Diablo: Der Sündenkrieg 2 - Die Schuppen der Schlange - Richard A. Knaak - E-Book

Diablo: Der Sündenkrieg 2 - Die Schuppen der Schlange E-Book

Richard A. Knaak

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Beschreibung

Besessen davon, die Menschen für ihre eigenen Zwecke unter Kontrolle zu bekommen, fechten die Mächte von Gut und Böse einen geheimen Krieg um die Seelen der Sterblichen aus. Dies ist die Geschichte des Sündenkrieges – des infernalen Konfliktes, der die Geschicke der Menschheit für immer verändern sollte. Uldyssian ist versessen darauf den bösartigen Kult der Triune zu vernichten. Dabei entgeht ihm, dass Inarius – der geheime Prophet der Kathedrale des Lichts – ihn unbemerkt bei seinem Vorhaben unterstützt. Besessen davon, seinem Refugium wieder zu altem Glanz zu verhelfen, setzt Inarius Uldyssian als Waffe gegen die beiden großen Religionen ein, um beide zu Fall zu bringen. Doch es gibt da noch einen weiteren Akteur im Kampf um die Seelen der Sterblichen: Die Dämonin Lilith. Sie war einst Inarius Geliebte und will die Menschheit in eine Armee aus Naphalem verwandeln – gottgleiche Kreaturen, mächtiger als es Dämonen oder Engel jemals sein könnten. Diese Streitmacht soll die Schöpfung vernichten und Lilith zu uneingeschränkter Macht verhelfen. Das Schicksal der Sterblichen scheint besiegelt zu sein.

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Seitenzahl: 553

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DIABLO: Der Sündenkrieg I – Geburtsrecht

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THE ART OF DIABLO

Großformat im Hardcover, ISBN 978-3-8332-3835-2

Weitere Titel und Infos unter www.paninishop.de

Der Sündenkrieg

Buch 2Die Schuppen der Schlange

Richard A. Knaak

Ins Deutsche übertragen von Ralph Sander

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Amerikanische Originalausgabe: „DIABLO: The Sin War II – Scales of the Serpent“ von Richard A. Knaak, erschienen bei Simon and Schuster, Inc., 2007.

Copyright © 2007, 2021 Blizzard Entertainment, Inc. Alle Rechte vorbehalten.

Deutsche Ausgabe: Panini Verlags GmbH, Schlossstraße 76, 70176 Stuttgart.

Geschäftsführer: Hermann Paul

Head of Editorial: Jo Löffler

Head of Marketing: Holger Wiest (E-Mail: [email protected])

Presse & PR: Steffen Volkmer

Übersetzung: Ralph Sander

Lektorat: Manfred Weinland

Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart

Satz und E-Book: Greiner & Reichel, Köln

YDDITP006E

ISBN 978-3-7367-9863-2

Gedruckte Ausgabe:

ISBN 978-3-8332-4085-0

1. Auflage, August 2021

Findet uns im Netz:

www.paninibooks.de

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Für alle treuen und geduldigen Fans der Welt des Sanktuariums

PROLOG

Die Welt war nach der Wiederkehr der Nephalem kaum mehr wiederzuerkennen, doch die größte Veränderung von allen erfuhr der Erste ihrer Art, Uldyssian ul-Diomed. Er hatte nichts weiter gewollt, als das einfache Leben eines Bauern zu führen, und nun war er gezwungen, eine Rebellion anzuzetteln. Durch ihn sollte ein Teil der Wahrheit bekannt werden, die das Sanktuarium betraf – wie die Welt von jenen genannt wurde, die am eifrigsten darum bemüht waren, sie unter ihre Kontrolle zu bringen. Durch ihn erfuhren andere vom ewigen Krieg zwischen den Engeln und Dämonen, die sich hinter der Kathedrale des Lichts und dem Tempel der Triune verbargen.

Da beide wussten, dass Uldyssian eine Gefahr für ihre hochfliegenden Pläne darstellte, versuchten die Kathedrale und der Tempel, jeder auf seine Weise, ihn als Gefahrenherd auszuschalten. Sie wollten ihn entweder zu ihrer Marionette machen – oder ihn vernichten.

Tragischer war jedoch, dass Uldyssian – der durch etwas verraten wurde, was er für Liebe hielt – zu einer Gefahr für sich selbst geworden war. Denn er riskierte, blind für das zu werden, was rings um ihn geschah, auch als er versuchte, die Menschen von dem Joch jener zu befreien, die sich für die rechtmäßigen Herrscher über diese Rasse hielten.

Doch obwohl Uldyssian das Gefühl hatte, das Schicksal des ganzen Sanktuariums laste auf seinen müden Schultern, konnte er nicht wissen, dass es schon andere gegeben hatte, die jahrhundertelang gegen die gleichen Feinde gekämpft hatten wie er, auch wenn es Jahrhunderte gewesen zu sein schienen, die keinerlei Fortschritt und Anlass zur Hoffnung erbracht hatten.

Davon ahnte er nichts, was für ihn vermutlich das Beste war. Denn jene anderen wussten ihrerseits nicht mit Gewissheit, ob sie ihn willkommen heißen … oder vernichten sollten.

Aus den Büchern von Kalan

Fünfter Band, Erstes Blatt

EINS

Die Stadt Toraja brannte.

Auch wenn sie es in Sachen Größe oder Ruhm nie geschafft hatte, an das prachtvolle Kehjan im Osten heranzureichen, war Toraja doch weithin bekannt für ihre einzigartigen Sehenswürdigkeiten, die sie Pilgern wie Einwohnern gleichermaßen bot. Es gab einen weitläufigen, offenen Markt nahe des nordwestlichen Tores, wo man alles aus bekannten Ländern erwerben oder verkaufen konnte. Jenseits des Stadtzentrums befanden sich die jahrhundertealten, kunstvoll gestalteten Gärten. Dort konnte man die Spiralbäume ebenso bewundern wie die Falo-Blumen, sagenumwobene Gewächse, deren Blütenblätter in den unterschiedlichsten Farben variierten und die einen Duft verströmten, den kein Parfümeur nachzuahmen imstande war.

In der Nähe dieser Gärten ragte die Arena von Klytos auf. Sie war Austragungsort der Nirolischen Spiele, zu denen das Publikum auch aus der Hauptstadt herbeiströmte.

Doch alle diese legendären Stätten, sonst oft bis an ihr Fassungsvermögen besucht, lagen an diesem schrecklichen Abend wie verlassen da. In einem bestimmten Teil der Stadt gab es überhaupt nur ein einziges Geschehen – aber das konnte noch aus großer Entfernung, etwa vom dichten Dschungel aus, der Toraja wie eine gewaltige grüne Mauer umgab, beobachtet werden.

Toraja brannte – und der Tempel der Triune bildete den Mittelpunkt des Flammenmeers. Die Flammen erhellten den Himmel über dem dreieckigen Bauwerk mit seinen drei Türmen. Es war der größte Tempel der Konfession, wenn man vom Haupttempel in Kehjan absah. Dicker schwarzer Rauch quoll aus dem vordersten Turm, der Mefis gewidmet war, einem der drei lenkenden Geister. Der riesige rote Kreis, der für den Orden und gleichzeitig für die Liebe stand – die Sphäre, die von Mefis mutmaßlich beeinflusst wurde –, war in Schräglage geraten. Der aus Eisen gegossene, gigantisch große Kreis stellte für alle, die sich unter ihm aufhielten, eine tödliche Gefahr dar, da das Feuer unerbittlich an den noch verbliebenen Stützen und Halterungen fraß. Die ursprünglichen Erbauer des Tempels hätten sich in ihren schlimmsten Träumen nicht ausmalen können, dass ihr Werk einmal ein solches Schicksal ereilen könnte – folglich hatten sie auch keine Maßnahmen ergriffen, um den Ring zusätzlich zu sichern.

Während dem Turm von Mefis erst noch eine Katastrophe drohte, war der von Dialon zur Rechten bereits davon erfasst worden. Der stolze Widderkopf – Symbol der Entschlossenheit – hing noch oben auf seinem Platz, doch die Konstruktion darüber war in sich zusammengestürzt. Ungewöhnlich war, dass von dort oben nur wenige Trümmer auf die Straßen der Umgebung herabgefallen waren. Vielmehr stapelten sich Steine und geborstenes Holz auf dem restlichen Turm, so als wäre das Bauwerk auf unerklärliche Weise implodiert.

Hunderte von Leuten liefen auf dem Gelände vor den Stufen aufgeregt hin und her, diejenigen, die sich dem Eingang am nächsten befanden, trugen Gewänder in Azur, Gold oder Schwarz, je nachdem, zu welchem der drei Orden sie gehörten. Bei ihnen standen Scharen von Gestalten in Gewändern mit Kapuze und Brustschild – die Friedenswahrer des Tempels –, die mit Schwertern und Lanzen bewaffnet waren. Die Getreuen der Triune trotzten einer regelrechten Woge aus Leibern, die gegen sie anstürmte. Die Angreifer in den vordersten Reihen trugen die schlichte Kleidung der Bauern aus den oberen Ländern weit im Nordwesten des Dschungels. Die blasse Hautfarbe und die eng anliegende Kleidung dieser Gruppe bildeten nicht nur einen krassen Gegensatz zu den vorwiegend dunkelhäutigen Dienern des Tempels, sondern auch zu jenen, die den Großteil der nachfolgenden Angriffswellen stellten. Es waren vor allem gebürtige Torajaner selbst, die gegen die Triune vorgingen, was leicht zu erkennen war, da sie weite, wallende Stoffe in Rot und Purpur trugen und das lange, schwarze Haar im Nacken zusammengebunden hatten.

Zwar waren es die Angreifer, die über die meisten Fackeln verfügten, doch die Flammen, die weite Teile der umliegenden Stadt verwüsteten, gingen nur zu einem geringen Anteil auf ihr Konto. Eigentlich konnte niemand mit Gewissheit etwas über die Entstehung der ersten Brände sagen. Sicher war nur, dass sie zu Beginn zugunsten der Priesterschaft zu wüten schienen, was die Sympathie für die Triune mit einem Mal in Wut umschlagen ließ.

Diese Wut war Uldyssians Ansporn gewesen, um den Tempel umgehend dem Erdboden gleichzumachen. Nach seiner Ankunft in Toraja – und nachdem er Herr über sein Erstaunen geworden war, so viele Menschen an einem Ort zusammengedrängt zu sehen –, hatte er vorgehabt, allmählich auf die Bürger so einzuwirken, dass sie irgendwann schließlich die Priester und ihre Untergebenen aus der Stadt jagen würden. Doch nach einem so abscheulichen Akt, dem Dutzende Einwohner von Toraja und sogar einige seiner eigenen Anhänger zum Opfer gefallen waren, war im Herzen des einstigen Bauern kein Platz mehr für Bedauern oder Sympathie.

Ich kam in diese Stadt in der Hoffnung, zu lehren und Menschen zu bekehren, dachte Uldyssian verbittert, als er die Stufen hinaufging. Aber sie haben uns stattdessen all dies hier aufgezwungen.

Ohne ihn kommen zu sehen, teilte sich vor ihm die Menge. Diejenigen, die von der Macht berührt worden waren, die in Uldyssian pochte – die Macht der Nephalem –, konnten seine Nähe spüren. Die Vorwärtsbewegung der Menge kam unvermittelt zum Erliegen. Sie fühlten, dass Uldyssian etwas beabsichtigte. Er war nicht der Grund für die Verheerungen, die den Tempel bis dato überrollt hatten. Sie waren die Folge der wesentlich roheren Anstrengungen einiger übereifriger Anhänger gewesen, zu denen auch der Parthaner Romus zählte. Romus gehörte zu der Handvoll am weitesten Fortgeschrittenen von Uldyssians Akolyten. Partha war die zweite Stadt, die Zeuge von Uldyssians wunderbarer Gabe geworden war, nachdem man den Sohn des Diomedes in seiner Heimatstadt Seram für die gleichen Wunder als Mörder und Monster verstoßen hatte. In Partha waren seine Fähigkeiten ebenso willkommen gewesen wie seine schlichten, aber ehrlichen Überzeugungen.

Uldyssian entsprach keineswegs dem Bild eines Propheten, der auf einen Kreuzzug ging – wie man es aus manchen Fabeln kannte. Er war auch kein engelsgleicher, niemals alternder Jüngling wie jener, der die Kathedrale des Lichts führte – die mit dem Tempel rivalisierende Konfession –, und ebenso wenig ein silberhaariger, gütiger Ältester wie der Primus, dessen Dienern nun Uldyssians Rache drohte. Uldyssian ul-Diomed war als ein Mann zur Welt gekommen, dessen Bestimmung es war, das Feld zu bestellen. Er hatte ein kantiges, grobschlächtiges Gesicht, das zur Hälfte von einem kurz geschnittenen Bart verdeckt war, und er war wegen der Mühsal seines kargen Lebens von kräftiger Statur, ansonsten aber völlig unscheinbar. Sein sandfarbenes Haar hing ihm wirr und zerzaust bis in den Nacken, doch im Chaos dieser Nacht wäre ohnehin jeder Versuch, ordentlich daherzukommen, zum Scheitern verurteilt gewesen. Er trug ein schlichtes braunes Hemd und eine Hose in gleicher Farbe, dazu abgewetzte Stiefel. Von einem Messer abgesehen, das er sich in den Gürtel geschoben hatte, führte er keine Waffe bei sich. Er benötigte auch keine, denn er selbst war tödlicher als die schärfste Klinge oder der schnellste Pfeil.

Er war sogar tödlicher als der Trupp Friedenswahrer, der in diesem Moment auf ihn losstürmte. Dahinter brüllte ein Priester von Dialon gebieterisch seine Befehle. Uldyssian empfand keinen besonderen Hass auf diesen Narren, da er wusste, dass der Kleriker lediglich die Worte aussprach, die sein Vorgesetzter irgendwo tief im Tempelkomplex ihm vorgegeben hatte. Und doch würden die Krieger und auch der Priester für ihre unerschütterliche Treue zu dieser üblen Konfession büßen müssen.

Uldyssian ließ die Wachen herankommen, bis er sich in Reichweite ihrer Waffen befand. Dann sorgte er mit nichts weiter als einem Wimpernzucken dafür, dass der gesamte Trupp in alle Himmelsrichtungen davongewirbelt wurde. Einige prallten gegen die Säulen am Kopfende der Treppe, wobei ihre Knochen beim Aufprall deutlich hörbar brachen. Andere flogen bis zu den bronzenen Türen des Tempels, schlugen dagegen und gingen mit verrenkten Gliedmaßen zu Boden. Wieder andere landeten links oder rechts vor den Füßen seiner Anhänger, die angesichts der Machtdemonstration ihres Führers in lauten Jubel ausbrachen.

Ein neben dem Priester befindlicher Bogenschütze schoss einen Pfeil auf Uldyssian ab – doch er hätte keine fatalere Entscheidung treffen können. Der Sohn des Diomedes zog die Augenbrauen als einziges äußeres Anzeichen der schrecklichen Erinnerung zusammen, die ihm durch den Sinn ging. Vor seinem geistigen Auge erlebte er wieder, wie sein Freund Achilios dem Dämon Lucion gegenübergetreten war. Lucion hatte in der Gestalt des Primus die Triune geschaffen, um die Menschheit zu korrumpieren und zu knechten. So eindringlich wie in dem Moment, da es sich abgespielt hatte, sah er wieder, wie der Pfeil des Jägers auf Geheiß des Dämons mitten im Flug kehrtmachte und Achilios’ Kehle durchbohrte.

Uldyssian tat nun das Gleiche mit dem auf ihn abgefeuerten Geschoss. Ohne Verzögerung beschrieb die Flugbahn einen Bogen, und der Pfeil raste zurück. Der Bogenschütze konnte kaum glauben, was er da sah. Doch er war wirklich nicht das Ziel. Stattdessen durchbohrte der Pfeil die Brust des Priesters, als zerteile er lediglich die Luft, und näherte sich Mefis’ kreisrundem Symbol an der Tür. Von Uldyssians Willen getrieben, schlug das Geschoss genau in der Kreismitte ein und grub sich tief in das Metall.

Alles lief so schnell ab, dass der getroffene Priester erst jetzt zu schwanken begann. Er stieß ein Röcheln aus, und das Blut strömte nicht nur aus der verletzten Brust, sondern auch aus dem Mund. Sein Gesichtsausdruck erschlaffte, und dann fiel die Gestalt vornüber und rollte die Stufen mit makaber umherwirbelnden Gliedmaßen hinunter.

Der Bogenschütze ließ seine Waffe fallen und sank vor Entsetzen auf die Knie. Seinen Blick hatte er auf Uldyssian gerichtet, und er erwartete ganz offensichtlich, dass nun sein Ende gekommen sei.

Totenstille legte sich über die unmittelbare Umgebung, während Uldyssian sich dem Mann näherte. Hinter jenem Krieger versuchten die übrigen Verteidiger des Tempels, sich neu zu formieren. Das Blut mehrerer leidenschaftlicher Bekehrter aus Uldyssians Reihen, das den Boden bedeckte, zeugte von der Entschlossenheit der Friedenswahrer, niemanden passieren zu lassen.

Das Kinn vorgeschoben, legte er eine Hand auf die Schulter des knienden Wachmanns, dann sprach er mit einer Stimme, dröhnend wie Donnerhall: „Dieser soll verschont bleiben … als Exempel für die anderen.“ Sein finsterer Blick wanderte zu den übrigen Friedenswahrern. „Der Rest kann dem Primus in die Hölle folgen.“

Seine Worte sorgten bei den bewaffneten Wachen für einige Verwirrung, weil sie nicht wissen konnten, dass er Lucion getötet hatte. Es war nicht das erste Mal, dass Uldyssian dieser Reaktion begegnete, und er konnte es sich nur damit erklären, dass die entfernter gelegenen Tempel noch nichts vom unerklärlichen Verschwinden des Primus erfahren hatten. Der älteren Priesterschaft war es allem Anschein nach gelungen, jeden Hinweis auf diese Katastrophe zu verheimlichen. Uldyssian würde jedoch dafür sorgen, dass die ganze Welt davon erfuhr.

Denen in Toraja würde es gleich sein, denn nach dieser Nacht war es sicher, dass die Triune für viele Einwohner ebenso zum Inbegriff der Verdammnis werden würde wie sein eigener Name.

Er blickte zu den Wachen und Priestern. „Ihr habt genug vom Blut anderer Menschen vergossen. Jetzt bezahlt ihr mit eurem eigenen dafür!“

Plötzlich begann einer der Friedenswahrer zu keuchen. An seiner Kehle bildete sich scheinbar von selbst ein langer Schnitt, aus dem Blut quoll. Der Mann versuchte, die Öffnung mit der Hand zuzudrücken, doch auch die Hand blutete stark. Weitere Stellen in seinem Fleisch öffneten sich, als würden ihn von allen Seiten unsichtbare Schwerter attackieren. Aus all diesen Wunden schoss das Blut.

Die ihn umgebenden Männer zogen sich zurück, doch einer nach dem anderen wurde vom gleichen Schicksal ereilt. Innerhalb weniger Augenblicke waren sie von klaffenden Wunden übersät, und sogar hinter den Brustschilden und unter den Helmen trat Blut hervor.

Der erste Mann sackte schließlich zu Boden und sank in eine Lache seines eigenen Blutes, das den kurz zuvor noch so makellos sauberen Marmorboden verfärbte. Schnell waren auch die übrigen Krieger zu schwach, um sich noch länger auf den Beinen zu halten, und nur einen Moment später brachen immer mehr Tempelwächter und Priester zusammen, übersät von einem Hundertfachen der Verletzungen, die sie nicht nur Uldyssians Leuten, sondern über die Jahre hinweg auch unzähligen namenlosen Opfern zugefügt hatten. Niemandem, der von Uldyssians hasserfülltem Blick getroffen wurde, blieb dieses Los erspart.

Überall in den Reihen der übrigen Verteidiger verloren finstere Friedenswahrer die Nerven und ließen ihre Gefährten im Stich. Die Priester standen daneben und unternahmen nichts, um sie aufzuhalten. Denn sie selbst waren viel zu entsetzt darüber, welche Macht diese einsame und unscheinbar aussehende Gestalt demonstrierte.

Die Menge brüllte erneut auf, da Uldyssians Wirken für sie der Beweis für einen völlig ungefährdeten Sieg sein musste, und stürmte weiter voran. Die verbliebenen Friedenswahrer wurden überrannt, und wie Uldyssian kundgetan hatte, wurde ihnen keine Gnade zuteil. Er ließ den Kampf um sich herum seinen Lauf nehmen, da ihn mehr interessierte, was sich hinter den Mauern des Tempels befand. Friedenswahrer und niederrangige Priester waren bedeutungslos, denn die wahre Bedrohung wartete auf ihn tief im Heiligtum des obersten Klerikers, der unmittelbar dem Primus unterstand und dem somit die furchtbare Wahrheit bekannt war, was die Herkunft und die Ziele der Triune betraf.

Vor Uldyssian befanden sich die drei Tore mit dem Widder von Dialon, dem Kreis von Mefis und dem Blatt von Bala nun auf Augenhöhe. Der Pfeil, der den Priester durchbohrt hatte, ragte aus der mittleren Tür und zitterte noch ein wenig. Uldyssian wählte eben dieses Portal, um in den Tempel vorzudringen. Zwar nahm er zur Kenntnis, dass es von innen verbarrikadiert worden war, doch das hielt ihn nicht von seinem Vorhaben ab.

Von der Tür ging plötzlich ein qualvolles Stöhnen aus, und sie erbebte, als wollte sie jeden Augenblick zerbersten. Kurz darauf flog sie mit solcher Wucht auf, dass zwei Scharniere aus dem Mauerwerk gerissen wurden und sie schief in den Angeln hing.

Uldyssian merkte, dass sich etliche seiner Anhänger dicht hinter ihm befanden, als er den Tempel betrat. Der Punkt war erreicht, an dem er sie so wenig zurückhalten konnte, wie es den Friedenswahrern möglich gewesen war. Diese Leute brannten auf Vergeltung und waren nicht mehr aufzuhalten.

Er verstand die Gründe für ihren Zorn. Als er, sein Bruder Mendeln, ihre Freundin Serenthia und die Parthaner vor nicht ganz zwei Wochen in Toraja eingetroffen waren, waren sie nichts weiter als erschöpfte Reisende gewesen, die mit Ehrfurcht auf diese spektakuläre Stadt reagierten. Uldyssian war mit der Absicht hergekommen, seine Gabe auf friedfertige Weise allen zu offenbaren, die an ihr teilhaben wollten. Doch vom ersten Augenblick an reagierte die Triune so, als habe man ihr ein Vipernnest vor die Tür gelegt.

Bereits zwei Tage nachdem die Massen auf dem Marktplatz zusammengekommen waren, um sich seine Geschichte anzuhören, trat die torajanische Stadtwache auf den Plan und jagte Uldyssians Anhänger aus der Stadt, während man den einstigen Bauern selbst an einen unbekannten Ort verschleppte, um ihn dort festzuhalten. Eine Erklärung für dieses Vorkommnis hatte er nicht bekommen, doch es wurde sehr schnell klar, dass die Befehle aus dem Tempel gekommen waren.

Bis zu diesem Augenblick hatte Uldyssian geglaubt, Toraja könne ein zweites Partha werden. Je länger er aber darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm, dass sich beide Städte in Wahrheit doch sehr unterschieden. Immerhin waren unter dem Kommando von Mefis’ sadistischem Hohepriester Malic einige von Uldyssians Freunden brutal niedergemetzelt worden!

Ein Aufschrei irgendwo hinter ihm riss ihn aus seinen Gedanken. Uldyssian wirbelte herum.

Zwei Tote lagen auf dem gefliesten Boden, drei weitere Kämpfer waren schwer verwundet. Kleine metallene Sterne steckten in Kehle, Brust und anderen Körperpartien. Die Toten waren Parthaner, was ihn umso tiefer traf, als sie sich aus eigenem Ansporn auf den Weg gemacht hatten, um einem unwilligen Uldyssian bis tief in den Dschungel zu folgen und sich ihm anzuschließen.

Mit einer wütenden Geste zerteilte er die Luft in der Kammer, eine Handlung, die gerade noch rechtzeitig erfolgte, um einen weiteren Schwarm metallener Sterne mitten im Flug erstarren zu lassen, die wohl von einer Art Mechanismus in den Wänden abgefeuert wurden. Die meisten dieser tödlichen Geschosse ließ Uldyssian klimpernd auf dem Boden aufschlagen, doch ein paar von ihnen schickte er zurück in die Öffnungen, aus denen sie gekommen waren, um so zu verhindern, dass weitere Angriffswellen auf sie gerichtet werden konnten.

Die Sterbenden waren allesamt Torajaner, und einer von ihnen war Uldyssian vertrauter als die übrigen. Jezran Rhasheen war der Erste gewesen, der sich dem blassen Fremden genähert hatte, als der auf dem Marktplatz zu den Einwohnern der Stadt sprach. Der dunkelhäutige Jüngling war der einzige Sohn eines bekannten Kaufmanns von Toraja. Es hatte keinen wirklichen Grund für ihn gegeben, Uldyssian zuzuhören – geschweige denn dessen Worte zu akzeptieren –, denn Jezran mangelte es im Leben an nichts. Und doch hörte er zu, und vor allem hörte er hin. Als Uldyssian anbot, seine Gabe mit jedem Torajaner zu teilen, der daran interessiert war, hatte Jezran nicht gezögert und war auf ihn zugekommen.

Der sterbende Knabe sah den vor ihm aufragenden Uldyssian an, als er sich neben ihn hinkniete und eine Hand unter seinen Kopf schob. Wie bei allen Leuten aus Toraja wirkte auch bei ihm das Weiß in den Augen viel heller und lebendiger. Uldyssian wusste, es war eine Täuschung, verursacht durch die dunklere Hautfarbe, dennoch fesselte ihn der Anblick.

Jezran brachte ein mühsames Lächeln zustande, machte den Mund auf … dann starb er. Uldyssian fluchte, da er wusste, dass es nicht einmal ihm noch möglich gewesen wäre, den Jungen zu retten.

Aber vielleicht galt das nicht für die anderen! Behutsam legte er den Kopf des Jugendlichen auf den Boden und wandte sich dem nächsten Opfer der Angriffswelle zu. Er legte eine Hand auf die Stirn des Mannes, der daraufhin erschrocken zu keuchen begann. Von einem hässlichen Geräusch begleitet wurden die todbringenden Sterne aus dem Körper gedrückt, die Wunden schlossen sich.

Dankbar lächelte der Torajaner ihn an.

Uldyssian wiederholte sein Bemühen beim dritten Opfer, einer Frau, dann sah er verbittert zu Jezran. Zwei Überlebende, aber ein Toter. So viel zu meiner spektakulären Gabe …

„Er hegt keinen Groll gegen dich“, sagte Mendeln, der hinter Uldyssian getreten war. Die Stimme seines Bruders klang ruhig und gelassen, obwohl um sie das Chaos tobte. „Er versteht jetzt auch besser die allumfassende Wahrheit als jeder von uns.“

Mendeln war von etwas schlankerer Statur als sein älterer Bruder, und schon immer der Lernbegierigere von ihnen gewesen. Zwar hatte er ebenso wie die anderen Bekehrten von Uldyssian die Gabe erhalten, doch bei ihm schien sie eine andere Wirkung zu entfalten. Uldyssian konnte bei seinem einzigen Bruder nichts von jener Kraft spüren, die ihn selbst durchströmte. Stattdessen wuchs in Mendeln ein Schatten heran, bei dem Uldyssian keine Gewissheit hatte, ob er aus etwas Bösem oder aus etwas Gutem heraus entstanden war.

Beim Blick in die durchdringenden schwarzen Augen seines Bruders knurrte Uldyssian: „Ich verstehe nur, dass er und so viele andere tot sind … aber ich bezweifle, ob ich jemals herausfinden werde, ob es meine Schuld ist oder die der Triune.“

„Das habe ich damit nicht gemeint …“ Weiter sprach Mendeln nicht. Uldyssian ging an der in Schwarz gekleideten Gestalt vorbei, um tiefer in den Tempel vorzudringen. Die anderen folgten ihm auf dem Fuße, hielten aber zu Uldyssians Bruder den gleichen Abstand ein wie zu ihrem Führer. In Mendelns Fall hing das jedoch inzwischen weniger mit Respekt ihm gegenüber zusammen, als vielmehr mit dem Unwillen, sich in der Nähe des fahlen Mannes aufzuhalten. Selbst diejenigen, die von der Macht nicht berührt worden waren, nahmen wahr, wie absonderlich der jüngere Sohn des Diomedes geworden war.

„Ich habe euch die Macht gezeigt“, sprach Uldyssian zu jenen, die ihm folgten. Gleichzeitig erforschte er mit seinem Geist, welche Gefahren vor ihnen auf sie lauerten. „Denkt daran, sie einzusetzen. Es ist euer Leben.“

In diesem Moment bemerkte er, dass sie kamen. Ein eisiger Schauer rann ihm über den Rücken, und er betete, dass seine Leute auf ihn gehört haben mochten … sonst würden noch mehr von ihnen eines schrecklichen Todes sterben.

Er wandte sich wieder dem vor ihnen liegenden Pfad zu. Die riesige Kammer, in der sie standen, war der zentrale Platz, auf dem die Gläubigen zusammenkamen, bevor die Predigten der drei Orden begannen. Gewaltige Statuen der lenkenden Geister der Triune wachten über die gesonderten Eingänge zu den Versammlungsstätten der einzelnen Orden. Bei den Statuen handelte es sich um geschlechtslose, ins Gewand des jeweiligen Ordens gehüllte Figuren. Bala ganz links trug einen Hammer und einen Sack mit der Saat des Lebens. Dialon zur Rechten hielt die Gesetzestafeln an seine Brust gepresst. Mefis in der Mitte – immer nur Mefis! – hielt seine leeren Hände so, als wolle er behutsam ein unschuldiges Kind entgegennehmen.

Ein Kind, das abgeschlachtet werden sollte, wie Uldyssian es sich immer vorstellte.

Mit diesem Gedanken streckte er warnend die Hand aus, und im selben Augenblick öffneten sich alle drei Türen gleichzeitig und ließen eine Horde grotesker, bestialischer Gestalten in schwarzen Rüstungen auf sie los. Sie schrien ihre Blutgier lautstark hinaus und hielten ihre Waffen hoch erhoben. Zwar waren sie weit weniger als die Eindringlinge, doch das änderte nichts an ihrem beängstigenden Erscheinungsbild, zumal Uldyssian genau wusste, was sich ihnen da entgegenstellte. Sie hatten etwas an sich, das nichts mehr mit dem Fleisch der Sterblichen gemein hatte, sondern schon längst dem Grab hätte übergeben werden müssen. Uldyssian spürte die Bestürzung, die seine Anhänger bei diesem Anblick erfasste. Er wusste, dass er ihnen zeigen musste, dass die Morlu zwar üble Kreaturen, aber nicht unbezwingbar waren.

Bevor er jedoch den ersten Schlag führen konnte, flammte vor seinen Augen ein blendendes Licht auf. Er stieß einen Schrei aus und taumelte gegen einen der Männer, die sich hinter ihm befanden.

In seiner Sorge um die anderen hatte er sich offenbar abermals überschätzt. Dabei hätte er damit rechnen müssen, dass die Priester mit diesem neuen Angriff irgendeine List verknüpfen würden.

Ein Händepaar packte Uldyssian und zog ihn zurück. Doch in diesem Moment rammte ihn etwas Wuchtiges von rechts. Er wirbelte herum und ging zu Boden.

Während er sich bemühte, wieder etwas zu sehen, gellten ringsum Schreie auf. Das Geräusch berstender Knochen ließ ihn abermals erschaudern. Er hörte ein tiefes, kehliges Lachen und erkannte die dämonische Stimme eines Morlu, der sich an dem von ihm verursachten Blutbad ergötzte.

Uldyssian hatte nicht erwartet, in Toraja auf die Ghule der Triune zu treffen. Vielmehr war er davon ausgegangen, dass ihre Art vorwiegend im riesigen Tempel nahe der Hauptstadt anzutreffen war. Diejenigen, die Malic begleitet hatten, stellten aus Uldyssians Sicht lediglich eine Ausnahme dar, weil der Primus ein besonderes Interesse am Sohn des Diomedes hatte. Nun jedoch überlegte Uldyssian, ob womöglich jedem Tempel einige Morlu zugeteilt waren – was nichts Gutes verheißen hätte, würde es doch bedeuten, dass weit mehr dieser Kreaturen existierten, als er sich in seinen schlimmsten Träumen auszumalen vermochte …

Allmählich konnte er wieder etwas sehen, doch es machte ihn rasend, dass er nicht in der Lage war, den Prozess zu beschleunigen. Viel zu langsam zeichneten sich Formen und Konturen vor seinen Augen ab.

Eine dieser Silhouetten war ein Morlu, der sich ihm näherte.

Es war erstaunlich, dass die massige Gestalt in ihrer schweren Rüstung sich so behände bewegen konnte. Der Morlu packte Uldyssian am Kragen und zog seine Beute bis auf Augenhöhe zu sich hoch.

Schwarze, endlos scheinende Löcher waren alles, was von den Augen des Morlu existierte, doch Uldyssian wusste, dass sein Gegenüber viel besser sehen konnte als jeder Sterbliche. Das hatte er beim Kampf im Heim von Meister Ethon zur Genüge erlebt, als er ein Gefühl dafür entwickelte, wie erzböse und mächtig jene Kraft war, die die Kämpfer mit ihren schwarzen Helmen antrieb.

„Du … bist der Eine …“, grunzte sein Angreifer mit einer Stimme, die keiner lebenden Kreatur zu entstammen schien. „Der Eine …“

Uldyssian konzentrierte sich auf seinen Gegner, doch ein weiteres Mal flammte das Licht vor seinen Augen auf und gab ihm das Gefühl, erblindet zu sein.

Der Morlu lachte noch lauter, dann stieß er ein eigentümliches Grunzen aus und ließ den geblendeten Uldyssian los, dem es instinktiv gelang, seinen Sturz abzufedern und sich nicht den Kopf am Boden aufzuschlagen.

Er schüttelte wiederholt das Haupt und konzentrierte sich ausschließlich darauf, wieder etwas zu erkennen. Tatsächlich nahm seine Umgebung langsam wieder Gestalt an – und dann entdeckte er Serenthia, die einen Speer in den Händen hielt und damit den Morlu durchbohrt hatte, als würde er keinerlei Panzerung tragen. Der Speer flammte silbern auf, und Serenthias schwarzes Haar wirbelte, als sei es lebendig. Ihre ohnehin leuchtend blauen Augen brannten nun vor Entschlossenheit. Ihre normalerweise elfenbeinweiße Gesichtshaut war errötet, und ihre vollen Lippen hatten einen Ausdruck von finsterer Befriedigung angenommen. Uldyssian zweifelte nicht daran, dass sie an Achilios’ Tod dachte, als sie den Speer tiefer in das zuckende Wesen trieb.

Sie hatte gerade erst begonnen, den Jäger zu lieben, da war er ihr auf brutalste Weise entrissen worden – nachdem sie jahrelang vergeblich auf Uldyssians Gunst gehofft hatte. Etwas, das ihn noch heute mit Scham erfüllte.

Serenthia war nicht nur eine der Allerersten, die Uldyssians Gabe akzeptierten, sie gehörte nun auch zu jenen, die sich ihrer am machtvollsten bedienten. Ihm war klar, dass diese Fähigkeit zu einem großen Teil mit dem Verlust zusammenhing, den sie erlittenen hatte, dennoch war selbst er über ihr Auftreten zutiefst erstaunt.

Der Morlu holte immer wieder verzweifelt nach ihr aus. Das hungrige Grinsen war längst einem Ausdruck gewichen, der fast ängstlich wirkte. Der Speer erlaubte es Serenthia, sich die Kreatur vom Leib zu halten.

Sie sah nun überhaupt nicht mehr aus wie die Tochter eines Kaufmanns vom Lande. Bluse und Rock aus schlichtem Stoff hatte sie eingetauscht gegen ein farbenprächtiges Wickelkleid, wie es die meisten Frauen in Toraja trugen. Durch ihr langes schwarzes Haar wirkte sie sogar ein wenig so, als habe sie etwas von diesen Frauen in ihrem Blut. Das Kleid war um die Beine herum weit und wallend geschnitten, und anstelle von Stiefeln trug Serenthia jene Schnürsandalen, die für die torajanische Mode typisch waren.

Der Morlu zuckte und zitterte heftig, seine massige Gestalt begann zu verschrumpeln. Innerhalb eines Atemzugs lag die faltige weiße Haut eng um seine Knochen, was ihn wie seit Langem tot aussehen ließ. Dennoch zog Serenthia ihren Speer nicht zurück. Ihr Gesicht war von einem beängstigenden Eifer geprägt.

„Serry!“, rief Uldyssian.

Seine Stimme durchdrang den Kampflärm … und auch ihren Zorn. Serenthia blickte zu ihm und dann – mit einem Schaudern – auf den Morlu. Eine Träne rann ihr über die Wange, eine Träne, die sie für Achilios vergoss.

Sie zog an dem Speer, der sich mühelos aus dem Leib ihres Gegners löste, der nun wie eine Marionette, deren Fäden man abrupt durchtrennte, zu Boden fiel. Knochen und Rüstung verteilten sich scheppernd auf dem Marmorboden.

Serenthia warf Uldyssian einen sowohl erleichterten als auch dankbaren Blick zu. Er sagte weiter nichts zu ihr, sondern nickte nur, um ihr zu zeigen, dass er sie verstand. Dann richtete er sich auf und sah nach den anderen.

Wie befürchtet, hatte die ihnen gestellte Falle weitere Leben gekostet. Überall lagen Tote, und auch wenn sich darunter viele Morlu befanden, war die Zahl der gefallenen Torajaner und Parthaner nicht unerheblich. Uldyssian entdeckte das reglose Gesicht einer Parthanerin, die an jenem Tag – nahe dem Stadtplatz, auf dem er zum ersten Mal gepredigt hatte – dabei gewesen war, als er den deformierten Arm eines kleinen Jungen heilte. Ihr Anblick weckte bittere Erinnerungen an jenen Knaben und seine Mutter Bartha, die beide ihr Leben im Kampf gegen Lucion verloren hatten. Der Junge war einer von vielen, die dem wahllosen Angriff des Dämons zum Opfer gefallen waren, und Bartha – die tapfere Bartha – starb bald darauf an gebrochenem Herzen.

So viel Blut …, dachte er. So viel davon meinetwegen vergossen – und weil sie an das glaubten, was ich ihnen bringen kann …

Plötzlich senkte sich Stille über die Kammer, und Uldyssian erkannte, dass der Kampf für den Augenblick zu Ende war. Die Morlu hatten die Eindringlinge nicht vollständig aufreiben können. Vielmehr waren es Lucions Bestien, die den Kürzeren gezogen hatten. Es war ihnen zwar gelungen, viele – zu viele! – Angreifer zu töten, doch letztlich waren ihre Reihen stärker dezimiert worden.

Das an sich kam bereits einem Wunder gleich, doch viel wichtiger war, dass die anderen seinem und Serenthias Beispiel folgten. Es lag nicht nur an den Waffen, dass man die Morlu geschlagen hatte, sondern auch an jener Gabe, von der auch Uldyssian erfüllt war – selbst wenn sie bei den anderen nicht so stark ausgeprägt sein mochte. Einer der Morlu war mit einem so präzisen Schnitt durch die Taille in zwei Hälften geteilt worden, dass es so aussah, als müsse man diese nur wieder zusammenfügen, damit er zu neuem Leben erwachte. Ein anderer war in die Höhe geschleudert worden und hing schlaff zwischen Mefis’ ausgestreckten Händen. Scharen weiterer besiegter Morlu präsentierten sich in den makabersten Zuständen – ein Anblick, von dem Uldyssian hoffte, dass er trotz der hohen Verluste in den eigenen Reihen seinen überlebenden Gefährten Mut machen würde, um weiterzukämpfen.

Noch während er seinen Blick über die Gefallenen schweifen ließ, war Uldyssians Kehle mit einem Mal wie zugeschnürt. Jene schwarze Flüssigkeit, die als Blut durch die Adern der Morlu floss, überzog die dreieckigen Bodenplatten, doch darunter mischten sich auch die kostbaren Lebenssäfte jener, die nicht schnell genug auf die Angreifer reagiert hatten – oder zögerten, als es darum ging, auf die Gabe zu vertrauen.

Uldyssian trauerte um jeden von ihnen, und er verfluchte die Tatsache, dass er sie all seiner Macht zum Trotz nicht wieder zum Leben würde erwecken können.

Aus Gründen, die er nicht verstand, kehrte sein Blick zu Mendeln zurück.

Er entdeckte seinen Bruder, der jedoch nicht bei den toten Kameraden stand, sondern bei zwei Morlu, die auf merkwürdige Weise ineinander verschlungen waren. Uldyssian zog überrascht eine Braue nach oben und fragte sich, welchem seiner Anhänger das wohl gelungen sein mochte.

Mendeln hielt in dem inne, womit immer er da beschäftigt war. Seine sonst so unbeeindruckte Miene bekam einen düsteren Zug, als er zu seinem Bruder blickte.

„Es ist noch nicht vorbei“, verkündete er völlig überflüssig. Doch, was den älteren Sohn des Diomedes erst richtig beunruhigte, waren die nächsten Worte. „Uldyssian … es werden Dämonen kommen.“

Kaum hatte Mendeln ausgesprochen, fühlte auch Uldyssian deren Nähe. Der Schrecken der Morlu – die zwar von Dämonenhand, aber aus sterblichem Fleisch erschaffen waren – hatte diese erschreckende Tatsache vorübergehend für ihn verdrängt. Doch nun spürte er sogar, wo sie waren … und dass sie auf ihn warteten.

Neben Lucion hatte er auch anderen Dämonen die Stirn geboten, doch keiner von ihnen hatte sich als annähernd so bedrohlich wie der Primus erwiesen. Dass diese neuen Dämonen nun aber so geduldig auf ihn warteten – eine Fähigkeit, die nur die listigsten unter ihnen besaßen –, machte seinen Argwohn umso größer.

Sie wussten von ihm, und sie wussten auch, was aus ihm geworden war …

Ihm blieb nur ein Weg. „Mendeln, Serenthia, passt auf die anderen auf! Niemand darf mir folgen!“

Sein Bruder nickte, doch die Frau stutzte. „Wir werden dich nicht allein –“

Ein Blick von Uldyssian genügte, um sie zum Verstummen zu bringen. „Ich will nicht, dass sich etwas von der Art wie bei Achilios wiederholt. Niemand folgt mir, erst recht keiner von euch beiden!“

„Aber, Uldyssian …“

Mendeln fasste ihren Arm. „Streite nicht mit ihm, Serenthia. Es muss so sein.“

Er sagte es auf eine Weise, die seinen Bruder dazu brachte, einen Moment lang innezuhalten und ihn anzusehen. Mendeln sagte jedoch weiter nichts, was in der letzten Zeit zu einem für ihn typischen Verhalten geworden war.

So rätselhaft der Ausspruch auch war, Uldyssian hatte längst gelernt, derartige Kommentare hinzunehmen. „Niemand folgt mir“, wiederholte er und sah alle Anwesenden der Reihe nach an. „Sonst wird es nicht der Zorn der Dämonen sein, der euch heimsucht!“

In der Hoffnung, dass sie auf ihn hörten, aber auch weiterhin von der Sorge begleitet, dass einige von ihnen – vor allem Serenthia – sich über seine Anweisung hinwegsetzen könnten, übertrat Uldyssian die Türschwelle, über die Dialons Anhänger gegangen wären.

Sobald er eingetreten war, schlug die Tür hinter ihm zu. Er wusste, dass das Gleiche auch mit den beiden anderen Zugängen geschehen war.

Er hatte sie persönlich zumindest vorübergehend versiegelt. Selbst Mendeln und Serenthia würden ihre Mühe haben, seine Maßnahme rückgängig zu machen. Solange es ging, würde Uldyssian dem Weg in die unterirdischen Gemächer allein folgen, zu jenen Orten, wo den wahren Meistern der Triune gehuldigt wurde.

Es hatten schon zu viele seiner Weggefährten ihr Leben lassen müssen.

Er spürte, dass er sich den Dämonen näherte, auch wenn ihm ihr genauer Aufenthaltsort unbekannt war. Genau genommen waren sie auch nur einer der Gründe, weshalb Uldyssian ausschließlich sich selbst in Gefahr bringen wollte.

Vielleicht hatte Mendeln ja genau darauf angespielt. Vielleicht war seinem Bruder ebenfalls die unterschwellige, aber ausgeprägte dritte Präsenz bewusst gewesen, die weitaus mächtiger war als ein simpler Priester. Eine Präsenz, die ihnen beiden sehr vertraut war.

Und die nur Lilith heißen konnte.

ZWEI

Rings um Mendeln wisperten Stimmen, und so erfuhr er, da er die Worte der Opfer hören konnte, die entsetzliche Wahrheit über diesen Ort.

So viele, dachte er. So viele zu Unrecht gestorben. Das Gleichgewicht der Kräfte ist allein wegen dieses Ortes extrem gestört.

Uldyssians Bruder wusste nicht ganz genau, was mit dem „Gleichgewicht“ gemeint war, doch er wusste, die schrecklichen Ereignisse, die sich hier über Jahre hinweg im Inneren des Tempels abgespielt hatten, waren die maßgeblichen Auslöser dieses Zustands. Das beunruhigte ihn noch stärker als die Tode, die sich in dieser Nacht ereignet hatten, obwohl sie ebenfalls nichts Gutes verhießen.

Und da war noch Lilith – oder Lylia, wie er, Serenthia und Uldyssian sie gekannt hatten, wobei Letzterer die schmerzhaftesten Erfahrungen mit ihr gemacht hatte.

Mendeln ging unruhig wie eine Katze auf und ab. Sein Blick war unablässig auf die Tür gerichtet, die sein Bruder so geschickt „verschlossen“ hatte. Die übrigen von Uldyssians Anhängern zogen durch die Kammern und zerstörten dabei alles Prachtvolle, obwohl das Feuer, das zurzeit noch in anderen Bereichen des Tempels wütete, früher oder später sein Werk auch hier tun würde. Mendeln, der sich sehr wohl bewusst war, dass ihnen der Sieg noch nicht sicher war, achtete mit großer Sorgfalt auf die Stimmen, auch auf die der toten Priester und der Friedenswahrer. Aber natürlich nicht auf die der Morlu, denn diese Kreaturen waren bereits seit langer Zeit tot, sodass er von ihnen nichts als hohle Leere empfing. Er horchte sehr aufmerksam und konzentrierte sich dabei auf solche Stimmen, die ihm interessanter erschienen als andere.

Welch einfaches Leben wir doch führten, dachte Mendeln mit einem Anflug von Wehmut. Bauern und Brüder in einem kleinen Dorf, dazu bestimmt, unser Leben damit zu verbringen, den Acker zu bestellen und Vieh zu züchten.

Es war alles Liliths Schuld, dass es so gekommen war, wie es kam. Lilith, die Uldyssian ausgewählt hatte, um ihn zu ihrer Spielfigur in einem Kampf zwischen Dämonen und Engeln zu machen, die sich um einen jämmerlichen kleinen Felsbrocken namens Sanktuarium stritten.

Mendelns Welt.

Er sah weder sich noch seinen Bruder als einen Helden der Menschheit, doch vor allem Uldyssian war in diese Rolle gedrängt worden, die er nun nicht mehr ablegen konnte. Offenbar hing das Schicksal aller Dinge davon ab, was Uldyssian tat. Mendeln konnte nur versuchen, für ihn da zu sein und ihm jede Unterstützung zu geben, zu der er fähig war.

Seine Überlegungen wurden von einem plötzlichen Gefühl drohenden Unheils unterbrochen. Die Stimmen verstummten – bis auf eine, die nicht zu ihnen gehörte. Sie war stärker, sie war lebendig, und es war die Stimme, die Mendeln während seiner mysteriösen Verwandlung Trost gespendet und ihn zugleich gelenkt hatte.

Hüte dich vor den Händen der Drei, sagte die Stimme. Sie greifen nach allem, dann zerquetschen sie es in ihrer unerbittlichen Umklammerung.

Er runzelte die Stirn angesichts dieses kryptischen Kommentars. Welchen Nutzen sollte er daraus ziehen?

„Serenthia!“, rief er leidenschaftlicher, als er sich selbst seit Tagen erlebt hatte. „Ihr alle – haltet euch von den Statuen fern!“

Doch für einige von ihnen kam die Warnung zu spät. Als wären sie lebendig, beugten sich die gigantischen Statuen vor. Balas riesiger Hammer fuhr auf zwei Torajaner herab, die von ihm zerquetscht wurden. Dialon schlug mit einer der Tafeln nach einem glücklosen Parthaner, der durch die Luft gewirbelt wurde.

Mefis … Mefis bekam eine Frau zu fassen und drückte seine Hand so fest zusammen, dass selbst Mendeln übel wurde, als er die Folgen sah.

Von einem steinernen Schaben und Kratzen begleitet, das in der Kammer widerhallte wie das vereinte Stöhnen der Toten, rückten die Statuen gegen die Eindringlinge vor. Die bis dahin selbstbewusste Truppe floh in Richtung der Türen, durch die sie hereingekommen war. Doch die Ausgänge waren ebenfalls verschlossen – und das war nicht Uldyssians Werk.

„Lilith“, keuchte er, als der gewaltige Dialon seine steinernen Augen auf ihn richtete und seinen Hammer hob. „Das ist ihr Werk …“

Uldyssian durchquerte die leere Gebetshalle. Seine Augen und anderen Sinne waren geschärft, um jede Gefahr frühzeitig zu erkennen. Geschlechtslose Statuen, die allesamt Dialon darstellten, starrten auf Uldyssian herab, der fand, dass ihre angeblich milden Mienen eher spöttisch wirkten.

Welcher mächtige Dämon bist du, Dialon?, überlegte er finster. Wie lautet dein wahrer Name?

In den äußeren Kammern hatten Fackeln, die in Wandnischen brannten, alles erhellt, hier jedoch hingen lediglich ein paar runde Öllampen von der gewölbten Decke herab und spendeten spärliches Licht. Hinzu kam, dass der Weg vor ihm noch dunkler zu werden schien und nach vielleicht zehn Schritten in völliger Finsternis versank.

Dennoch ging Uldyssian weiter an den Statuen vorbei, um den Durchgang zu betreten, von dem er wusste, dass er ihn zu ihr führen würde. So wie sie es sich wünschte.

Das wunderschöne, aristokratische Bild, das er zunächst von ihr bekommen hatte, schien restlos der Vergangenheit anzugehören – und doch sah er es noch deutlich vor sich. Obwohl er inzwischen die schreckliche Wahrheit kannte und obwohl sie ihn verraten hatte. Das volle, lange blonde Haar, das sie oft so kunstvoll hochgesteckt trug, wie man es von einer Edelfrau hätte erwarten können, die funkelnden smaragdgrünen Augen, die schmalen vollkommenen Lippen – all das würde er niemals vergessen können.

Aber da war auch noch die Erinnerung an einen Albtraum, in dem sie die unmenschliche Verführerin verkörperte, eine Kreatur mit Schuppenhaut, mit feurigen Federn anstelle von Haaren, und mit einem Schwanz, wie ihn Reptilien besaßen.

„Lylia …“, murmelte er. Der Name war Fluch und Versuchung zugleich. „Verdammt sollst du sein, Lilith …“

Etwas huschte über seinen Fuß. Vor Schreck darüber, dass er das Ding nicht wahrgenommen hatte, fuhr er zusammen. Uldyssian blinzelte zu Boden und sah, dass es nur eine Spinne war, wenn auch ein recht großes Exemplar. Es überraschte ihn nicht, ein solches Tier hier anzutreffen, sodass er es auch rasch wieder vergaß. Sein Interesse galt viel größeren und gefährlicheren Schädlingen.

Die letzte der schwachen Öllampen war erreicht. Dunkelheit beherrschte alles außerhalb ihres Wirkungskreises.

Ihm wurde bewusst, dass dies alles nur ein für ihn inszeniertes Spektakel war. Er war hergekommen, um zu jagen, was er für böse hielt, also gewährte man ihm einen Auftritt in einer entsprechenden Kulisse.

Für die Dämonen war alles in gewisser Weise ein Spiel, und das erzürnte den Menschen nur noch stärker. Ihnen bedeuteten die zahllosen Opfer nichts, nicht einmal die Opfer unter denjenigen, die ihnen bereitwillig gedient hatten.

Etwas geriet ihm ins Gesicht. Er schlug danach, dann merkte er, wie ihm ein kleines Tier über den Handrücken krabbelte. Uldyssian wischte es fort und begriff, dass es sich um eine zweite Spinne handelte.

Nun beschwor Uldyssian Licht. Als es ihm zum ersten Mal gelungen war, hatte er es Liliths Gegenwart zu verdanken gehabt, wie ihm später bewusst geworden war. Jetzt aber fiel es ihm selbst so leicht wie ein Atemzug.

Doch das fahle weiße Leuchten, das entstand, war bei Weitem nicht so intensiv wie es hätte sein sollen. Die Sphäre aus Licht erreichte kaum den Bereich des steinernen Korridors, der weniger als zwei Schritte vor ihm lag. Uldyssians Wahrnehmung reichte weit darüber hinaus, dennoch war es sein natürlicher Instinkt, dass er auch sehen wollte, was dort war.

Zwar wäre es ihm möglich gewesen, die Reichweite der Sphäre zu vergrößern, indem er sich stärker auf sie konzentrierte. Doch das hätte für ihn auch bedeutet, seine Umgebung nicht mehr ganz so wachsam wahrzunehmen.

Das hier war nicht wie der Kampf gegen Lucion, bei dem Uldyssian vieles durch unbändige Wut und durch seine natürlichen Fähigkeiten erreicht hatte. Hier musste er mit äußerster Vorsicht vorgehen, denn Lucions Macht war nichts im Vergleich zu der seiner teuflischen Schwester.

Der Korridor war länger, als er hätte sein dürfen – zumindest gewann Uldyssian diesen Eindruck. Ob es sich um eine Täuschung handelte oder nicht, würde er schon bald herausfinden, denn es war sicher, dass Lilith ihn nicht noch viel länger warten lassen würde.

Plötzlich stieß er einen lauten Schrei aus, weil ihn etwas in den Nacken gestochen hatte – etwas, das sich wie die Spitzen einer Gabel anfühlte. Er schlug mit den Händen nach dem Ding und ertastete etwas Pelziges mit zahlreichen Beinen.

Die Spinne huschte davon und verschwand aus dem Lichtschein. Während Uldyssian sich über die brennende Stelle im Nacken rieb, bemerkte er, dass auch hinter ihm alles in Dunkelheit versunken war. Von dem Licht aus der Halle war nichts mehr zu sehen.

Die Wunde begann zu pochen, und Uldyssian verfluchte sich, dass etwas so Banales wie eine Spinne seine Abwehr hatte durchdringen können, während er die Morlu – und bislang auch Lilith – erfolgreich von sich hatte fernhalten können.

Oder … war es ihr etwa doch gelungen, ihn zu attackieren?

Er richtete seine Konzentration auf die Wunde und stieß das, was die Kreatur dort hinterlassen hatte, aus seinem Körper aus. Anschließend sorgte er dafür, dass die Stelle verheilte.

Bedanken konnte er sich für diesen Trick bei Hohepriester Malic, den er dabei beobachtet hatte, wie er zunächst den von Achilios abgefeuerten Pfeil aus seinem Körper herauspresste und dann die Eintrittswunde verschloss.

Doch der Sohn des Diomedes hatte sein Werk gerade vollendet, da wurde er von einem ganzen Schwarm vielbeiniger Kreaturen mit spitzen Fangzähnen und Klauen überrannt.

Durch das Leben auf dem Bauernhof war er mit allen möglichen Arten von Insekten und Spinnen vertraut, doch so etwas hatte er noch nie gesehen. Diese Tiere bewegten sich mit der boshaften Absicht voran, ihm in aller Eile so viele Verletzungen wie nur möglich zuzufügen. Sie bissen ihn durch den Stoff seiner Kleidung und sogar durch die Stiefel hindurch, während andere gezielt nach unbedeckter Haut suchten.

Seine erste Reaktion war die eines ganz normalen Menschen. Er fluchte und versuchte, die Tiere schnell wegzuwischen. Doch die Spinnen reagierten auf ihre Art, indem sie sich an der Hand festklammerten, mit der er sich von ihnen befreien wollte. Keinen Herzschlag später war Uldyssian von den Geschöpfen so gut wie übersät.

Schließlich gewann die Vernunft die Oberhand. Er atmete tief ein, wobei er darauf achtete, dass er keines der kleineren Exemplare verschluckte, dann konzentrierte sich Uldyssian auf die in der Luft hängende Sphäre.

Jetzt endlich leuchtete der Feuerball hell – gewiss tausendmal heller als zuvor. Zugleich hüllte Wärme ihn und seine unerwünschten Schoßtiere ein. Doch was der Mensch nur als eine geringfügige Wärme wahrnahm, bewirkte bei den Spinnen, dass sie auf der Stelle versengt wurden.

Der unerbittlichen Hitze hatten sie nichts entgegenzusetzen, und gellende Schreie – in mancherlei Hinsicht von erschreckend menschlichem Klang – attackierten Uldyssians Ohren. Zu Dutzenden und dann zu Hunderten fielen brennende und bereits verbrannte Kreaturen auf den Steinboden.

Schweiß trat Uldyssian auf die Stirn, jedoch mehr vor Anstrengung als wegen der Wärme. Dennoch reduzierte er rasch die Intensität der Sphäre auf ein erträglicheres Maß. Rings um ihn stieg ein Gestank auf, der eher an Verwesung denn an verbranntes Fleisch erinnerte. Uldyssian trat gegen eine Haufen verkohlter Schädlinge, und sie zerfielen zu Asche.

Doch als er anschließend den Fuß wieder aufsetzen wollte, fand er keinen Halt mehr, sondern versank im Stein, als würde er in Wasser tauchen.

Uldyssian nahm die unmittelbare Nähe eines Dämons wahr, doch diese Erkenntnis kam zu spät. Etwas erfasste seinen eingesunkenen Fuß und versuchte, Uldyssian mit Haut und Haaren in den Boden zu ziehen. Ein dunkles und boshaftes Lachen schallte durch den Korridor.

Am äußersten Rand der Lichtsphäre nahm etwas Gestalt an, das für Uldyssian so aussah wie ein grotesker, unmenschlicher Kopf aus Stein. Ein Spalt bildete sich und weitete sich zu einem grobschlächtigen, bestialischen Grinsen.

„Wwwiiillll haaaabeeeennnnn“, grollte das Ding begierig und lachte dann erneut auf.

Die Kraft, die an Uldyssians Bein zerrte, bewegte ihn plötzlich auf das immer größer werdende Maul zu. Zwei weitere, kleinere Risse entstanden etwas oberhalb und stellten so etwas wie Augen dar.

„Huuuunnnnggggeeeerrr …“, polterte der Dämon fröhlich. „Wwwiillll haaaabeeennnn.“

Uldyssian erholte sich vom ersten Schreck, presste die Lippen zusammen und beugte sich vor. Abermals lachte der Dämon, wohl weil er glaubte, seine Beute wolle dem Ganzen ein schnelles Ende bereiten.

Das hatte Uldyssian zwar tatsächlich vor … aber in anderer Weise, als es dem Dämon vorschwebte.

Er rammte seine Faust in den „wässrigen“ Stein, und die Macht der Nephalem versetzte ihn in die Lage, eine Schockwelle über diesen makabren Angreifer laufen zu lassen – fast so, wie er selbst von den Spinnen überrannt worden war. Uldyssian wusste nicht, ob das, was er beabsichtigte, funktionieren würde; er wusste nur, dass Konzentration und Entschlossenheit ihm schon mehr als einmal das Leben gerettet hatten.

Der Dämon brüllte vor Empörung und Schmerz auf, als die Welle purer Macht über ihn hinwegrollte. Der Mund verzog sich zu einem finsteren Schmollen, die Augen blickten zornig drein.

„Gulag tötet!“, polterte das Ding vollkommen überflüssig.

Die Wände schossen auf Uldyssian zu, der erst jetzt begriff, dass alles, was ihn umgab, Teil des Dämons war.

Er stöhnte schmerzhaft auf, als die Steine ihn trafen. Unfähig, sich zu rühren, und von dem Gefühl übermannt, dass seine Knochen jeden Augenblick unter dem ungeheuren Druck brechen konnten, ließ Uldyssian beinahe seine Vernichtung zu. Doch dann tauchte wieder ihr Gesicht vor seinem geistigen Auge auf, wunderschön und monströs zugleich … und voller Hohn ob seines Scheiterns.

Indem er jeden Muskel seines Körpers anstrengte, gelang es ihm, sich gegen die erdrückende Kraft, die auf ihn einwirkte, zu wehren. Er hielt sie auf, er schaffte es, sie zurückzudrängen und dann … dann hatte er gewonnen. Die Wände wichen weit genug zurück, sodass er seine Hände in Position bringen konnte, um sie mit aller Kraft von sich zu schieben.

Gulag gab einen Laut von sich, den Uldyssian nur als Ausdruck tiefer Verwunderung deuten konnte. Immerhin war nicht anzunehmen, dass es irgendjemandem vor ihm je gelungen war, sich aus diesem Griff zu befreien.

Der Sohn des Diomedes nutzte die Gelegenheit, ging endgültig in die Offensive und streckte die Hände nach unten aus, damit er den scheinbar flüssigen Stein packen konnte. Eigentlich hätte dieser zwischen seinen Fingern hindurchgleiten müssen, doch einmal mehr erwies sich die Kraft der Nephalem der von Gulag als überlegen. Auf Uldyssian wirkte der Dämon wie eine Schlange ohne Knochen, während er sich in seinen Händen wand, sich aber nicht befreien konnte.

„Ist Gulag immer noch hungrig?“, spottete er.

Auch wenn die Kreatur von dieser Entwicklung sichtlich überrumpelt war, schien sie entweder von ihren eigenen Fähigkeiten überzeugt, oder aber sie war einfach nur zu dumm, um zu begreifen, dass sie es mit keinem gewöhnlichen Menschen zu tun hatte. Uldyssian hoffte auf Letzteres, konnte aber Ersteres nicht ausschließen, weshalb er das Ende lieber schnell herbeiführen wollte.

Mit einer titanenhaften Anstrengung zog er Gulag näher an sich heran. Während der Dämon auf ihn zuströmte, merkte Uldyssian, dass sich nun auch etwas an seinem anderen Bein festklammerte.

Als das geschah, stieß Gulag einen weiteren bestialischen Schrei aus. Die Wände und der Boden bewegten sich rasch auf Uldyssian zu – offensichtlich in der Absicht, die widerspenstige Beute doch noch zu zerquetschen.

Instinktiv hielt Uldyssian den Atem an, dann starrte er auf jenen Teil von Gulag, den er in seinen Händen umschlossen hielt. Die Oberfläche fühlte sich wie Haut oder Pergament an, was ihm bei seiner Entscheidung über das weitere Vorgehen half.

Wie zuvor zog er seine Hände so weit auseinander, wie er konnte, nur dass er diesmal den Griff um die finstere Kreatur nicht lockerte.

Wie das Pergament, als das er sich die Haut des Dings vorstellte, zerriss die Essenz des Dämons mit einem durchdringenden, entsetzlichen Geräusch. Gulag schrie so laut auf wie das Tosen eines Wasserfalls. Wände und Boden zuckten hin und her, und schließlich zwangen diese heftigen Bewegungen Uldyssian dazu, seinen Griff zu lockern, sodass er hinfiel.

Mehr brachte der Dämon nicht mehr zustande, Uldyssian hatte gesiegt. Der Riss setzte sich weiter fort, verlief über die ganze Länge des Ungetüms und machte auch dann nicht Halt, als er das unergründliche Maul und die finsteren Augen erreichte.

Gulag wurde buchstäblich in zwei Hälften gerissen, die wie Pudding wackelten. Ein Stöhnen entstieg seiner Kehle … und dann, mit einem letzten Poltern, war alles vorbei, und der Dämon zerschmolz.

Er verlor jegliche Festigkeit, verflüssigte sich und endete als Lache auf dem Boden. Eine dünne Schleimschicht zog sich über Decke und Wände, doch davon abgesehen, war alles wieder normal.

Der Boden unter Uldyssians Füßen fühlte sich wieder fest an, wenn auch ein wenig klebrig. Ein Gestank wie von verrottendem Abfall schlug ihm entgegen.

Etwas lenkte seine Aufmerksamkeit ab. Dort, wo der Korridor sich eben noch bis in die Unendlichkeit zu erstrecken schien, lockte jetzt eine weitere bronzene Tür.

Mit behutsamen Schritten, um nicht auf den schmierigen Überresten des Dämons auszurutschen, näherte Uldyssian sich der Tür, immer auf die nächste Gefahr gefasst, die auf ihn lauern mochte. Doch es geschah nichts.

Das erhabene Gesicht eines sanftmütigen Dialon starrte ihn von der Tür aus an.

Uldyssian zog die Augenbrauen zusammen. Unter dem freundlichen Gesicht des Geistes schien aber noch ein weiteres Bild zu liegen, das nahezu unsichtbar war. Er blinzelte, um es genauer zu betrachten.

Erschrocken wandte er sogleich die Augen wieder ab. Doch obwohl er genau hineingesehen hatte, konnte er sich an keine Einzelheit des Anblicks erinnern. Er wusste nur, dass das Bild mehr Entsetzen ausgelöst hatte als alles andere. Er glaubte, gewundene Hörner und Zähne so scharf wie Dolche erkannt zu haben …

Kopfschüttelnd verdrängte Uldyssian diese beunruhigende Erinnerung. Er wagte es gar nicht erst, sich auf diese teuflische Vision zu konzentrieren, denn so kurz er sie auch nur wahrgenommen hatte, weckte sie tief in seinem Innersten bereits ein Gefühl von Panik, das noch aus seiner Kindheit herrührte. Jeder einzelne Albtraum, von dem Uldyssian als kleiner Junge heimgesucht worden war, kehrte für einen winzigen Augenblick in sein Gedächtnis zurück, als wäre er gerade erst schreiend und schweißgebadet daraus erwacht.

Uldyssian riss sich zusammen und schöpfte Mut, während er seine Hände in Richtung Tür hielt. Er wusste nur zu gut, dass es nicht ratsam war, sie anzufassen. Selbst wenn Lilith damit nichts zu tun haben sollte, hatten die älteren Priester sie ganz zweifellos mit einem üblen Fluch belegt.

Wie von einem wütenden Geist bewegt, flog die Tür auf, und Uldyssian trat hindurch.

Der Raum dahinter war sehr geräumig, vielleicht sogar ausladender als der große Saal. Fast alles lag im Schatten, da von seiner eigenen Sphäre abgesehen nur ein paar Fackeln brannten, die so angeordnet waren, dass sie ein Marmorpodest beleuchteten, auf dem eine Art Altar stand.

Auf diesem Altar wiederum bot sich ein grausiger Anblick, denn dort lag ein Mann – oder besser gesagt das, was einmal ein Mann gewesen war, als er noch Fleisch und innere Organe besessen hatte.

Uldyssian machte keinen Hehl aus seiner Abscheu. Zwar wunderte es ihn nicht, auf einen Beweis für Menschenopfer zu stoßen, aber ihn schockierte, dass man dieses Opfer offenbar erst vor ganz kurzer Zeit dargebracht hatte. An dem Tag, da er und seine Anhänger den Tempel stürmten, war hier ein Mensch abgeschlachtet worden, um einen Dämon gnädig zu stimmen.

Plötzlich bemerkte er eine minimale Bewegung ein Stück weit oberhalb des Altars. Der Verursacher war jemand oder etwas, das sich einer direkten Entdeckung durch Uldyssian hatte entziehen können. Nach dem Wenigen, das er hatte sehen können, erinnerte die Kreatur an eine riesige, pelzige Spinne. Zugleich … zugleich aber auch irgendwie an einen Mann. Der zweite Dämon? Uldyssian dachte an den Schwarm Spinnen und vermutete, dass dieses Ding dort die Quelle war. Falls das zutraf, handelte es sich um eine vorsichtigere und listigere Bestie als Gulag.

Er bewegte sich auf sie zu, doch im gleichen Moment lösten weitere Gestalten sich aus dunklen Nischen entlang der Wände. Er hatte sich schon gefragt, wann die Priester zur Tat schreiten würden. Nach allem, was Uldyssian über die internen Abläufe der Triune hatte herausfinden können, wurden die kleineren Tempel der drei Orden von einem Kleriker geführt, ausgewählt von Mefis, Dialon oder Bala. Ihm unterstanden drei niedere Priester, die sich um jede der drei verschiedenen Glaubensrichtungen kümmerten. Nur im Haupttempel bei Kehjan gab es die drei Hohepriester – nunmehr zwei, nachdem Malic ums Leben gekommen war –, die die gesamte Konfession im Namen des Primus leiteten.

Eine untersetzte, kahlköpfige Gestalt in grauen und blutroten Stoffen deutete fast desinteressiert auf Uldyssian. Sofort hoben ein Dutzend Akolyten in Gewändern aller drei Orden die Hände, sodass die Innenflächen auf den Eindringling wiesen, und setzten zu einem monotonen Gesang an.

Uldyssian spürte, wie ihn mit einem Mal eine ungeheure Kälte umgab. Doch der bloße Wunsch, dem Treiben ein schnelles Ende zu setzen, löste das Problem für ihn. Die Priester gerieten ins Stocken, nur ihr Meister schien von ihrem Versagen unbeeindruckt zu bleiben. Verächtlich betrachtete er die beiden, die ihm am nächsten standen und nervös erneut zu ihrem Zauber ansetzten. Schnell schlossen sich ihnen die anderen wieder an.

„Schweigt“, befahl ein ungeduldiger Uldyssian.

Der Gesang verstummte, obwohl die Priester noch ein paar Momente lang den Mund bewegten, ehe sie allmählich zu begreifen begannen, dass man ihnen ihre Stimme geraubt hatte.

Dem Priester kam ein kurzes, verwundertes Lachen über die Lippen, dann zog er einen kleinen azurfarbenen Stein aus seinem Gewand. Offenbar war dies das Zeichen an seine Untergebenen, seinem Beispiel zu folgen.

Das letzte Mal, dass Uldyssian jemanden gesehen hatte, der mit solchen Steinen hantierte, war bei seiner Begegnung mit Malic gewesen. Durch ihn wusste er, dass sich mit derartigen Edelsteinen Dämonen beschwören ließen. In jenen Kampf hatte Lilith heimlich eingegriffen, sofort den vermutlich tödlichsten Dämon vernichtet und ihre Kraft mit seiner verbunden – die er für ausschließlich seine eigene Kraft gehalten hatte –, als er gegen den Rest antrat.

Zwar vertraute Uldyssian jetzt viel stärker auf seine eigenen Kräfte, dennoch sah er keinen Grund, eine Bedrohung überhaupt erst aufkommen zu lassen, solange sie noch schnell und rechtzeitig verhindert werden konnte.

Er ballte die Hand zur Faust.

Einer der niederen Priester schrie auf, als der Edelstein darin zu feurigem Leben erwachte. Bemerkenswert war, dass die anderen sofort reagierten und ihre Steine wegwarfen. Dennoch erlitten drei von ihnen Verbrennungen, aber keiner von ihnen in dem Ausmaß wie der erste Priester, der schluchzend auf die Knie sank und das verkohlte Etwas umklammert hielt, das eben noch seine Hand gewesen war.

Der kahlköpfige Priester lachte, was eine weitere ungewöhnliche Reaktion darstellte. Er war von der Attacke nicht getroffen worden, da er seinen Edelstein bereits weggeworfen hatte, bevor Uldyssian die Hand völlig zur Faust geballt hatte.

Verwundert sah Uldyssian den Mann an, betrachtete das, was sich hinter dem Aussehen eines Sterblichen verbarg.

Und dann verstand er …

Der ältere Priester schien ihn im Gegenzug ebenfalls zu erkennen. „Ich glaube, die brauchen wir nicht mehr“, verkündete der Kahlköpfige und sah zu seinen Lakaien. „Ihr dürft sterben.“

Völlig fassungslos schauten sie ihn an. Uldyssian empfand sogar ein wenig Mitleid mit ihnen, aber wirklich nur ein wenig. Immerhin hatten sie das Blut und die Seelen der Lebenden bereitwillig für ihre finsteren Herren geraubt.

Die Priester brachen im gleichen Moment zusammen. Keiner von ihnen schrie noch auf, da sie nicht einmal genügend Zeit hatten, um Atem zu holen. Von den Verbrennungen durch die Steine abgesehen gab es keinen sichtbaren Hinweis darauf, dass sie eines gewaltsamen Todes gestorben waren.

Aus irgendeinem Grund beobachtete Uldyssian den Schatten, wo sich der Spinnendämon aufgehalten hatte. Instinktiv wusste er, dass sich dort nun nichts mehr aufhielt. Die beunruhigende Gestalt musste die Flucht ergriffen haben, als es zur Konfrontation mit den Robenträgern gekommen war.

„Der gute Astrogha ist sehr gehorsam“, sagte der Priester mit einer auffallend weiblich klingenden Stimme. „Wenn sein Primus ihm befiehlt, sich sofort zurückzuziehen, dann tut er das ohne jeden Vorbehalt.“

„Und weiß er auch, dass sein Primus nicht länger Lucion ist, sondern dessen Schwester?“ Uldyssian sah seinem Gegenüber in die Augen. „Weiß er das, Lilith?“

Sie betrachtete ihn auf eine Weise, die vermutlich etwas sehr Verführerisches gehabt hätte, wäre da nicht die Tatsache gewesen, dass sie den Körper eines schwitzenden, korpulenten Mannes gewählt hatte. „Die Angst macht viele blind, genauso wie auch die Liebe, mein Liebster …“

„Zwischen uns gibt es keine Liebe, Lilith. Nur Lügen und Hass.“

Der Priester schmollte. „Oh, mein lieber Uldyssian. Liegt es an dem schäbigen Kleid, das ich trage? Das lässt sich ändern. Wir sind allein, und der Narr hat seinen Zweck erfüllt.“

Grüne Flammen schossen rings um die stämmige Gestalt in die Höhe. Uldyssian hob einen Arm, um seine Augen vor dem grellen Schein des unnatürlichen Feuers abzuschirmen. Als er sich ein wenig daran gewöhnt hatte, sah er, wie sich die Kleidung und das Haar des Priesters in Asche verwandelten. Das üppige Fleisch des Mannes verkohlte, brennende Klumpen fielen von ihm ab und gaben den Blick frei auf Sehnen, Muskeln und Knochen.

Das Gesicht brannte weiter, bis nur mehr ein spöttisch dreinblickender Schädel übrig war, in dessen Augenhöhlen noch die Augäpfel lagen. Sie schmolzen aber auch noch dahin, während die schaurige Gestalt sich dem Menschen näherte.