Dichterinnen & Denkerinnen - Katharina Herrmann - E-Book

Dichterinnen & Denkerinnen E-Book

Katharina Herrmann

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Beschreibung

Frauen haben schon immer geschrieben – oft im Verborgenen, gegen Widerstände, mit Erfolg. Katharina Herrmann erzählt von ihnen und zeigt anhand von Gedichten, Brief- sowie Romanauszügen, dass es höchste Zeit ist, sie (wieder) zu lesen! Ob Lyrikerin, Schriftstellerin oder Journalistin – sie alle haben sich gegen die Konventionen ihrer Zeit gewendet, mit Mut, Intelligenz und Begabung, und manchmal auch mit unerschütterlichem Humor. Eine literarische Begegnung mit 20 inspirierenden Frauen. Illustriert von Tanja Kischel. Mit Porträts von Luise Gottsched – Sophie von La Roche – Caroline Auguste Fischer – Johanna Schopenhauer – Rahel Varnhagen – Karoline von Günderrode – Annette von Droste-Hülshoff – Louise Aston – Marie von Ebner-Eschenbach – Helene Böhlau – Lou Andreas-Salomé – Ricarda Huch – Else Lasker-Schüler – Franziska zu Reventlow – Vicki Baum – Nelly Sachs – Gertrud Kolmar – Anna Seghers – Marieluise Fleißer – Mascha Kaléko. »Die Porträts laden ein, unsere Literaturgeschichte weiblich nachzujustieren.« Die Literarische WELT

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Seitenzahl: 329

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Katharina Herrmann / Tanja Kischel

Dichterinnen & Denkerinnen

Frauen, die trotzdem geschrieben haben

Reclam

2020, 2022 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung und Illustrationen: Tanja Kischel

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2020

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-961668-1

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011429-2

www.reclam.de

Inhalt

Eine kleine Geschichte des Lebens und Schreibens

Die Reform des deutschen Theaters

Die Erfindung des »Frauenromans«

Das Recht einer Mutter auf ihre Kinder

Die Frage: Wer ist hier das Genie?

Die Kunst, zu leben

Der Wunsch nach Erfüllung

Der eigene Wille

Das Leben für die Revolution

Die Liebe zu den Menschen

Die Frau als ganzer Mensch

Der Blick in die Psyche des Menschen

Das Herz eines Löwen

Prinz Jussuf von Theben

Die Stärke der Lachenden

Die »neue Frau«

Die Sprache gegen die Sprachlosigkeit

Das ihr eigene Heldentum

Der eiserne Bestand

Der ungeahnte Sprengstoff

All das Himmelgrau

Eine kleine Geschichte des Lebens und Schreibens

Wenn Sie an Ihren Deutschunterricht in der Schule denken: An wie viele Autorinnen, die sie gelesen haben, können Sie sich erinnern? Ich erinnere mich nur an wenige. Als Schülerin nahm ich an, es hätte vor 1900 neben Annette von Droste-Hülshoff praktisch keine Schriftstellerinnen gegeben. Vermutlich, weil Frauen gar nicht schreiben durften, oder so … Viele Gedanken machte ich mir darüber, ehrlich gesagt, damals nicht. Ich nahm es einfach hin. Deutschland war eben ein Land der Dichter und Denker. So sagt man ja.

Ich habe erst später gemerkt, dass das gar nicht stimmt. Tatsächlich hat es hunderte Autorinnen gegeben, die erfolgreich geschrieben haben. Deutschland war immer auch ein Land der Dichterinnen und Denkerinnen. Sie sind nur irgendwann aus der Literaturgeschichte verschwunden, vor allem deswegen, weil es eben noch gar nicht so lange her ist, dass Frauen in der Öffentlichkeit deutlich weniger zu sagen hatten als Männer, weswegen sie nicht Teil der öffentlichen Erinnerungskultur wurden.

Autorinnen mussten unter grundlegend anderen Bedingungen schreiben als Autoren: Sie hatten in der Regel weniger Zugang zu Bildung – der Besuch eines Gymnasiums oder gar ein Studium war für sie lange schlicht nicht möglich. Und auch als beides für Frauen möglich wurde, hatten nur wenige die Chance, diesen Weg zu gehen. Zudem stand es Frauen lange nicht zu, einen eigenen Beruf auszuüben und ernsthaft kreativ zu sein – ja, lange Zeit galten sie nicht einmal als vollwertige Individuen. Ihr Raum war in der Regel das Private. Von der Familie und von den Ehemännern hing es maßgeblich ab, ob sie schreiben durften oder nicht. So bedeutet von Autorinnen zu erzählen auch immer, von ihren Familien und ihren Ehen zu erzählen. Beides spielte im Leben von Dichterinnen eine ganz andere Rolle als in dem von Dichtern.

Das Werk von Autorinnen wurde lange nicht anerkannt, wurde höchstens als Unterhaltungsliteratur, nicht aber als Kunst bewertet. Gerade vor 1900 schrieben Frauen unter Bedingungen, die es eigentlich unmöglich machten zu schreiben, eben weil Frauen deutlich dem Mann untergeordnet waren. Und diese Bedingungen änderten sich nur langsam – und wirken bis heute nach.

Die hier vorgestellten Schriftstellerinnen schrieben trotzdem. Sie schrieben, um zumindest über einen Teil ihres Lebens selbst bestimmen zu können. Dass sie das konnten und taten, ist Zeichen ihres Mutes und ihrer ausnehmenden Intelligenz und Begabung. Und manchmal auch: ihres Humors. All das zeigt sich in ihren Biographien – aber vor allem auch in ihren Werken. Es ist Zeit, sie neu zu lesen.

 

Ausgewählt habe ich zum einen Schriftstellerinnen, die so wichtig und bekannt sind, dass sie nicht fehlen durften, zum anderen sollten aber auch Autorinnen dabei sein, die heute praktisch völlig vergessen sind – weil es doch Spaß macht, etwas wiederzufinden, das einmal verloren gegangen ist. Zudem sollte es aus jeder Epoche der Literaturgeschichte eine Vertreterin geben, angefangen mit einem zentralen literaturgeschichtlichen Ereignis, mit Gottscheds Theaterreform, und endend mit Schriftstellerinnen, deren Wirken bis in die jüngste Vergangenheit der DDR und BRD hineinreicht.

So sollen hier 20 Dichterinnen vorgestellt werden. Jedes Porträt ist dabei für sich allein lesbar, aber beim Lesen entspinnt sich auch eine kleine Geschichte des Lebens und Schreibens von Autorinnen in Deutschland, und das über einen Zeitraum von mehr als 250 Jahren hinweg. Dabei werden zumindest am Rande auch andere Autorinnen erwähnt, deren Wege sich mit den hier vorgestellten Frauen gekreuzt haben. Sie sind als Wegweiser zu sehen, die zum weiteren eigenen Entdecken einladen sollen. Bei Interesse können Sie ein Verzeichnis der von mir verwendeten Literatur auf meinem Blog www.kulturgeschwaetz.de unter dem Menüpunkt »Dichterinnen und Denkerinnen« einsehen.

 

Die Zeiten haben sich geändert, und es gibt viel zu entdecken: Hunderte begabte Autorinnen warten darauf, wieder gelesen zu werden. Dazu möchte ich Sie nun einladen.

Luise Adelgunde Victorie Gottsched (1713–1762)

Die Reform des deutschen Theaters

Was muss das für eine Aufregung gegeben haben im Haus von Luise und Johann Gottsched! Zensur eines Theaterstücks, eingeworfene Fensterscheiben bei einem Pastor in Hamburg – und alles wegen einer anonym herausgegebenen Komödie Luises, die der Theaterauffassung ihres Mannes Johann folgte. Dass diese Theaterreform im wahrsten Sinne des Wortes durchschlagenden Erfolg haben würde, hatten die beiden so vermutlich nicht erwartet.

Doch der Reihe nach: Bis ins 18. Jahrhundert hinein wurde die deutschsprachige Theaterlandschaft, wie sie dem einfachen Volk zugänglich war, von Wanderbühnen dominiert: Umherfahrende Schauspielergruppen, in denen einzelne Schauspielerinnen und Schauspieler feste Rollen wie den »Dümmling«, die »jugendliche Verliebte«, den »Intriganten« oder die »Heldin« einnahmen, spielten vorwiegend Stegreifstücke ohne oder mit nur teilweise feststehendem Text. Häufig wurden die Stücke durch Einlagen eines Harlekins unterbrochen, die von einem recht derben Humor gekennzeichnet waren – die Wanderbühnen richteten sich eben an ein meist ungebildetes, sich nach Unterhaltung sehnendes Publikum.

Das wollte Johann Christoph Gottsched im 18. Jahrhundert mit seiner Theaterreform ändern: Das Publikum hatte etwas Besseres verdient. Nein, noch mehr – das Publikum selbst sollte durch das Theater gebessert werden. Sein Ziel war es, ein deutsches Nationaltheater nach französischem Vorbild zu errichten, in dem schriftlich fixierte Stücke gespielt wurden, die die Zuschauer ganz im Geiste der Frühaufklärung moralisch bessern sollten. Der Beruf der Schauspieler sollte mehr Akzeptanz erhalten und ihre wirtschaftliche Not gelindert werden – als fahrendes Volk waren Schauspieler bislang ständig von Armut bedroht gewesen.

Damit die Schauspielgruppen aber überhaupt angemessene Stücke spielen konnten – das Drama des Barock war für die vernünftige Dichtkunst, die Gottsched vorschwebte, zu schwülstig –, mussten erst einmal entsprechende Stücke in deutscher Sprache geschrieben werden: »Natürlich« sollten sie sein, also schlicht und logisch, dem Vorbild des französischen Dramas folgend, und sie sollten die Vernunft des Publikums fördern.

Es wurde zu Johann Christoph Gottscheds Lebensprojekt. Aber nicht allein das seine: Ihn unterstützte seine Frau, Luise Adelgunde Victorie Gottsched. Die Theaterreform war also eigentlich ein eheliches Gemeinschaftsprojekt, zusammen arbeiteten sie an theoretischen Ausführungen über das Theater, wie es sein sollte, und an neuen Stücken, die den eigenen Ansprüchen entsprechen sollten. Ohne Luise Gottsched als hoch gebildete wie literarisch begabte Vertreterin der Aufklärung wäre die Theaterreform in dieser Form also vielleicht nie möglich gewesen.

Am 11. April 1713 in Danzig als Tochter des Arztes Johann Georg Kulmus und seiner aus einer Augsburger Patrizierfamilie stammenden Frau Katharina Dorothea Kulmus geboren, hatte Luise Adelgunde Victorie Kulmus das Glück gehabt, eine gute Ausbildung zu erhalten und schon früh sogar Französisch und Englisch lernen zu können. Zu dieser Zeit keine Selbstverständlichkeit! Vor allem wurde sie auch in Poesie unterrichtet, und mit 14 schrieb sie bereits so ausgezeichnete Gedichte, dass sie das Interesse Johann Christoph Gottscheds weckte. 1729 lernte er sie bei einem Besuch kennen, und beide hielten Briefkontakt. In den Briefen ging es aber nicht nur um Literatur: Gottsched warb auch um sie. Aus unterschiedlichen Gründen verzögerte sich eine Verlobung, obwohl in den Briefen beide ihre Zuneigung füreinander ausdrückten.

Erst 1735, also sechs Jahre später – Johann Gottsched war seit 1734 Professor in Leipzig, verfügte also über ein Einkommen, das die Gründung eines eigenen Hausstandes erlaubte, wohingegen die Eltern von Luise Kulmus inzwischen gestorben waren – heiratete die nun 22-Jährige den 13 Jahre älteren Johann Gottsched und wurde so Luise Gottsched. Schon bevor die Ehe geschlossen wurde, war beiden klar, dass ihre Beziehung ganz den Idealen der Aufklärung und der Vernunft folgen würde, dass sie also mehr ein intellektuelles als ein emotionales Band verbunden hielt. So schrieb sie am 1. März 1735 in ihrem letzten Brief vor der Hochzeit an ihn: »Sie haben Recht, dass Sie unsere Liebe eine philosophische Liebe nennen. Sie ist von den so oft gewöhnlichen Bündnissen, welchen man zwar auch diesen Namen beizulegen pfleget, sehr unterschieden.«

Nach der Hochzeit beteiligte sich Luise Gottsched nicht nur rege an den Vorhaben ihres Mannes, indem sie die Korrespondenzen führte, die Bibliothek aufbaute, unterschiedliche Bücher und Zeitschriften übersetzte, Schriftstücke abschrieb, Rezensionen verfasste, sondern indem sie eigene Voruntersuchungen zu den Werken ihres Mannes wie der Sprachkunst oder der Deutschen Schaubühne durchführte und zu beiden auch eigene Beiträge lieferte. Die Ehe blieb kinderlos, und Gottsched, die sich durchaus Kinder wünschte, dürfte sich umso mehr in ihre Arbeit und die Unterstützung ihres Mannes gestürzt haben, wie ein Brief an Freifrau von Kunkel vom 14. November 1736 vermuten lässt:

Nein, gnädige Frau, die Vorsehung hat noch nicht für gut befunden, mich mit einem Kinde zu begnadigen. Ich würde es gewiss als ein Geschenk des Himmels ansehen, allein auch im Fall ich keins von ihm erhalten soll, ergebe ich mich in dem Willen Gottes. […] Ich will, im Fall mir die Vorsehung diese Wohltat, aus weisen und mir ersprießlichen Absichten, versagen sollte, mich desto eifriger bemühen, meinen Beruf auf andere Art treulich zu erfüllen. Ich arbeite viel, und lerne noch mehr. […] An allen diesen würde ich verhindert werden, wenn ich ein Kind hätte, denn auf dieses würde ich meine ganze Zeit verwenden.

Schnell wurde sie so eine Figur des literarischen Lebens – die sich nicht alle Vorschriften gefallen ließ: Obwohl Frauen keinen Zutritt zu Vorlesungssälen hatten, folgte sie ihrem Mann, dem Professor, heimlich zu seinen Vorlesungen und lauschte hinter der offenen Tür, zudem lernte sie Latein – durchaus auf den Wunsch Johann Gottscheds hin. Außerdem schrieb sie eine Geschichte der lyrischen Dichtkunst der Deutschen, für die sich aber leider kein Verleger fand. Dennoch verstieß Luise Gottsched im Großen nicht gegen das Frauenbild ihrer Zeit, das von der Überzeugung geprägt war, dass Frauen über einen anderen Verstand verfügten als Männer: Ihr Verstand sei anschaulich, sinnlich, konkret, während der Verstand des Mannes auch abstrakte und theoretische Gedanken fassen könne. Dies und die dem Mann untergeordnete Rolle der Frau stellte Luise Gottsched ebenso wenig in Frage wie die zeitgemäße Überzeugung, dass der Frau bestimmte Tätigkeiten nicht zustünden. Als Johann Gottsched 1732 die 19-Jährige als zweite Dichterin überhaupt nach Christiana Mariana von Ziegler, die Texte für mehrere Kantaten von Johann Sebastian Bach geschrieben hatte, in die Deutsche Gesellschaft aufnehmen wollte, lehnte sie dies in einem Brief vom 19. Juli 1732 ab: »Ich erlaube meinem Geschlechte einen kleinen Umweg zu nehmen; allein, wo wir unsre Grenzen aus dem Gesichte verlieren, so geraten wir in ein Labyrinth, und verlieren den Leitfaden unserer schwachen Vernunft, die uns doch glücklich ans Ende bringen sollte.«

Kleinere Umwege waren also trotzdem erlaubt – und waren der begabten Luise Gottsched wohl auch ein Bedürfnis. Und so gestattete sie sich diese Umwege: Sie übersetzte nicht nur Theaterstücke, sondern übernahm im großen Projekt »Theaterreform« vor allem auch den Bereich der Komödie – wobei die Komödie im Vergleich zur Tragödie als die niedrigere Form des Dramas galt und daher auch von einer Frau bearbeitet werden konnte. Freilich hielt sie sich beim Verfassen ihrer Stücke weitestgehend an die Regeln, die ihr Mann für das neue Theater aufgestellt hatte.

Ihr bekanntestes Stück wurde Die Pietisterey im Fischbein-Rocke oder Die Doctormäßige Frau von 1736. Wie der Name schon sagt, handelt es sich ganz im Sinne des Vernunftideals der Aufklärung um eine Satire auf die schwärmerische religiöse Strömung des Pietismus: Der Pietismus war eine Bewegung im Protestantismus des 17. und 18. Jahrhunderts, der eine persönliche, gefühlsbetonte Herzensfrömmigkeit forderte – und deswegen Vertretern der Aufklärung als unvernünftig, ja bisweilen lächerlich erscheinen musste. Und eben diese in Luise Gottscheds Augen irrationale Gefühlsfrömmigkeit setzt ihr Drama dem Spott und der Kritik aus: In der Komödie versucht Magister Scheinfromm, der sich als pietistischer Gottesmann ausgibt, die Abwesenheit von Herrn Glaubeleicht zu nutzen, um auf Frau Glaubeleichtin Einfluss zu nehmen. Diese lässt sich von Scheinfromm und seinen pietistischen Lehren blenden und legt jede Vernunft ab: Sie vernachlässigt ihre Pflichten, zahlt den Angestellten keinen Lohn, entwickelt dafür abstruse theologische Lehren, will schließlich gar eine theologische Abhandlung schreiben, womit sie vollends gegen das Frauenbild ihrer Zeit verstößt, das Autorschaft und Wissenschaft nur Männern zugestanden hat. Vor allem aber lässt sie sich von Scheinfromm um den Finger wickeln, der möchte, dass ihre Tochter Luise, die eigentlich Herrn Liebmann versprochen ist, seinen ungebildeten, unansehnlichen und armen Vetter Herrn von Muckersdorff heiratet. Damit hofft er, den gesamten Besitz der wohlhabenden Familie Glaubeleicht zum Besitz seiner eigenen Familie zu machen – was er allerdings nicht offen zugibt. So behauptet er beispielsweise im Gespräch mit Cathrine, einer Bediensteten der Familie, seine Motive wären allein religiöser Natur, es ginge ihm um nichts anderes als das Seelenheil Luises:

HERR SCHEINFROMM. Aus Eigennutz tue ich das alles nicht; von diesem Laster bin ich durch die Gnade Gottes schon lange Zeit befreiet. Nein, ich tue es aus bloßem Eifer vor Jungfer Luischens Seligkeit.

CATHRINE. O! das sieht man wohl.

HERR SCHEINFROMM. Denn, denkt nur selbst nach. Herr Liebmann ist ein junger, liebenswürdiger Mensch; er ist ganz weltlich; er hat eure Jungfer lieb, und sie ihn. Allein diese Liebe bei den beiden Leuten möchte wohl nur bloß ein natürliches Werk sein; und nicht der Göttlichen Gnade und Barmherzigkeit.

CATHRINE. Davor schwöre ich freilich nicht.

HERR SCHEINFROMM. Heiraten sich nun die beiden Leute; so würden sie sich vielleicht ihre ganze Lebens-Zeit so lieb haben.

CATHRINE. Das ist allerdings zu besorgen.

HERR SCHEINFROMM. Und damit wären zwei arme Seelen auf ewig den Lüsten des verderbten Fleisches unterworfen.

CATHRINE. Ich bitte sie drum. Das ist ja noch ärger, als eine öffentliche Kirchen-Buße!

HERR SCHEINFROMM. Freilich: Heiratet sie aber meinen Vetter: so kriegt sie einen Mann, der gar nicht angenehm ist, und denn wird sie also nicht anders, als mit Göttlichen Beistande und Mitwirkung einer übernatürlichen Gnade lieben können; so werden sie denn in einer heiligen Vereinigung leben, und keine verderbte Lüste kennen.

CATHRINE. Das gesteh ich! Wie Herr Magister? So bald sich in der Liebe zweier Eheleute ein wenig natürliche Liebe mischet; so ist’s Sünde?

HERR SCHEINFROMM. Ja, meine Tochter! Alles was die Natur uns befiehlt zu tun; alle Empfindungen, die von ihr kommen, als was nicht bloß die Göttliche Gnade in uns wirket, das ist Sünde.

CATHRINE. Warum denn das?

HERR SCHEINFROMM. Je darum: Weil die ganze Natur in ihrer Quelle, in ihrem Wesen, und in ihrer inneren Beschaffenheit verderbt ist. Ein Ungläubiger, der seinem Vater unzählige Wohltaten tut, der darf nicht denken, dass er was Gutes tue: Sünde tut er. Eine Mutter die ihre Kinder liebt; eine Frau, die ihrem Manne treu ist, wenn sie es nicht bloß durch die Kraft einer übernatürlichen Gnade tut, so sündigt sie.

CATHRINE. Das ist ja betrübt. So werden wir auf die Art lauter Affen und Meerkatzen heirathen müssen, die wir nur durch eine übernatürliche Beihilfe lieben können. Wahrhaftig, ich weiß nicht, ob dieser Glaube die Leute glücklich macht. Aber es schadet nicht; gehn sie nur zur Frau Glaubeleichtin, denn sie erwartet sie.

Das von einem französischen Dramentext inspirierte Stück spielt in Königsberg, zu dieser Zeit eine Hochburg des Pietismus in Deutschland. Dort wurde es sofort verboten. Überhaupt schien das Stück den Nerv der Zeit getroffen zu haben, wurde es doch Anlass für ein neues, strenges Zensuredikt in Preußen. Friedrich Wilhelm I., der dem Pietismus nahestand, bezeichnete es als eine »gottlose Schmäh-Schrift«. Mit Ärger hatten vielleicht auch die Eheleute selbst gerechnet, der Text, der vermutlich nie aufgeführt worden war, wurde anonym veröffentlicht, zwei fingierte Vorworte lenkten den Verdacht auf einen namenlosen männlichen Autor, der angibt, er habe das Stück nie veröffentlichen wollen, dies sei gegen seinen Willen geschehen. Man wusste also um die Brisanz der Komödie – und tatsächlich warf man dem Hamburger Pastor Erdmann Neumeister, ein erbitterter Gegner des Pietismus, die Fensterscheiben ein, weil man vermutete, er sei der Autor. Man hatte selbst den Verlagsort geändert: Der Verleger Breitkopf aus Leipzig, in dessen Haus die Gottscheds lebten, ließ nicht Leipzig, sondern Rostock, eine Hochburg des Anti-Pietismus, als Druckort auf das Titelblatt setzen, um jeden Verdacht von den Gottscheds zu lenken. Erst nach dem Tod Luise Gottscheds am 26. Juni 1762 in Leipzig machte Johann Gottsched in einer Darstellung ihres Lebens ihre Autorschaft öffentlich.

In den letzten zwei Jahren vor ihrem Tod war die Dichterin gesundheitlich extrem angeschlagen: Immer wieder litt sie unter Ohnmachtsanfällen, sie konnte kaum schreiben und essen, verließ in ihrem letzten halben Lebensjahr das Haus nicht mehr. Ihre Ehe war schon längst unglücklich: Nicht nur war ihr Johann Gottsched wohl untreu, die ständige Arbeitsbelastung für sein Werk schränkte ihr Schaffen am eigenen Werk extrem ein. In einem Brief an ihre enge Freundin Henriette von Runckel vom 4. März 1762, also knapp drei Monate vor ihrem Tod, machte Luise Gottsched die Arbeit für ihren Mann für ihre Krankheit verantwortlich: »Fragen Sie nach der Ursache meiner Krankheit? Hier ist sie: Acht und zwanzig Jahre ununterbrochene Arbeit, Gram im Verborgenen und sechs Jahre lang unzählige Thränen.«

Sie starb nach mehreren Schlaganfällen, teilweise gelähmt. Was hätte sie nur für ein Leben führen, was hätte sie alles schreiben können, wenn sie frei hätte entscheiden dürfen? Und dennoch: In diesem eingeengten Leben hatte Luise Gottsched auf kleinen Umwegen den Raum geweitet, der weiblicher Autorschaft in ihrer Zeit zukam; sie schrieb, obwohl sie selbst den Überzeugungen ihrer Zeit gemäß wohl angenommen hatte, dass dies Frauen eigentlich nicht zustünde. Sie schrieb trotzdem, nahm immer wieder Mut und Kraft zusammen. Und im Heimlichen ging sie sogar so weit, eine Tragödie zu schreiben, obwohl diese Gattung nur Männern zukam: Panthea von 1744 wurde erst posthum veröffentlicht – Luise Gottsched hielt es für ihr bestes Werk. Das Schlusswort der Heldin des Stückes wirkt wie ein Plädoyer für die Mündigkeit und Selbstständigkeit der Frau:

Jedoch, was klagt mein Schmerz der Götter Fügung an,

Da, wenn ich standhaft bin, ich selbst mir helfen kann.

Ausgewählte Werke

Dramen: Die Pietisterey im Fischbein-Rocke oder Die Doctormäßige Frau (1736), Die ungleiche Heyrath (1743), Die Hausfranzösinnen, oder Die Mammsell (1744), Panthea (1744), Das Testament (1745), Herr Witzling (1745).

Sophie von La Roche (1730–1807)

Die Erfindung des »Frauenromans«

Der Pietismus, den Luise Gottsched in ihrem Drama verspottet hatte, prägte die Jugend von Sophie von La Roche. Am 6. Dezember 1730 als Tochter des Arztes Georg Friedrich Gutermann und seiner Frau Regina Barbara Gutermann in Biberach an der Riß geboren, wuchs Sophie Gutermann in großbürgerlichen Verhältnissen in Augsburg auf. Ihr ehrgeiziger Vater ließ ihr eine gute, für Mädchen typische Bildung zukommen und weckte schon früh ihre Liebe zu Büchern, wie sie es ausdrückte – bereits mit drei Jahren konnte sie lesen und las alles, was ihr gefiel. Eine klassische höhere Schulbildung, wie sie damals nur Jungen vorbehalten war, erhielt Sophie Gutermann jedoch trotz ihrer Begabungen nicht. Auch ihr Wunsch, Latein lernen zu dürfen, wurde ihr verwehrt; der Schwerpunkt ihrer Erziehung lag auf Sprache, Kunst, Literatur, Musik und Haushaltsführung, wie damals für Mädchen üblich.

Zusätzlich musste Sophie jeden Tag in pietistischen Schriften lesen – beide Eltern legten Wert auf eine strenge religiöse Erziehung. Für das junge Mädchen war das gewiss kein Vergnügen. Dennoch sollte für Sophie der Pietismus zeitlebens eine entscheidende Rolle spielen, obwohl sie durchaus noch mehr unter den religiösen Vorstellungen ihres Vaters zu leiden hatte: 1747 wurde sie mit 17 Jahren mit dem Italiener Giovanni Ludovico Bianconi, dem Leibarzt des Fürstbischofs von Augsburg, verlobt. Obwohl dieser 13 Jahre älter war als Sophie, war sie ihm aufrichtig zugeneigt, nicht zuletzt deswegen, weil er sie förderte: Er sorgte dafür, dass sie Klavier- und Gesangsunterricht erhielt und die italienische Sprache und Literatur kennenlernte. Doch die Verlobung wurde gelöst: Zwischen dem Katholiken Bianconi und Sophies Vater kam es zu einem unlösbaren Streit um einen Artikel des Ehevertrages. In einem autobiographischen Brief, der Bestandteil ihres letzten Romans Melusinens Sommer-Abende von 1806 ist, schildert sie das Problem so:

[Bianconi] wollte aber alle Kinder katholisch, mein Vater hingegen die Mädchen lutherisch haben, und dies umso eifriger, als er nach seiner physischen Kenntnis glaubte, ich würde, da ich in vollblühender Gesundheit erst 19 Jahre, Biancone hingegen 35 zählte, und viel gelebt habe – mehr Kinder von meinem Geschlechte bekommen, als von dem seinen, also die lutherische Kirche mehr Seelen gewinnen.

Weil sich also Sophies Vater und ihr Verlobter über die Konfession der zukünftigen Kinder nicht einig werden konnten, wurde die Verlobung gelöst. Sophie hatte bei alledem nichts zu entscheiden. Was wie eine Komödie aus der Feder Luise Gottscheds klingt, war hier traurige Realität. Bianconi schlug ihr, ihrem autobiographischen Bericht zufolge, zwar vor, mit den Eltern zu brechen und ihn heimlich dennoch zu heiraten, Sophie jedoch wollte dem Vater keinen Kummer bereiten. So viel Rücksicht nahm ihre Familie auf ihre Situation nicht: Als sie nach der Abreise Bianconis weinte, wurde sie dafür zurechtgewiesen, und sie musste vor den Augen ihres Vaters alle Briefe und Geschenke, die sie von Bianconi erhalten hatte, zerstören. Im Gegenzug schwor sie sich, nie wieder zu singen, Klavier zu spielen oder Italienisch zu sprechen, damit sich niemand anderes an den Fähigkeiten, die sie ihrem ehemaligen Verlobten zu verdanken hatte, erfreuen konnte. Dieses Versprechen hielt sie ihrer Aussage nach ein Leben lang ein.

Während eines Aufenthalts in Biberach 1750 verlobte sich Gutermann mit ihrem Vetter Christoph Martin Wieland, der drei Jahre jünger war als sie und später einer der bedeutendsten Schriftsteller der Aufklärung und neben Johann Gottfried Herder, Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Schiller ein Teil des Weimarer Viergestirns werden sollte. Bereits zu dieser Zeit hatte Sophie Gutermann wohl auch schon selbst geschrieben – zumindest antwortete Wieland ihr in einem Brief vom März 1751: »Kurz Sie sind geschickt, eine vollkommne Dichterin zu werden; sie haben mir davon Proben gegeben; und was kann mir angenehmer sein, als zur Entwicklung und Aufklärung ihrer ungemeinen Geschicklichkeit etwas beizutragen.«

Allerdings legte er sie dann, ganz dem Frauenbild der Zeit entsprechend, eher auf die Rolle der Schülerin und Muse fest – ihre schriftstellerischen Versuche und Ideen waren im Briefwechsel vor allem ein Aufhänger für seine eigenen Überlegungen über Dichtung, hinter denen ihre Positionen verschwanden. Ihrer Entwicklung war dies nur in Maßen förderlich, war doch in der ihr zugewiesenen Rolle kein Raum dafür vorgesehen. Die beiden lebten räumlich weit getrennt. Schließlich zog Wieland nach Zürich und hielt seine Verlobte zunehmend auf Distanz, während sie relativ deutlich in ihren Briefen darauf drang, ihn besuchen zu kommen, wohl auch, um endlich zu heiraten. Dass Gutermann dies forcierte, lag nahe, denn sowohl ihre Eltern als auch die Eltern Wielands waren gegen die Verbindung. Ihrem Vater schien Wieland als Student ungeeignet, um seine Tochter zu versorgen. Die Eltern Wielands hielten Sophie Gutermann, da sie in Schloss Warthausen bei Komödien mitspielte, für »liederlich« und für eine »arglistige Coquette«, wie die Mutter am 10. Oktober 1753 an Johann Jacob Bodmer schrieb, bei dem Wieland in Zürich wohnte. Wielands Eltern hielten Briefe zwischen den beiden Verlobten zurück; wenig später, im Dezember 1753, heiratete Gutermann dann Georg Michael (genannt Frank) La Roche, den Privatsekretär von Friedrich von Stadion-Warthausen, und wurde so Sophie von La Roche.

Diese Vernunftehe stellte sie lebenslang zufrieden, sie war harmonisch, gab ihr geistige Anregungen und die Möglichkeit zur Erweiterung ihrer Bildung und ihres Erfahrungsschatzes, zudem finanzielle und gesellschaftliche Sicherheit. Mit Wieland verband sie dennoch weiterhin eine mal engere, mal losere Freundschaft. Immer wieder unterstützte sie ihn in privaten wie beruflichen Notlagen, so dass es wohl keine Übertreibung ist, wenn es in seinem Brief vom 20. Dezember 1805 anlässlich ihres 75. Geburtstags heißt: »Nichts ist wohl gewisser, als dass ich, wofern uns das Schicksal nicht im Jahre 1750 zusammengebracht hätte, kein Dichter geworden wäre.«

Aber auch Wieland unterstützte La Roche zuweilen in ihrer schriftstellerischen Laufbahn, insbesondere bei der Veröffentlichung ihres ersten Romans. Diesen verfasste sie erst viele Jahre später – ihre neuen Aufgaben als Ehefrau, Hofdame und Gesellschafterin in unterschiedlichen adligen Kreisen und die Geburt von acht Kindern, von denen leider nur fünf überlebten, ließen ihr zunächst keine Zeit für das Schreiben. 1768 beendete sie ihren Dienst bei Hofe und begann mit ihrem ersten Roman, den sie dann nach ihrem Umzug in das Bönnigheimer Schloss 1770 fertigstellte. Der Antrieb dazu war auch persönlicher Natur: Ironischerweise hatte ihr Vater den Forderungen La Roches, alle Kinder katholisch erziehen zu lassen, an der noch die Ehe mit Bianconi gescheitert war, zugestimmt, so dass nun alle Töchter in einem katholischen Pensionat erzogen wurden und der Mutter entzogen waren. Man kann sich vorstellen, was das für La Roche bedeutete. In ihrem autobiographischen Bericht in Melusinens Sommer-Abende erzählt sie, wie sie aus Trauer und auf Rat eines Freundes hin den Entschluss zu dem Roman fasste: »Doch ich wollte nun einmal ein papierenes Mädchen erziehen, weil ich meine eigenen nicht mehr hatte, und da half mir meine Einbildungskraft aus der Verlegenheit und schuf den Plan zu Sophiens Geschichte.«

Mit »Sophiens Geschichte« ist La Roches erster Roman, Die Geschichte des Fräuleins von Sternheim, gemeint, deren Protagonistin Sophie heißt und vielleicht genau deswegen von Lesern oft mit der Autorin identifiziert wurde. Der Roman wurde 1771 zunächst anonym veröffentlicht, zu ungewöhnlich schien eine Frau als Schriftstellerin zu sein. Wieland, der La Roche bei der Veröffentlichung unterstützt und den Text weitgehend überarbeitet und korrigiert hatte, beugte mit einem Vorwort der zu erwartenden Kritik an der Autorschaft einer Frau vor: Er wies darauf hin, dass der Text Mängel und Fehler aufweise, und wandte gegen eine zu strenge Beurteilung durch die (ausschließlich von Männern verfasste) Literaturkritik ein, dass die Autorin bescheiden und rechtschaffen sei, keineswegs daran gedacht habe, »für die Welt zu schreiben, oder ein Werk der Kunst hervorzubringen«, dass ihr Roman aber gerade für Frauen nützlich sein könne, weil sie am Vorbild der Protagonistin moralisch richtiges, einer Frau angemessenes Verhalten erlernen könnten: »Möchten doch, so dacht’ ich bei hundert Stellen, möchten meine Töchter so denken, so handeln lernen wie Sophie Sternheim!« Dass eine Frau hier ein Buch geschrieben und veröffentlicht hatte, wurde also über den Nutzen, den dieses Buch durch seine Wirkung auf andere Frauen und vielleicht sogar auf Männer haben würde, legitimiert.

Wieland fungierte als Herausgeber des ersten »Frauenromans« und wies damit Schriftstellerinnen für die kommenden Jahrzehnte einen festen Platz zu: Literatur, die von Frauen geschrieben war, richtete sich in erster Linie auch an Frauen, sie war keine mit von männlichen Autoren verfasster Literatur vergleichbare Kunst, sondern bestenfalls nützliche Unterhaltung. Mehr als das gestanden die damaligen Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit Autorinnen nicht zu. Und dennoch wurde damit gleichzeitig der Raum, der Frauen zugestanden wurde, etwas erweitert: Die Geschichte des Fräuleins von Sternheim wurde ein großer Erfolg, der Goethes bedeutenden Briefroman Die Leiden des jungen Werther inspirieren sollte. La Roche wurde zur berühmtesten Autorin ihrer Zeit, zur zentralen Autorin der Epoche der Empfindsamkeit, zur ersten »Bestsellerautorin«, und löste damit Luise Gottsched als berühmte Autorin in Deutschland ab. Dass weibliche Autorschaft weniger skandalös und leichter möglich wurde, war vielleicht auch diesem Erfolgsroman zu verdanken.

Aus heutiger Perspektive liest sich Die Geschichte des Fräuleins von Sternheim zunächst ungewöhnlich: Die damals moderne, heute jedoch ungebräuchliche Art, einen Roman aus mehreren Perspektiven zu erzählen, zeigt das große Talent Sophie von La Roches. Sie erzählte eine komplexe Handlung multiperspektivisch, und gab mal mehr, mal weniger Einblick in das Geschehen. Es handelt sich dabei um einen sogenannten Prüfungsroman: Die junge Sophie von Sternheim ist auf dem Land aufgewachsen und nach hohen moralischen Maßstäben pietistisch erzogen worden. Nach dem Tod ihrer Eltern muss sie jedoch zu ihrer Tante und ihrem Onkel ziehen und am Leben bei Hofe teilhaben, das ihr nicht zusagt, da sie viele der höfischen Aktivitäten als Zeitverschwendung und die höfischen Gepflogenheiten als eitles, unnatürliches Theater empfindet. Sophie von Sternheim möchte ehrlich und rechtschaffen leben, etwas Nützliches tun, insbesondere möchte sie sich für die Armen einsetzen. Außerdem verliebt sie sich in Lord Seymour, verbietet sich diese Gefühle aber, da sie einer Freundin, die die gleichen Gefühle hegt, nicht in die Quere kommen will. Sophie von Sternheim ahnt dabei nicht, welche Intrigen bei Hofe gesponnen werden, welche Rolle sie darin spielt und wie Lord Seymour über sie denkt. Seymour selbst hat mehr Einblick. Er schreibt über Sophie in einem Brief an einen Freund:

Diese junge Dame ist eine Freundin des Fräulein C*, von welchem ich Ihnen schon geschrieben habe, das Fräulein Sternheim ist aber erst seit einigen Wochen hier, und zwar zum erstenmal; vorher war sie immer auf dem Lande gewesen. Erwarten Sie keine Ausrufungen über ihre Schönheit; aber glauben Sie mir, wenn ich sage, dass alle mögliche Grazien, deren die Bildung und Bewegung eines Frauenzimmers fähig ist, in ihr vereinigt sind; eine holde Ernsthaftigkeit in ihrem Gesicht, eine edle anständige Höflichkeit in ihrem Bezeugen, die äußerste Zärtlichkeit gegen ihre Freundin, eine anbetungswürdige Güte und die feinste Empfindsamkeit der Seele; ist dies nicht die Stärke des englischen Erbes von ihrer Großmutter? Einen mit Wissenschaft und richtigen Begriffen gezierten Geist ohne das geringste Vorurteil, männlichen Mut, Grundsätze zu zeigen und zu behaupten, viele Talente mit der liebenswürdigsten Sittsamkeit verbunden; dieses gab ihr der rechtschaffene Mann, der das Glück hatte, ihr Vater zu sein. Nach dieser Beschreibung, mein Freund, können Sie den Eindruck beurteilen, welchen sie auf mich machte. Niemals, niemals ist mein Herz so eingenommen, so zufrieden mit der Liebe gewesen! Aber was werden Sie dazu sagen, dass man dieses edle, reizende Mädchen zu einer Mätresse des Fürsten bestimmt? dass mir Mylord verboten, ihr meine Zärtlichkeit zu zeigen, weil der Graf F. ohnehin befürchtet, man werde Mühe mit ihr haben? Doch behauptet er, dass sie deswegen an den Hof geführt worden sei. Ich zeigte meinem Oncle alle Verachtung, die ich wegen dieser Idee auf den Grafen Löbau, ihren Oncle, geworfen; ich wollte das Fräulein von dem abscheulichen Vorhaben benachrichtigen und bat Mylorden fußfällig, mir zu erlauben, durch meine Vermählung mit ihr, ihre Tugend, ihre Ehre und ihre Annehmlichkeiten zu retten. Er bat mich, ihn ruhig anzuhören, und sagte mir; er selbst verehre das Fräulein und sei überzeugt, dass sie das ganze schändliche Vorhaben zernichten werde; und er gab mir die Versicherung, dass, wenn sie ihrem würdigen Charakter gemäß handle, er sich ein Vergnügen davon machen wolle, ihre Tugend zu krönen. »Aber solang der ganze Hof sie als bestimmte Mätresse ansieht, werde ich nichts tun. Sie sollen keine Frau von zweideutigem Ruhme nehmen; halten Sie sich an das Fräulein C*, durch diese können Sie alles von den Gesinnungen der Sternheim erfahren: ich will Ihnen von den Unterhandlungen Nachricht geben, die der Graf F. auf sich genommen hat. Alle Züge des Charakters der Fräulein geben mir Hoffnung zu einem Triumphe der Tugend. Aber er muss vor den Augen der Welt erlanget werden.«

– Mein Oheim erregte in mir die Begierde, den Fürsten gedemütigt zu sehen, und ich stellte mir den Widerstand der Tugend als ein entzückendes Schauspiel vor. Diese Gedanken brachten mich dahin, meine ganze Aufführung nach der Vorschrift meines Oheims einzurichten. Mylord Derby hat mir einen neuen Bewegungsgrund dazu gegeben. Er sah sie, und fasste gleich eine Begierde nach den seltnen Reizungen, die sie hat; denn Liebe kann man seine Neigung nicht nennen. Er ist mir mit seiner Erklärung schon zuvorgekommen; wenn er sie rührt, so ist mein Glück hin; ebenso hin, als wenn sie der Fürst erhielte; dann wenn sie einen Ruchlosen lieben kann, so hätte sie mich niemals geliebt. Aber ich bin elend, höchst elend durch die zärtlichste Liebe für einen würdigen Gegenstand, den ich unglücklicherweise mit den Fallstricken des Lasters umgeben sehe. Die Hoffnung in ihre Grundsätze, und die Furcht der menschlichen Schwachheit martern mich wechselsweise.

Lord Seymour, der also Sophie von Sternheims Tugendhaftigkeit überprüfen will – sie soll sich erst den Avancen des Fürsten widersetzen, bevor er ihr seine Liebe offenbart –, hat seine Rechnung aber ohne Lord Derby gemacht, der die höfische Intrige besser beherrscht als alle anderen. Sophie, die von alledem nichts ahnt, wird wenig später glauben, ihre scheinbar verlorene Tugend nur durch eine heimliche Ehe mit Derby, der sich als Retter in der Not gibt, wiederherstellen zu können. Sie wird von diesem aber hinters Licht geführt und muss sich immer wieder angesichts widriger Schicksalsschläge beweisen.

Sophie von Sternheim verkörpert vollkommen das bürgerliche Frauenideal ihrer Zeit: Sie ist tugendhaft, empfindsam, übertritt den Platz, der Frauen zusteht, im Großen an keiner Stelle – ebenso wie die Autorin, Sophie von La Roche. Aber im Kleinen erschließt auch die Figur Sophie von Sternheim neue Handlungsräume für Frauen: Sie entscheidet eigenständig, und es wird ihr zugestanden, sich auch eigenständig falsch entscheiden zu dürfen. Sie entzieht sich männlicher Bevormundung, tritt für das Ideal einer partnerschaftlichen Ehe ein und erobert Frauen im sozialen Engagement für Schwächere einen eigenen Handlungsraum außerhalb der Ehe und innerhalb des öffentlichen Raumes, der ansonsten Männern vorbehalten war. Sosehr Die Geschichte des Fräuleins von Sternheim also die damaligen Rollenbilder bestätigte und forttrug, so sehr gelang dem Roman und der Autorin doch der Fortschritt im Kleinen.

Nahezu zeitgleich mit der Veröffentlichung des ersten Romans musste La Roche einen Umzug bewältigen: Ihr Mann wurde 1771 Konferenzminister des Fürstbischofs von Trier, die Familie zog nach Koblenz. Dort wurde das Haus der La Roches bald zu einem Treffpunkt für Künstler und Gelehrte; Friedrich Heinrich und Johann Georg Jacobi, Johann Heinrich Merck, Johann Caspar Lavater, Johann Wolfgang Goethe, Johann Bernhard Basedow und andere gingen ein und aus. 1775 wurde Georg Friedrich Frank La Roche in den Adelsstand erhoben – und 1780 wegen Kritik an Adel und Mönchswesen entlassen. Die Familie zog nach Speyer, wo die Eheleute einen vergleichsweise kümmerlichen, gesellschaftlich unbedeutenden Ruhestand verlebten, dennoch aber zahlreiche Kontakte pflegten und unter anderem von Friedrich Schiller besucht wurden. Vor allem erlaubte es die neue, ruhigere Situation La Roche, größere Reisen selbstständig zu planen und durchzuführen, wovon zahlreiche Reiseberichte zeugen. Zudem gab sie in den Jahren 1783 und 1784 mit Pomona. Für Teutschlands Töchter als erste Frau eine Frauenzeitschrift heraus – auch diese Position war bislang Männern vorbehalten gewesen. Die Zeitschrift enthielt Beiträge zu allgemeinbildenden Themen, Reiseberichte, Beiträge über Mode, Moral und Tanz. Doch obwohl Katharina die Große 500 Exemplare kaufte, konnte sie sich auf dem Markt nicht halten – wohl auch deswegen, weil sie kaum durch männliche Kollegen in deren Zeitschriften beworben wurde.

1788 starb Georg Friedrich Frank von La Roche, zwei Jahre, nachdem sie nach Offenbach am Main gezogen waren. Als dann auch noch 1794 La Roches Witwenversorgung aufgrund der französischen Besetzung des linken Rheinufers entfiel, war sie darauf angewiesen, ihren Lebensunterhalt durch das Schreiben zu bestreiten. Dies war umso drängender, da sie nach dem Tod ihrer Tochter Maximiliane im Jahr zuvor drei ihrer acht Kinder bei sich aufgenommen hatte: Über Maximiliane war La Roche die Großmutter von Clemens Brentano und Bettine von Arnim geworden, und aus der Überlieferung Bettine von Arnims ist heute bekannt, dass La Roche hervorragend schwäbisch fluchen konnte.

La Roche gelang es trotz aller Widrigkeiten weitgehend, durch das Schreiben ihren Lebensunterhalt zu finanzieren, zudem unterstützte sie ihre Familie – und schließlich half noch einmal Wieland. Obwohl die beiden sich auseinandergelebt hatten, trieb Wieland 1806 die Veröffentlichung von Melusinens Sommer-Abende voran. In der von Männern dominierten Welt der hohen Literatur fand ihr Werk keinen Anklang mehr – für die ästhetischen Vorstellungen der Weimarer Klassik waren ihre Romane zu sehr der Empfindsamkeit verhaftet –, und um als Muse wahrgenommen zu werden, war sie zu alt. Aber sie wurde gelesen und konnte sich durch die Schriftstellerei, die ihr noch einige Jahrzehnte zuvor keineswegs selbstverständlich offengestanden hatte, weitgehend selbst ernähren. In Melusinens Sommer-Abende resümiert sie die letzten Jahre ihres Lebens: »Alles, was ich nachher schrieb, war Folge der Umstände, welche die unselige Revolution in Frankreich über Deutschland wälzte und meine Feder zu einer Art Stütze für mich machte.«

Die Feder, mit der Sophie von La Roche schrieb, war ihre Stütze – sie war es schon gewesen, als sie ein »papierenes Mädchen« anstelle ihrer Töchter erziehen musste. Im Rahmen der Möglichkeiten, die eine Frau in dieser Zeit hatte, lebte Sophie von La Roche ein stolzes, ambitioniertes Leben, in dem es ihr immer wieder gelang, für Frauen ungewöhnliche Freiheiten und Selbstständigkeiten zu erwirken. Sie starb am 18. Februar 1807 friedlich und bei klarem Verstand in Offenbach am Main. Nach ihrem Tod wurde sie in einem Nachruf als »berühmte Schriftstellerin« bezeichnet – und eine solche war sie geworden, obwohl ihr dies in der ersten Hälfte ihres Lebens noch unmöglich erschienen war.

Ausgewählte Werke

Prosa:Die Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771), Briefe an Lina (Bd. 1: Lina als Mädchen, 1785; Bd. 2: Lina als Mutter, 1795–97), Neue moralische Erzählungen (1786), Geschichte von Miß Lony und Der schöne Bund (1789), Rosalie und Cleberg auf dem Lande (1791), Schönes Bild der Resignation, eine Erzählung (1796), Erscheinungen am See Oneida (1798), Fanny und Julia, oder die Freundinnen (1801), Liebe-Hütten (1804), Herbsttage (1805); Autobiographisches:Melusinens Sommer-Abende (1806).

Caroline Auguste Fischer (1764–1842)

Das Recht einer Mutter auf ihre Kinder

Noch zu Lebzeiten von Sophie von La Roche wurde eine Schriftstellerin geboren, die mit den meisten Regeln brechen sollte, die für Frauen ihrer Zeit galten: Caroline Auguste Fischer begehrte auf und entwarf andere mögliche Lebenswege für Frauen – umso bedauerlicher, dass sie heute nahezu vergessen und über ihr Leben nur wenig bekannt ist.

Am 9. August 1764 wurde sie als Carolina Augusta Ferdinandini Venturini, Tochter des herzoglichen Kammermusikers Karl Heinrich Ernst Venturini und seiner Frau Charlotte Juliane Wilhelmine Venturini, geboren. Die wirtschaftlichen Verhältnisse der Familie waren eher bescheiden, aber die Eltern legten Wert auf eine gute Ausbildung ihrer Kinder. In welcher Form auch immer Caroline Auguste unterrichtet wurde – sie dürfte kaum wie ihre beiden Brüder einen geregelten Unterricht besucht haben –, ging ihre Bildung doch offensichtlich über die sonst für Mädchen in dieser Zeit übliche hinaus, wodurch ihre literarische Tätigkeit überhaupt erst möglich wurde.

Wann sie den Prediger und Pädagogen Johann Rudolph Christiani heiratete, ist unklar. Mit ihm ging sie nach Dänemark, wo er 1793 zum Hofprediger in Kopenhagen berufen wurde und ein Jahr später ein Erziehungsinstitut eröffnete, dessen Haushaltsführung Caroline Auguste Christiani übernahm. Nachdem eine gemeinsame Tochter verstorben war, wurde 1797 der Sohn Carl Rudolph Ferdinand geboren, den sie sehr liebte. Und vermutlich war es nicht zuletzt diese Liebe zu ihrem Sohn, die dazu führte, dass Caroline Auguste Christiani sich mit dem bürgerlichen Leben, das ihr schwerzufallen schien, und ihrer Ehe zu arrangieren versuchte. Sie hatte Kontakt zum dänischen Schriftsteller Jens Immanuel Baggesen, dem sie im September 1797 von ihren Eheproblemen schrieb:

[I]ch habe endlich einmal die abgeschmackte Grille aufgegeben, Trauben auf den Disteln zu suchen und seitdem geht alles gut. Unsere Schlafzimmer sind zwar durch einen sehr ansehnlichen Raum getrennt und werden es so Gott will auch bleiben – allein demohngeachtet sind wir doch sehr gute und was mir besonders wichtig ist – sehr einige Freunde. […] Was der Himmel mir übrigens sonst aus Gnaden versagt haben mag, hat er mir hundert und tausendfältig in meinem herrlichen Jungen wiedergegeben – Etwas runderes lieblicheres, kraftvolleres, Herz und Geist erquickenderes als diesen Jungen kann man, glaube ich, nicht sehen.

Dennoch kam es 1798 zur Trennung der Christianis. Die Gründe dafür liegen im Dunkeln –aufgrund unterschiedlicher Äußerungen vermutet man aber, dass Caroline Auguste Christiani ihrem Mann, vielleicht mit Baggesen, untreu gewesen sein könnte. Die Scheidung wurde 1801 vollzogen. Sie erhielt zwar eine gute Unterhaltszahlung, das gemeinsame Kind wurde jedoch ihrem Mann zugesprochen, wie damals üblich. Ein Verlust, der sie schwer getroffen haben muss.