Diamantentod - Sylke Tannhäuser - E-Book

Diamantentod E-Book

Sylke Tannhäuser

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Beschreibung

Ein toter Mann liegt schwer verletzt am Straßenrand und alles deutet auf einen Verkehrsunfall hin, aber bald steht fest: Es war Mord. Wer ist der Tote? Woher kommt er? Veit Hütter von der Kripo Leipzig steht vor einem Rätsel und braucht geraume Zeit, bis die Identität des Toten geklärt ist. Bleibt noch die Frage nach dem Täter und dessen Motiv. Die Kripo arbeitet auf Hochtouren, während Mariella Rabner, die Apothekerin des nahegelegenen Dorfes Sabnitz, in die Ermittlungen verwickelt wird. Wieder einmal. Dabei kommt sie dem Mörder gefährlich nahe. Jeder Schritt ist entscheidend, aber die Zeit scheint sich gegen Hütter und sie verschworen zu haben.

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Sylke Tannhäuser, Jahrgang 1964, wurde in Leipzig geboren, wuchs in Zittau auf und kehrte nach dem Abitur nach Leipzig zurück. Sie hat Betriebswirtschaft sowie Verwaltungswirtschaft studiert, schreibt Kriminalromane, Kurzgeschichten und Regionalliteratur und arbeitet als Schreibcoach.

www.sylke-tannhäuser.com

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

Inhaltsverzeichnis

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Eins

Der Mann war aufgetaucht wie ein Geist. Plötzlich hatte er vor ihm gestanden, eine dürre Gestalt, in dunkles Leder gekleidet und mit einem Ziegenbart am Kinn. Aus dem Nichts war er vor ihm erschienen, in seinem eigenen Haus. Sein Anblick hatte ihn erstarren lassen. Fassungslos hatte er nach Luft geschnappt. Dadurch hatte er Zeit verloren, kostbare Sekunden, in denen er hätte fliehen können.

Wie lange war das her? Drei Stunden? Vier? Bevor er einen Ton herausbringen konnte, hatte der Mann ihn auf einen Stuhl gestoßen, ihm die Arme hinter die Lehne gebogen und sie mit einer Gartenschnur gefesselt. Seiner Schnur. Im Herbst erst hatte er sie gekauft, um die Brombeerranken festzubinden, doch dann hatte er es vergessen. Fünfzehn Euro hatte sie gekostet. Dass er ausgerechnet jetzt daran denken musste!

Anfänglich hatte er noch geglaubt, dass der Dunkle ihn nur erschrecken wollte. Wie er es oft gemacht hatte. Damals. Vor ewigen Zeiten. Aber das war, bevor die Musik ins Spiel gekommen war. Eine Oper von Wagner, Rheingold, wie der Dunkle sagte.

Die Töne schwappten durch den Raum, von seinem CD-Player. Woher, zum Teufel, hatte er gewusst, dass einer im Schrank stand? Er selbst hatte ihn seit Jahren nicht benutzt. Richard Wagner jedenfalls, und damit stand fest, was der Dunkle vorhatte.

»Ich frage, du antwortest.« Die Worte waren wie nebenbei gefallen, weder laut oder drängend, doch er wusste, was es hieß, wenn der Dunkle auf diese Art sprach, und genauso fuhr der auch fort: »Du weißt, wie ich an Antworten komme. Mach es dir leicht oder es wird schmerzhaft, mir ist es egal.«

Er hatte nur den Mund verzogen. Ein Fehler. Einer von vielen, wie ihm schnell klar wurde, denn der Geist schien nichts für sein Grinsen übrig zu haben. Der hatte keinen Humor, schon früher nicht. Dafür hatte er ein Messer, eines mit einer langen, dünnen Schneide.

Strafe muss sein.

Das hatte der Dunkle gemurmelt und ihn gemustert, als wäre er eines seiner Versuchsobjekte. Gleich darauf hatte das Messer in sein Fleisch gebissen und dünne Streifen Haut von seinen Armen geschält. Seine ersten Schreie waren hoch und schrill gewesen, später hatte er nur noch gewimmert. Nicht mehr lange, und er würde sterben. Er hatte es in den leeren Schattenaugen gesehen.

Als der Schmerz übermächtig geworden war, hatte ihn eine erlösende Ohnmacht umfangen. Er wusste nicht, wie lange er weggetreten war, doch irgendwann hatte ihn der Dunkle mit einem Schwall eisigen Wassers zurück in die Gegenwart geholt. Seitdem schwieg das Messer, die Musik ebenso, und obwohl er nicht spürte, ob noch Blut aus seinen Wunden tropfte, war ihm schlecht. Der Schmerz fraß wie ein wildes Tier an seinen Armen, und vor seinen Augen lag ein Schleier, durch den er kaum mehr als Schemen erkannte. Nur der Ziegenbart hüpfte und zitterte direkt vor seinem Gesicht auf und ab, und er fragte sich, was das sollte, bis ihm klar wurde, dass der Dunkle lachte.

Ein Schauer lief ihm über den Rücken, die Kälte blendete den Schmerz in seinen Armen aus, jedoch nicht lange genug, als dass er ihn vergessen hätte. Der Dunkle bewegte die Lippen, aber er verstand kein Wort. Etwas musste mit seinen Ohren passiert sein.

Unvermittelt beugte sich der Dunkle zu ihm, ihre Nasen berührten sich fast. Der Dunst nach Alkohol und Zigarettenrauch traf ihn, Säure stieg aus seinem Magen nach oben und füllte die Mundhöhle. Der Würgereiz zwang seinen Kopf nach vorn, und der Dunkle zuckte zurück. Schleim und hellbraune Bröckchen landeten auf seinen Schenkeln. Reste des Gulaschs, den er gegessen hatte. Das war, bevor ihn der Geist überrumpelt hatte. Die feuchte Masse sickerte von seinem Schoß die Beine hinab, und Nässe drang durch den Stoff der Jeans. Die laue Wärme vertrieb die Kälte aus der Haut. Irgendwie tröstlich, so dass er sich am liebsten darin verkrochen hätte, weg von dem Horror. Weg von dem Dunklen mit den grausamen leeren Augen.

Der verzog angewidert den Mund, und wieder bewegten sich die Lippen, aber jetzt konnte er hören, was er schrie. Du Schwein. Dann war er hinter ihm, und instinktiv zog er den Kopf ein, um dem Schlag auszuweichen, doch der blieb aus.

Gibt es einen Gott?

Es musste wohl so sein, denn seine Fesseln wurden gelockert. Der Dunkle riss ihn vom Stuhl hoch und schleifte ihn ins Bad. Ein harter Stoß, und er stolperte in die Duschkabine. Bevor er sich aufrappeln konnte, kam das Wasser, erst eiskalt, dann allmählich wärmer. Der Mann sah ihm eine Weile zu, mit einem verächtlichen Grinsen, dann verschwand er durch die Tür.

Endlich war er allein, und noch nie war er darüber so froh gewesen wie jetzt. Tränen liefen ihm über die Wangen und mischten sich mit dem Wasser, das auf ihn einprasselte.

Wie hatte er nur glauben können, dass er hier sicher war? Zwar hatte er seine Spuren gründlich verwischt und nur das Nötigste mitgenommen. Es hatte schnell gehen müssen und heimlich, und es war ein Riesenglück gewesen, als er das Versteck entdeckt hatte. Eine Zuflucht und eine neue Identität, aber das Gespenst da draußen hatte ihn trotzdem gefunden.

Er schniefte und zog den Rotz hoch, der ihm aus der Nase lief. Das Shirt klebte nass an seinem Rücken, auch die Hose hatte sich mit Wasser vollgesogen, doch wenigstens war die Kotze aus dem Stoff gespült. Dafür hatten sich unter dem Strahl die frischen Wunden wieder geöffnet, und rosafarbene Rinnsale bahnten sich ihren Weg seinen Körper hinab, ehe sie im Abfluss verschwanden.

Er hatte immer gedacht, dass er stark wäre, und jetzt? Nichts war er. Er sank auf die Knie, schlang die Arme um den Leib und wiegte sich schluchzend vor und zurück. Nach einer halben Ewigkeit versiegten seine Tränen, und er versuchte auf die Beine zu kommen, doch er zitterte zu sehr.

Sein Blick huschte zum Fenster. Drei Schritte, nur drei verdammte Schritte. Ein Klacks für einen gesunden Mann, für ihn jedoch unendlich weit. Trotzdem, wenn es ihm gelänge, hinzukriechen, den Fensterflügel aufzustoßen und sich über die Brüstung zu ziehen, wäre er gerettet. Er stemmte die Hände auf den gefliesten Boden und achtete nicht auf den Schmerz, der wellenartig durch seinen Körper rollte und ihn zu ersticken drohte.

Strafe muss sein.

Stück für Stück schob er sich vorwärts.

Obwohl er ihn nicht gehört hatte, war der Dunkle auf einmal über ihm. Er sah die Faust, die auf ihn zukam. Dann Schwärze.

Als er wieder zu Bewusstsein kam, war ihm schwindlig, doch das Seil, mit dem er wieder an den Stuhl gefesselt war, verhinderte, dass er umkippte. Der Dunkle hielt dieses Ding in der Hand. Die Strafe – sie kam.

Mein Gott, Erbarmen.

Juan bellte. Es war nicht das Bellen, mit dem sich Hunde über die Straßen hinweg austauschten. Es war auch nicht besonders laut, aber es war hartnäckig. Mariella schob ihren Stuhl zurück und trat ans angelehnte Fenster. Das Gebäude, in dem die Leihbücherei untergebracht war, hatte schon bessere Tage gesehen. Wie bei den meisten Häusern in Sabnitz waren die Wände weiß getüncht, allerdings war die Farbe im Laufe der Zeit an mehreren Stellen abgeblättert. Selbst Bürgermeister Josef Seeberger hatte bislang kein Geld für die Renovierung auftreiben können, nicht einmal für das Gemeindeamt im Erdgeschoss.

Die Bücherei lag unter dem Dach und war ein langer Schlauch ohne Wände und Türen. Das freigelegte Ständerfachwerk war die einzige Trennung, mit der Gesine Krüger die einzelnen Genres geordnet hatte, als sie die Bibliothek im letzten Jahr übernommen hatte. Der Tod ihrer Vorgängerin steckte Mariella noch immer in den Knochen. War sie es doch gewesen, die Klara Zein in der Frankenalb gefunden hatte. Ermordet und unter einem Baum versteckt.

Feuchtnasser Wind wehte durch den Fensterspalt. Mariella zog ihre Strickjacke enger um die Schultern und setzte sich wieder zu Gesine an den Tisch, an dem gewöhnlich die Besucher empfangen wurden. Es war eine alte Verkaufstheke, auf der eine Glasplatte lag, doch sie passte zur übrigen Einrichtung, die bunt zusammengewürfelt war, aus Haushaltsauflösungen oder von Möbelspenden.

»Was hat er denn?« Gesine nickte in Richtung des Fensters.

Mariella strich sich die halblangen braunen Haare hinter die Ohren. »Juan? Wahrscheinlich will er rein.«

»Kein Wunder bei dem Wetter.«

»Juan friert nicht, der hat ein dickes Fell.«

Aus Gesines Haarknoten hatte sich eine dünne Strähne gelöst. Vergeblich versuchte Gesine, sie festzustecken, gab es schließlich auf und vergrub die Hände in den Taschen ihrer langen Strickweste. »Der Tee ist gut, oder?«

Mariella steckte ihre Nase in die Tasse und sog den Geruch ein. Minze mit Honig, genau richtig bei der Kälte, die in dem alten Gemäuer hockte.

Unter ihnen im Haus krachte eine Tür ins Schloss, dann polterten schwere Tritte die Treppe herauf.

»Unser lieber Herr Bürgermeister.« Gesines linkes Augenlid begann zu zucken.

Jochen Seeberger stürmte herein, ignorierte Gesines erhobene Hand und blieb keuchend vor Mariella stehen. Das Doppelkinn unter seinen zusammengekniffenen Lippen bebte, und seine Schweinsäuglein funkelten. »Ist das Ihr blödes Viech da unten?«

»Juan ist nicht blöd, aber ich wollte ohnehin gehen.« Mariella trank ihre Tasse aus und stand auf, doch Seeberger hatte sich bereits umgewandt und tobte wieder hinunter nach draußen.

Sie verabschiedete sich von Gesine Krüger und folgte ihm ins Freie. Der anhaltende Schneefall hatte die Straße mit einer frischen weißen Decke überzogen, die selbst die abgesenkten Stellen in dem Kopfsteinpflaster verbarg. Juan stand noch brav dort, wo Marielle ihn zurückgelassen hatte. Angebunden an der dicken Eiche starrte er wie gebannt nach oben in die Krone des Baumes, wo eine ausgemergelte Krähe hockte. Seine Schlappohren zuckten, als sich Jochen Seeberger neben ihm aufbaute. »Wenn du nicht sofort still bist, hole ich mein Beil.«

Seeberger war nicht nur der Bürgermeister, sondern gleichzeitig der Fleischer des Dorfes.

Mariella löste Juans Leine und strich ihm über den Kopf. »Ruhig, mein Kleiner. Der Seeberger meint es nicht so.«

Wuff, machte Juan, als würde er ihre Meinung keineswegs teilen.

Sie guckte zu Jochen Seeberger hinüber, über dessen Kragen sich Speckwülste wölbten. Mit einem missmutigen Ausdruck spähte er in den Himmel, an dem sich dunkle Wolken türmten.

»Da kommt was auf uns zu, es wird eisig kalt. Und glatt. Hoffentlich reicht das Streugut für die Straßen.« Abrupt drehte er sich um und stapfte durch den Schnee ins Haus zurück.

Mariella zog Juan mit sich fort die Dorfstraße entlang. Rechts und links reihten sich Gehöfte aneinander. Im Sommer blühten in den Bauerngärten vor den Häusern bunte Blumen, jetzt aber waren sie unter der Schneeschicht verborgen. Auch die Sträucher und Bäume trugen weiße Mützen. Kein Laut war zu hören. Als ob das ganze Dorf im Tiefschlaf läge.

Sie erreichte den Anger. Ehemals war er der Mittelpunkt von Sabnitz gewesen, doch im Laufe der Jahre hatte sich das dörfliche Leben an den Ortsrand verlegt. Dorthin, wo Seeberger einen Sportplatz hatte bauen lassen, und wo sich an Feiertagen und Wochenenden Fußballfans und die Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehr trafen.

Mariellas Wohnhaus stammte aus dem vorigen Jahrhundert, und insgeheim musste sie zugeben, dass es kaum besser aussah als das Gemeindeamt. Die grünen Fensterläden hätten einen neuen Anstrich verdient. Im Frühjahr, spätestens im Sommer, nahm sich Mariella zum wiederholten Male vor, doch sie wusste zugleich, dass sie es wieder vor sich herschieben würde.

Im Grunde war das Haus viel zu groß für sie. Es fehlte an allen Ecken, denn die Ortsapotheke, die sie von ihren Eltern geerbt hatte, brachte längst nicht mehr so viel ein wie früher. Immer mehr Kunden bestellten ihre Medikamente lieber im Internet. Manchmal fragte sie sich, ob sie die Apotheke nicht einfach aufgeben sollte.

Sie schaute zu dem Ziegeldach hoch. Eine Elster hockte auf dem First wie ein schwarzweißer Geist und äugte zu ihr herunter. Zum Glück hatte Juan den Vogel nicht entdeckt, sonst hätte er wieder angefangen zu bellen. Unter dem Dach zeigten zwei kleine Fenster auf den Platz.

Sie gehörten zu der Wohnung, die Mariella an Loriana Teziano vermietet hatte. Zwar konnte Lore manchmal echt anstrengend sein, trotzdem mochte Mariella die junge Frau. Blöd, dass Lore bald ausziehen wollte, um mit ihrem Freund, einem italienischen Pizzabäcker, zusammenzuleben, der in Delitzsch eine eigene Wohnung hatte, groß genug für zwei Personen. Insgeheim vermutete Mariella, dass das nicht der einzige Grund für Lores Umzug war, denn da war noch ihr Vater. Signor Teziano betrieb in Sabnitz das Eiscafé, in dem auch Lore arbeitete.

Mariella stampfte den Schnee von den Sohlen ihrer Stiefel und öffnete die Haustür. Juan blieb auf der Schwelle stehen, damit sie ihn von den Eisklümpchen befreien konnte, die sich im Fell zwischen seinen Zehen und am Unterbauch verfangen hatten. Während sie ihn mit einem alten Handtuch abrubbelte, schaute sie über den Platz.

Irgendetwas war anders als sonst. Es dauerte geraume Zeit, bis sie erkannte, woran das lag. Normalerweise drang um diese Zeit Rauch aus dem Schornstein des Bauernhauses auf der gegenüberliegenden Seite. Heute nicht. Auch der Geruch nach verbranntem Holz fehlte. Ihr Blick fiel auf den Gehweg, der eine unberührte Schneedecke aufwies. Anscheinend war Oshold nicht daheim. Sie konnte sich nicht erinnern, ob das schonmal vorgekommen war, aber was wusste sie schon von ihm. Sie kannte den Mann ja kaum.

Oben klappte eine Tür, und Lore erschien auf der Treppe. Sie rieb sich die Augen, gähnte laut und fuhr sich durch die schwarzen Locken, die nach allen Seiten abstanden. »Schneit es schon wieder?«

Mariella schüttelte den Kopf. »Guten Morgen, Lore. Weißt du, was mit dem Oshold ist?«

»Was soll schon mit dem sein.«

»Er hat den Gehsteig nicht gefegt, und Feuer hat er auch noch keins gemacht. Das sieht ihm gar nicht ähnlich.«

»Vielleicht hat er verschlafen.« Lore schlurfte in Richtung Küche. In der Tür drehte sie sich um. »Ich mache mir einen Tee. Magst du auch einen?«

Mariella gab Juan einen Klaps, damit er sich in sein Körbchen trollte, dann folge sie Lore.

Das Feuer, das sie in der Früh im Küchenofen gemacht hatte, war heruntergebrannt, doch es war noch genügend Glut da, um es wieder anzufachen. Sie legte einige Buchenscheite nach und kurz darauf flammte es wieder auf. Inzwischen kochte auch das Teewasser. Lore tat ein paar getrocknete Salbeiblätter in die Tassen und übergoss sie. Ein würziger Duft breitete sich aus, der Mariella an ihre Kindheit erinnerte. So hatte es schon bei den Eltern und bei den Großeltern gerochen, wenn sie in die Küche gekommen war, um nach einem schnellen Frühstück in die Schule zu gehen.

»Ich fahre nachher zu Antonio«, sagte Lore.

»Dein Umzug…bist du sicher, dass es die richtige Entscheidung ist? Ihr kennt euch doch erst ein paar Monate.«

»Fast zwei Jahre«, berichtigte Lore. »Und ja, ich bin mir sicher. Warum auch nicht? Antonio ist süß.«

»Du meinst großzügig.« Eine Anspielung auf Lores Leidenschaft für sündhaft teure Klamotten, die sie sich nicht leisten konnte und die deshalb Antonio bezahlen musste.

»Sogar du musst zugeben, dass er fantastisch aussieht. Fast genauso gut wie dieser Polizist letztes Jahr: Wie hieß der nochmal? Kutter?«

»Hütter.« Veit Hütter hatte eine wesentliche Rolle bei der Aufklärung des Mordes an Klara Zein gespielt. Wie sie selbst auch. Dabei waren sie sich nähergekommen, allerdings hatte sie seitdem nichts mehr von ihm gehört. Bestimmt dachte er längst nicht mehr an sie.

»Der hatte so einen niedlichen Dialekt.« Lore ging zum Fenster.

»Fränkisch«, erklärte Mariella. »Aber…«

»Siehst du, der Oshold lebt noch«, fiel Lore ihr ins Wort.

Mariella runzelte die Stirn. Unwillig schüttelte sie den Kopf. Mit dem Tod scherzen – das sah der Freundin ähnlich. Aber es stimmte. Aus Osholds Schornstein kräuselte sich eine dunkle Rauchsäule in den Himmel.

Der Klingelton riss Polizeikommissar Veit Hütter aus dem Tiefschlaf. Er tastete nach dem Handy, das auf dem Nachttisch lag. »Ja?«

»Na endlich«, hörte er Bruno Siebel murmeln.

»Was gibt‘s?« Hütter schaute auf den Wecker. Es war fünf Minuten vor halb fünf.

»Wir haben einen Leichenfund an der 183 A, direkt neben der Landstraße am Abzweig nach Laue zwischen Delitzsch und Bad Düben. Die Kollegen von der Bereitschaftspolizei sind vor Ort.«

»Ich komme.« Hütter sprang aus dem Bett und eilte ins Badezimmer. Keine zehn Minuten später trat er aus dem Haus. Der andauernde Schneefall hatte die Straßen in weiße Schluchten verwandelt und jeden Häuserblock in eine einsame Burg. Eilig ließ Hütter seinen Wagen an und wechselte vom Parkstreifen auf die Fahrbahn, wo er kräftig auf das Gaspedal drückte, so dass das Heck schlingerte, doch es gelang ihm mühelos, den Wagen zurück in die Spur zu bringen.

Das Licht der Straßenbeleuchtung malte helle Flecken auf den Schnee und wies ihm den Weg durch das Weiß. Die Laternen waren Inseln der Wärme. Ein beruhigender Anblick für Menschen, die wie er auf dem Weg zur Arbeit waren, nur dass sein Job alles andere als beruhigend war.

Vor seinem ersten Einsatz bei der Aufklärung eines Gewaltverbrechens hatte er Diebstähle und andere Eigentumsdelikte bearbeitet, nur um so schnell wie möglich vom Polizeirevier Delitzsch zur Polizeidirektion Leipzig zu wechseln. Für ihn hatte sich damit ein Traum verwirklicht. Seitdem war er bei mehreren Mordkommissionen dabei gewesen und hatte viele Erfahrungen gesammelt. Nicht jede davon war schön gewesen, und noch immer sah er jeden Fall als eine ganz persönliche Herausforderung. Das würde auch dieses Mal so sein.

Der Ortseingang von Torgau kam in Sicht, und kurz darauf hatte er den Husarenpark erreicht. Sitz der Außenstelle der Polizeidirektion Leipzig, zuständig für den gesamten nordsächsischen Raum.

Hütter stellte den Wagen auf einem freien Platz ab und eilte mit langen Schritten ins Haus.

Er und Wachtmeister Bruno Siebel teilten sich einen Büroraum, das war eine der Bedingungen gewesen, unter denen Siebel zugestimmt hatte, mit ihm von Delitzsch nach Torgau zu wechseln.

Siebel hatte bereits alles eingepackt, was sie brauchten: Schutzausrüstung, Taschenlampen und die Computertechnik, mit der sie außerhalb der Dienststelle arbeiten konnten. Er rieb seinen spitzen Bauch. Wahrscheinlich hatte er wieder einmal Magenschmerzen.

»Was wissen wir?«, fragte Hütter, während sie zum Einsatzwagen liefen.

»Die Leiche ist männlich, ein Busfahrer hat sie entdeckt. Franker, so heißt der Mann. Kollegen vor Ort kümmern sich um ihn. Der Erkennungsdienst ist schon unterwegs, und ich habe Grump informiert.«

Mit Grump hatte Hütter schon bei anderen Tötungsfällen zusammengearbeitet. Es war eher unwahrscheinlich, dass sich der Herr Staatsanwalt am Fundort einfinden würde. »Was ist mit Tom Krammel? Oder Luis Matula?«

»Beide krank.«

Die Bundesstraße war wie leergefegt. Schneeflocken verwandelten die Gegend in eine Winterlandschaft und ließen sie verwunschen wirken. Weidenhain, Pressel und Wellaune flogen vorbei. Am Ortseingang von Reibitz sah Hütter das kaltblaue Licht der Warnleuchten durch die Dunkelheit zucken, und er steuerte den Wagen an den Straßenrand.

Kaum ausgestiegen, sah er sich um. Vor einem Baum hinter der Böschung war ein großes Zelt aufgebaut. Er gab Bruno Siebel ein Zeichen, dass der sich von den Kollegen ins Bild setzen lassen sollte und streifte sich dann den weißen Ganzkörperanzug sowie hauchdünne Vinylhandschuhe über. Dann kämpfte er sich durch den eisigen Wind zu dem Zelt.

»Ist der Busfahrer noch hier?«, fragte er den Polizisten, der neben einem Mann in rotgelber Rettungsdienstkleidung vor dem Eingang stand.

Der Polizist nickte. »Steht ein bisschen neben sich, aber ein Kollege kümmert sich um ihn. Wenn Sie wollen, bringe ich Sie zu ihm.«

»Erst schaue ich mir die Leiche an.«

»Liegt drin.« Der Polizist zeigte auf das Zelt.

»Wir haben Lage und Fundort fotografiert, dazu alles, was sich im unmittelbaren Umfeld befindet. Aber in dem Schnee ist nicht viel zu sehen.«

Hütter musterte die Fußabdrücke rundumher.

»Die sind von dem Busfahrer, der den Toten gefunden hat, ein paar auch von den Kollegen der Spurensicherung«, erklärte der Polizeibeamte schnell. »Nur im Zelt, da...«

Der Mann im Rettungsanzug hatte wohl zugehört. Er rückte näher und räusperte sich. »Ich bin Doktor Grünaus, diese Nacht der diensthabende Arzt. Ich habe den Tod des Mannes festgestellt, und zwar anhand der deutlich sichtbaren Totenflecke an seinen Ohren. Angefasst habe ich ihn nicht. Den Totenschein schicke ich Ihnen zu. Und jetzt verschwinde ich, wenn Sie gestatten, sonst hole ich mir noch eine Erkältung.« Er hauchte in die Hände.

Hütter nickte ihm zum Abschied dankend zu, schlug die Eingangsplane des Zeltes zurück und trat ins Innere. Das Licht der mobilen Leuchten, die an den Seiten aufgestellt waren, blendete ihn, und es dauerte etwas, bis sich seine Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten. Er war froh, dass der Wind nur noch schwach zu spüren war, der Boden jedoch war auch hier vom Schnee bedeckt. Inmitten der weißen Fläche lag ein Mann, zusammengerollt wie ein Embryo. Hütter wälzte ihn auf den Rücken und zog scharf die Luft ein.

Das zerstörte Gesicht des Toten glich einem Krater. Das Jochbein war gebrochen, die Wangen verschwunden, so dass Ober- und Unterkiefer zu sehen waren. Auch die Kehle war aufgerissen. Hütter konnte die Luftröhre erkennen.

Er beugte sich tiefer über den Mann, und ein dumpfer Geruch stieg ihm in die Nase. Kalter Rauch. Ein Zeichen, dass die Kleidung versengt sein musste. Behutsam schälte er den Toten aus Jacke und Shirt. Beim Anblick der nackten Arme schnappte er erneut nach Luft. Stichverletzungen reihten sich aneinander, dazu gab es mehrere Stellen, die aussahen, als hätte jemand den Mann gehäutet. Keine der Wunden war groß oder tief, doch diese Menge…Was, um Himmels Willen, war dem Mann widerfahren?

Nicht nur an den Armen, auch auf der Brust fand Hütter Brandspuren sowie Hämatome. Um jede Körperregion in Augenschein zu nehmen, drehte er den Toten auf den Bauch. Wie schon an den Ohrläppchen entdeckte er auf dem Rücken dunkelrote Totenflecke. Hütter drückte leicht darauf, und als er den Griff löste, blieb ein heller Abdruck zurück. Demnach war der Mann sechs oder vielleicht acht Stunden tot. Er betastete den Kiefer, und da er sich bewegen ließ, korrigierte er seine Schätzung. Zwei Stunden, länger kaum.

Nach der Leiche nahm er sich deren Kleidung vor, aber die brachte nichts zu Tage. Keinen Ausweis, keinen Führerschein, kein Handy. Nichts.

Siebel tauchte im Zelt auf. »Mein Gott, der sieht ja übel aus.«

»Bleib weg, Bruno, ich mache das schon. Sorge du dafür, dass der Tote in die Rechtsmedizin gebracht wird.«

Schnell wie der Blitz verschwand Siebel aus dem Zelt. Hütter hörte ihn draußen telefonieren. Worte wie Transport und Obermayr drangen an sein Ohr. Da es für ihn hier vorerst nichts mehr zu tun gab, folgte er Siebel, der schon auf dem Weg zum Wagen war. Im Auto streifte er die Vinylhandschuhe ab und rubbelte seine eiskalten Finger warm. Er schaute zu Siebel, der auf dem Beifahrersitz saß, ganz weiß im Gesicht. »Kein schöner Anblick, der Tote.«

»Ich habe sowas Ähnliches schon mal gesehen, aber daran gewöhnt man sich eben nie.« Siebel presste die Hände auf den Bauch. »Der sieht aus, als hätte ihn jemand überfahren.«

Hütter schaute in Richtung der Kollegen vom Erkennungsdienst, die immer noch dabei waren, in weiten Kreisen das Umfeld absuchten. Auch sie trugen Schutzanzüge. Weiße Gestalten in einer weißen Umgebung, umweht vom Schnee, der nach wie vor auf die Erde fiel. Es hätte eine Polarexpedition sein können, doch leider war sie alles andere als das. Das Klicken von Kameras hallte herüber. »Ich habe sie gebeten, nach Stichwerkzeugen Ausschau zu halten«, sagte er zu Siebel. »Wenn der Mann überfahren wurde, wie du meinst, entdecken sie vielleicht ein paar Lackpartikel. Dann wissen wir wenigstens etwas über das Unfallauto. Fabrikat oder Farbe zum Beispiel. Falls es überhaupt stimmt.«

»Falls was stimmt?«

»Dass er überfahren wurde, Bruno.«

Hin und wieder bückte sich einer der Kriminaltechniker und hob etwas auf.

»So, wie der zugerichtet ist, muss er geblutet haben wie ein Schwein«, murmelte Siebel.

Klar konnten manchmal Blutspuren mithilfe von angefeuchteten Wattestäbchen vom Straßenbelag gelöst werden, bei dem Schneefall jedoch waren sie längst weg. Da war sich Hütter sicher.

Ein Streifenpolizist klopfte an die Autoscheibe. Neben ihm stand ein übergewichtiger Mann mit Vollbart und Glatze.

Hütter öffnete die Beifahrertür und stieg aus. »Was gibt‘s?«

»Das ist Bert Franker, der Busfahrer«, sagte der Polizist. »Sie wollen bestimmt mit ihm reden.«

Franker trat von einem Fuß auf den anderen, zog am Zipper seiner Daunenjacke. Seine Hände zitterten.

Hütter dirigierte ihn schnell auf den Rücksitz des Wagens und schob sich neben ihn. »Mein Kollege wird Ihre Angaben protokollieren.« Er tippte Siebel, der schon den Laptop geöffnet hatte, auf die Schulter. Der nahm die Daten des Busfahrers auf: Bert Horst Franker, geboren am 06.09.1982 in Grimma, wohnhaft Bahnhofstraße in Delitzsch.

»Man hat mir gesagt, dass Sie es waren, der den Toten gefunden hat, Herr Franker«, begann Hütter. »Wie ist es dazu gekommen? Was genau ist passiert?«

»Was passiert ist?« Franker hob die Schultern. »Ich habe ihn bloß da draußen liegen sehen.« Er zeigte in die Dunkelheit hinter sich. »Dort, hinter dem Hügel, geht es nach Delitzsch. Von da bin ich gekommen, rüber über den Hügel und rein in die Kurve. Das ist so eine langgezogene, die führt nach Reibitz und weiter nach Sabnitz. Dort steht der Baum.« Franker nickte in Richtung einer ausladenden Eiche, deren kahle Äste jetzt im Winter wie Knochen in die Höhe ragten.

Hütter hob die Brauen. »Sabnitz? Was wollten Sie dort?«

»Ist meine Tour, das Dorf liegt auf der Strecke. Ich musste pinkeln, also bin ich runter vom Gas und rechts ran. Mein Bus war ja leer, hat keinen gestört. Ich raus und zu dem Baum hin, und da habe ich das Bündel liegen gesehen. Erst habe ich gedacht, es ist ein Stück Wild. Blöd, dass die Äcker brachliegen. Zieht die Viecher an. Rehe und so. Hätte doch sein können, dass da eins lag, oder? War es aber nicht, es war ein Mensch. Ein Mann.« Franker schluckte. »Ich habe ihn nicht angefasst.«

»Kannten Sie ihn?«

»Woher denn?«

»Haben Sie sonst noch jemanden gesehen oder irgendetwas Ungewöhnliches bemerkt?«

»Was Ungewöhnliches?«

»Personen, Autos. Jemanden, der wegrennt.«

»Nee. Ich habe sofort die 112 angerufen und die Unfallstelle gesichert. Warnkreuz aufgestellt und so.« Franker rang die Hände. »Ich bin diese Tour schon fast zwanzigmal gefahren. Um die Zeit ist die Straße immer leer, und hätte ich nicht pinkeln müssen, hätte ich nichts von dem Toten mitgekriegt.«

Hütter lockerte den viel zu engen Rollkragen seines Pullovers. Der Pulli war neu, von Anfang an hatte er sich darin eingeengt gefühlt.

»War‘s das endlich?«, brachte sich Bert Franker in Erinnerung.

Wieder tippte Hütter Siebel auf die Schulter.

Der drehte sich zu ihm um. »Ich habe alles. Fehlt nur noch die Unterschrift.«

»Dazu kommen Sie bitte nachher in mein Büro.« Hütter reichte Franker seine Visitenkarte.

»Nachher? Das passt mir gar nicht, ich muss schlafen, habe die Nachtschicht, Sie verstehen?«

Erst wollte Hütter einwenden, dass es hier um mehr ginge als darum, sich auszuruhen, doch nach einem Blick in die geröteten Augen des Busfahrers lenkte er ein. »Na gut, dann morgen.«

Er stieg aus, lief um den Wagen herum und hielt Franker die Autotür auf. Inzwischen hatte es aufgehört zu schneien, dafür pfiff immer noch ein scharfer Wind und wirbelte Eiskristalle auf, die wie Nadeln in die Haut stachen.

Obwohl es noch nicht einmal um sieben war, herrschte im Delitzscher Polizeirevier bereits das übliche morgendliche Treiben. Der Geruch nach frisch gekochtem Kaffee wehte durch die Gänge, Vorbereitung für den Arbeitstag.

Hütter suchte als erstes Manfred Trumm auf. Es war schon ein paar Monate her, dass er mit dem Leiter des Kommissariats gesprochen hatte. Das war, bevor er ins K1 nach Torgau gegangen war. Schon damals hatten auf dem Aktenschrank in Trumms Büro mehrere Flaschen verschiedener Weingüter aus Sachsen gestanden, aufwendig verpackt als Präsente. Inzwischen lag eine noch dickere Staubschicht darauf, unter der die bunten Etiketten blass und verwaschen aussahen.

Hütter riss sich von dem Anblick los und setzte sich auf einen Stuhl, die vor Trumms Schreibtisch stand. Er war genauso unbequem, wie er aussah.

Manfred Trumm verschränkte seine sehnigen Hände. »Natürlich weiß ich über den Leichenfund Bescheid, aber ich kenne noch keine Einzelheiten. Berichten Sie, Hütter.«

In knappen Worten fasste Hütter zusammen, was er am Fundort des Toten festgestellt hatte. »Der Tote ist übel zugerichtet. Siebel denkt, es könnte ein Autounfall gewesen sein, aber da sind die Wunden, mit denen der Mann übersät ist. Die Muskulatur war noch weich, demnach kann er noch nicht lange tot gewesen sein. Keine zwei Stunden, schätze ich. Die Todesursache muss die Obduktion ergeben«, endete er.

Trumm griff zum Telefon.

Während er telefonierte, starrte Hütter auf die Weinverpackungen. Als Trumm den Hörer auf die Gabel donnerte, zuckte er zusammen.

»Staatsanwalt müsste man sein«, murrte Trumm. »Wenn Sie Glück haben, finden Sie Grump in seinem Leipziger Büro, allerdings nicht vor neun.«

Hütter war das Vorgehen bekannt. Keine Anordnung - keine Obduktion. Die Staatsanwaltschaft bestimmte, wo es langging. Die Kripo war nur ihr verlängerter Arm. »Da ist noch etwas«, sagte er. »Abgesehen von dem Busfahrer gibt es bislang nichts, wo wir ansetzen können. Dieser Fall stinkt nach umfangreichen Ermittlungen.«

»Was macht eigentlich Breitmann?«

Norbert Breitmann war der Chef des Kommissariats 1. Hütter hatte ihn im vergangenen Jahr kennengelernt, im Zuge der Aufklärung eines anderen Falls. Daraufhin hatte Breitmann ihn zur Kriminalpolizei geholt.

»Er ist zur Kur.«

»Schön für ihn. Ich hingegen muss sehen, wie ich den Betrieb aufrechterhalte. Was ich damit sagen will, ist folgendes: Sie werden vermutlich der Kopf in diesem Fall sein, und bevor Sie fragen: ich kann keinen Mann für Sie abstellen. Wir sind nicht einmal zur Hälfte besetzt.«

Das sah in Torgau nicht anders aus. Die verdammte Grippe hatte ganz Sachsen im Griff.

Obwohl es erst kurz nach halb vier war, schloss Mariella Rabner die Apotheke ab. Wieder einmal hatte sie außer ein paar Packungen Paracetamol und Aspirin nichts verkauft, und es war nicht zu erwarten, dass sich daran etwas ändern würde. Statt bis achtzehn Uhr auszuharren, konnte sie ebenso gut schon jetzt Feierabend machen. Das sparte wenigstens die Heizkosten. Noch konnte sie auf ihre Rücklagen zurückgreifen, doch lange würden die nicht mehr reichen, und sobald Lore ausgezogen war, würde auch noch die Mieteinnahme fehlen.

Lore empfing sie in der Küche. Bei Mariellas Anblick sprang sie auf. »Du wirst nicht glauben, was ich heute gehört habe.«

»Später, Lore. Lass uns erst einmal einen Tee trinken.«