Die Achse meiner Welt - Dani Atkins - E-Book
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Die Achse meiner Welt E-Book

Dani Atkins

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Beschreibung

Rachel ist jung, beliebt, verliebt und wird in wenigen Wochen ihr Traumstudium beginnen. Perfekt. Doch dann geschieht ein schrecklicher Unfall, der ihr alles nimmt. Sie verliert den besten Freund, ihre Zuversicht und die Balance. Jahre später wird ihre Welt zum zweiten Mal auf den Kopf gestellt. Denn als sie nach einem schweren Sturz im Krankenhaus erwacht, ist ihr Leben plötzlich so, wie sie es sich immer erhofft hat. Die damalige Tragödie hat es anscheinend nie gegeben. Ihr bester Freund lebt und ist an ihrer Seite. Wie kann das sein? Und wie fühlt sich Rachel in ihrem neuen Leben – mit dem Wissen über all das, was zuvor geschah? Lassen Sie sich von einer Liebesgeschichte verwirren, die mit nichts vergleichbar ist. "Die Achse meiner Welt", das Romandebüt der britischen Autorin Dani Atkins, wurde bereits in 13 Länder verkauft, hat in England für Furore gesorgt und wird ab August den deutschen Markt erobern.

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Seitenzahl: 409

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Dani Atkins

Die Achse meiner Welt

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Stell dir vor, das Leben würde dir eine zweite Chance geben …

Rachel hat alles, was sie sich immer erträumte: einen gutaussehenden Freund, einen großen Freundeskreis, und in wenigen Wochen wird sie ihr Traumstudium beginnen. Doch dann geschieht dieser schreckliche Unfall, der ihr alles nimmt, was sie liebt.

Als Rachel Jahre später nach einem schweren, nächtlichen Sturz im Krankenhaus erwacht, ist ihr Leben plötzlich wieder so, wie sie es sich immer erhofft hat. Von den Auswirkungen der Tragödie keine Spur. Und der Mann, den sie damals verlor, ist immer noch am Leben.

Inhaltsübersicht

WidmungVorbemerkung1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. KapitelDanksagungDani Atkins über »Die Achse meiner Welt«
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Für Ralph. Für immer. Und natürlich für Luke, einfach weil. Und vor allem für Kimberley, ohne deren Hilfe es dieses Buch nicht gäbe.

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Mein erstes Leben endete an einem eisigen Dezemberabend um 22:37 Uhr auf einer einsamen Straße neben der alten Kirche.

Mein zweites Leben begann etwa zehn Stunden später, als ich im grellen Licht des Krankenzimmers erwachte – mit einer großen Kopfwunde und einer Vergangenheit, an die ich keinerlei Erinnerung besaß. Dass Freunde und Verwandte mein Bett umringten, hätte es mir eigentlich erleichtern sollen, half aber nichts, weil einer aus dieser Runde schon seit geraumer Zeit tot war.

 

In der Hoffnung, dass ich irgendeinen Sinn erkennen würde, wenn ich das Geschehene zu Papier brachte, beschloss ich, alles aufzuschreiben. Vielleicht wollte ich auch nur allen beweisen – einschließlich mir selbst –, dass ich nicht im Begriff war, verrückt zu werden. Lange Zeit dachte ich, die Geschichte müsste mit dem beginnen, was mir an der Kirche zugestoßen war, als mein Leben im wahrsten Sinne des Wortes in Stücke brach, doch inzwischen ist mir klar, dass ich viel weiter zurückgehen muss, um zu verstehen. Denn in Wirklichkeit begann es schon fünf Jahre früher, am Abend unseres Abschiedsessens.

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1

September 2008

Lange nachdem das Geschrei verstummt war und ich nur noch das leise Weinen meiner Freunde hörte, die auf das Eintreffen des Krankenwagens warteten, bemerkte ich, dass ich immer noch den Glückspenny umklammerte. Meine Finger weigerten sich, den kleinen Kupfer-Talisman loszulassen, als könnte ich es durch bloße Willenskraft schaffen, die Zeit zurückzudrehen und die Tragödie ungeschehen zu machen.

War es wirklich erst eine halbe Stunde her, dass Jimmy den schimmernden Penny vom asphaltierten Parkplatz des Restaurants aufgehoben hatte?

»Der bringt bestimmt Glück«, hatte er grinsend gesagt, während er die Münze in die Luft warf und mit einer Hand geschickt wieder auffing.

Ich erwiderte sein Lächeln, sah aber in seinen tiefblauen Augen einen Anflug von Verärgerung aufblitzen, als Matt witzelte: »Hey, Jimmy, sag doch einfach, wenn du knapp bei Kasse bist. Kein Grund, auf der Suche nach Kohle auf dem Boden herumzukriechen!«

Lachend legte Matt mir den Arm um die Schultern und zog mich an sich. Ich hielt Jimmys finstere Miene für eine normale Reaktion auf Matts unnötigen Kommentar, der auf die unterschiedliche finanzielle Situation der beiden anspielte. Damit lag ich vielleicht nicht ganz falsch, doch es war nicht der einzige Grund. Es gab noch einen anderen … auch wenn ich das erst sehr viel später begriff.

Wir drei warteten im langsam schwindenden Sonnenlicht eines warmen Septemberabends auf den Rest unserer Truppe. Jimmy war schon da gewesen, als Matt und ich auf den Parkplatz eingebogen waren. Demonstrativ hatte Matt erst einmal sämtliche freien Lücken umrundet und nach dem perfekten Platz gesucht, auf dem er seine Neuerwerbung parken wollte. Ich schätze, er befand sich zu dem Zeitpunkt noch in jener seltsamen Flitterwochenphase, in die Jungs verfallen, wenn sie in ihr Auto verliebt sind. Ich hoffte nur, er würde genug gesunden Menschenverstand an den Tag legen und vor den anderen nicht allzu sehr damit prahlen.

Es war ein brandneuer, blitzender Wagen, sportlich und teuer. Viel mehr fällt mir zu Autos grundsätzlich nicht ein. Matt hatte ihn nach Bekanntgabe der Examensergebnisse von seinen Eltern geschenkt bekommen. Allein das verrät genug über Matts Familie, um zu verstehen, warum bei den anderen unserer Clique manchmal die Nerven blanklagen, wenn er Bemerkungen zum Thema Geld machte. Die meiste Zeit war Matt zwar einigermaßen rücksichtsvoll und rieb uns nicht allzu sehr unter die Nase, wie wohlhabend seine Eltern waren, aber hin und wieder entwischte ihm ein unbedachter Kommentar, der für Zündstoff sorgte. Ich hoffte, dass er sich heute im Griff haben würde, denn aller Wahrscheinlichkeit nach war es einer unserer letzten gemeinsamen Abende, zumindest für eine ganze Weile.

»Hast du heute gearbeitet, Jimmy?«, fragte ich, obwohl ich genau wusste, dass dem so war. Ich wollte die Unterhaltung unbedingt auf neutralen Boden lenken.

Jimmy wandte sich mir zu und bedachte mich mit jenem Lächeln, bei dem ich schwören könnte, dass es sich überhaupt nicht verändert hatte, seit er vier Jahre alt war. »Ja, das ist die letzte Woche, die ich bei meinem Onkel helfe, danach gebe ich Schubkarren und Heugabel nur allzu gern wieder ab. Die Gärtnerei und ich gehen in Zukunft getrennte Wege.«

»Trotzdem, sieh es positiv, die tolle Bräune, die du dir diesen Sommer zugelegt hast, hättest du beim Konservenstapeln im Supermarkt nicht bekommen.«

Es stimmte, Jimmys normalerweise helle Haut hatte ein sanftes Goldbraun angenommen, und seine Unterarme wirkten nach der monatelangen Arbeit im Freien wesentlich sehniger und muskulöser als davor. Auch Matt und ich trugen eine schöne Bräune zur Schau – die rührte allerdings von unserem Urlaub in der Villa seiner Eltern in Frankreich. Das war ein weiteres Schulabschlussgeschenk gewesen – für uns beide.

Allerdings hatte mein Vater zunächst Einspruch gegen die Reise erhoben. Er konnte Matt zwar ganz gut leiden, und mein Freund gehörte bei uns zu Hause mittlerweile fast zum Inventar – immerhin waren wir schon beinahe zwei Jahre zusammen –, aber anfangs hatte Dad trotzdem nicht erlauben wollen, dass ich zwei Wochen mit Matts Familie wegfuhr. Zum Teil war es dabei ums Geld gegangen, denn natürlich hatten sich Matts Eltern geweigert, eine Bezahlung für die Reise anzunehmen. Der andere Teil – der große Teil – war die Vater-Tochter-Freund-Sache gewesen. Ich schätze, das ist bei allen Vätern auf der Welt gleich, aber in unserem Fall schien es noch extremer zu sein, weil keine Mum da war, die die Wogen glättete. Am Ende hatten es Matt und ich schließlich doch geschafft, Dad zu überzeugen, indem wir ihm erklärten, dass alles ganz jugendfrei ablaufen würde, mit streng getrennten Schlafzimmern und unter ständiger Aufsicht von Matts Eltern – was im Grunde gelogen war.

Ich fragte mich nicht zum ersten Mal, wie mein Dad es verkraften würde, wenn es Ende des Monats für mich an der Zeit war, zur Universität aufzubrechen. Automatisch runzelte ich die Stirn und schob den Gedanken dann entschieden beiseite. Damit schlug ich mich nun schon den ganzen Sommer herum und wollte mir nicht auch noch den Abend mit meinen Freunden verderben, indem ich mich wegen etwas verrückt machte, das ich sowieso nicht ändern konnte.

Zwei Autos, beide beträchtlich älter als das von Matt, von ihren Besitzern aber nicht weniger geschätzt, bogen auf den Restaurantparkplatz ein. Bei dem kleinen blauen Wagen, der direkt neben uns anhielt, flog die hintere Tür auf, und schon klapperte uns Sarah auf unglaublich hohen Absätzen entgegen. Eine Unebenheit am Boden ließ sie kurz bedenklich schwanken, ehe sie beide Arme um mich schlang.

»Rachel, meine Schöne, wie geht’s dir?«

Während ich ihre Umarmung erwiderte, dachte ich daran, dass ich sie bald nicht mehr jeden Tag, sondern nur noch in den Semesterferien treffen würde, und für einen Moment blieb mir die Luft weg. Abgesehen von Jimmy war ich mit ihr am längsten befreundet, und egal, wie nahe Jimmy und ich uns standen – schon immer gestanden hatten –, gab es doch ein paar Gesprächsthemen, die man nur mit seiner besten Freundin besprach.

»Entschuldigt unsere Verspätung«, sagte Sarah.

Ich bedachte sie mit einem ironischen Lächeln. Sarah kam immer zu spät. Für ein Mädchen, das von Natur aus so hübsch war, benötigte sie unglaublich viel Zeit, um sich fürs Ausgehen fertig zu machen, und musste erst einmal etliche Frisuren- und Outfit-Varianten durchprobieren, ehe sie dazu zu bewegen war, sich vom Spiegel zu trennen. Trotzdem schien sie mit dem Endergebnis nie zufrieden zu sein, was albern war, weil sie mit ihrem herzförmigen Gesicht, den glänzenden braunen Locken und der zierlichen Figur stets perfekt aussah.

»Wartet ihr schon lange?«, fragte sie, während sie sich bei mir unterhakte und mich von Matt wegzog.

Wahrscheinlich wollte sie damit in erster Linie sicherstellen, dass sie es mit ihren Highheels ohne zu stolpern über den Parkplatz bis zum Restauranteingang schaffte. Oder sie hatte einfach keine Lust, mit anzusehen, wie Trevor und Phil reflexartig auf den Anblick von Cathy reagierten, die gerade aus dem Wagen neben ihnen stieg.

»Jedenfalls lange genug, um Matt Gelegenheit zu geben, Jimmy eine reinzuwürgen«, antwortete ich so leise, dass nur Sarah es hören konnte.

Sie lächelte wissend. »Also noch gar nicht lange!«

Inzwischen hatten wir den terrassenartigen Eingang an der Rückseite des Restaurants erreicht und blieben abwartend stehen, während die Jungs (einschließlich Matt) so taten, als würden sie das einladende Dekolleté, das sich ihnen aus Cathys tiefem Ausschnitt entgegenreckte, nicht bemerken. Zu diesem gewagten Oberteil trug sie eine hautenge Jeans und hochhackige Sandalen, in denen sie offensichtlich – sehr zu Sarahs Leidwesen – ohne Probleme gehen konnte. Cathy sah aus, als wäre sie gerade auf dem Weg zu einem Fotoshooting. Ihr langes blondes Haar fiel ihr locker um die Schultern, und alles an ihr harmonierte so perfekt, dass ich mir einen Moment lang vorkam, als hätte ich mich im Dunkeln angezogen und dabei lauter Klamotten erwischt, die aus einem Wohltätigkeitsladen ausgemustert worden waren.

Cathy hatte sich relativ spät zu unserem Freundeskreis gesellt. Bevor sie in der sechsten Klasse zu uns gestoßen war, hatte unsere Clique aus einer festen Einheit bestanden: Sarah, mir und den vier Jungs. Das Jungen-Mädchen-Verhältnis war ein wenig unausgewogen gewesen, aber da wir alle schon so lange befreundet waren, stellte das kein Problem dar. Nichtsdestotrotz war Cathys allmähliche Aufnahme in die Gruppe von den Jungs weitestgehend begrüßt worden. Die Gründe dafür lagen auf der Hand. Außerdem konnte man mit Cathy, von ihrem Äußeren mal abgesehen, durchaus Spaß haben. Ihre Familie war aus einer wesentlich größeren Stadt nach Great Bishopsford gezogen, wodurch sie anfangs viel weltgewandter und erfahrener gewirkt hatte als wir anderen. Hinzu kam, dass sie eine ausgesprochen offene, freundliche Art und einen wunderbaren Sinn für schwarzen Humor hatte. Wenn sie nicht gerade heftig mit jedem männlichen Wesen im Umkreis von zehn Kilometern flirtete, mochte ich sie wirklich gern.

Sarah dagegen hatte stets Vorbehalte gegen sie. Wenn Cathy ihr mal wieder auf die Nerven gegangen oder zu nahe getreten war, hörte ich sie bei mehr als einer Gelegenheit finster murmeln: »Wer zuletzt kommt, fliegt zuerst.«

Als Jimmy nun über den Parkplatz geschlendert kam, um sich zu uns zu gesellen, trat Sarah einen Schritt beiseite und begann, die Speisekarte zu studieren, die neben der Tür in einem Glaskasten hing. Die anderen waren zu Matt hinübergeeilt, um seinen Wagen zu bewundern – oder Cathys Dekolleté, dachte ich leicht gehässig, während ich beobachtete, wie sie sich demonstrativ vornüberbeugte, um die Alu-Felgen zu bewundern. Als ob sie sich etwas aus Autofelgen machen würde!

»Du siehst viel besser aus als sie«, flüsterte Jimmy mir ins Ohr. Er hatte sofort durchschaut, was mir durch den Kopf ging.

»Sind meine Gedanken so leicht zu lesen?«, fragte ich und erwiderte sein Lächeln, woraufhin er mich mit diesem besonderen Grinsen bedachte, das ich so gut kannte. Es reichte hinauf bis in seine Augenwinkel und brachte sein ganzes Gesicht zum Strahlen.

»Wie ein Buch«, bestätigte er, »aber ein gutes.«

»Du meinst, wie ein altes zerfleddertes Taschenbuch, im Gegensatz zu einem Hochglanzmagazin.«

Er verstand die Analogie und folgte meinem Blick hinüber zu Cathy, die neben Matt stand und gebannt lauschte, während er irgendetwas über den Wagen zum Besten gab.

»Du brauchst dir keine Sorgen zu machen«, beruhigte mich Jimmy und drückte freundschaftlich meine Schulter. »Matt wäre verrückt, ihr schöne Augen zu machen, wo er doch dich hat.«

»Hm.« Mehr brachte ich als Antwort nicht heraus, weil ich überrascht feststellte, dass ich wegen seiner herzlichen Worte rot wurde. Rasch wandte ich mich ab.

Angesichts meines Spiegelbilds, das ich im Fenster des Restaurants erblickte, hatte ich allerdings nicht das Gefühl, dass mein alter Freund ganz ehrlich mit mir war. Und falls er es tatsächlich so meinte, sollte er ernsthaft in Betracht ziehen, seine Augen testen zu lassen. Ich würde bei Männern niemals die gleiche Art von Reaktion hervorrufen wie Cathy. Ich hatte langes dunkles Haar, glatt, was derzeit modern war, große Augen, die ohne Kontaktlinsen so gut wie gar nicht funktionierten, und Lippen, die ein wenig zu breit geraten waren. Ein durchaus gefälliges, aber keineswegs atemberaubendes Gesicht. Ich war selbstkritisch genug, um zu wissen, dass meinetwegen niemals der Verkehr zum Stillstand kommen würde. Vorher hatte ich damit auch nie ein Problem gehabt, aber seit ich mit Matt zusammen war, der – blicken wir den Tatsachen ins Auge – zweifellos umwerfend aussah, war ich mir meiner Unzulänglichkeiten bewusster denn je.

»Und vergiss nicht, dass du für mich immer das sommersprossige Mädchen mit der Zahnlücke und den abstehenden Ohren bleiben wirst.«

»Damals war ich zehn!«, protestierte ich. »Gott sei Dank gibt es Kieferorthopäden. Musst du mich unbedingt an jedes verdammte Detail aus meiner peinlichen Kindheit erinnern?«

»Ich kann nicht anders«, entgegnete Jimmy.

Bestimmt hätte ich wegen dieser seltsamen Bemerkung nachgehakt, wenn sich nicht in dem Moment die anderen zu uns gesellt hätten.

»Kommt, Leute«, drängte Matt, während er nach meiner Hand griff und sie fest drückte, »lasst uns reingehen, bevor sie unseren Tisch anderweitig vergeben.«

Wir traten durch die große Doppeltür, die Arme untergehakt oder um eine benachbarte Schulter gelegt, ohne zu ahnen, dass sich in der folgenden halben Stunde unser Leben für immer verändern sollte, und zwar unwiderruflich.

Man führte uns zu unserem Tisch, der sich an der Vorderseite des Restaurants an einem großen Fenster befand, von wo wir einen wunderbaren Blick auf die Hauptstraße und die hoch oben auf dem Hügel thronende Kirche haben würden. Während wir uns zwischen den Tischen zu unseren Plätzen durchschlängelten, sah ich, wie Cathy mehrere anerkennende Blicke vonseiten der männlichen Gäste auf sich zog. Bei den Damen war auch Matt nicht unbemerkt geblieben. Krampfhaft versuchte ich, die kleine sorgenvolle Stimme zum Schweigen zu bringen, die mir schon seit mehreren Monaten ihre Bedenken ins Ohr flüsterte.

Matt war ein sehr attraktiver Typ. Er zog ganz automatisch die Aufmerksamkeit anderer Frauen auf sich, damit musste ich einfach leben. Doch auch wenn ein Teil von mir die Tatsache genoss, dass er an meiner Seite ging und meine Hand in der seinen hielt, während wir uns zwischen den dichtstehenden Tischen hindurchschlängelten, war da zugleich auch diese unausgesprochene Sorge, der ich mich früher oder später stellen musste: Was würde passieren, wenn er sich irgendwelchen Verlockungen gegenübersah, sobald wir räumlich voneinander getrennt waren? Würden wir eines der Paare sein, die die Trennung während der Studienzeit überlebten, oder würden wir dem Fluch der Fernbeziehung zum Opfer fallen?

Mein Gedankengang wurde durch den Kellner unterbrochen, der uns mit weichem italienischem Akzent darauf hinwies, dass wir an dem für uns reservierten Tisch angekommen waren. Da in dem überfüllten Restaurant Raumnot herrschte, hatten sie zwei Tische zusammengeschoben, um unsere Gruppe unterzubringen, wodurch sich ein ziemlich schmaler Spalt neben einer Betonsäule ergeben hatte. Jemand musste sich hindurchzwängen, um an den Platz am Fenster zu gelangen.

Ich wünschte, Sarah wäre als Erste dort eingetroffen, denn sie war viel zierlicher als ich. Trotzdem schaffte ich es, mich durch den Spalt zu manövrieren, ohne stecken zu bleiben. Matt glitt auf den Stuhl neben mir, und auch die anderen suchten sich einen Platz und ließen sich nieder. Jimmy wählte den Platz direkt mir gegenüber, woraufhin Sarah sich den Stuhl zu seiner Rechten sicherte. Ich weigerte mich, die peinliche Balgerei um den Platz neben Cathy zu verfolgen, die an Matts anderer Seite saß. Schätzungsweise war die Pole-Position ohnehin ihr gegenüber, von wo man den besten Blick in ihren Ausschnitt hatte. Unter dem Schutz der Tischdecke zog ich den Saum meines eigenen T-Shirts ein Stück hinunter, um meinen Ausschnitt um ein paar Zentimeter zu vertiefen, bemerkte dann aber, dass Jimmy es mitbekommen hatte, und lief erneut wie eine Idiotin rot an.

»Was ist denn so lustig, Jimmy?«, wollte Matt wissen.

Durch einen schrecklichen Zufall verstummten genau in dem Moment alle am Tisch, als wollten sie Jimmys Antwort hören. Mir war klar, dass meine Augen ihm verzweifelt telegrafierten, nur ja nichts zu sagen, doch ich hätte mir deswegen gar keine Gedanken zu machen brauchen.

Jimmy griff seelenruhig nach der Speisekarte und zuckte lässig mit den Achseln. »Nichts, ich musste nur gerade an etwas denken, das mein Onkel heute gesagt hat.«

Während alle anderen Jimmys Beispiel folgten und anfingen, ihre Speisekarten zu studieren, warf ich einen verstohlenen Blick zu ihm hinüber und formte mit den Lippen ein lautloses »Danke«. Aus dem Lächeln, mit dem er reagierte, sprach so viel Herzlichkeit, dass mein Magen aus irgendeinem unerklärlichen Grund einen nervösen Hüpfer vollführte. Verwirrt brach ich unseren Blickkontakt ab und tat so, als würde ich höchst interessiert die Vorzüge der Lasagne mit denen der Cannelloni vergleichen.

Matt schlang den Arm um meine Taille und zog mich an sich, während wir unser Essen wählten. Als ich ein paar Minuten später zu Jimmy hinübersah, war er in ein Gespräch mit Sarah vertieft. Obwohl er meinen Blick auffing und mit einem kleinen Lächeln erwiderte, blieb mein Magen genau dort, wo er hingehörte.

Es war unmöglich, die Nostalgie, die sich mit uns an den Tisch gesetzt hatte, zu ignorieren. Unsere bevorstehende Trennung hing genauso in der Luft wie das Aroma von Tomaten und Knoblauch, das uns umwehte. Mir selbst blieben noch ein paar Wochen, bis ich meinen Studienplatz in Brighton antreten würde, aber Trevor und Phil brachen bereits nach dem Wochenende auf und Sarah nur wenige Tage später. Und ich konnte mir nicht so recht vorstellen, dass sich die Überreste unserer Gruppe – Cathy, Jimmy, Matt und ich – in den verbleibenden Wochen weiterhin treffen würden.

Dieser plötzliche Widerwille wegzugehen traf mich unerwartet und mit ziemlicher Wucht. Es war keineswegs so, dass ich nicht an die Uni wollte. Natürlich wollte ich das. Ich hatte jedenfalls hart genug gearbeitet, um die Noten zu erzielen, die ich für mein Journalismus-Studium brauchte. An diesem Abend wurde mir nur zum ersten Mal richtig bewusst, dass es sich tatsächlich um das Ende eines sehr wichtigen Kapitels in meinem Leben handelte. Und im Moment konnte ich mich einfach nicht auf den Neuanfang konzentrieren, sondern musste die ganze Zeit daran denken, dass ich meinen Freund zurückließ – ganz zu schweigen von den beiden anderen Menschen, mit denen ich am engsten befreundet war. Lächerlicherweise bekam ich prompt feuchte Augen und wandte rasch den Kopf ab, weil es mir lieber war, mich von den letzten Strahlen der untergehenden Sonne blenden zu lassen, als die Reaktionen der um den Tisch Versammelten mitzubekommen, falls sie merken sollten, dass ich weinte.

»Alles in Ordnung?«, fragte Jimmy leise und beugte sich dabei so weit vor, dass nur ich seine Worte hören konnte.

Matt bestellte gerade den Wein, so dass ich ohne Gefahr antworten konnte.

»Ach, weißt du, ich bin momentan nur ein bisschen sentimental. Die bevorstehenden Veränderungen, die vielen Abschiede, das alles …« Ich verstummte, weil ich damit rechnete, dass er sich über mich lustig machen würde, stellte jedoch erstaunt fest, dass er stattdessen nach meinen Fingern griff, die nervös mit dem Besteck herumspielten.

Seltsamerweise fühlte es sich ganz anders an als sonst. Das war nicht der gewohnte Händedruck, den ich seit dem Kindergarten so oft gespürt hatte. Wahrscheinlich lag es daran, dass seine Haut von der sommerlichen Gartenarbeit rauh geworden war. Oder hatte es eher damit zu tun, dass mir meine Hand so klein vorkam, so fest umschlungen von der seinen?

Ich registrierte – besser gesagt spürte –, dass Jimmys Geste langsam in Matts Bewusstsein drang. Doch statt eilig den Rückzug anzutreten, drückte Jimmy noch einmal meine Hand, ehe er den Arm in aller Ruhe wieder wegnahm. Matt reagierte instinktiv, indem er mir den Oberkörper zuneigte und auf diese Weise sowohl meine Aufmerksamkeit als auch sein Territorium zurückforderte. Deshalb dauerte es ein paar Augenblicke, bis ich begriff, dass Jimmy den Glückspenny, den er vor dem Restaurant aufgehoben hatte, aus seiner Hand in meine geschoben hatte, bevor er den Arm zurückzog.

Ich hielt die Münze fest umklammert und verlieh ihr durch meine Gedanken mehr Bedeutung, als ihr eigentlich zukam. Es war typisch für Jimmy, dass er sogar die Aussicht auf Glück mit mir teilen wollte. Schließlich hatten wir all die Jahre schon so vieles miteinander geteilt. Er war für mich mehr wie ein Bruder als ein Freund: Genau genommen stand mir seine ganze Familie näher als viele meiner eigenen Verwandten.

Jimmys Mutter war sehr gut mit der meinen befreundet gewesen, und zwar schon lange, bevor Jimmy und ich auf die Welt kamen. Nachdem meine Mum dann so unerwartet gestorben war – ich war gerade ein paar Jahre alt –, hatten Jimmy und seine Familie die Arme ausgestreckt und sowohl Dad als auch mich in ihr Leben und ihre Herzen geholt. Mir wurde klar, dass Dad nicht das einzige Familienmitglied war, das ich zurückließ, wenn ich wegging. Fast genauso schwer würde es mir fallen, mich von Jimmys Eltern und seinem jüngeren Bruder zu verabschieden.

Als die zwei Flaschen Weißwein eingetroffen waren, die Matt bestellt hatte, hoben alle die Gläser, um einen Toast auszusprechen.

»Aufs Weggehen …«

»Aufs Durchhalten …«

»Auf unser neues Leben …«

»… und alte Freunde …«

In Letzteres stimmten wir alle ein, und als wir anstießen, brach sich das Licht der Abendsonne funkelnd in unseren Gläsern wie in einem Prisma.

Während die anderen miteinander scherzten und fröhlich plauderten, warf ich einen Blick in die Runde und versuchte, einen mentalen Schnappschuss von dem Moment zu machen. Obwohl ich wusste, dass wir alle an unseren Colleges und Universitäten zwangsläufig neue Freunde finden würden, konnte ich mir momentan nicht vorstellen, dass die neuen Bande, die wir dort schmieden würden, je so stark sein würden wie diejenigen, die zwischen uns sieben hier an diesem Tisch bestanden.

Während mein Blick von einem zum anderen wanderte, prasselte eine solche Vielzahl von Erinnerungen und Emotionen auf mich ein, dass es fast unmöglich war, sie voneinander zu trennen. Trotzdem war jede einzelne Erinnerung ein Baustein in der Mauer unserer Freundschaft, von der ich hoffte, dass sie Bestand haben würde, egal, wohin es uns verschlagen sollte.

Als ich Sarah ansah, musste ich mir ein Lächeln verkneifen. Auf eine seltsame Weise war ich schon jetzt eifersüchtig auf die neuen Freundschaften, die sie im Verlauf ihres Kunststudiums schließen würde. Verrückt, loyal, witzig und unglaublich liebevoll, wie sie war, zählte Sarahs Freundschaft zu meinen wertvollsten Besitztümern. Wer auch immer ihre neuen Freundinnen und Freunde sein mochten, sie wussten gar nicht, was für ein Glück sie hatten.

Und dann war da Jimmy. Ich hatte einen so großen Teil des Sommers damit zugebracht, mir in den düstersten Farben auszumalen, wie es sich anfühlen würde, von Matt getrennt zu sein, dass ich den Gedanken, mich auch von Jimmy verabschieden zu müssen, jedes Mal sofort hastig beiseiteschob, wenn er sich mir aufdrängte. Ich fand es selbst eigenartig, aber die Vorstellung, meinen alten Freund nicht mehr regelmäßig zu sehen, war derart beängstigend, dass ich mir nicht einmal die Zeit zugestehen konnte, mich damit auseinanderzusetzen.

Ziemlich frustriert begriff ich, dass ich nicht annähernd so bereit war, sie alle ziehen zu lassen, wie ich es eigentlich hätte sein sollen.

Während wir auf unser Essen warteten, warf ich hin und wieder einen Blick durch das Fenster auf die Straße, die zur Kirche hinaufführte. Die untergehende Sonne tauchte den Himmel in sanft verlaufende Rot- und Goldtöne, wodurch sich die sonst so triste Hauptstraße in eine magisch leuchtende Farbkomposition verwandelte. Es waren nur wenige Fußgänger unterwegs, aber die Reihen parkender Autos, die beide Straßenseiten säumten, ließen vermuten, dass die Kneipen und Restaurants an dem Abend alle ein gutes Geschäft machten. Irgendwo in der Ferne war das eindringliche Heulen einer Sirene zu hören.

»Rachel, hörst du mir überhaupt zu?«

Ich riss mich von dem Schauspiel draußen los und begriff, dass Jimmy mit mir redete.

»Entschuldige, ich war in Gedanken gerade meilenweit weg … was hast du gesagt?«

Sein Blick huschte hinüber zu Matt, der sich abgewandt hatte und mit Cathy sprach. Jimmy schien es unangenehm zu wiederholen, was auch immer er gerade gesagt hatte.

»Ich habe dich gefragt, ob du morgen Nachmittag bei mir vorbeikommen könntest, falls du nicht allzu beschäftigt bist?«

Diese seltsam zögerliche Anfrage sah ihm überhaupt nicht ähnlich. Sowohl sein Ton als auch das Formelle an seiner Einladung verwirrten mich. Für gewöhnlich tauchten Jimmy und ich einfach ohne Ankündigung vor der Haustür des anderen auf.

»Klar, kann ich machen. Ich wollte sowieso noch mal bei deinen Eltern vorbeischauen, bevor ich aufbreche.«

»Die sind morgen nicht da.« Wieder dieser eigenartige, unsichere Ton. »Morgen ist gar keiner da, nur ich. Ich … ähm … ich würde gern unter vier Augen mit dir reden. Ist das in Ordnung?«

Lag es am Spiel der Abendsonne, oder färbten sich seine Wangen tatsächlich rot?

Er schien nervös auf meine Antwort zu warten, deswegen beruhigte ich ihn rasch. »Ja, kein Problem. Passt es dir gegen zwei?«

Er nickte und seufzte erleichtert, als hätte er etwas geschafft, wovor er Angst gehabt hatte – was meine Neugier nur noch steigerte. Doch ich musste wohl bis zum nächsten Tag warten, ehe ich in Erfahrung bringen konnte, was er auf dem Herzen hatte.

Die Kellner trafen mit den beladenen Tellern ein und stellten sie vor uns ab.

Matt setzte sich aufrecht hin, dann drückte er mir ganz unerwartet einen festen Kuss auf die Lippen.

»Biiiiitte … andere Leute versuchen hier zu essen!«, stöhnte Sarah.

Ich grinste Matt an und hielt mein Gesicht ganz still, während er mir eine widerspenstige Haarsträhne hinters Ohr strich. Es war nur eine unbedeutende Geste, aber später sollte ich mich fragen, was wohl mit uns allen geschehen wäre, hätte er sich nicht so nah zu mir herübergelehnt und dabei den Wagen entdeckt.

»Was zum Teufel …!«, rief er aus.

Ich fuhr herum, und als ich sah, wie ein kleiner roter Wagen oben auf der Hügelkuppe in unser Blickfeld katapultiert wurde und mit allen vier Reifen vom Asphalt abhob, blieb mir vor Verblüffung der Mund offen stehen. Wenige Sekunden später tauchte ein zweiter Wagen auf, der fast genauso schnell und kaum weniger gewagt fuhr. Sein blitzendes Blaulicht und schrilles Sirenengeheule erschütterten den Frieden des Sommerabends. Entsetzt beobachtete ich, wie ein kleiner Lieferwagen aus einer Seitenstraße bog und dessen Fahrer geistesgegenwärtig das Lenkrad rumriss, weil der plötzlich vorbeischießende rote Wagen sonst den Großteil seiner Motorhaube weggerissen hätte. Der rote Wagen schrammte seitlich an mehreren parkenden Autos entlang und ließ eine Wolke glühender Funken auf den ihn verfolgenden Streifenwagen regnen.

Matt erkannte als Erster von uns die drohende Gefahr und sprang auf. Dabei stieß er zwei Teller vom Tisch. »Er hat die Kontrolle verloren! Der Wagen ist außer Kontrolle. Gleich kracht es! Weg vom Fenster! Schnell!«

Ich ertappte mich dabei, wie ich dämlicherweise dachte: Oje, was für eine Bescherung.

Ich konnte durchaus sehen, was draußen gerade passierte, und ich hatte auch die warnenden Worte meines Freundes sehr wohl verstanden. Es war nur so, dass ich plötzlich alles in Zeitlupe ablaufen sah. Es schien keine unmittelbare Notwendigkeit zu bestehen, sich zu beeilen. Uns blieb genug Zeit, vom Tisch wegzukommen. Völlig unnötig, deswegen zwei Teller mit wunderbarem Essen runterzuwerfen.

Ich stand vollkommen neben mir, nahm aber wahr, dass um mich herum alles in Bewegung geriet. Ich sah Jimmy und Sarah von ihren Plätzen aufspringen und zu der Stelle hinüberrennen, wo Phil bereits stand und uns schreiend aufforderte, vom Fenster wegzukommen. Matts Hand blieb an meiner Schulter. Ich spürte, wie er mich von meinem Stuhl hochzerrte. Mit der anderen Hand schob er Cathy, die neben ihm stand, vom Tisch fort.

Das chaotische Durcheinander aus zurückgestoßenen Stühlen und umgeworfenen Weingläsern konnte nur ein, zwei Sekunden gedauert haben, aber in der Zeit machte ich etwas wirklich Dummes: Ich drehte mich um und starrte durchs Fenster zu dem nahenden Wagen hinaus. Er fuhr inzwischen mitten auf der Straße und raste geradewegs auf die Kurve – und das Restaurant – zu, ohne auch nur eine Spur langsamer zu werden.

Das war der Moment, in dem Matt den Kontakt mit meiner Schulter verlor. Als ich mich voller Entsetzen vom Fenster abwandte, stellte ich fest, dass er und Cathy schon ein ganzes Stück vom Tisch entfernt waren. Ich stolperte los, um ihnen zu folgen, aber Matts Stuhl war umgekippt und klemmte nun in dem Spalt vor der Säule. Mein Fluchtweg war versperrt.

Hektisch zerrte ich an dem umgefallenen Stuhl, schaffte es dadurch aber nur, ihn noch fester zwischen den Rand des Tisches und die Säule zu rammen.

»Rachel!«, schrie Sarah, so laut sie konnte. »Weg vom Fenster!«

Ich stieß und trat gegen den Stuhl. Angst und Adrenalin schossen durch meinen Körper, bis die Geräusche im Restaurant immer mehr zurücktraten und ich nur noch das Rauschen des Blutes in meinen Ohren hörte. Verzweifelt blickte ich hoch zu Matt, der sich daraufhin in Bewegung setzte, um mir zu Hilfe zu eilen, doch Cathy packte ihn unglaublicherweise am Arm und hielt ihn zurück.

»Nein, Matt, nein! Du wirst sterben!«

Das konnte ich genau hören, und ein Teil meines Gehirns – der Teil, der nicht gerade darauf konzentriert war, dem Rest von mir das Leben zu retten – merkte sich genau, was Cathy getan hatte. Wenn sie glaubte, dass ich ihr das verzeihen würde, irrte sie sich aber gewaltig.

Doch dann drang von der Straße ein anderes Geräusch in mein Bewusstsein: das Kreischen von Bremsen. Ein letztes Mal blickte ich mich um und sah, dass das Auto tatsächlich bremste, allerdings viel zu spät. Inzwischen war es schon so nahe, dass ich das angstverzerrte Gesicht des jungen Fahrers erkennen konnte, der die Augen vor Entsetzen weit aufriss, während das Unvermeidliche immer näher rückte.

Ich sah ihn nicht kommen. Er muss sich mit unglaublicher Geschwindigkeit bewegt haben, um es rechtzeitig bis zu mir zu schaffen. Im einen Moment war ich noch in dem kleinen Bereich zwischen dem umgefallenen Stuhl und dem Fenster gefangen, im nächsten tauchten von der anderen Tischseite schon zwei Arme auf und umklammerten die meinen wie Schraubstöcke.

Woher er die Kraft nahm, weiß ich nicht, aber Jimmy riss mich im wahrsten Sinne des Wortes aus der Falle, in der ich festsaß. Ich erhaschte einen Blick auf sein Gesicht, während er mich über die Tischplatte zerrte, ohne auf die Flaschen und Gläser zu achten, die dabei zerbarsten. Aus seinen Augen sprach eine unbeschreibliche Angst, und während er versuchte, mich zu sich hinüberzuziehen, standen die Sehnen an seinem Hals vor Anstrengung wie Kabel hervor.

Ich klammerte mich an ihm fest und bemühte mich, ihm zu helfen, indem ich mit beiden Füßen hektisch über die Tischdecke strampelte, um mich auf diese Weise vorwärtszuschieben. Hinter uns hörte ich lautes Getöse, als der Wagen von der Straße abkam und auf den Gehsteig donnerte. Und dann warf Jimmy mich. Anders kann man das, was er tat, nicht beschreiben. Wie eine Lumpenpuppe schleuderte er mich in hohem Bogen auf den Boden, so dass ich plötzlich ein ganzes Stück entfernt aufkam und auf den Fliesen noch ein Stück weiter schlitterte. Dieser Akt unglaublicher Kraft und Tapferkeit hatte die letzten wertvollen Millisekunden in Anspruch genommen, die der Wagen brauchte, um quer über den Gehsteig ins Restaurant zu krachen.

Jimmy stand genau in der Gefahrenzone, als hinter ihm das Fenster explodierte.

 

Das Erste, was ich spürte, war die Hitze. Etwas Schweres drückte meine Beine nieder und hielt sie unter einer Last aus Schmerz gefangen, es brannte wie Feuer. Außerdem schien überall Wasser zu sein, dickes, salziges Wasser, das mir in Strömen von der Stirn in die Augen und in den Mund lief. Ich versuchte zu schreien, doch es kam kein Geräusch. In meinen Lungen war nur feuchter Dampf. Hinter mir schrie jemand, eine andere Person weinte. Ich versuchte, den Kopf zu wenden, konnte aber wegen einer klebrigen Feuchtigkeit, die mich am Sehen hinderte, nicht das Geringste erkennen. Vorsichtig hob ich eine Hand an den Kopf, um mir über die Augen zu wischen. Sofort waren meine Finger mit Blut bedeckt. Um mich herum lagen Trümmerhaufen, die mir die Sicht auf die weinenden und schreienden Menschen versperrten. Es war unmöglich zu sehen, was von dem ramponierten Fahrzeug – halb im Raum, halb auf dem Gehweg – noch übrig war, denn die Luft war erfüllt von dichtem Rauch, der teils aus dem Motor, teils von dem zermalmten Mauerwerk der Gebäudefront stammte. Auf und unter mir spürte ich Glassplitter. Demnach lag ich zwischen den Überresten des Fensters.

Hinter mir wurde noch hektischeres Geschrei laut, und gleichzeitig kam Bewegung in die Mauerbrocken und das Geröll. Ich begriff, dass irgendjemand versuchte, zu uns vorzudringen. Zu uns, nicht nur zu mir. Natürlich nicht nur zu mir. Jimmy war auch noch da gewesen, als der Wagen durch das Fenster krachte. Jimmy, der seine sichere Position verlassen hatte, um mich zu retten.

Ohne mich darum zu kümmern, dass mein Blut noch schneller floss, wenn ich den Kopf drehte, schaffte ich es, den Hals drei, vier Zentimeter vom Boden zu heben, um nach ihm Ausschau zu halten. Der Nebel aus Staub und Rauch war immer noch zu dicht, aber ich bildete mir ein, knapp einen Meter seitlich von mir etwas erkennen zu können. Mauerbrocken und ein langes, verbogenes Metallstück lagen in einem eigenartig schiefen Winkel auf einem langen, weißen Brett. Als sich der Dunst allmählich lichtete, begriff ich, dass es sich nicht um irgendein Brett handelte, sondern um das, was von unserem Tisch übrig war. Die Tatsache, dass die Platte nicht flach auf dem Boden lag, sondern leicht schräg hochragte, hatte damit zu tun, dass sich etwas – oder jemand – darunter befand.

Ohne noch irgendetwas anderes wahrzunehmen, warf ich meinen Arm in die entsprechende Richtung und versuchte verzweifelt, den zusammengebrochenen Tisch zu erreichen, beziehungsweise das, von dem ich wusste, dass es darunter lag. Zuerst spürte ich nichts, doch dann strichen meine Fingerspitzen einen Moment lang über etwas Weiches.

»Jimmy!«, krächzte ich heiser. »Jimmy, bist du das? Kannst du mich hören?«

Keine Antwort.

»Jimmy!« Ich fing an zu weinen. Die Tränen schnitten kleine Rinnsale durch den Schmutz und das Blut auf meinem Gesicht. »Jimmy! Nein! Sag doch etwas, Jimmy …«

Nachdem sich Staub und Schutt gesetzt hatten, konnte ich zumindest schemenhaft erkennen, was ich mit den Fingerspitzen ertastet hatte: Jimmys Unterarm ragte unter den Überresten des Tisches hervor. Mehr war von ihm nicht zu sehen, nur sein Unterarm. Der Arm wirkte immer noch muskulös und gebräunt. Es war erst wenige Momente her, dass er die Kraft aufgebracht hatte, mich aus dem Gefahrenbereich zu zerren. Nun aber bewegte er sich nicht mehr. Lange bevor die Krankenwagen bei uns eintrafen, begriff ich, dass er sich nie wieder bewegen würde.

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2

Dezember 2013 Fünf Jahre später

Die Hochzeitseinladung lehnte auf dem Kaminsims, fast verborgen hinter einem kleinen Bündel von Rechnungen und Wurfsendungen diverser Fast-Food-Restaurants. Ich nehme an, dass ich einen lahmen Versuch unternommen hatte, die Einladung unter so viel Papier zu begraben, bis man sie nicht mehr sah. Dann hätte ich am Ende behaupten können, ich hätte sie verschusselt und deswegen den Termin verpasst. Als ob das überhaupt möglich wäre. Natürlich hatte ich eine Antwortkarte geschickt, nachdem die Einladung ein paar Monate zuvor eingetroffen war. Damals war mir das nicht schwergefallen, weil die Rückkehr nach Great Bishopsford noch so weit in der Zukunft lag, dass ich es nicht für nötig hielt, richtig darüber nachzudenken. Nun aber, da das Datum nur noch zwei Tage entfernt war und ich in meiner winzigen Wohnung vor einem offenen kleinen Koffer stand, konnte ich nicht mehr nachvollziehen, warum ich je der Meinung gewesen war, stark genug zu sein, es zu schaffen: zurückzukehren.

Ich hörte auf zu packen und nahm die geprägte Karte vom Kaminsims. Mr. und Mrs. Sam Johnson freuen sich, hiermit ganz herzlich zur Vermählung ihrer Tochter Sarah mit David … Behutsam ließ ich den Zeigefinger über den erhabenen, in schnörkeliger Schreibschrift gedruckten Namen gleiten. In dem Moment war mir wieder klar, dass ich hin musste. Ich konnte es einfach nicht bringen, unter irgendeinem fadenscheinigen Vorwand nicht zur Hochzeit meiner besten Freundin zu erscheinen, nur, weil die Feier in meinem alten Heimatort stattfand. War es überhaupt der Ort, vor dem ich Angst hatte, oder waren es die Erinnerungen, von denen ich wusste, dass sie dort auf mich warteten? Erinnerungen, die ich bisher erfolgreich verdrängt und nie an die Oberfläche gelassen hatte.

Während ich immer noch die cremefarbene Einladungskarte in Händen hielt, hob ich den Kopf, um mich im Spiegel über dem Kamin zu betrachten. In meinen Augen sah ich die Wahrheit: an den Ort zurückzukehren war nur das halbe Problem. Am meisten fürchtete ich mich davor, alle zum ersten Mal seit Jahren wiederzusehen. Nun, fast alle. Und meine Bedenken waren durchaus angebracht, denn ich wusste, dass es nicht das Wiedersehen mit den Lebenden war, was mir so schwerfallen würde.

Geistesabwesend packte ich weiter meinen Koffer. Im Grunde war es egal, was ich mitnahm. Die Reise würde nur drei Tage dauern, dann wäre ich wieder daheim in meiner Wohnung und konnte mich erneut in der Anonymität der Großstadt verlieren. Für viele mag sich das seltsam anhören, aber ich hatte es tatsächlich zu schätzen gelernt, an einem Ort zu leben, wo einen nicht jeder kannte.

Die einzigen Kleidungsstücke, die ich mit etwas mehr Sorgfalt einpackte, waren mein Outfit für den Junggesellinnenabschied und das dunkelrote Samtkleid, das ich mir für die Hochzeit gekauft hatte. Gott sei Dank hatte Sarah am Ende nachgegeben und akzeptiert, dass ich nicht als ihre Brautjungfer fungieren wollte.

»Aber du musst«, hatte sie vorher gebettelt und dabei einen Moment lang fast wie die alte Sarah aus unserer Schulzeit geklungen, die mich beschwor, bei irgendeinem verrückten Plan oder Streich mitzumachen, den sie ausgeheckt hatte. Nur dass ich dieses Mal standhaft geblieben war – obwohl ich mich schlecht gefühlt hatte.

Es kam nicht oft vor, dass sie mich in London besuchte, auch wenn wir in Kontakt blieben, indem wir alle paar Wochen mal telefonierten. Ihr Job im Norden nahm sie sehr in Anspruch, und natürlich lebte dort auch ihr Freund Dave – ihr Verlobter, korrigierte ich mich im Geiste –, der zu Recht den Großteil ihrer Freizeit beanspruchte. Ich hatte schon vermutet, was mich erwartete, als sie sich für ein Wochenende bei mir einquartiert hatte. Nein zu sagen war allerdings nicht so schwierig gewesen, wie ich es mir vorgestellt hatte.

»Ach, Rachel, überleg es dir doch noch einmal«, hatte sie mich angefleht und dabei so niedergeschmettert geklungen, dass ich tatsächlich kurz ins Wanken gekommen war. »Es gibt keine andere auf der Welt, die ich mir so sehr als Brautjungfer wünsche wie dich! Bitte sag ja!« Als ich daraufhin nur den Kopf geschüttelt hatte, weil ich mir selbst nicht ganz traute und befürchtete, sie könnte sonst womöglich einen Hauch von Unentschlossenheit aus meiner Stimme heraushören, hatte sie die eine Frage gestellt, die es mir erlaubte, ihre Bitte mit gutem Grund auszuschlagen: »Aber warum willst du denn nicht?«

Da hatte ich mich für die feige Flucht entschieden und ihre Frage beantwortet, indem ich den Vorhang meines Haars wegschob, das ich seitlich gescheitelt trug, um die weiße, wie ein zickzackförmiger Blitz aussehende Narbe zu verbergen, die von meiner Stirn bis hinunter zur Wange verlief. Sarah schürzte die Lippen und stieß einen Seufzer aus. In dem Moment wusste ich, dass sie sich geschlagen gab.

»Aha, du ziehst also mal wieder deinen alten Trumpf, das entstellte Gesicht, hm?«

Statt einer Antwort lächelte ich nur. Alle anderen, die ich kannte, schlichen auf Samtpfoten um das Thema herum, einzig Sarah besaß den Mut, ihre Worte niemals in etwas anderes zu kleiden als das transparente Kleid der Wahrheit.

»Tja, ich tue eben alles, was nötig ist, damit ich in einer der hinteren Bänke sitzen kann, anstatt in einer kitschigen rosaroten Kreation vorn neben dem Altar stehen zu müssen.«

Einen Moment lang starrte sie mich bockig an, so dass ich schon befürchtete, sie würde mich erneut bedrängen wollen, doch dann schien sie es sich anders zu überlegen und ihre Niederlage anzunehmen, wobei sie nur noch murmelte: »Ich hätte dich auf keinen Fall in etwas Rosarotes gesteckt.«

Da nahm ich sie in den Arm. Mir war klar, dass ich sie im Stich ließ, und ich liebte sie dafür, dass sie es mir zugestand.

 

Bevor ich den Koffer schloss, griff ich nach dem kleinen braunen Glasbehälter mit den Tabletten, der auf meinem Nachttisch stand. Ich wollte ihn in meine Toilettentasche stecken, doch als ich spürte, wie leicht der Behälter war, hob ich ihn stirnrunzelnd hoch und versuchte, in dem schwachen Licht, das an diesem bedeckten Dezembertag durchs Fenster hereinfiel, die darin enthaltenen Tabletten zu zählen. Es waren weniger, als ich gedacht hatte, kaum noch genug für die nächsten Tage. Das konnte doch nicht sein, oder? Ich überprüfte das Datum auf dem Etikett. Es war erst zehn Tage her, dass ich sie bekommen hatte. Die Kopfschmerzen wurden zwar immer schlimmer, aber mir war trotzdem nicht klar gewesen, dass ich in so kurzer Zeit derart viele Schmerztabletten eingenommen hatte. Ein kalter Schauder lief mir über den Rücken. Das war nicht gut. Auch wenn ich meinem Dad etwas vorflunkern konnte, wenn er mich fragte, wie es mir gehe, und ich (dummerweise) sogar versucht hatte, die Ärzte zu belügen, als die Kopfschmerzen zum ersten Mal aufgetreten waren, wusste ich, dass ich bald gezwungen sein würde, mich der Wahrheit zu stellen. Dies waren die Warnsignale, auf die die Ärzte mich vor all den Jahren aufmerksam gemacht hatten. Das war auch der Grund, warum jedes Telefonat zwischen mir und meinem Dad in den vergangenen drei Jahren, die wir nicht mehr zusammenwohnten, die üblichen Fragen enthielt: »Wie geht es dir? Keine Kopfschmerzen oder so was in der Art?« Während der ersten zweieinhalb Jahre konnte ich ruhigen Gewissens antworten, es gehe mir gut. Seit einem halben Jahr aber log ich ihn an. Schließlich hatte ich sogar einen Termin mit dem Spezialisten vereinbart, den ich nicht mehr hatte aufsuchen müssen, seit ich damals von den Folgen des Unfalls genesen war. Als ich ihm von den Kopfschmerzen und ihrer Häufigkeit berichtete, machte er einen beunruhigten Eindruck, was wiederum mich beunruhigte, weil ich stark heruntergespielt hatte, wie heftig die Schmerzen in Wirklichkeit waren. Die Tabletten, die er mir verschrieb, waren keine Dauerlösung. Er hatte mir dringend empfohlen, mich im Krankenhaus weiteren Tests zu unterziehen. Ich hatte das Rezept genommen, seinen Ratschlag aber nicht befolgt und es immer wieder hinausgeschoben, einen Termin im Krankenhaus zu vereinbaren. Inzwischen war mir klar, dass ich damit nicht mehr länger warten konnte.

Meinem Vater hatte ich das alles bisher nicht erzählt. Seine eigene Gesundheit bereitete ihm schon genug Probleme. Er musste versuchen, wieder gesund zu werden, und sollte sich nicht auch noch um mich Sorgen machen. Egal, wie wenig Hoffnung seine Onkologen ihm machten, er beendete unsere Telefongespräche immer mit den Worten: »Aber wenigstens geht es dir jetzt Gott sei Dank gut.« Ich hatte nicht den Mut, ihm das zu nehmen.

Manchmal frage ich mich, wie viele Spiegel wir wohl zerbrochen haben oder wer uns verflucht hat. Anders lässt sich die unglückliche Geschichte meiner Familie kaum erklären. Zuerst Mum, dann mein Unfall, dann Dads Krankheit und jetzt diese Kopfschmerzen. Gab es irgendwo eine Familie, die mit rund zwanzig Jahren Glück und guter Gesundheit gesegnet war? Denn wie es aussah, hatten wir deren Anteil an Pech zusätzlich zu unserem eigenen aufgebrummt bekommen. Außerdem konnte Dad noch so oft sagen, niemand sei schuld an seiner Krankheit: Ich wusste genau, dass er erst nach meinem Unfall wieder zu rauchen begonnen hatte. Das war seine Art gewesen, mit dem ganzen Druck umzugehen. Hätte er nicht wieder angefangen, wäre er jetzt wahrscheinlich nicht krank.

So viele schreckliche Dinge hingen mit jenem fürchterlichen Abend zusammen. Doch ein gleißendes Gewirr aus Schmerz, schlimmer als die heftigsten Kopfschmerzen, hinderte meine Gedanken daran, sich auf jenen verbotenen Erinnerungspfad zu begeben.

Ich wollte gleich am Morgen aufbrechen und hatte nachgeschaut, wann der früheste Zug in London abfuhr. Ich hatte mir zwei Tage freigenommen. Obwohl sich alle erst am Abend dieses Donnerstags zu Sarahs Junggesellinnenabschied trafen, wollte ich schon früh da sein. Mir war klar, dass ich Zeit brauchte, um mich auf den dreitägigen Besuch einzustimmen. Wie schwer mir das fallen würde, konnte ich erst dann richtig abschätzen, wenn ich dort war.

Sarahs Angebot, bei ihren Eltern zu wohnen, hatte ich ausgeschlagen. So gern ich sie mochte, waren sie doch seit jeher überschwenglicher und hektischer als meine eigene Familie, und ich befürchtete, nicht stark genug zu sein, um diese besondere Sorte von Verrücktheit im Vorfeld der Hochzeit ertragen zu können. Sie schienen das zu verstehen und wirkten nicht beleidigt, als ich ihr Angebot ablehnte und stattdessen ein Zimmer in einem der beiden Hotels der Stadt buchte. Ich ging davon aus, dass viele andere Gäste es ebenfalls so machten, auch wenn etliche von ihnen vielleicht noch in der Gegend lebten.

 

Während der Zug seine zweistündige Fahrt begann, gestattete ich mir, an die Menschen zu denken, die ich an diesem Abend wiedersehen würde. Meine Freunde aus der Vergangenheit. Wie sich gezeigt hatte, waren die Bande, von denen ich ursprünglich dachte, sie würden uns für immer verbinden, nicht sehr stabil gewesen. Wobei sie sich nicht im Laufe der Zeit einfach gelöst hatten, sondern durch den Leichtsinn eines jungen Mannes abrupt zerschnitten worden waren, der die Kontrolle über ein gestohlenes Fahrzeug verloren hatte.

Sarah hatte immer extrem viel Fingerspitzengefühl bewiesen, wenn sie mir Neuigkeiten über unsere alte Clique erzählte. Durch ihre Besuche bei ihren Eltern und den üblichen Kleinstadttratsch war sie darüber informiert, dass Trevor im Anschluss an sein Studium nach Great Bishopsford zurückgekehrt war und dort gegenwärtig mit seiner Freundin lebte. Sarah hatte sie noch nicht persönlich kennengelernt, wusste aber, dass sie als Abteilungsleiterin in einer Bank arbeitete. Für mich war es schwer vorstellbar, dass sich der Trev meiner Teenagerjahre, der damals in einer Rockband Gitarre gespielt hatte, inzwischen auf eine so sesshafte und respektable Lebensweise verlegt hatte.

Dagegen schien Phil immer noch das Leben eines Nomaden zu führen. Er hatte sich nach der Uni ein Jahr Auszeit genommen. Daraus waren am Ende zwei Jahre geworden, in denen er durch die Welt gebummelt war. Aus seinem Leben als Globetrotter hatte sich schließlich ein Job als freier Fotograf entwickelt. Obwohl seine Familie noch immer in der Gegend lebte, verbrachte Phil zwischen seinen Aufträgen nur wenig Zeit dort und bevorzugte Projekte, die ihn gleich für mehrere Monate ins Ausland führten. Sarah meinte, wann immer ihre Wege sich gekreuzt hätten, habe sie bei ihm eine Ruhelosigkeit gespürt, die seinen Lebensstil erklärte. Offenbar widerstrebte es ihm, sich auf Dauer an einem Ort niederzulassen.

Und dann war da noch Matt … und natürlich Cathy, denn inzwischen waren die Lebensgeschichten der beiden untrennbar miteinander verbunden. Ich wusste genau, wie schwer es Sarah gefallen war, mir von ihnen zu erzählen. Ganz vorsichtig hatte sie ihre Worte gewählt und sich um die richtige Formulierung bemüht, weil sie nicht sicher war, wie sehr mich das verletzen würde. Erst vor gut achtzehn Monaten hatte sie mir berichtet, dass Cathy und mein Ex-Freund ein Paar waren. Nachdem die Worte durch die Telefonleitung bei mir angekommen waren, wartete ich auf den schneidenden Schmerz – doch er blieb aus. Ich war nur überrascht. Dabei verwunderte mich keineswegs, dass diese beiden unglaublich schönen Menschen zusammen waren, sondern nur, dass Cathy so lange gebraucht hatte, um ihr Ziel zu erreichen.

Wie damals, als Sarah mir von der Beziehung der beiden berichtete, schob ich auch jetzt den Gedanken an Cathy und Matt beiseite. Wenn ich mir gestattete, an Matt zu denken, öffnete ich damit die Tür zu unserer eigenen, traurigen kleinen Geschichte und Trennung, und damit auch zu den Gründen, warum … was mich wiederum in eine Richtung lenkte, in die ich meine Gedanken bisher nie hatte schweifen lassen.

 

Als die dichtgedrängten Häuser und Stadtteile allmählich Feldern und freien Flächen wichen, spürte ich, wie sich in mir eine Spannung aufbaute, die ich fast schmecken konnte. Ich schluckte sie mit dem bitteren Kaffee hinunter, den ich im Zugbistro erstanden hatte, und versuchte stattdessen, mich auf den Zweck meines Besuchs zu konzentrieren. Es war Sarahs Wochenende, Sarahs großer Tag. Ich durfte ihr das auf keinen Fall vermiesen. Sie sollte sich keine Sorgen darüber machen müssen, ob ich mit meiner Rückkehr nach Hause klarkam.

Der Gedanke ließ mich abrupt innehalten: nach Hause. War das wirklich mein Zuhause? Empfand ich das immer noch so? Ich lebte seit fünf Jahren nicht mehr dort, streng genommen war es also nicht mehr mein Heimatort. Andererseits hatte ich auch nicht das Gefühl, dass irgendein anderer Ort diesen Titel verdiente. Dads neue Adresse in North Devon, wohin er während der langen, langsam dahinkriechenden Monate meiner Genesung gezogen war, war sein