Was die Sterne dir schenken - Dani Atkins - E-Book
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Dani Atkins

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Beschreibung

Zwei Schwestern – Erinnerungen, die zur Zukunft werden – und eine große Liebe »Was die Sterne dir schenken« von Bestseller-Autorin Dani Atkins ist ein inniger, ergreifender Roman über die Liebe: zwischen zwei Schwestern, zu einem Mann und zum Leben. Voller Sorge fliegt die 32-jährige Lexi von New York ins heimische England. Ihre Schwester Amelia wurde bewusstlos am Strand gefunden und liegt seitdem im Krankenhaus, mit äußerst rätselhaften Symptomen: Einerseits weist ihr Gedächtnis enorme Lücken auf – andererseits erinnert sie sich bis ins kleinste Detail an ihren Ehemann Sam und dessen Hund. Das Problem dabei: Amelia war nie verheiratet. Die Ärzte raten Lexi, so zu tun, als ob es Sam gäbe, um Amelias Genesung nicht zu gefährden. Widerwillig lässt sie sich darauf ein. Als sie eines Tages bei Amelias Haus am Strand spazieren geht, trifft sie dort einen Mann mit Hund, der exakt der Beschreibung von Sam entspricht. Doch der Name des Mannes ist Nick, und er ist Lexis Schwester noch nie begegnet … Dani Atkinsʼ dramatischer Liebesroman steckt voller großer Gefühle und überraschender Wendungen: »Dani Atkins schafft es mit ihren Büchern immer wieder, meine gesamte Emotionswelt vollkommen hochkochen zu lassen: Ich lache, ich weine, ich trauere und ich verliebe mich.« Brigitte online Entdecke auch die anderen bewegenden Romane von Dani Atkins: - Die Achse meiner Welt - Die Nacht schreibt uns neu - Der Klang deines Lächelns - Sieben Tage voller Wunder - Das Leuchten unserer Träume - Sag ihr, ich war bei den Sternen - Wohin der Himmel uns führt - Heller als alle Sterne (Kurzroman) - Bis zum Mond und zurück - Sechs Tage zwischen dir und mir

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Seitenzahl: 548

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Dani Atkins

Was die Sterne dir schenken

Roman

Aus dem Englischen von Simone Jakob und Anne-Marie Wachs

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Voller Sorge eilt die 32-jährige Lexi ans Krankenbett ihrer Schwester: Seit Amelia bewusstlos am Strand gefunden wurde, leidet sie unter rätselhaften Symptomen. Einerseits weist ihr Gedächtnis enorme Lücken auf – andererseits erinnert sie sich bis ins kleinste Detail an ihren Ehemann Sam und dessen Hund. Das Problem dabei: Amelia war nie verheiratet. Die Ärzte raten Lexi, so zu tun, als ob es Sam gäbe, um Amelias Genesung nicht zu gefährden. Widerwillig lässt sie sich darauf ein. Als sie eines Tages bei Amelias Haus am Strand spazieren geht, trifft sie dort einen Mann mit Hund, der exakt der Beschreibung von Sam entspricht. Doch der Name des Mannes ist Nick, und er ist Lexis Schwester noch nie begegnet …

Inhaltsübersicht

Widmung

Motto

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Epilog

Danksagung

Leseprobe »Sechs Tage zwischen dir und mir«

 

 

 

 

Für Dusty.

Bester Zuhörer.

Bester Freund.

Bester Hund.

 

 

 

 

Es gibt keine bessere Freundin als eine Schwester.

Christina Rossetti

Prolog

Es hätte jemand anders sein können.

Sie hätten zu einem anderen Zeitpunkt, auf einem anderen Weg oder zu einem anderen Strand fahren können. Es war reiner Zufall, dass sie in ihrem Range Rover mit Allradantrieb an genau dieser Stelle von der schmalen Straße in die Sanddünen abbogen.

Auf das Wagendach war ein robustes orangefarbenes Schlauchboot samt Paddeln geschnallt. Ein Angelkasten und zwei hochmoderne Angelruten lagen auf der Ladefläche. Aber die Männer waren nicht nur Angler. Die Lokalzeitung würde sie später Schutzengel taufen, doch ihr wahrer Beruf war wesentlich prosaischer: Sie waren Ärzte.

Sie hatten ihre schlafenden Ehefrauen in den warmen Betten ihrer Luxus-Ferienunterkünfte zurückgelassen und waren wie aufgeregte, abenteuerlustige Schuljungs aus dem dunklen Haus geschlichen.

Dr. Adam Banner, Facharzt für Notfallmedizin, saß am Steuer. Zufrieden trank er aus einer Thermosflasche heißen Kaffee und fuhr über den unebenen Sand zum Meer.

Sein Beifahrer Phillip Digby, Facharzt für Anästhesie und ehrgeiziger Angler, schlug ihm gerade vor zu wetten, wer an jenem Morgen die meisten Fische fangen würde, als er im Scheinwerferlicht aus dem Augenwinkel etwas sah.

»He, was ist das?«

Adam nahm den Fuß vom Gas und sah seinen ältesten Freund an.

»Was ist was?«

Phil schüttelte den Kopf, beugte sich vor und spähte angestrengt über den dunklen Sand Richtung Meer.

»Dahinten links im Watt liegt irgendwas.«

Adam bremste und starrte nun auch in die Dunkelheit.

»Und was genau?«, fragte er. Er schauderte unwillkürlich, als er an die Warnung eines betagten Einheimischen am Vorabend im Pub zurückdachte. Als dieser von ihren Angelplänen erfuhr, sagte er: »Im Watt müsst ihr euch in Acht nehmen.« Dankbar hatte er das Bier entgegengenommen, das Phil ihm brachte. »Hab schon gesehen, wie ein Mann bis zur Hüfte drin versunken ist«, hatte der Mann noch ergänzt.

Phil runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht. Sah aus wie ein Stoffbündel oder so.«

»Wahrscheinlich ein kaputtes altes Segel, das von der Flut angespült wurde«, erwiderte Adam. Trotzdem wendete er den Wagen in einem großen Kreis, um nach dem zu suchen, was Phil im Scheinwerferlicht entdeckt haben wollte.

»Da!«, rief Phil triumphierend. Ganz am Rand des Lichtkegels, leicht zu übersehen, flatterte etwas im Wind wie eine Flagge. Aus der Entfernung wirkte es zu fein für dickes Segeltuch und sah eher aus wie eine Abdeckplane.

Wortlos hielt Adam darauf zu und spürte, wie sich die Beschaffenheit des Untergrunds änderte, je mehr sie sich dem mysteriösen Objekt näherten. Der Wagen versank tiefer im Sand, der die Reifen einzusaugen schien, obwohl das Fahrzeug für derart unwegsames Gelände wie geschaffen war.

Schließlich drehten die Räder durch, und mit einem hilflosen Achselzucken brachte Adam den Range Rover zum Stehen, sodass das Objekt, das sie sich näher ansehen wollten, von den Scheinwerfern angestrahlt wurde. Wortlos stiegen die beiden Männer aus dem Wagen und griffen gleichzeitig nach ihren schweren Steppjacken auf dem Rücksitz. Es war fünf Uhr morgens und Ende Januar, und man brauchte keinen Blick aufs Thermometer zu werfen, um zu wissen, dass Minusgrade herrschten.

»Ist wahrscheinlich wirklich nur Treibgut«, bemerkte Phil und zog einen Fuß aus dem zähen Schlick.

»Falls ja, schuldest du mir ein Paar neue Turnschuhe«, sagte Adam und befreite seinen eigenen Fuß mit einem lauten Schmatzen. »Genau genommen …« Er brach ab, als er das Bein sah.

Keiner von beiden konnte sich später daran erinnern, wie sie die letzten zwanzig Meter zurückgelegt hatten, die sie noch von der leblosen Frau trennten. Phil griff nach seinem Handy und fluchte leise, weil er keinen Empfang hatte, während Adam sich neben die Bewusstlose hockte. Sie lag nur mit einem dünnen Baumwollnachthemd bekleidet im Watt, ein Bein den Elementen ausgesetzt, das andere halb im Schlick versunken.

»Scheiße! Kein Empfang!«, rief Phil, steckte das Handy wieder ein und eilte zu Adam, der schon auf der Suche nach einem Puls den langen, schlanken Hals der Frau abtastete.

Routiniert beugte sich Phil über die blauen Lippen der Unbekannten. Kein Atemzug wärmte seine Wange, ihre Brust hob und senkte sich nicht. Er nahm ihre Hand und klopfte auf den Handrücken.

»Hallo? Hallo? Können Sie mich hören?«, rief er, aber die Frau reagierte nicht.

»Für die Reanimation brauchen wir festeren Untergrund«, sagte Adam, dem vor Kälte die Zähne klapperten.

Sie schoben die Hände unter die Achseln der Frau und zerrten sie grob aus dem Schlick, in dem Wissen, dass Rippen wieder heilen würden und ausgerenkte Gelenke wieder eingerenkt werden konnten, wohingegen Sauerstoffmangel im Gehirn unumkehrbare Schäden anrichtete.

»Hier. Versuch’s mit meinem«, sagte Adam und warf Phil sein Handy zu, bevor er sich erneut über die Frau beugte. Das hier war sein Job, doch in all den Jahren seit der Ausbildung war dies das erste Mal, dass er jemanden außerhalb einer Krankenstation wieder ins Leben holen musste.

Seine Hände zitterten, als er die Finger verschränkte, sie auf die Brust der Frau legte und mit der Wiederbelebung begann. Ihr Brustkorb hob sich, als er ihr Luft in die Lunge blies, doch als er damit aufhörte, atmete sie nicht von allein weiter. Während er sie abwechselnd beatmete und rhythmisch ihr Herz massierte, um den Blutkreislauf in Gang zu halten, versuchte Phil erneut, einen Krankenwagen zu rufen.

»Ich muss zur Straße zurück«, sagte er. Adam sah von der Patientin auf; sein Gesicht war schweißnass vor Anstrengung. Wie hatte ihm noch vor ein paar Minuten kalt sein können?

Phil hatte sich schon dem Wagen zugewandt, als eine blitzartige Erinnerung ihn innehalten ließ. »Gab’s bei dem Pub gestern Abend nicht draußen einen AED-Schrank?«

Der Mond lugte hinter einer Wolke hervor und erhellte Adams hoffnungsvolles Gesicht.

»Ja! Und er ist nur ungefähr zwei Meilen von hier entfernt.«

Phil brauchte eine Viertelstunde, um den Pub zu erreichen, den Notruf zu wählen, sich den Code zu besorgen, mit dem man den Defibrillator aus dem Schrank holen konnte, und zum Strand zurückzufahren. Das Scheinwerferlicht, das Phils Rückkehr verriet, gehörte zu den schönsten Dingen, die Adam je gesehen hatte. Seine Arme brannten wie Feuer, und er keuchte, doch er ließ nicht eine Sekunde in seinen Wiederbelebungsversuchen nach.

Als Phil das Nachthemd der Frau aufriss, um ihre Brust zu entblößen, verzog Adam beim Anblick ihrer an fleckigen Marmor erinnernden Haut das Gesicht. Er setzte die Herzmassage bis zur letzten Sekunde fort und hörte erst auf, als Phil das Kommando »Zurück!« rief.

Wenig später informierte das Gerät sie, dass ein Herzschlag festgestellt werden konnte, und Adam liefen Tränen über die Wangen, doch er schämte sich nicht dafür. Und dann verhieß das Heulen einer Sirene die Ankunft des Krankenwagens.

Kapitel 1

Das Brummen der Triebwerke machte mich schläfrig. Ich hatte gedacht, ich würde kein Auge zubekommen, aber irgendwie hatte ich es gerade geschafft, einzunicken, als ich durch einen gellenden Aufschrei hochschreckte. Es gibt ein paar Dinge, die man einfach nicht erleben will, und dazu gehört ein panischer Schrei auf einem Linienflug, genauso wie ein Telefonanruf, der einen mitten in der Nacht aus dem Schlaf reißt. Beides hatte ich innerhalb der letzten vier Stunden erlebt.

Während ich ungeschickt versuchte, meinen Sitz per Knopfdruck wieder in die aufrechte Position zu bringen, fiel mir auf, dass auch andere Passagiere von dem Schrei geweckt worden waren. An mehreren Plätzen waren die Leselampen eingeschaltet. Es dauerte ziemlich lange, bis ich begriff, dass alle Blicke auf mich gerichtet waren. Als bräuchte es noch weitere Beweise, kam ein Mitglied der Crew entschlossenen Schrittes den Gang entlang auf mich zu. In der 747 war es so dunkel, dass man mein Erröten nicht sehen konnte, doch meine Wangen brannten spürbar.

Die Stewardess flüsterte leise, um die Mitreisenden nicht zu stören, obwohl eine derartige Rücksichtnahme nach meinem Aufschrei wahrscheinlich gar nicht mehr nötig war.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte sie freundlich.

Ich nickte und war überrascht von ihrer Fürsorglichkeit. In dieser Situation hätte ich mit Wut oder Verärgerung besser umgehen können. Mitgefühl hingegen drohte mir den Rest zu geben.

»Tut mir leid, ich muss schlecht geträumt haben. Ich wollte niemanden wecken.«

Sie lächelte verständnisvoll. »Kein Problem. Auf einem Flug am frühen Morgen schläft sowieso niemand gut. Sie glauben gar nicht, wie viele Passagiere beim Fliegen Albträume bekommen.«

Ich lächelte matt zurück, denn mein Albtraum war noch nicht vorbei.

»Kann ich Ihnen etwas zu trinken oder zu essen bringen?« Ich lehnte dankend ab, wie schon zwei Stunden vorher kurz nach dem Take-off. Meine innere Uhr ging immer noch nach New Yorker Zeit, und ich war es nicht gewohnt, so früh am Morgen irgendeine Mahlzeit zu verzehren.

»Ich mache mich am besten mal frisch«, sagte ich und stellte mit einem Blick auf die Anzeige erleichtert fest, dass das nächstgelegene WC aktuell nicht besetzt war.

Verlegen murmelte ich den Fluggästen in den umliegenden Reihen, von denen mich viele immer noch neugierig ansahen, eine Entschuldigung zu. Vielleicht warteten sie auf einen weiteren unterhaltsamen Ausbruch meinerseits, der für etwas Ablenkung gesorgt hätte. Doch es würde keinen geben, da war ich mir sicher. Bis der Flieger dort landen würde, wo ich umsteigen musste, würde ich keinen Schlaf mehr finden.

Nachdem ich hinter mir verriegelt hatte, lehnte ich mich mit dem Rücken kraftlos an die Falttür. Die Toilette war so eng wie ein Sarkophag und schon jetzt kein allzu schöner Anblick mehr, obwohl der Flug erst ein paar Stunden dauerte. Ich zog eine Handvoll Papiertücher aus dem Spender und hielt sie unters kalte Wasser, drückte sie dann auf mein erhitztes Gesicht. Niemand sieht bei greller Beleuchtung gut aus, doch die Neonröhre über dem Spiegel war besonders ungnädig mit meiner blassen Haut. Meine Sommersprossen, die an einem guten Tag wie Goldstaub wirken konnten, erinnerten jetzt an Schlammspritzer. Ein unglücklicher Vergleich.

Sie war voller Schlamm – ihre Füße waren voller Matsch.

Die Worte meiner Mutter hatten sich in meinen Kopf eingebrannt, auch in elftausendfünfhundert Metern Höhe war ihre Stimme noch ganz nah.

Ich starrte mein Spiegelbild an, als hätte ich es noch nie gesehen. Meine Wangen waren rot, und meine Augen sahen riesig aus – nicht süß wie bei Figuren in Disney-Filmen, sondern groß und vor Angst geweitet, wie schon die letzten vier Stunden. Mein kastanienbraunes Haar war stumpf und ohne jedes Volumen und hätte dringend gewaschen werden müssen, was für heute Morgen eigentlich vorgesehen gewesen war. Doch ein verzweifelter Anruf meiner Mutter mitten in der Nacht hatte die Pläne für einen gemütlichen Tag über den Haufen geworfen.

Jeff hatte mein Telefon noch vor mir gehört. Er hob den linken Arm, der quer über seinem und meinem Kissen lag, und rüttelte mich wach.

»Dein Handy klingelt«, nuschelte er mit seinem Brooklyn-Akzent ins Kissen.

Ich runzelte die Stirn und griff danach, schaute erst nach der Uhrzeit und dann auf den Anrufer. Auch wenn ich schon seit vier Jahren in den USA lebte, verrechneten sich manche meiner alten Freunde aus Großbritannien immer noch, was den Zeitunterschied anging. Doch nicht Mum. Sie hatte überall in ihrem Haus Uhren, die nach New Yorker Zeit gingen.

Ich schwang mich aus dem Bett, und da es mich in meiner kalten Wohnung fröstelte, zog ich meine dicke Strickjacke an, während ich in den Mini-Flur hastete und dabei den Anruf annahm.

»Mum?« Ich hatte keinen Schimmer, warum sie mich sprechen wollte, aber meine Stimme zitterte leicht.

Das merkwürdige Geräusch am anderen Ende der Leitung hatte nichts mit schlechtem Handyempfang oder miserabler Tonqualität zu tun. Ich brauchte einige Sekunden, um zu begreifen, denn in den einunddreißig Jahren meines Lebens hatte ich erst ein paarmal erlebt, dass sie weinte.

»Mum, was ist? Was ist passiert?«

Noch mehr Tränen, dann ein verworrener Satz, den man unmöglich verstehen konnte.

Unbewusst war ich zu der uralten Heizung im Flur gelaufen, die auch dann noch die Wärme hielt, wenn die anderen Heizkörper längst abgekühlt waren. Mir war kalt vor Entsetzen, es war fast, als wüsste ich es schon.

»Ist was passiert? Bist du krank?«

Meine dreiundsiebzigjährige Mutter hatte eigentlich eine sehr robuste Konstitution, auch wenn sie so schmächtig war wie ein Spatz.

»Nicht ich. Amelia«, schluchzte sie.

Meine Knie wurden weich, und ich ließ mich mit dem Rücken an der Wand langsam neben dem Heizkörper zu Boden sinken.

»Mimi?«, fragte ich. Der kindliche Kosename war aus den Tiefen meiner Erinnerung hochgekommen. So hatte ich sie nicht mehr genannt, seit ich sechs Jahre alt gewesen war und endlich den Namen meiner älteren Schwester richtig aussprechen konnte.

»Sie haben sie ins Krankenhaus gebracht. Von da rufe ich gerade an«, antwortete Mum, und erst jetzt fielen mir die ungewohnten Hintergrundgeräusche auf.

»Ist sie krank? Hatte sie einen Unfall?« Ich feuerte meine schlimmsten Ängste heraus.

»Ja … also, nein, nicht wirklich einen Unfall. Sie … hat sich verirrt. Glauben sie zumindest.«

»Unterwegs im Auto?«, fragte ich in dem Versuch, mir etwas Sinnvolles zusammenzureimen.

»Nein. Bei einem Strandspaziergang. Nachts.«

»Das verstehe ich nicht, Mum! Warum ist sie mitten in der Nacht, im Januar, am Strand spazieren gegangen? Es muss doch eiskalt gewesen sein. Und wie in aller Welt konnte sie sich verirren? Sie kennt die Küste bei ihrem Cottage in- und auswendig!«

»Ich weiß es nicht, Lexi. Nichts an der ganzen Sache ergibt irgendeinen Sinn. Und sie scheint es auch nicht zu begreifen. Sie haben ihr Beruhigungsmittel gegeben, weil sie so durcheinander war.« Von all den entsetzlichen Dingen, die Mum bis jetzt gesagt hatte, war es das, was mir am meisten Angst einjagte. Amelia war die Vernünftige. Der »weise Kopf auf jungen Schultern«, so hatten sie alle genannt, als sie mit nur sechzehn Jahren der Fels in der Brandung wurde, auf den Mum und ich uns stützten, nachdem wir Dad durch ein unerklärliches, tragisches Unglück verloren hatten. Meine Schwester war immer meine erste Anlaufstelle gewesen. Sie hatte mir beigebracht, wie man Tampons benutzt, wie man quadratische Gleichungen löst und mit dem Auto das Drei-Punkt-Wenden hinbekommt, was mein Fahrlehrer zu seiner Verzweiflung nie geschafft hatte. Ich war die Träumerin in der Familie gewesen, die die Nase ständig in Bücher gesteckt hatte. Amelia hingegen hatte quasi als fertige Erwachsene das Licht der Welt erblickt.

Dass meine ältere Schwester mitten im Winter orientierungslos am Strand herumirrte – wo sie sonst jeden Tag spazieren ging –, wollte mir nicht in den Kopf.

»Sie fürchten, dass sie eine starke Unterkühlung hat«, fuhr Mum fort. »Sie war eiskalt, als sie eingeliefert wurde.«

Ich dachte an das letzte Mal, als Amelia mich im Winter in New York besucht und sich jedes Mal wie für eine Polarexpedition ausstaffiert hatte, selbst wenn sie nur einmal um den Block gehen wollte.

»Sie haben sie kurz vor Sonnenaufgang im Watt gefunden«, sagte Mum mit zittriger Stimme. »Da draußen war es minus ein Grad, aber sie hatte bloß ein Nachthemd an und war barfuß.«

 

»Was zur Hölle …«, brummelte Jeff und blinzelte schläfrig, als ich das Deckenlicht anknipste. »Was ist los?« Er griff nach seinem Handy auf dem Nachttisch. »Meine Güte, Lexi, es ist gerade mal halb drei!«

»Ich muss packen«, sagte ich angespannt und zerrte meinen Koffer vom Kleiderschrank. Er plumpste auf die Matratze und streifte Jeffs Fuß, der allerdings auch auf meiner Betthälfte lag.

»Was?«, fragte er. Er war immer noch schlaftrunken, wohingegen ich einen extremen Adrenalinschub hatte.

»Der Anruf … das war meine Mutter«, sagte ich, während ich irgendwelche Kleidungsstücke aus der Kommode zog und planlos in den Koffer warf. »Amelia ist im Krankenhaus. Sie wurde nachts am Strand aufgefunden und hat eine Unterkühlung.«

Jeff fuhr sich mit einer Hand durch das volle, vom Schlafen zerzauste dunkelblonde Haar. »Ach du Scheiße.«

Ich zerrte noch ein paar Pullover aus einer Schublade und warf sie in Richtung Koffer, wo die meisten auch landeten. Jeff griff nach seinen Boxershorts und schwang sich aus meinem Bett.

»Kann ich irgendwie helfen?«, fragte er und nahm wieder sein Telefon zur Hand. »Soll ich nach Flügen suchen?«

Ich bekam ein kurzes dankbares Lächeln hin, dann zog ich mich für meine lange Heimreise an, während er in die Küche ging, um Kaffee zu kochen.

 

Eine Viertelstunde später stand ich neben einem prall gefüllten Koffer, der wahrscheinlich Übergewicht hatte und außerdem wohl nur die falsche Kleidung enthielt. Aber das war egal. Amelia und ich hatten dieselbe Kleidergröße. Ich konnte mir von ihr borgen, was ich brauchte.

»Pass? Kreditkarten? Handy?«, fragte Jeff mit Blick auf die Tote Bag, die ich über der Schulter trug.

Ich nickte. Während ich durch die Wohnung gehastet war, alles Verderbliche aus dem Kühlschrank entsorgt und einen Zettel für den Hausmeister geschrieben hatte, den ich ihm unter der Tür durchschieben wollte, hatten wir nicht viel gesprochen. Ich hatte keinen Schimmer, wie lange ich wegbleiben würde, und als Jeff mich fragte, was mit meiner Arbeit sei, starrte ich ihn an, als spräche er Chinesisch. An die Arbeit hatte ich gar nicht gedacht. »Ich ruf dort an und erkläre es ihnen, sobald ich gelandet bin«, sagte ich, schnappte mir in letzter Minute mein Laptop und stopfte es in mein Handgepäck.

»Echt beschissenes Timing, mit dem Jobangebot und allem«, sagte er.

Der Blick, den ich ihm zuwarf, sprach wahrscheinlich Bände. Die Familie bedeutete mir alles, aber Jeff hatte das nie wirklich begriffen.

»Das wird schon klargehen«, sagte ich mit einer Zuversicht, mit der ich ziemlich gut auch danebenliegen konnte. Eine berufliche Chance wie die, die mir gerade eröffnet worden war, bekam man nicht so schnell wieder.

Der klapprige Fahrstuhl, der ein diebisches Vergnügen daran hatte, die Bewohner in meinem Haus zu terrorisieren, ruckelte beunruhigend, während er uns nach unten beförderte. Ich hielt den Blick fest auf die Stockwerkanzeige gerichtet. Mach jetzt bloß nicht wieder schlapp. Nicht heute. Nicht jetzt.

Mit einem heftigen Ruck erreichte der Aufzug das Foyer.

Mir fiel kaum auf, dass die kalte Nachtluft auf meinen Wangen brannte, während wir die Stufen zur Straße hinunterhasteten. »Wahrscheinlich kriegst du an der Kreuzung am ehesten ein Taxi«, bemerkte Jeff und hob meinen Koffer an, den ich kurz auf dem schneebedeckten Bürgersteig abgestellt hatte.

Ich hielt durch das Schneegestöber nach einem der kanariengelben Taxis Ausschau, die mich so begeistert hatten, als ich frisch nach New York gezogen war – als wäre ich überrascht gewesen, dass es sie nicht nur in Filmen und Fernsehsendungen gab.

»Da ist eins!«, rief ich und rannte los, wofür die glatten Sohlen meiner Stiefel nicht gemacht waren.

»Vorsicht!«

Jeffs Warnruf kam zu spät. Wie eine Cartoonfigur geriet ich sofort ins Schlittern, dann riss es mir auch schon die Beine weg, und ich landete mit solcher Wucht auf dem Hintern, dass mir ein blauer Fleck sicher war. Aber nicht der Schmerz trieb mir die Tränen in die Augen, sondern die unablässige Angst und eine üble Vorahnung, die mir fast die Kehle zuschnürte. Flink kam ich wieder auf die Füße.

»Alles okay?«, fragte Jeff mit erhobener Hand, um eines der vielen Taxis anzuhalten, die, wie er prophezeit hatte, über die Kreuzung rauschten.

Ich sagte dem Fahrer, wo ich hinwollte, und sah zu, wie er mein schweres Gepäck in den Kofferraum wuchtete.

»Soll ich mitkommen?«, fragte Jeff, und ich drehte mich so hastig zu ihm um, dass ich beinahe ein zweites Mal hingesegelt wäre.

Bei seinem großzügigen Angebot kamen mir schon wieder die Tränen, auch wenn ich sie zurückhalten wollte. »Das würdest du tun?« Es entstand eine peinliche Stille, bis ich meinen Fehler erkannte. »Ah, verstehe. Du meinst, zum Flughafen.«

Idiotin, Idiotin, Idiotin, beschimpfte ich mich selbst, weil ich meine Enttäuschung nicht schnell genug überspielt hatte. Selbstverständlich bot Jeff mir nicht an, mit mir in den Flieger zu steigen und ein paar Tausend Kilometer über den Atlantik zu jetten. Dafür war unsere Beziehung zu unverbindlich.

»Oder soll ich mir lieber ein Taxi nach Hause nehmen?«, fuhr er verlegen fort.

Der Fahrer, der meinen Koffer inzwischen verstaut hatte, schenkte mir einen mitfühlenden Blick. Selbst für einen Außenstehenden war offensichtlich, dass das mit Jeff und mir keine Sache für immer war. Warum brauchten wir selbst so lange, um das einzusehen?

»Danke. Es wär schön, nicht allein fahren zu müssen.«

»Kein Problem«, sagte Jeff. »Wir können unterwegs die Flüge durchgehen, die ich gefunden habe.«

Ich hörte nicht so gut zu, wie ich es während der vierzigminütigen Fahrt zum Flughafen hätte tun sollen. Ich sagte häufig »Ja« und »Hm«, während Jeff mir die verschiedenen Routen nannte, die er online recherchiert hatte, und ich schaute aus dem Taxifenster, hinter dem New York mehr und mehr unter einer Schneedecke versank. War es an dem Strand, wo man meine Schwester aufgefunden hatte, auch so kalt gewesen? Konnte eine gesunde, fitte Neununddreißigjährige nach einerstarkenUnterkühlung wieder auf die Beine kommen? Und was hatte sie überhaupt nachts aus dem Haus getrieben?

Diese Fragen, auf die ich keine Antwort hatte, gingen mir immer noch im Kopf herum, als unser Taxi draußen vor dem Abflugterminal hielt. Bevor ich nach meiner Geldbörse greifen konnte, war Jeff bereits dabei, den Fahrer zu bezahlen. Es war eine nette Geste, und ich weigerte mich zu glauben, dass er das aus einem schlechten Gewissen heraus tat.

»Viel Glück«, sagte der Mann, hob meinen Koffer aus dem Wagen und stellte ihn neben mir auf den Gehweg. Ich beschloss, dass er mir das für den Flug wünschte und nicht für meine Beziehung.

Was den Verkehr anging, hatte die Stadt, die nie schläft, ihrem Ruf alle Ehre gemacht, und genauso betriebsam war es auch im Flughafenterminal. Durch Jeffs Recherche wusste ich bereits, dass ich für einen Direktflug fünf Stunden zu früh dran war, aber ich würde bereitwillig alles nehmen, das mich ein paar Minuten schneller nach London brachte.

Jeff war groß und kräftig gebaut, ein College-Footballspieler, der seine sportlichen Fähigkeiten einsetzte, um uns eine Schneise durch die Menge zum Schalter der Fluggesellschaft zu schlagen. Wir schafften es dorthin, ohne mit einem einzigen Rollkoffer oder hochbeladenen Gepäckwagen zusammenzustoßen. Die gute Nachricht war, dass ich keine Schlange vor mir hatte; die schlechte lautete, dass es kaum noch Flüge für mich gab.

»Vielleicht solltest du wirklich auf einen Direktflug warten«, schlug Jeff vor. Er hatte die Stirn gerunzelt, nachdem er gehört hatte, welche Zickzackroute die Airline-Mitarbeiterin gerade vorgeschlagen hatte. »Vielleicht bekommst du sogar einen Platz in der Businessklasse, wenn du wartest.«

War das der Augenblick, als mir klar wurde, dass eine gemeinsame Vorliebe für chinesisches Essen, Arthouse-Filme und ziemlich umwerfenden Sex nicht ausreichte, um uns für den Rest unseres Lebens aneinander zu binden? Jeff war ein Einzelkind und seinen Eltern nicht besonders nahe, weder geografisch noch emotional. Ich hingegen lag am anderen Ende des Spektrums. Ich mochte vielleicht Tausende von Kilometern von Amelia und Mum entfernt sein, doch ich hatte mich ihnen noch nie so verbunden gefühlt wie jetzt.

Ich ignorierte die Bemerkung und wandte mich wieder an die Frau hinter der Plexiglasscheibe. »Mir ist wirklich egal, wie ich fliege. Helfen Sie mir bitte einfach nur, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen.«

Ich schob ihr meinen Pass und die Kreditkarte zu und zuckte angesichts des gepfefferten Preises für das Last-minute-Ticket mit keiner Wimper.

»Nur der Hinflug?«, fragte die Frau am Schalter, während ihre Finger mit beeindruckender Geschwindigkeit über die Tasten flogen.

»Ja. Ich denke schon«, sagte ich und hörte, wie Jeff die Luft einsog. Doch ich drehte mich nicht zu ihm um. Ich war zu sehr damit beschäftigt, meinen Koffer gegen eine Bordkarte einzutauschen und die Anweisung der Frau zu befolgen, zum Gate zu rennen, als ginge es um mein Leben.

Von diesem Sprint zur Sicherheitskontrolle war ich zu sehr außer Atem, um mehr als nur ein bisschen von dem herauszubringen, was ich Jeff hätte sagen sollen. All das würde warten müssen. Doch vielleicht spürte er es längst, denn der Kuss, den er mir auf die Lippen drückte, hatte etwas Hastiges und Distanziertes.

»Danke, dass du mitgekommen bist«, sagte ich und wandte mich schon zur Automatik-Sperre.

»Gib mir Bescheid, wenn du gelandet bist!«, rief er mir nach, als ich durch das Gate ging.

Es fühlte sich bereits jetzt so an, als würde ein ganzer Kontinent zwischen uns liegen.

Kapitel 2

In London war es kalt, neblig und feucht, und dennoch fühlte ich mich dort sofort auf eine Weise heimisch, wie ich es in New York trotz all seiner Vorzüge und Annehmlichkeiten nie sein würde. Es war eigentlich die Art von Tag, an dem die Airline meinen Koffer verschlampen oder das Flugzeug wegen schlechten Wetters auf irgendeinen Flughafen in den Midlands umgeleitet werden würde. Doch wie durch ein Wunder ging alles glatt. Zum allerersten Mal lag mein Gepäck ganz vorn auf dem Laufband, und selbst die lange Schlange vor der Passkontrolle schrumpfte überraschend schnell.

Die Familie, die am Schalter der Autovermietung vor mir stand, brauchte zugegebenermaßen nervtötend lange, um sich für ein Modell und einen Kindersitz zu entscheiden. Frustriert wippte ich mit dem Fuß, doch ich zügelte meine Ungeduld und nutzte die Zeit, um Mum und Jeff zu schreiben, dass ich sicher gelandet war. Mum antwortete fast sofort, Jeff hingegen meldete sich nicht. Wir hatten heute eigentlich mit Freunden brunchen gehen und uns danach ein Eishockeyspiel im Madison Square Garden anschauen wollen. Jeff war ein Riesenfan der New York Rangers. Und ich? Eher nicht. Es gab natürlich keinen guten Grund, weshalb er absagen sollte, aber unwillkürlich fragte ich mich, wer jetzt neben ihm auf dem Platz saß, der für mich bestimmt gewesen war.

Die unschlüssige Familie vor mir hatte sich endlich entschieden, und ich trat an die Theke. Ich nahm den erstbesten Wagen, den sie mir anboten, wie sich herausstellte, ein weit größeres und schnelleres Auto als alle, die ich zuvor gefahren hatte. Ich übergab der Avis-Mitarbeiterin meinen britischen Führerschein und war dankbar, dass in dem Formular, das ich ausfüllen musste, keine Fragen standen wie: Und wie lange ist es her, seit Sie zuletzt gefahren sind?

Dass ich mich hinter das Steuer eines Wagens gesetzt hatte, lag Jahre zurück, und es wäre mir lieber gewesen, es nicht an einem nassen, nebeligen Abend im Dunkeln tun zu müssen. Aber meine ältere Schwester lag irgendwo in Somerset in kritischem Zustand in einem Krankenhausbett, und wäre es die einzige Möglichkeit gewesen, dorthin zu gelangen, wäre ich jeden einzelnen Kilometer auf allen vieren gekrochen.

Bei der Vorstellung zuckten meine Lippen. Das war genau die Art von Übertreibung, die ich in einem Manuskript streichen würde. Aber dies war keine Geschichte, die ich nach Gutdünken lektorieren konnte. Ich fröstelte und drehte die Heizung bis zum Anschlag auf, doch mir wurde einfach nicht warm.

In den letzten sechsunddreißig Stunden hatte ich weniger als vier geschlafen, und ich wusste, dass es gefährlich war, weiterzufahren, wenn ich so müde war. Auf der Suche nach einem Kaffee, in dem der Löffel stehen blieb, fuhr ich von der Autobahn ab.

Alles in der Raststätte war mir zu viel. Sie war zu hell, zu laut, dort waren zu viele Menschen, die alle keine Ahnung hatten, dass dies der schrecklichste Tag meines Lebens war. Meine Erinnerungen kehrten ständig zu dem Tag zurück, der ebenfalls Anspruch auf diesen Titel erheben konnte. Plötzlich war ich wieder acht Jahre alt, sah, wie das Blut aus dem Gesicht meiner Mutter wich und ihr der Telefonhörer aus der Hand fiel, nachdem sie den Anruf entgegengenommen hatte, der unsere glückliche kleine Familie zerstörte.

In der Raststätte schüttete ich kurz hintereinander zwei Flat Whites in mich hinein, dann stand ich auf und bestellte einen dritten zum Mitnehmen. Ich warf einen letzten Blick auf das Sandwich, das ich gekauft hatte und das nur an einer Ecke leicht angebissen war. Obwohl es Verschwendung war, warf ich es in den nächsten Mülleimer.

Der Nebel war noch dichter geworden, als ich den Parkplatz verließ. Ich beschloss, keine weiteren Pausen mehr einzulegen, bis ich das Krankenhaus erreicht hatte.

Das einzig Gute an den schrecklichen Wetterbedingungen war, dass ich mich voll und ganz auf die Straße konzentrieren musste. Doch sobald ich das Krankenhausgelände erreichte, war es, als würden all die Gefühle, die ich bisher in Schach gehalten hatte, plötzlich über mich hereinbrechen. Jetzt spürte ich, wie die Angst durch meine Adern strömte.

Im mehrstöckigen Parkhaus gab es jetzt, da in Großbritannien bereits die Nacht angebrochen war, Hunderte von freien Plätzen, doch ich schaffte es trotzdem, schlecht einzuparken, und blockierte in der Eile gleich zwei Stellplätze. Ich schrieb Mum schnell »Bin da«, dann eilte ich zum Treppenhaus und folgte den Schildern zum Haupteingang.

Die Eingangshalle sah tagsüber garantiert ganz anders aus, wenn es darin vor Patienten, Besuchern und Krankenhausangestellten wimmelte. Die Geschäfte wären geöffnet und hell erleuchtet statt dunkel, verlassen und mit Metallgittern verschlossen. Und es hätte definitiv jemand am Informationsschalter gesessen, der mir den Weg zu Amelias Station hätte beschreiben können.

Ich bin nicht besonders schreckhaft, aber ich fuhr zusammen, als die Stille von einem lauten »Ping« hinter mir zerrissen wurde. Als die Aufzugtüren sich öffneten, brauchte ich einen Moment, um zu erkennen, dass die kleine, erschöpft wirkende Gestalt im Fahrstuhl meine Mutter war. Bis sie meinen Namen rief.

Ich fiel ihr in die Arme, oder sie mir, das war schwer zu sagen. Sie war immer zarter gewesen als ihre beiden Töchter, dünn und zierlich. Und doch hatten wir uns als Kind an sie geklammert wie an eine Amazone, wenn wir uns das Knie aufgeschlagen oder schlecht geträumt hatten. Ich tat es auch jetzt, atmete den Geruch all dessen ein, von dem ich gar nicht gewusst hatte, dass es mir gefehlt hatte. Ein Hauch ihres Haarsprays stieg mir in die Nase, ihr Parfüm, ihr ganz persönlicher Geruch. Ihre warmen Arme umfingen mich und ließen mich auftauen.

»Wie geht’s ihr?«, fragte ich dann rasch.

»Sie haben ihr etwas zum Schlafen gegeben«, erwiderte Mum.

»Aber geht es ihr gut? Ich habe Hypothermie gegoogelt. Das kann wirklich gefährlich werden.«

Etwas am Blick meiner Mutter alarmierte mich, noch ehe sie meine Hand nahm.

»Setzen wir uns doch dort drüben hin, wo es ruhiger ist«, schlug sie vor und deutete auf eine hufeisenförmige Sitzecke im hinteren Teil der Eingangshalle. Ich wunderte mich. Hier war es überall ruhig!

»Was ist los, Mum? Was stimmt denn nicht?«

»Gehen wir einfach da rüber, damit wir nicht im Weg sind«, insistierte sie.

Bis auf einen einsamen Raumpfleger, der sich träge auf seinen Rollwagen stützte und auf sein Handy schaute, waren wir allein.

Ich ließ mich schwer auf einen der Plastikstühle fallen. Mum setzte sich auf den Stuhl neben mich und griff erneut nach meiner Hand. Ihre fühlte sich heiß und trocken an, während meine vor lauter Furcht kalt und klamm war.

»Die … die Situation ist ein bisschen ernster, als ich sie dir am Telefon geschildert habe.«

Ich erschrak. Meine Schwester war verloren, verwirrt und unterkühlt in den frühen Morgenstunden am Strand gefunden worden. Wie viel ernster konnte es denn sein?

»Amelia war nicht wach, als sie gefunden wurde. Sie war nicht bei Bewusstsein.«

Ihre Worte trafen mich wie ein Schlag. »Sie war ohnmächtig? Wegen der Kälte?«

Mum seufzte, und die Worte, die sie so lange zurückgehalten hatte, sprudelten schließlich aus ihr heraus.

»Sie hat nicht geatmet, Lexi. Sie wissen nicht, wie lange schon nicht mehr.«

Ich blinzelte wie ein im Scheinwerferlicht erstarrtes Tier und versuchte, mir etwas Originelleres einfallen zu lassen als »O mein Gott«, doch am Ende brachte ich nur das heraus.

»Genau genommen war sie … war sie …« Mum brachte es nicht über sich, den Satz zu beenden. Welche Mutter hätte das schon gekonnt? Ich half ihr auf die Sprünge.

»Tot?«

Mum nickte knapp.

»Wieso wusste ich nichts davon?« Unsere Blicke trafen sich, und ihre hellgrauen Augen sahen in meine, die – wie die von Amelia – himmelblau waren.

»Ich wollte es dir nicht erzählen, bevor du ins Flugzeug steigst. Damit du nicht stundenlang darüber nachgrübelst.«

Ich schüttelte den Kopf, denn so hatte ich meine Frage nicht gemeint. Ich wiederholte sie noch einmal mit mehr Nachdruck.

»Wieso wusste ich nichts davon? Ich hätte es spüren müssen … hier.« Ich presste mir die Hand aufs Herz und nahm wahr, wie es unter meinen Fingern besorgniserregend raste.

Meine Mutter senkte den Blick. Darauf hatte sie keine Antwort. Niemand konnte die seltsame Verbindung zwischen Amelia und mir erklären. Wir nahmen sie einfach als gegeben hin.

»Die Männer, die sie gefunden haben, sind Ärzte. Im Grunde ist es ein Wunder«, sagte sie, ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Sie suchte in ihrem Ärmel nach einem Taschentuch. »Sie haben ihr Mund-zu-Mund-Beatmung gegeben und ihr mit einem dieser Geräte einen Elektroschock versetzt. Da hat ihr Herz wieder angefangen zu schlagen.«

Meine Gedanken überschlugen sich, während ich einen Satz zu formulieren versuchte, der nicht das Wort »Hirnschaden« enthielt. Keine Ahnung, ob ich damit Mum oder mich selbst schützen wollte. Ich mochte beruflich Liebesromane lektorieren, aber privat war ich ein Riesenfan von Thrillern. Und deshalb wusste ich, wie lange es ungefähr dauerte, bis irreparable Schäden entstanden, sobald das Herz aufhörte zu schlagen.

»Kann ich sie sehen?«

»Natürlich. Die Pflegekräfte waren so freundlich, mir alle Maßnahmen zu erklären. Aber du musst dich auf einiges gefasst machen, Lexi. Sie ist an Maschinen und Monitore angeschlossen, überall sind Kabel und Schläuche …« Schluchzend brach Mum ab, und ich zog sie an mich. Wortlos wiegte ich sie auf den harten Plastikstühlen, während eine Welle der Furcht über uns hereinbrach.

Schweigend fuhren wir kurz darauf mit dem Aufzug nach oben zur Intensivstation. Unsere Schritte hallten von dem Linoleumboden im Flur wider, und unbewusst senkten wir die Stimmen, als wären wir in einer Kirche.

»Konntest du schon mit ihr reden?«, fragte ich und zögerte, als ich die Doppeltür zur Station erspähte.

»Nein. Man hat mir gesagt, sie sei desorientiert und verstört gewesen, deshalb haben sie ihr Beruhigungsmittel gegeben, bevor ich ankam. Sie war nicht sie selbst. Hat ständig nach jemandem gerufen.«

Mit Tränen in den Augen sah ich Mum an. »Nach mir? Hat sie nach mir gerufen?«

Ich weiß nicht, was herzzerreißender war, die Wahrheit oder die Lüge, die meine Mutter mir stattdessen schnell erzählte. »Ja, so muss es wohl gewesen sein.«

Kapitel 3

Ich öffnete die Tür und schlüpfte auf die Station. Mum hatte mir vorher erklärt, in welchem Bett Amelia lag, und so steuerte ich auf Zehenspitzen geradewegs darauf zu. Meine Mutter, die sich immer an die Regeln hielt, hatte auf das Schild neben der Tür gedeutet, auf dem stand, dass nur ein Besucher pro Patient erlaubt war.

»Ich bin schon seit Stunden bei ihr«, hatte sie gesagt, und mir war, als könnte ich an ihren gebeugten Schultern die Last jeder einzelnen Minute ablesen. »Setz dich ein Weilchen zu ihr. Ich warte hier draußen.«

Amelia war eine von nur vier Patienten auf der Intensivstation. Die Deckenbeleuchtung war ausgeschaltet, aber über jedem Bett leuchtete ein gedämpftes, warmes Nachtlicht. Und neben jedem Bett saß wie ein Wächter eine Pflegekraft. Über die Betreuung konnte man sich also nicht beschweren, doch es war mir unerträglich, dass Amelia sie benötigte.

»Ich bin ihre Schwester«, flüsterte ich. Unter dem Gewirr der vielen Kabel und Schläuche wirkte Amelia verloren und verletzlich. Mum hatte ihr Bestes getan, um mich vorzuwarnen, trotzdem war ich auf dieses Ausmaß an medizinischen Geräten nicht vorbereitet gewesen.

»Wie geht es ihr?«, fragte ich den Pfleger.

»Oh.« Er klang überrascht, als er mein Gesicht im Schein des Nachtlichts sah. Ungläubig schaute er zu seiner Patientin und dann wieder zu mir, als könne er seinen Augen nicht trauen. Die Reaktion war mir so bekannt, dass ich sie kaum noch bemerkte.

Ich griff vorsichtig nach Amelias Hand, darauf bedacht, die Kanüle nicht zu berühren, die in ihrer zarten weißen Haut steckte.

»Gut«, antwortete der Pfleger, der sich inzwischen wieder gefasst hatte.

Mit einem zittrigen Lächeln betrachtete ich meine Schwester, in deren Armen Zugänge steckten und an deren Bett ein Beutel hing, der wahrscheinlich mit einem Katheter verbunden war. Ich bezweifelte, dass »gut« für den Pfleger dasselbe bedeutete wie für mich.

»Mimi«, sagte ich mit brüchiger Stimme. »Ich bin’s. Lexi. Ich bin jetzt bei dir.« Ich wünschte, ihre blau geäderten Lider würden sich öffnen, doch sie flatterten bloß, während ich sprach.

»Sie ist momentan stark sediert«, erklärte der Pfleger. »Wir mussten sie ruhigstellen, sie war völlig verstört, als sie eingeliefert wurde.«

Kopfschüttelnd versuchte ich zu begreifen, was er mir erzählte, aber es gelang mir nicht. Amelia war immer die Ruhe selbst. Wenn man das Wort »gelassen« im Lexikon nachschlug, würde man wahrscheinlich daneben ein Foto von meiner Schwester finden.

»Reden Sie wirklich von meiner Schwester?«

Jetzt wirkte er erst recht verwirrt.

Ich streckte die Hand aus und strich behutsam das Haar aus dem Gesicht, das mir jeden Morgen im Spiegel entgegenblickte. »Ich meine, so etwas kenne ich von ihr nicht. Das sieht ihr überhaupt nicht ähnlich.«

Der Pfleger nickte verständnisvoll. »Sie müssen sich vor Augen halten, dass sie ein ziemliches Martyrium hinter sich hat. Ihr Körper braucht Ruhe, um sich zu erholen.«

»Und wie geht es ihr … mental?«, fragte ich und verschränkte meine Finger mit denen von Amelia, wie wir es Tausende Male zuvor getan hatten. Wie fast alles an uns sahen unsere Hände nahezu identisch aus, jedenfalls wenn man von der großen Kanüle in Amelias Handrücken absah.

»Die Ärzte können Ihnen morgen mehr dazu sagen«, antwortete die Pflegekraft diplomatisch.

Ich blieb nur eine halbe Stunde, denn mir war bewusst, dass auf der anderen Seite der Stationstür eine dreiundsiebzigjährige Frau saß, die heute ebenfalls Traumatisches durchlitten hatte. Ich war mir ziemlich sicher, dass es nur einen Weg gab, sie aus dem Krankenhaus zu bekommen – indem ich ihr sagte, ich müsse mich ausruhen.

 

Es war seltsam, von Mum zu ihrem neuen Haus gelotst zu werden. Als wir unterwegs an der Straße vorbeikamen, wo wir früher gewohnt hatten, verspürte ich eine schmerzhafte Sehnsucht nach meinem Elternhaus. Ich wusste, dass es für Mum allein viel zu groß war, und der Garten war ihr über den Kopf gewachsen, doch plötzlich wäre ich am liebsten in die vertraute Einfahrt eingebogen und die knarzende Treppe zu meinem ehemaligen kleinen Zimmer unter der Dachschräge hochgelaufen.

»Du kannst da drüben parken«, sagte Mum, als wir vor ihrem hübschen kleinen Häuschen hielten. Solche Häuser mit zwei Zimmern wurden unter dem Label »erstes Eigenheim« angeboten, auch wenn es im Fall meiner Mutter wohl eher der letzte Ort sein würde, den sie ihr Zuhause nannte. Bei dem Gedanken kamen mir die Tränen, und ich brauchte länger als nötig, um mein Gepäck aus dem Kofferraum zu hieven, weil ich mir erst sicher sein wollte, dass meine Augen nicht mehr feucht waren.

»Sie wird dort zufrieden sein, sobald sie sich erst einmal richtig eingelebt hat«, hatte Amelia gesagt. Wann hatten wir dieses Gespräch geführt? Vor einem Monat? Oder war es länger her? Hatte ich seit Weihnachten überhaupt mit ihr gesprochen?, durchfuhr es mich. Sie hatte mich beharrlich ermutigt, mich mehr auf mein Leben in New York zu konzentrieren, und gedankenlos, wie ich war, hatte ich unsere wöchentlichen Telefonate schleifen lassen. Wie hatte ich anderen Dingen den Vorrang vor meiner Schwester geben können? Meinem eigenen Fleisch und Blut … und das fast buchstäblich. Der Gedanke wog noch schwerer als der Koffer, den ich gerade mit Mühe über die Schwelle bugsierte. Wieso hatte der in Jeffs Händen so leicht ausgesehen? Ich vertrieb den Gedanken wie eine lästige Fliege. Das letzte Mal, als ich nachgesehen hatte, hatte Jeff immer noch nicht auf meine Nachricht geantwortet. Dass ich ihn nie »meinen Freund« nannte, schien mir plötzlich, aus mehr als fünftausend Kilometern Entfernung, noch deutlich mehr der Wahrheit zu entsprechen.

»Du hast bestimmt Hunger«, sagte Mum und schob mich sanft aus dem schmalen Flur ins Wohnzimmer.

Ich murmelte etwas Unverbindliches, denn Essen war das Letzte, wonach mir war.

»Für eine Tasse Tee würde ich jetzt sterben«, sagte ich, und zu spät wurde mir bewusst, dass mir keine schlechtere Wendung hätte einfallen können. Wir taten beide so, als hätten wir meinen Ausrutscher nicht bemerkt.

»Dann setz dich, mach es dir bequem, und ich gieße dir eine auf.«

»Setz du dich lieber hin, Mum, und ich mache Tee«, schlug ich vor, die Hand bereits auf dem Küchentürknauf.

»Du weißt doch gar nicht, wo alles steht«, sagte sie bestimmt und fügte dann mit einer Spur ihres alten Elans hinzu: »Das da ist übrigens die Abstellkammer.«

Ich lächelte und war erleichtert, dass ich das noch nicht verlernt hatte.

»Okay. Aber wirklich nur Tee, Mum. Nichts zu essen.«

Einige Sekunden später hörte ich Wasser in den Wasserkocher laufen und kurz darauf das Klappern von Besteck und Tellern. Wahrscheinlich würde ich also doch etwas essen müssen.

Während ich auf Mums Rückkehr wartete, sah ich mich in ihrem kleinen Wohnzimmer um. Es war merkwürdig, so viele vertraute Dinge in einer neuen Umgebung zu sehen. Als hätte man Teile meiner Vergangenheit in ein anderes Puzzle eingefügt. Sie passten nicht so ganz, doch das bemerkte man nur, wenn man zur Familie gehörte. Bald fand ich mich neben dem Kamin wieder, als hätte er eine magnetische Anziehungskraft. Es war keine aus Backstein gemauerte Kaminecke wie die, die wir früher gehabt hatten, sondern eine hübsch geflieste Öffnung mit einer Gasflamme. Doch nicht der Gaskamin hatte mich angezogen, vielmehr war es die Sammlung gerahmter Familienfotos, die auf dem Sims prangte. Meine Augen brannten, als ich das letzte Foto von uns vieren in die Hand nahm. Es war nur wenige Wochen aufgenommen worden, bevor Dad – ein erfahrener Angler, der schon jahrzehntelang in derselben Bucht gefischt hatte – irgendwie von der Strömung mitgerissen wurde und ertrank. Auf dem Bild strahlte Mum in die Kamera. Sie hatte die Hand um Dads Taille gelegt und sich eng an ihren Mann geschmiegt, dem sie knapp bis an die Schulter reichte. Auf seiner anderen Seite stand Amelia, die schon mit sechzehn einen ganzen Kopf größer als Mum gewesen war. Ich vervollständigte die Reihe, mit dürren Gliedmaßen und Sommersprossen im Gesicht. Breit grinsend und mit einer Zahnlücke dort, wo ein Schneidezahn hätte sein sollen. Zärtlich fuhr ich mit dem Finger über jedes Gesicht. Auf Amelias verharrte ich am längsten, und dann auf dem meines Vaters. »Pass auf sie auf, Dad«, flüsterte ich.

 

Ich schaffte drei gebutterte Crumpets, die genauso gut schmeckten wie die Pappverpackung, in der sie verkauft wurden. Aber wenigstens schien Mum beruhigt, dass ich nicht vor Hunger umkippen würde.

»Die mochtest du immer am liebsten«, sagte sie und sammelte die schmutzigen Teller ein.

Eigentlich stimmte das gar nicht. Amelia war diejenige gewesen, die sie am liebsten zum Tee gegessen hatte, und es war ungewöhnlich, dass Mum solch ein Irrtum unterlief. Doch nach all dem, was wir heute mitgemacht hatten, war das vielleicht nicht überraschend. Es musste schwer sein, all die Kindheitsgeschichten auseinanderzuhalten, wenn das jüngere Kind genauso aussah wie das ältere, das acht Jahre früher zur Welt gekommen war. Selbst ich hatte manchmal Probleme, gleich zu erkennen, wer von uns beiden wer war, wenn ich mir alte Aufnahmen im Familienalbum ansah.

In meiner Teenagerzeit war es einfacher gewesen. Damals hatte ich eine rebellische Phase gehabt, in der ich mit den unmöglichsten Frisuren herumlief und dazu die Haare in einem Rotton färbte, den die Natur nicht im Repertoire hatte. Ich fuhr mir mit den Fingern durch mein jetzt schulterlanges Haar, das ich schon lange wieder in Naturfarbe trug. Ich konnte mich nicht einmal erinnern, wieso ich mir damals solche Mühe gegeben hatte, alle Grenzen zu überschreiten und mich zum Beispiel auch über sämtliche Regeln für das abendliche Heimkommen hinwegzusetzen. Amelia hatte einmal die Vermutung geäußert, es sei mein Versuch gewesen, eine deutliche Kluft zwischen uns zu schaffen, um meine Individualität zu demonstrieren. Jetzt, im Nachhinein betrachtet und nachdem ich einiges zu dem Thema gelesen hatte, musste ich ihr wohl recht geben. Anscheinend ist das bei Zwillingen ziemlich verbreitet – selbst bei solchen, die so einzigartig sind wie wir.

Letztlich aber war das Bedürfnis, anders auszusehen, anders zu sein, nicht annähernd so stark gewesen wie das schwesterliche Band zwischen uns. Ich spürte immer noch diese Verbindung, fast körperlich, wahrscheinlich stärker, als Amelia sie je empfunden hatte. Trotz unserer äußerlichen Ähnlichkeit waren wir von der Persönlichkeit her doch völlig unterschiedlich. Amelia hatte einen Sinn für Zahlen – ja, fast schon eine Gabe. Man konnte sie getrost als eine abgemilderte Version von Rain Man bezeichnen. Für mich hingegen blieb Mathematik ein Rätsel, das zu lösen mich nicht die Bohne interessierte. Ich fragte mich immer, ob Amelia in dem Moment während der In-vitro-Fertilisation, als die Zellen sich in der Petrischale geteilt hatten, aus einem unerfindlichen Grund alle Mathematik-Gene abbekommen und die Sprachgene für mich übrig gelassen hatte.

Es schien nur folgerichtig, dass Amelia Mathematik studierte, einen Abschluss mit Auszeichnung machte und in die Finanzwirtschaft ging. Fast genauso unvermeidlich, wie dass das andere Mädchen, das immer die Nase in ein Buch gesteckt hatte, in der Verlagsbranche landete, mit überraschenden Karrierechancen, von denen es nie zu träumen gewagt hatte.

Der Tee in der Kanne war längst abgekühlt.

»Was ich nicht verstehe«, sagte ich mit Blick auf ein neueres Foto meiner Schwester, als könnte es mir weiterhelfen, »wieso in aller Welt hat sie mitten in der Nacht ihr Cottage verlassen?« Ich gab meinem Job und dem Schlafmangel die Schuld für die dramatischen Erklärungen, die mir einfielen. »Wollte sie vielleicht vor jemandem fliehen? Ist bei ihr im Haus womöglich eingebrochen worden? Oder hat es gebrannt? Hat sie jemanden um Hilfe rufen hören und ist rausgegangen, weil sie nachsehen wollte, was los war?«

Mum liebte mich zu sehr, um meine Ideen als Blödsinn abzutun. »Ich habe mir eher vorgestellt, dass sie den Müll rausgebracht hat, sich dabei versehentlich ausgesperrt hat und Hilfe holen wollte.«

»Hm, ja, stimmt. Das würde wirklich mehr Sinn ergeben«, räumte ich ein.

»Nur leider kann es so nicht gewesen sein«, sagte Mum und seufzte besorgt. »Denn nachdem man ihre Identität festgestellt hat, ist die Polizei zu Amelias Cottage gefahren, um nach dem Rechten zu sehen.«

Ich setzte mich etwas aufrechter hin und befand mich wieder auf dunkelstem Thriller-Terrain. »Was haben sie gefunden?«

»Nichts«, sagte Mum. »Rein gar nichts. Sie haben gesagt, dass alles in Ordnung zu sein schien, lediglich ihre Haustür stand weit offen. Sie hatte sich nicht ausgesperrt, Lexi, sie hätte jederzeit wieder reingehen können.«

Wir schwiegen besorgt, und die Stille wurde nur vom fortwährenden Ticken der Uhr auf dem Kaminsims unterbrochen. Ich war so damit beschäftigt, alle erdenklichen Szenarien im Kopf durchzuspielen, dass mir gar nicht auffiel, dass Mum sich nicht mehr rührte. Erst als ein leises Schnarchen aus ihrer Richtung kam, wurde mir klar, dass sie in ihrem Sessel eingeschlafen war, die Tasse Tee noch in beiden Händen.

Ich stand auf und nahm sie ihr ab. Es war eine alte Lieblingstasse von früher, und ich war überrascht, dass sie die Jahre und einen Umzug überlebt hatte. Die Keramikfarbe war nicht mehr leuchtend rot, und die Worte »I love you, Mum« waren nach Tausenden von Runden in der Spülmaschine schon fast völlig verblichen, doch heute Abend, ausgerechnet, musste sie sie von hinten im Schrank hervorgeholt haben. Ich glaube, ich wusste, wieso.

»Komm, Mum«, sagte ich und weckte sie behutsam. »Ich bring dich ins Bett.«

Sie ging sehr langsam die Treppe hinauf, blieb auf jeder Stufe einen Moment stehen. War das neu?, fragte ich mich. Mein erster Impuls war, Amelia danach zu fragen, und die Vorstellung, dass sie mir weder morgen noch übermorgen, vielleicht sogar nie würde antworten können, war schrecklich.

Als ich mit einem Stapel Bettwäsche, den ich im Flurschrank gefunden hatte, wieder nach unten ging, war mein Herz schwer vor Kummer. Während ich das provisorische Bett auf Mums Sofa machte, dachte ich, wenn Mum sich darum gekümmert hätte, dann hätte es perfekte Krankenhausecken gehabt. Das erinnerte mich erneut an Amelia, die gerade allein und verängstigt in einem Krankenhausbett lag. Natürlich war das eine Projektion von mir. Ich hatte keine Ahnung, ob meine Schwester sich wirklich so fühlte. Wahrscheinlich waren die Medikamente, die sie bekam, stark genug, um einen Kaltblüter auszuknocken, vermutlich fühlte sie daher gar nichts.

Ich hingegen konnte diesen Luxus nicht genießen. Jedes Mal, wenn ich in meinem Behelfsbett die Augen schloss, sah ich den Strand vor mir. Ich wusste, dass man Amelia im Watt gefunden hatte. Die Stelle lag weniger als eine Viertelstunde zu Fuß von ihrem Cottage entfernt. Wie war es möglich, dass sie sich verirrt hatte? Als ich mir einen mondhellen Himmel vorstellte, das brennende Salz und das körnige Gefühl von Sand und Steinen unter meinen bloßen Füßen, war es, als hätte ich mich in ihre Gedanken eingeklinkt. Ich öffnete die Augen. Sah ich wirklich, was Amelia gesehen hatte? Streckte sie über einen gähnenden Abgrund in Zeit und Raum hinweg die Hand nach mir aus, um mir mitzuteilen, wie es gewesen war – oder war das nur das Resultat der überaktiven Vorstellungskraft einer Frau, die zu viele Thriller gelesen hatte?

Für gewöhnlich beunruhigte es die Menschen, wenn wir von unseren geteilten Gefühlen und Empfindungen erzählten. Deshalb hatten wir über die Jahre gelernt, solche Geschichten am besten für uns zu behalten. Aber es gab keine logische Erklärung dafür, wieso Amelia sich vierundzwanzig Stunden lang seltsam flau im Magen gefühlt hatte, bevor sie von mir erfuhr, dass ich in New York eine Lebensmittelvergiftung gehabt hatte. Oder dass ich mich vor Schmerzen gekrümmt hatte, obwohl sie diejenige mit der Blinddarmentzündung gewesen war.

Aufgewühlt setzte ich mich auf und griff nach meinem Handy, um nach der Uhrzeit zu schauen. Trotz meiner Erschöpfung war meine innere Uhr noch auf New York eingestellt, wo es – ich rechnete kurz nach – erst neun Uhr abends war. Bei der Erkenntnis wurde ich wütend, da Jeff mir nach wie vor nicht zurückgeschrieben hatte.

Amelia würde das nicht überraschen, dachte ich mit einem bitteren Lächeln. Bei ihrem letzten Besuch in New York hatte ich zwischen ihr und Jeff eindeutig eine gewisse Kühle wahrgenommen. Nicht, dass wir je denselben Männergeschmack gehabt hätten. Sosehr wir einander auch ähnelten, schienen wir doch völlig unterschiedliche Männertypen interessant zu finden. Amelia hatte immer seriöse Partner gehabt, Männer mit dezidierten politischen Ansichten. Sie hatte sogar ein halbes Jahr lang einen Parlamentsabgeordneten gedatet, bis ihr klar wurde, dass seine Karriere ihm weit wichtiger war als sie. Sie ging nur dann mit anderen aus, wenn ihr danach war, und schien völlig zufrieden mit einer Reihe nicht dauerhafter Beziehungen zu sein. Kurz nach ihrem letzten Geburtstag hatte sie die Bemerkung gemacht, dass sie zu alt dafür sei, ihr Leben für einen Mann zu ändern. Sie mochte es, wie es war, und genoss die Freiheit, quer über ihr Doppelbett ausgestreckt liegen zu können, die Alleinherrschaft über die Fernbedienung zu haben oder zum Abendbrot kalte Baked Beans aus der Dose zu essen, wenn sie Lust darauf hatte. Das Singleleben passte zu ihr.

Aber das hatte sie nicht daran gehindert, mein Liebesleben zu kritisieren. »Du suchst dir immer Männer mit Verfallsdatum aus«, sagte sie so schonungslos, wie es sich nur eine Schwester erlauben kann. »Fast, als würdest du absichtlich die Falschen wählen.«

»Das ist nicht fair«, protestierte ich.

Aber ich war gleich wieder verstummt, denn sie hatte mich traurig angesehen und entgegnet: »Stimmt, das ist es nicht, Lexi.«

Ich erinnere mich gut daran, dass ich durch den Kloß in meinem Hals kaum noch schlucken konnte, als sie meine Hand ergriff und fragte: »Willst du dein Leben nicht mit jemandem gemeinsam verbringen?«

»Ich habe mein ganzes Leben mit dir geteilt«, sagte ich und hatte keine Ahnung, wieso meine Stimme plötzlich zitterte.

»Das ist nicht dasselbe, und das weißt du«, gab sie zurück. »Und außerdem lebe ich auf der anderen Seite des Atlantiks und bin damit wohl kaum eine geeignete Gefährtin für dich.«

»In unserem Fall sind Kilometer nicht von Bedeutung«, hatte ich entgegnet.

Die Erinnerung an diese Unterhaltung war stark, fast überwältigend. Ich suchte mit meinen Gedanken den Weg zu ihr, in der Hoffnung, dass sie sie spüren und hören konnte und sie ihr helfen würden, wieder zu uns zurückzufinden.

 

Irgendwann übermannte mich doch der Schlaf, und etwa fünf Stunden später wachte ich durch Wasserrauschen von der Dusche auf. Langsam streckte ich meine steifen Glieder, griff dann nach meinem Telefon und wählte die Nummer des Krankenhauses. In der Hoffnung, den neuesten Stand zu erfahren, geduldete ich mich in der Warteschlange. Da hörte ich Mums Schritte auf der Treppe. Sie ging geradewegs in die Küche, und einige Minuten später gesellte ich mich zu ihr. Als sie mich mit dem Smartphone in der Hand sah, flatterten ihre Augenlider nervös.

Ich sagte lächelnd: »Ich habe im Krankenhaus angerufen und mit der Pflegeleitung auf der Station gesprochen.«

Mum drehte das Küchentuch in ihren Händen, als wollte sie es trocken wringen. Ich nahm es ihr ab.

»Sie sind mit Amelias Zustand sehr zufrieden, und ihre Körpertemperatur hat sich normalisiert. Sie hoffen sogar, sie heute Vormittag noch von der Intensivstation fort verlegen zu können, und haben die Beruhigungsmittel schon etwas reduziert.«

Und plötzlich weinten wir beide, so wie immer, wenn wir wichtige Neuigkeiten erhielten – ob gute oder schlechte. Wir umarmten einander und dankten im Stillen den Ärzten, dem Schicksal und vielleicht sogar meinem Vater, dass es Freudentränen waren.

Kapitel 4

Tagsüber wirkte das Krankenhaus komplett anders. Etliche Besucher, die leicht an ihren Mitbringseln zu erkennen waren, fuhren mit dem Aufzug zu den Stationen hinauf. Ich warf Mum im Fahrstuhl einen zerknirschten Blick zu. Wir waren mit leeren Händen gekommen, was Amelia hoffentlich nichts ausmachen würde.

In der achten Etage folgten wir den Hinweisschildern zur Intensivüberwachungspflegestation. Ein langes Wort, das bald zu unserem Alltagswortschatz gehören würde. Hoffentlich musste Amelia nicht allzu lange dortbleiben. Die Beschilderung war verwirrend, und ich wollte gerade eine Krankenschwester nach dem Weg fragen, als ich plötzlich eine vertraute Stimme in einem alles andere als vertrauten Ton hörte. Ich warf Mum einen besorgten Blick zu, und wir gingen unwillkürlich schneller.

»Also, irgendjemand muss doch wissen, wo sie sind!«

Die Stimme kam aus einem Raum am Ende des Flurs, war jedoch so laut, dass sie selbst auf diese Entfernung zu hören war. Sie klang schrill, als würde man ein Lied in der falschen Tonart spielen.

»Hat denn schon jemand danach gesucht?«

Meine Schwester hörte sich eindeutig besorgt an, und ich konnte nur davon ausgehen, dass Amelia nach uns fragte.

»Ich weiß es nicht genau. Ich frage noch einmal nach. Bitte, machen Sie sich keine Sorgen, Miss Edwards. Wir finden sie schon.«

Eine junge Krankenschwester mit hochroten Wangen, die sich sichtlich unwohl fühlte, trat rückwärts aus dem Zimmer.

»Bitte, hören Sie auf, mich so zu nennen. Mein Name ist …«

»Amelia!«, rief ich und drängte mich an der betretenen jungen Schwester vorbei.

Sie sah gleichzeitig schrecklich und wundervoll aus. Ihr Gesicht war kreidebleich, bis auf zwei knallrote Flecken auf den Wangen, die vermutlich von dem hitzigen Wortwechsel mit der Schwester herrührten. Sie hatte dunkle Ringe um die Augen, und ihre Lippen waren trocken und gesprungen. Doch ich war so froh, sie zu sehen, dass mir das alles völlig gleichgültig war.

»Lexi?«, sagte sie ungläubig, als wäre ich eine Fata Morgana. »Scheiße, was machst du denn hier?«

Mir fiel darauf zunächst keine Erwiderung ein, so laut läuteten die Alarmglocken in meinem Kopf. Amelia benutzte nie Kraftausdrücke. Sie war eher der Typ, der »Mist« oder »Ach, du liebes bisschen« sagte, womit ich sie immer gnadenlos aufgezogen hatte.

»Ich bin wegen dir hier! Warum wohl sonst?«, erwiderte ich und eilte an ihr Bett. Zwar waren mir die Infusionsschläuche und die Kabel, die an Monitore angeschlossen waren, im Weg, doch das hielt mich nicht davon ab, sie in die Arme zu schließen. Ihr ging es anscheinend ähnlich, denn sie drückte mich fest.

»Es ist so schön, dich wach zu sehen, Schätzchen! Wie geht es dir?«, rief Mum mit brüchiger Stimme. »Wir haben uns solche Sorgen gemacht.«

Ich trat zurück und spürte einen Kloß im Hals, als ich zusah, wie Mum Amelia umarmte und vor Erleichterung zitterte. Danach sank Amelia auf ihr Kissen zurück, als wäre ihre Kraft plötzlich erschöpft. Ihr Blick huschte von mir zu Mum und dann – voller Neugier – zur Tür.

»Seid ihr nur zu zweit?«

Ich folgte ihrem Blick zum leeren Türrahmen.

»Ja. Nur wir.«

Etwas stimmte nicht. Mum, die gerade auf dem Besucherstuhl neben dem Bett Platz nahm, schien nichts zu bemerken, aber ich hatte das Gefühl, als wäre plötzlich jedes einzelne Luftmolekül falsch gepolt. Und Amelias nächste Frage war auch nicht dazu angetan, meine Sorgen zu zerstreuen.

»Was soll ich hier? Niemand will mir sagen, warum ich im Krankenhaus bin.«

»Das weißt du nicht? Kannst du dich denn an gar nichts erinnern?«, fragte ich mit einem unguten Gefühl. Es musste einen Grund geben, warum die Ärzte ihr nicht erzählt hatten, was passiert war.

»Du bist zusammengebrochen«, sagte ich vorsichtig, zog einen Stuhl von der anderen Bettseite zu Mum hinüber und setzte mich.

»Wirklich?« Amelia klang überrascht. »Wann denn? Und wo?«

»Gestern. Zu Hause«, sagte Mum schnell und schüttelte leicht den Kopf, als ich ihr angesichts dieser Schwindelei einen Blick zuwarf.

Amelia verzog das Gesicht, und Tränen traten ihr in die Augen.

»Ich kann mich an gar nichts erinnern! Wieso denn bloß nicht?«

»Das kommt schon wieder«, sagte ich, nahm ihre Hand und drückte sie sanft. Ich hatte keine Ahnung, ob es stimmte, aber sie war aufgebracht, und ich wusste auch ohne Medizinstudium, dass das nicht gut für sie sein konnte.

Amelia schaute auf ihre Hände hinunter, und ein Ausdruck, den ich nicht einordnen konnte, blitzte in ihren Augen auf. »Aber wo sind meine Ringe? Was haben sie mit meinen Ringen gemacht?«

Ihre Stimme wurde immer lauter. Ich ließ ihre Hand los und öffnete das Nachtschränkchen. Im untersten Fach lag eine durchsichtige Plastiktüte mit Amelias ruiniertem Nachthemd. Ich überlegte, ob ich es herausnehmen sollte, entschied mich jedoch dagegen. Das Kleidungsstück war zerrissen und mit Schlick und Sand beschmutzt, und wenn sie sich wirklich nicht daran erinnern konnte, was sie mitten in der Nacht am Strand gewollt hatte, sollte sie nicht so damit konfrontiert werden.

»Da drin ist nichts«, sagte ich und schlug rasch die Klappe zu, um meine Lüge zu vertuschen. »Sind die Ringe denn wertvoll?«

Ich glaube, mir hatte in meinem Leben noch nie jemand einen derart vernichtenden Blick zugeworfen.

»Natürlich sind sie wertvoll.«

»Dann gehe ich nachfragen«, sagte ich und erhob mich. »Vielleicht werden besonders wertvolle Besitztümer im Safe eingeschlossen.«

Ich drückte im Vorbeigehen Mums Schulter und spürte die Anspannung in ihrem zierlichen Körper. Sie lächelte ihre ältere Tochter an, schien jedoch mittlerweile auch gemerkt zu haben, dass hier etwas nicht stimmte.

Auf der Suche nach der jungen Frau, die bei unserer Ankunft geflüchtet war, ging ich zur Schwesternstation. Es schien jetzt wahrscheinlicher, dass Amelia sie gebeten hatte, nach den Ringen zu suchen und nicht etwa nach uns.

Ich fand die junge Frau nicht, aber eine ältere trat aus dem kleinen Büro hinter dem Schalter, die sich als die Stationsschwester herausstellte.

»Sie müssen Miss Edwards’ Schwester sein«, sagte sie mit einem freundlichen Lächeln. »Es tut mir sehr leid, dass ich bei Ihrem Eintreffen nicht hier war, ich wollte Sie noch kurz sprechen, bevor Sie zu ihr gehen.«

Ich spürte einen unangenehmen Stich in der Magengrube. »Geht es um Amelia?« Ich schüttelte innerlich den Kopf über meine überflüssige Frage. Um wen denn sonst?

Die Krankenschwester nickte, und ihr Blick wirkte so besorgt, dass meine Beunruhigung wuchs. »Der behandelnde Arzt hatte gehofft, mit Ihnen reden zu können, aber unglücklicherweise musste er sich um einen Notfall kümmern.«