchte, ihm die Seele aus dem Leib zu saugen.

Er gehörte ihm! Endlich!

„Der erste Schritt“, ließ sein Begleiter verlauten. „Nun müssen wir den Rest vorbereiten. Das wisst Ihr doch noch, nicht wahr, Mylord?“

„Das weiß ich noch sehr gut, Karybdus“, murmelte Aldric und sprach dabei zum ersten Mal seit Tagen den Namen des anderen aus. So wie zuvor beim Sarkophag strich er mit den Fingern über das Artefakt, als stünde eine Geliebte vor ihm.

Karybdus begann, seinen Reisemantel abzulegen, während er auf seine gewohnt ruhige Art sagte: „Dann müssen wir nun damit beginnen. Die Zeit drängt.“

Während sein Mantel zu Boden glitt, wurde deutlicher erkennbar, wie er gekleidet war. Von drei sonderbaren Bändern abgesehen, die quer über seine Brust verliefen, sowie drei weiteren, die sich bis hinunter zum Bauch erstreckten, trug er ausschließlich Schwarz. Ein Schutz bedeckte eine Schulter, der sich wohl bei genauerem Hinsehen als Schädel eines mit Hörnern und Fangzähnen bewehrten Geschöpfs entpuppt hätte, dessen Existenz auf der Ebene der Sterblichen niemals möglich gewesen wäre. Der Schädel war, so wie die Bänder, weiß wie Knochen.

Vieles von dem, in das der Zauberkundige mit den grauen Augen gekleidet war, erinnerte mit den Kämmen und Schuppen eher an eine reptilartige Panzerung. Doch sobald Karybdus sich bewegte, schmiegte sich seine Kleidung so geschmeidig an seinen Körper, als sei es reine Seide. Auch verursachte er kein Geräusch, sobald er einen Schritt tat. Seine Lederstiefel reichten bis über die Knie und verschmolzen nahtlos mit dem Rest der Rüstung.

An der Taille trug er jenen Dolch, mit dem er gerade mühelos den untoten Vizjerei außer Gefecht gesetzt hatte. Die Waffe glomm immer noch und pulsierte, als sei sie von eigenem Leben erfüllt. Ihre geschlängelte Klinge lief in einer nadelfeinen Spitze aus.

Am Heft befand sich ein Symbol, das keinen Zweifel an Karybdus’ Identität ließ. Es zeigte ein Schlangenwesen, über dem eine Waagschale hing. Zwar hätte manch einer das Wesen recht schnell als Drache erkannt, doch nur wenige hätten zu sagen gewusst, warum die Waagschale in dieser Weise angeordnet war.

Der Drache war als Trag’Oul bekannt, als Dreh- und Angelpunkt des kosmischen Gleichgewichts. Trag’Oul, der fast wie ein Gott war und über Rathmas Anhänger wachte.

Die Nekromanten.

ZWEI

Das Gasthaus „Zum Schwarzen Widder“ war in einem schmucklosen, flachen Steingebäude in einem schäbigeren Viertel der Stadt Westmarch gelegen, in dem man häufig genug dubiosen und anstößigen Gestalten über den Weg lief. So paradox es auch klingen mochte, bedeutete dies für das Etablissement aber auch, dass man dort oft den Mächtigen und Reichen begegnete, die diese düstere Umgebung aufsuchten, um fragwürdigen Geschäften nachzugehen … oder denen einfach nur der Sinn nach ein wenig Nervenkitzel stand.

An diesem Abend waren alle Sorten von Gästen vertreten und hatten sich über Séparées oder Tische verteilt, wo sie bei einem Teller mit scharf angebratenem Hammelfleisch und einem Krug Ale, das einem in der Kehle brannte, saßen.

Doch ganz gleich, aus welchem Grund sie sich an diesem nebligen Abend für den „Schwarzen Widder“ entschieden hatten – ausnahmslos jeder von ihnen starrte plötzlich aus einem unerklärlichen Grund zur Tür, die knarrend geöffnet wurde, gerade als die großen Glocken der Stadt die nächste volle Stunde einläuteten.

Der Mann, der eintrat, war blass, und sein schmales Gesicht passte eher zu einem gewissenhaften Buchhalter denn zu einer geheimnisvollen Gestalt, die einen dunklen Mantel und ein ebensolches Gewand darunter trug. Seine grauen Augen waren mit ihrem markanten Schwung das Auffälligste an ihm. Im Schatten einer Kapuze hingen ihm ein paar glatte schwarze Strähnen in die Stirn. Der Fremde war von schlanker, drahtiger Statur.

Die hohen Lederstiefel des Neuankömmlings verursachten kaum ein Geräusch auf den alten Dielenbrettern, während er zu einem offenen Séparée stapfte. Auf seinem wallenden Mantel blitzten im flackernden Schein der Messing-Öllampen, die an der Decke verteilt hingen, winzige silberne Symbole auf, die in den Stoff eingenäht waren. Unter dem Mantel trug der Fremde an seinem Gürtel mehrere kleine und eine größere Tasche. In Letzterer befand sich ein rundliches Objekt.

Der Mann ließ sich genauso geräuschlos und elegant auf der Sitzbank des Séparées nieder, wie er das Lokal durchschritten hatte. Die anderen Gäste im „Schwarzen Widder“ beobachteten ihn noch einen Moment lang, doch da er nichts weiter tat, als einfach dazusitzen, widmeten sich die meisten bald wieder ihren Getränken und Speisen. Einige der über den Gast weniger erfreuten Gesellen gaben zwar vor, das Gleiche zu tun, doch sie ließen ihren Blick immer wieder zu der großen Gürteltasche mit dem mysteriösen Inhalt schweifen.

In einer Ecke direkt gegenüber saß eine junge Frau, deren anmutige Schönheit einen krassen Gegensatz zu ihrer Umgebung bildete und die den Neuankömmling eindringlich beobachtete. Sie teilte ihren Tisch mit zwei Männern, einer davon ein Riese und zweifellos ihr Leibwächter, der andere etwa im gleichen Alter wie die Frau und ihr so sehr ähnelnd, dass er mit ihr verwandt sein musste. Er warf dem Fremden einen finsteren Blick zu und war sichtlich von dem, was er sah, angewidert.

Die vollbusige, blonde Kellnerin, die sich nach den Wünschen des finster gekleideten Mannes hätte erkundigen sollen, weigerte sich, hinter der hüfthohen Schanktheke hervorzutreten. Der Gastwirt, ein stämmiger Mann mittleren Alters mit schütterem Haar, nagte an seiner Unterlippe. Dann endlich wischte er sich die Hände ab und ging selbst zu dem Tisch.

Als er sich dem Séparée näherte, hielt er sich krampfhaft an seiner Schürze fest, spähte unter den buschigen Augenbrauen hervor und betrachtete den jüngsten Gast mit weitaus mehr Respekt, als er üblicherweise jemandem entgegenbrachte, ausgenommen denjenigen von hoher Geburt. „S-seid gegrüßt, Meister. Hyram ist mein Name, Besitzer des „Schwarzen Widders“. Es ist eine ungewöhnliche Ehre, Euresgleichen hier begrüßen zu dürfen, ungewöhnlich, aber nicht das erste Mal. Ein oder zwei waren es schon … über die Jahre hinweg.“

Der Mann am Tisch nickte kurz. „Ja, ich kann mir vorstellen, dass nicht viele hergekommen sind … nach Westmarch.“ Seine Stimme wirkte sanft und bedächtig.

„W-was kann ich Euch bringen?“

„Der Eintopf, den ich rieche, wird mir genügen. Ich würde ja ein Glas Wasser bestellen … aber ich vermute, hier ist es gesünder, Ale zu trinken.“

„Aye“, knurrte Hyram.

„Dann wäre das alles … es sei denn, Ihr habt ein Zimmer für eine Nacht.“

Der Gastwirt schluckte. „Nur für eine Nacht?“

„Ja.“ Da der Neuankömmling Hyrams Zögern bemerkte, griff er mit einer behandschuhten Hand nach einem der Säckchen an seiner Taille. Als er es auf den Tisch legte, war das satte Klimpern von Münzen zu hören.

Hyrams Vorbehalte schienen fast vollständig weggewischt. „Aye, für eine Nacht kann ich Euch behilflich sein, Meister …“

„Zayl. Einfach nur Zayl.“ Er wandte seine grauen Augen von Hyram ab.

„Ich bringe Euch sofort Euer Mahl und etwas zu trinken, Meister Zayl“, erklärte der Wirt und ging über die nachgeschobene Bemerkung seines Gegenübers hinweg. Für ihn verdiente jeder Gast, der nur Geld mitbrachte, eine solche Ansprache – sogar dieser.

Als er wieder allein war, ließ Zayl heimlich seinen Blick durch den Raum schweifen. Er war noch nie so weit von zu Hause weg gewesen, und trotz seines souveränen Auftritts fühlte er sich unbehaglich. Er hatte es eigentlich nicht vorgehabt, den Dschungel von Kehjistan zu verlassen und sich in die Westlichen Königreiche zu begeben. Doch er war von Mächten getrieben und gelenkt worden, die stärker waren als sein freier Wille.

Könnte ich nur so sein wie sie, dachte er, und die Probleme einfach ignorieren, die auf uns zukommen.

Seine Reise hatte ihn ins Königreich Westmarch und in die gleichnamige Hauptstadt geführt. Vorsichtiges Befragen der Bevölkerung – vorsichtig, weil jemand seines Standes stets riskierte, die Behörden auf sich aufmerksam zu machen – hatte ihm nichts weiter als vage Gerüchte eingebracht. Diese mochten zwar genügen, um sein Interesse wachzuhalten, doch erklärten sie nicht, weshalb ihn der Drang befallen hatte, sich ausgerechnet in diese Region zu begeben.

Ihm fiel die Frau auf der anderen Seite des Schankraums auf, die immer dann in seine Richtung blickte, wenn sie sich unbeobachtet glaubte. Ihren Blicken und dem Getuschel mit einem kleineren Mann – den Zayl für ihren Bruder hielt – nach zu urteilen, wussten sie beide, was er war: Ein Anhänger von Rathma, dem Ziel verschrieben, das Gleichgewicht zu wahren.

Ein Kundschafter in der Welt der Toten.

Viele machten einen Bogen um Nekromanten – manches Mal durchaus aus gutem Grund –, aber diejenigen, die sich wie Zayl den Lehren Rathmas verschrieben, wollten den Menschen nichts Böses. Zayl und seinesgleichen kämpften gegen die Finsternis und gegen das Erzböse, da ein Sieg der Höllenkräfte das Gleichgewicht für immer zerstört hätte. Die Methoden der Rathmaner wurden von den unwissenden Massen zwar nicht oft für gut befunden, doch was zählte, war das Resultat. Eine verheerende Niederlage im Kampf gegen das Chaos konnte allem ein Ende setzen.

Jeder Nekromant wurde geschult, um die Auseinandersetzung auf seine Weise zu führen und seinen Weg so zu wählen, wie es seine Gaben ihm vorschrieben. Für Zayl war es ein Schock gewesen, festzustellen, dass er über die Zwillingsmeere nach Westen reisen sollte – doch er war seiner Pflicht nachgekommen. Das Gleichgewicht war von zu elementarer Bedeutung, als dass er sich dem hätte widersetzen können, was von ihm verlangt wurde, um es zu schützen.

Immerhin war der Weltenstein zerstört worden …

Seine düsteren Gedanken wurden unterbrochen, als Hyram mit dem Mahl an den Tisch kam. Der Eintopf – eine grünlich-braune Masse mit altem Gemüse und zähem Fleisch – entpuppte sich als akzeptabel, und das Ale machte sogar einen recht frischen Eindruck. Zayl, der Schlimmeres erwartet hatte, nickte dankend. Davon abgesehen, war er fast hungrig genug, selbst den Tisch zu verspeisen, an dem er saß – auch wenn er sich eine solche Schwäche niemals zugestanden hätte. Rathmaner lernten früh, wie man über lange Zeiträume hinweg fastete, um den Körper von allem Unreinen zu befreien. Doch Zayl hatte das länger als üblich praktiziert. Sogar ein bescheidenes Gericht wie dieses würde dazu beitragen, ihn wieder zu Kräften kommen zu lassen.

Der Nekromant entlohnte den Wirt mit ein paar Münzen, dann zog er den linken Handschuh aus, nahm den eisernen Löffel, der neben dem Teller lag, und begann zu essen. Seine rechte Hand blieb bedeckt, obwohl es in der Gaststube allmählich wärmer wurde.

Als er nach dem Krug greifen wollte, drang ein ersticktes Geräusch aus der großen Gürteltasche. Mit seiner Rechten schlug er einmal schnell auf die Tasche, worauf wieder Ruhe einkehrte.

Aus dem Augenwinkel beobachtete er, ob irgendjemand daran Anstoß genommen hatte. Einzig der Frau schien etwas aufgefallen zu sein, doch sie wirkte darüber nicht beunruhigt, sondern sprach noch angeregter mit dem jungen Mann, der aber nur mit den Schultern zuckte und eine kaum zu missdeutende, herablassende Äußerung über Zayl machte.

Der Nekromant konzentrierte sich wieder auf sein Essen und seine Überlegungen. Wenn er es genau betrachtete, konnte er nicht mit Gewissheit sagen, ob der Weltenstein wirklich vernichtet worden war, wenngleich einiges dafür sprach. Mount Arreat, wo er der Legende nach verborgen gewesen sein sollte, war explodiert, der gesamte Gipfel weggesprengt worden. Seine Zerstörung hatte man sogar hier im fernen Westmarch wahrgenommen. Wichtiger war aber, dass die Gerüchte, die unter denjenigen mit Weitsicht kursierten, die schreckliche Befürchtung untermauerten.

Es hieß, einer aus dem Kreis der Erzbösen – Baal, Gott der Zerstörung – sei dafür verantwortlich. Wenn das stimmte, drohte der Ebene der Sterblichen noch sehr viel Schlimmeres. Der Weltenstein hatte seit undenkbaren Zeiten existiert. Geschaffen worden war er nach Rathmas Lehre, um die Welt zu beschützen. Nun versuchten die Kräfte des Lichts und der Finsternis, die Menschheit ganz für sich zu beanspruchen, und in ihrem Kampf gegeneinander drohten diese beiden kosmischen Mächte, das zu zerstören, was sie so sehr begehrten.

Und auf irgendeine Weise hing das alles mit Zayls Gefühl zusammen, er müsse nach Westmarch aufbrechen. Irgendwo in diesem großen Königreich würden bald die Folgen von Baals abscheulicher Tat spürbar werden.

Sein Problem war jedoch, dass er nicht wusste, was er als Nächstes tun sollte. Er hatte sich dazu veranlasst gefühlt, nach Westmarch zu kommen, doch wie sollte es weitergehen?

Wenn du den Weg nicht finden kannst, dann warte, und der Weg wird dich finden. Rathma selbst soll das einmal gesagt haben, und aus Erfahrung wusste Zayl, wie klug dieser Ratschlag war. Doch aller Ausbildung zum Trotz wurde er nun allmählich ungeduldig. Wenn das Gleichgewicht – und damit auch alles andere – in Gefahr war, dann sollte der Weg ihn bald finden.

Er roch den Mann, der sich zu ihm vor das Séparée gestellt hatte, noch bevor er ihn sah. Die Gestalt sah aus, als hätte sie viele Jahre ihres Lebens auf hoher See zugebracht, und die Narben sowie das Fehlen eines Fingers deuteten darauf hin, dass sie sich einen Großteil dieser Zeit als Pirat verdingt hatte. Der Seemann beugte sich so über den Tisch, dass Zayl nichts anderes mehr sehen konnte, und musterte den Rathmaner von oben bis unten.

„Ein Freund von mir meint, dass Ihr ein Nekromant seid …“

„Da hat er Recht“, erwiderte Zayl und hoffte, das Gespräch auf diese Weise vorzeitig zu beenden.

Doch das war leider nicht der Fall. Der Abendländer beugte sich vielmehr noch weiter vor, sodass sein Mundgeruch den Zauberkundigen ins Gesicht traf und ihm den Atem raubte. „Dann haben diese Zeichen auf Eurem Mantel …“ Er bekam den Stoff an der Schulter zu fassen und zog ihn hoch. Die Symbole darauf schienen förmlich durcheinanderzuwirbeln. „Dann haben die alle mit dem … Tod zu tun?“

„Sie umfassen verschiedene Aspekte der Sterblichkeit und dessen, was nach dem Leben folgt.“

„Der Tod.“

„Unter anderem.“ Der Nekromant wollte nicht mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen als unbedingt nötig, doch er konnte sich bereits jetzt kaum mehr vorstellen, dass diese Unterhaltung noch ein gutes Ende nehmen könnte. Was genau dieser Mann vorhatte, war ihm allerdings unklar.

„Nimm deine schmierigen Finger aus meinem Auge!“, ertönte plötzlich eine ihm bestens vertraute Stimme.

Irgendwo hinter Zayl waren ein Keuchen und ein leiser Fluch zu hören, gefolgt von einem dumpfen Aufprall. Dann rief die Stimme: „Verdammt! Ich kann nicht stoppen! Zayl! Zayl, Jüngelchen!“

Der Mann, der den Nekromanten angesprochen hatte, wollte plötzlich Zayls Kehle fassen, doch der war schneller. Mit dem Ballen seiner linken Hand schlug er gegen den Kiefer seines Gegners und schleuderte ihn ein Stück weit von sich. Gleichzeitig murmelte er etwas.

Der narbige Seemann sah sich panisch im Raum um. Er zeigte auf eine leere Ecke und brabbelte: „Bei den Zwillingsmeeren! Was ist das für eine Bestie?“ Sein Blick ging nach links. „Noch eine! Dämonen! Hier sind überall Dämonen!“

Schreiend rannte er an seinem Komplizen vorbei, einem stämmigen, bärtigen Mann, der in einer Hand einen Dolch hielt. Die andere war noch immer halb zur Faust geballt. Zayl sah nach unten und stellte fest, dass der erste Mann ihn geschickt abgelenkt hatte, womit es seinem Komplizen möglich geworden war, die große Gürteltasche unbemerkt vom Gürtel zu schneiden.

Natürlich war das der größte Fehler, den die beiden überhaupt hatten begehen können.

Etwas zu spät bemerkte der zweite Dieb, dass sich Zayl erhob. Er wollte auf ihn losstürmen, doch der Zauberkundige murmelte erneut ein Wort.

Die Klinge verfehlte Zayl, und der Angreifer taumelte an ihm vorbei. Atemlos fuchtelte er mit den Händen vor seinem Gesicht herum, dann rief er: „Meine Augen! Ich kann nichts mehr sehen! Meine Augen!“

Es war nur ein vorübergehender Effekt, so wie auch der erste Angreifer unter dem Einfluss eines Zaubers nur für eine Weile glaubte, er sei von Dämonen umzingelt. Zayl wollte den vermeintlich Erblindeten packen, doch da …

„Passt auf!“, hörte er eine Frauenstimme.

Er wich gerade noch rechtzeitig zurück, um der geschwungenen Klinge eines Schwertes zu entgehen, das auf seinen Bauch gezielt hatte. Der drahtige Bursche, der es in der Hand hielt, holte grinsend ein weiteres Mal aus.

Der Nekromant griff an seine Taille und zückte einen kleinen Dolch. Sein Widersacher musste beim Anblick der kleinen Waffe lauthals lachen, handelte es sich dabei doch um eine wenig imposante geschlängelte Klinge, die wie aus Elfenbein geschnitzt schien und es mit dem langen Schwert des Gegners unmöglich aufnehmen konnte.

Doch als der Dieb Zayl zu treffen versuchte, war der Dolch im Weg, traf auf die Klinge und wehrte sie erfolgreich ab. Auch zwei weitere Attacken wurden auf diese Weise verhindert.

Dann rückte Zayl vor und schaffte es, die Klinge zunächst in den Arm, dann in die Brust des Mannes zu stoßen. Der Widersacher des Nekromanten trat den Rückzug an, stolperte dabei aber über die entwendete Gürteltasche, die hinter ihm auf dem Boden lag.

„Pass doch auf, wo du hintrittst!“, beschwerte sich eine Stimme, die aus exakt dieser Tasche zu kommen schien.

Der Möchtegerndieb stürzte zu Boden, schleuderte Zayl verzweifelt sein Schwert entgegen und suchte dann sein Heil in der Flucht. Er bekam seinen noch immer geblendeten Komplizen am Arm zu fassen, worauf beide Hals über Kopf nach draußen stürmten.

Zayl hatte nicht die Absicht, sie zu verfolgen. Stattdessen steckte er seinen Dolch wieder weg und hob die Gürteltasche auf. Ein Fluch wollte daraus entweichen, doch der Nekromant sorgte für Ruhe.

Die meisten anderen Gäste hatten sich davongemacht, als die Auseinandersetzung begann. Diejenigen, die noch geblieben waren, musterten Zayl zurückhaltend, hier und da war auch Abscheu und eine gehörige Portion Respekt zu erkennen. Zayl fand es bemerkenswert, dass die Frau und ihr Leibwächter den Eindruck vermittelten, als seien sie bereit gewesen, in den Kampf einzugreifen. Sie waren von allen Anwesenden die Einzigen, die ihn nicht wie einen Aussätzigen begafften. Der Rathmaner musste an den Warnruf denken, den die Frau ausgestoßen hatte, also sah er in ihre Richtung und deutete eine Verbeugung an. Die Frau betrachtete ihn nach wie vor prüfend.

Er wandte sich dem Séparée zu, von wo aus sich ihm Hyram nervös näherte. Der Gesichtsausdruck des Mannes war unmissverständlich; Zayl war dergleichen schon viel zu oft begegnet.

„Ich werde aufbrechen“, ließ er den Gastwirt wissen, noch bevor Hyram ihm dies nahelegen konnte. „Ich brauche das Zimmer nicht mehr.“

Der Gastwirt machte aus seiner Erleichterung keinen Hehl. „Es liegt nicht an mir, Meister, sondern an den anderen. Sie verstehen nicht …“

Er ignorierte Hyrams Versuch einer Erklärung und griff nach seinem schwarzen Handschuh. Er zog ihn an und warf dem Gastwirt ein paar Münzen zu. „Ich denke, das deckt die entstandenen Unkosten.“

Der stämmige Mann betrachtete, was in seiner Hand gelandet war. „Das ist mehr als genug, Meister! Ich kann nicht guten Gewissens …“

„Macht euch darüber keine Gedanken.“ Zayl war alles andere als wohlhabend, doch es handelte sich um das erste Lokal, das er in dieser Stadt aufgesucht hatte, und er wollte sich vor den Leuten hier einen Hauch von Respekt bewahren, auch wenn es sich wohl als vergebliche Liebesmüh erweisen würde.

So lautlos, wie er gekommen war, verließ der Nekromant auch wieder den „Schwarzen Widder“. Zayl hatte keine Ahnung, wo er die kommende Nacht verbringen sollte, zur Not konnte er jedoch unter freiem Himmel schlafen. Das war er von seiner Heimat her, der Wildnis Kehjistans, gewöhnt, auch wenn es hier kühler sein mochte.

Der Nebel war inzwischen dichter geworden. Zayl konzentrierte sich und versuchte, mehr zu erkennen als das, was seine Augen ihm offenbarten.

„Verdammte Gauner!“, beklagte sich eine Stimme dicht bei ihm.

„Still, Humbart.“

„Du bist ja nicht hilflos über den Boden gerollt! Im Gegensatz zu mir – und das auch noch, ohne einen einzigen Krug geleert zu haben …“

Zayl tätschelte die Tasche. „Nein, ich musste mich lediglich mit einem Schwert herumschlagen, das mich zweiteilen wollte.“

„Und ich habe dir auch wie stets gerne beigestanden, Jüngelchen! Was würdest du bloß ohne mich machen?“

Der bleiche Mann musste flüchtig lächeln, erwiderte aber nichts darauf. Plötzlich fühlte er, dass sich ihm jemand näherte. „Still jetzt“, befahl er noch einmal.

„Willst du mir …“ Ein weiterer kurzer Schlag des Nekromanten auf die Tasche ließ seinen verborgenen Begleiter verstummen.

Seine besonderen Sinne verrieten Zayl, dass sich jemand hinter ihm befand. Eine Hand auf das Heft seines Dolchs gelegt, ging er jedoch weiter, als habe er nichts bemerkt.

Schwere Schritte verrieten ihm, dass sein Verfolger näher kam und sich offenbar nicht darum scherte, dass er gehört wurde. Als Zayl das Gefühl hatte, der Abstand sei nun genügend geschrumpft, wirbelte er herum und hielt die Klinge in der Hand.

Der schattenhafte Umriss eines Riesen erhob sich vor ihm. Irgendwie kam er ihm bekannt vor, und als er genauer hinsah, erkannte er in ihm den Leibwächter der Frau aus dem Gasthaus.

Das Haar des Hünen war kurz geschoren, und sein rundliches Gesicht erinnerte den Rathmaner an die Primaten, die im Dschungel auf den Bäumen lebten. Dazu passte sogar die breite Nase mit den großen Nasenlöchern. Die dunkelhäutige Figur hatte aber nichts Tumbes an sich, vielmehr stand der Mann in der Haltung eines geübten Kämpfers vor ihm, was den Nekromanten an Hauptmann Kentril Dumon denken ließ, einen Söldner, dem Zayl einmal begegnet war und vor dem er größten Respekt hatte.

Der Leibwächter trug eine dunkelblaue Livree mit karmesinroten Säumen an Ärmeln und Hosenbeinen. Ein Emblem – der Kopf eines blauen Falken in einem roten Kreis – war dort, wo sich das Herz befand, auf die Uniform aufgenäht … eine dieser unglückseligen Traditionen, die einem Feind die perfekte Stelle markierten, wohin er mit seiner Waffe zu zielen hatte. Die Stiefel mit den breiten Stulpen wirkten auf den Rathmaner ein wenig schrill, doch er wäre niemals so töricht gewesen, das einem solchen Koloss ins Gesicht zu sagen.

„Ich bin auf Befehl meiner Herrin hier“, polterte der Leibwächter los und zeigte seine leeren Hände. Sein Akzent verriet, dass er aus der Nähe von Lut Gholein an den westlichen Gestaden der Zwillingsmeere stammte. Zayl war auf dem Weg hierher durch jene Region gereist.

„Wäre ein Priester von Zakarum da nicht besser geeignet als ich?“

Der Riese grinste, und sogar in Nebel und Dunkelheit konnte Zayl seine weißen Zähne aufblitzen sehen – sehr viele weiße Zähne. „Die Zakarum würden die Absicht meiner Herrin kaum gutheißen.“

Dass sie einen Nekromanten zu sich bat, brachte dies sogar zwangsläufig mit sich, doch Zayl war nicht bereit, allzu schnell auf ihre Bitte einzugehen. „Und was wünscht sie von einem wie mir?“

„Sie muss mit ihrem Gemahl sprechen. Es ist eine Angelegenheit von höchster Dringlichkeit.“

Wenn die Frau ausgerechnet Zayls Hilfe benötigte, dann lag es daran, dass ihr Mann tot war. Zweifellos ging es um eine Erbschaft. Manche Menschen setzten Rathmaner mit jenen Scharlatanen gleich, die auf Jahrmärkten und am Wegesrand die Zukunft weissagten oder Séancen abhielten.

Er wollte sich abwenden, doch der Leibwächter gab so schnell nicht auf. Er packte Zayl am Arm, ohne sich darüber im Klaren zu sein, wie gefährlich das war.

„Sie kann sich an niemanden sonst wenden. Sie sagte, irgendetwas habe sie in das Gasthaus geführt, und als sie Euch sah, da war sie sich sicher, dass Ihr der Grund dafür wart.“

Der Nekromant zögerte. Letzteres war wahrscheinlich eine Lüge, aber die Behauptung, sie habe sich zu diesem Ort hingezogen gefühlt, ließ Zayl an Rathmas Worte denken. Wurde ihm nun der Weg offenbart, den er die ganze Zeit gesucht hatte?

Er setzte sich mit Vor- und Nachteilen auseinander und kam zu dem Schluss, dass die Nachteile überwogen. Doch als er den Mund aufmachte, um abzulehnen, sagte er gegen seinen Willen: „Gut, ich werde mich mit ihr treffen.“

„Danke.“ Der Tonfall des Leibwächters ließ eine gewaltige Erleichterung erkennen, was Zayl bei einem Leibwächter dieses Kalibers überraschte. Die meisten anderen hätten einfach die Antwort akzeptiert, doch dieser Mann musste seiner Herrin gegenüber äußerst loyal sein.

Der Riese führte den Nekromanten durch die in dichtem Nebel liegenden Straßen. Zayl blieb auf der Hut, immerhin konnte es sich entgegen allem Anschein um eine Falle der Diebe oder sogar der Zakarum handeln.

Sollte es eine sein, war sie höchst aufwendig gestaltet. Ein paar Blocks vom „Schwarzen Widder“ entfernt wartete auf Zayl und seinen nach wie vor namenlosen Begleiter eine elegante Kutsche, die von vier starken weißen Pferden gezogen wurde. Ein mürrisch dreinblickender Kutscher in der gleichen Livree wie der des Leibwächtters nickte dem Hünen zu. Zayl bemerkte, dass das Hauswappen keineswegs verdeckt war, was im Widerspruch zur üblichen Praxis stand, der sich Aristokraten bei solchen Unternehmungen bedienten. Die Edelfrau stand entweder offen zu dem, was sie tat, oder aber sie war ausgesprochen naiv.

Der Leibwächter ging voran und hielt die Tür der Kutsche auf. Gleichzeitig beugte sich drinnen jemand ein Stück weit nach vorn.

Einen Moment lang zögerte Zayl. Dann sah er eine Frau, deren Haut eine Nuance dunkler war als seine eigene. Ihre Lippen waren von einem satten Rot, das er als natürlich und ungeschminkt erkannte. Ihr Haar fiel ihr bis über die Schultern und endete knapp oberhalb ihres Busens. Für Zayl gab es keinen Zweifel, dass eine Frau mit einem solchen Körper und diesem Gesicht viele Männer anzog. Doch genauso klar war für ihn, dass sie ihre Vorzüge nicht einsetzte, um Vorteile daraus zu schlagen – erst recht nicht bei einem üblen Nekromanten.

Die Edelfrau betrachtete Zayl aufmerksam, dann sah sie zu ihrem Diener. „Danke, Polth …“

Der Riese verbeugte sich. „Herrin …“

Sie streckte dem Rathmaner eine schmale Hand entgegen. „Bitte steigt ein.“

„Ich würde zuerst gern Euren Namen erfahren, Mylady. Euren echten Namen.“

Bevor sie antworten konnte, ertönte aus der Kutsche eine ärgerliche Männerstimme: „Bei den Sternen, Salene! Ich sagte dir doch, das geht zu weit. Sag ihm nichts, und dann lass uns aus dieser stinkenden Gosse verschwinden! Ich kenne gute Lokale, um sich zu betrinken …“

Zayl erinnerte sich an den Mann aus dem „Schwarzen Widder“, den er für ihren Bruder gehalten hatte. Was ihre Persönlichkeiten anging, waren sich die beiden offenbar gar nicht ähnlich. Immerhin hatte der Mann bereits den Vornamen seiner Begleiterin verraten, als er darauf bestand, nichts zu verraten.

„Sei still, Sardak“, erwiderte sie leise und lächelte dabei Zayl an, als sei ihr klar, wie der über ihren unwirschen Begleiter dachte. „Was er wissen will, ist nur angemessen, wenn er mir helfen soll.“

„Du kannst seiner Art nicht über den Weg trauen! Die Kirche von Zakarum sagt, dass er Gräber entweiht. Er ist ein Ghul, ein …“

Der Blick, den Salene dem Mann zuwarf, der in der Dunkelheit nicht zu sehen war, ließ ihn verstummen. Als sie dann wieder zu Zayl schaute, war ihr anzumerken, wie sehr ihr der Wortwechsel leidtat. „Mein Bruder ist um mich besorgt, Rathmaner. So wie ich um ihn besorgt bin, Meister …?“

Sie musste um diesen ungestümen Sardak um einiges mehr besorgt sein als dieser um sie, doch Zayl sprach seinen Gedanken nicht aus. Stattdessen nickte er und kam näher. „Nur Zayl, Mylady. Einfach nur Zayl.“

„Nichts weiter?“

„In meinem Berufsstand verzichten wir meist auf jeden zusätzlichen Namen, da wir Diener des Gleichgewichts sind, an kein Haus und keinen Clan gebunden.“

„Nun denn, ‚nur Zayl‘. Ich bin Lady Salene Nesardo, und wenn das als Vorstellung genügt, wäre es mir recht, wenn wir uns jetzt auf den Weg machen könnten. Was ich mit Euch besprechen möchte, sollte nicht hier erfolgen.“

Sie zog sich in die Kutsche zurück. An ihrer Einladung, neben ihr Platz zu nehmen, hatte sie keinen Zweifel gelassen. Zayl runzelte die Stirn. Es gab nur wenige Frauen, die so etwas von sich aus angeboten hätten, selbst wenn es darum ging, den Geist eines reichen Gemahls zu beschwören. Er hatte erwartet, neben dem charmanten Sardak Platz nehmen zu müssen.

Aus der Gürteltasche kam ein gedämpftes Schnauben, das Polth aufhorchen ließ. Doch da das Geräusch nicht noch einmal erklang, entspannte er sich wieder. Er hielt nach wie vor die Tür auf und fragte schließlich. „Meister Zayl?“

Der nickte dem Leibwächter kurz zu, dann stieg er lautlos wie ein Schatten ein. Salene schien ein wenig nach Luft zu ringen, als sie seine Eleganz und Gewandtheit bemerkte. Vom gegenüberliegenden Platz kam nur ein gemurmelter Fluch.

Zayl, dessen Nachtsicht besser war als die der meisten Menschen, sah den verbissenen Gesichtsausdruck ihres Bruders. Trotz dieser feindseligen Haltung fand Zayl, dass der Mann keine ernsthafte Bedrohung für ihn darstellte. Sardaks einzige bemerkenswerte Waffe war der Alkohol, und den setzte er gegen sich selbst ein.

Die wenigen Sekunden, in denen die Aufmerksamkeit des Nekromanten dem Bruder gegolten hatte, genügten Lady Nesardo, um sich zu sammeln. Sie deutete auf die große Gürteltasche. „Diese Kutsche ist recht eng. Polth kann das in der Gepäckkiste verstauen, wenn es Euch lieber ist. Dann könnt Ihr bequemer sitzen.“

Rasch legte er eine Hand auf die Tasche und entgegnete: „Das bleibt bei mir.“

Seine Handbewegung konnte ihr nicht entgangen sein, doch sie sagte nichts dazu. „Ja, ich habe gesehen, wie die Diebe ihre Lektion bekommen haben.“

Weiter sagte Lady Nesardo nichts zu der Tasche, sie ließ nicht einmal Neugier erkennen, was sich wohl darin befinden mochte – obwohl sie im Gasthaus die Stimme gehört haben musste, die daraus ertönt war. Wenn Zayl es für richtig hielt, ihrer Bitte nachzukommen, würde sie die Wahrheit noch früh genug erfahren.

Sardak schwieg während der ganzen Fahrt beharrlich und starrte den Nekromanten an, als seien dem inzwischen Reißzähne und Hörner gewachsen. Zayl hatte erwartet, seine Gastgeberin würde ihm ihr Anliegen schildern, doch wenn sie sprach, wollte sie nur banale Dinge von ihm wissen: wie sich die Reise über die Zwillingsmeere gestaltet hatte, wie es in Lut Gholein so war …. Salene fragte ihn nicht, warum er überhaupt so weit gereist war. Die Edelfrau gab sich alle Mühe, ihn mit dem Respekt zu behandeln, der an sich nur jemandem ihres Standes vorbehalten war. Als jemand, auf den normalerweise herabgeblickt wurde und dem man mit Ablehnung, Misstrauen oder auch Angst begegnete – alles Verhaltensmuster, die ihr Bruder in diesem Moment erfüllte –, empfand Zayl ihr Benehmen erfrischend angenehm.

Dann wurde er völlig unerwartet von einer schwarzen Woge überspült, die seine Sinne drangsalierte.

Das Innere der Kutsche verschwand vor seinen Augen, während der Nekromant in einem endlosen schwarzen Wirbel gefangen war. Knochige Finger zerrten an seinem Fleisch, er hörte das Heulen verlorener Seelen. Die Finger ließen nicht locker und weckten die Erinnerung an eine andere schreckliche Zeit, die den Rathmaner dazu veranlasste, die rechte Hand mit aller Kraft zu verkrampfen.

Plötzlich war Zayl in einer klebrigen Flüssigkeit gefangen, die er nicht sehen konnte. Sie war einfach überall, und die kleinste Bewegung genügte, um ihn noch weiter damit zu umschließen. Das Heulen wurde eindringlicher, er hörte Schlachtenlärm und Todesschreie. Magische Kräfte entfalteten ihre Wirkung.

Und dann … dann näherte sich noch etwas anderes. Es griff von jenseits des Todes nach ihm, und obwohl dieser Ort so weit von ihm entfernt war, konnte Zayl dennoch das unbeschreiblich Böse fühlen, das von ihm ausging …

Im gleichen Augenblick drängte sich eine andere Präsenz in seinen gemarterten Verstand. Wer oder was es war, konnte Zayl nicht sagen. Er begriff nur, dass es versuchte, ihn von dem wegzuzerren, was ihn attackiert hatte. Er umklammerte die Rettungsleine, die ihm zugeworfen worden wurde, und schließlich gelang es ihm, seinen Geist zu sammeln.

Der Nekromant löste sich aus der klebrigen Falle, in der er festgehalten worden war. Die Hände, die nach ihm griffen und die klagenden Stimmen schwanden allmählich, und mit ihnen legte sich auch der Schmerz. Die düstere Präsenz, deren Plan vereitelt worden war, zog sich an den fürchterlichen Ort zurück, von wo sie gekommen war.

Die Welt der Sterblichen nahm vor ihm wieder Konturen an.

Das Erste, was er sah, war Lady Salene Nesardos in Schatten getauchtes Gesicht. Ihre Miene strahlte große Besorgnis aus. Ihre kühle Hand hatte sie an seine Schläfe gelegt.

Ihm wurde klar, dass sie die Rettungsleine nach ihm ausgeworfen hatte. Die Edelfrau verfügte über eigene magische Fähigkeiten.

„Sein Blick wird wieder klar“, murmelte sie und streckte die andere Hand ihrem Bruder hin. „Gib mir deine Flasche.“

„Salene …“

„Die Flasche!“

Im nächsten Moment hielt sie ein silbernes Trinkgefäß an Zayls Lippen. Die Lebensweise eines Rathmaners verbot keinen Alkohol, doch die Flüssigkeit, die durch seine Kehle lief, brannte wie Feuer.

Der Nekromant musste heftig husten, dabei hörte er Sardak kichern.

„Mit den Toten wird er fertig, aber nicht mit einem Schlückchen Alkohol …“

Salene warf ihm einen wütenden Blick zu. „Wenn man bedenkt, was du alles in dich hineinschüttest, kannst du dankbar dafür sein, dass es nicht schon dein Geist ist, den er für mich anrufen soll!“

„Mein Geist jedenfalls wäre davon begeistert!“

Zayl ignorierte das Geplänkel der beiden, das eindeutig ein Dauerzustand war und nichts mit der brutalen Attacke auf ihn zu tun hatte. Er setzte sich wieder auf und sorgte dafür, dass ihm nicht anzusehen war, was ihm durch den Kopf ging. Nach außen hin wirkte er wieder ruhig und gefasst, doch in seinem Innern spürte der Nekromant noch die Folgen des Angriffs, der völlig überraschend erfolgt war, als seine Aufmerksamkeit etwas nachließ.

Doch wo lag der Ursprung dieser Attacke? Bei seiner Ankunft in Westmarch hatte er nichts dergleichen gespürt, nicht einmal im „Schwarzen Widder“. Wie konnte eine so starke Macht auf so eng begrenztem Raum auftreten?

„Fühlt Ihr Euch besser?“, fragte Salene.

„Mir geht es gut.“

„Was war mit Euch passiert?“

Anstatt ihr zu antworten, sah Zayl sie lange an und meinte dann: „Es geht um mehr als darum, mit dem Geist eines geliebten Menschen zu reden, nicht wahr?“

Die Kutsche blieb jäh stehen, und Lady Nesardo sah rasch aus dem Fenster.

„Wir sind da“, erklärte die Edelfrau, ohne auf Zayls Frage einzugehen.

„O trautes Heim“, fügte Sardak spöttisch an.

Polth öffnete seiner Herrin die Tür, dann hielt er ihr einen Arm hin, damit sie sich festhalten konnte. Sardak, der sich für seinen berauschten Zustand erstaunlich elegant bewegte, folgte ihr, ohne den Nekromanten auch nur eines Blickes zu würdigen.

Draußen sagte Salene zu Polth: „Hilf unserem Freund, Polth. Für ihn war die Fahrt nicht so angenehm.“

Der Leibwächter hielt ihm ohne zu zögern die Hand hin. „Meister Zayl?“

„Danke, aber ich habe mich wieder erholt.“ Er achtete darauf, dass ihm nicht die Gürteltasche abhandenkam, und stieg aus der Kutsche. Während er seine Kräfte gesammelt hatte, waren sie nicht nur bis an das Tor gefahren, das zu ihrem Ziel führte, sondern hatten dieses Tor bereits hinter sich gelassen. Ein weitläufiger, gepflegter Rasen wurde von einer hohen Mauer aus Ziegelsteinen umgeben, auf die man Metalldornen gepflanzt hatte. Zayl sah, dass die Kutsche einen gewundenen und gepflasterten Weg hinaufgefahren war, der vom Tor bis zur Pforte des Hauses führte.