Wohin der Himmel uns führt - Dani Atkins - E-Book
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Wohin der Himmel uns führt E-Book

Dani Atkins

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Beschreibung

Ein anrührendes Familien-Drama über Mutterliebe von Bestseller-Autorin Dani Atkins: Stell dir vor, du musst das Einzige loslassen, das du mit aller Kraft festhalten willst An einem schicksalhaften Tag beschließt Beth, eine lebensverändernde Entscheidung zu treffen. Denn für sie und ihren Mann Tim gibt es noch eine letzte Möglichkeit, Eltern zu werden. Ein letzter gemeinsamer Embryo ist in einer Klinik für künstliche Befruchtung eingefroren. Doch dann ändert ein Anruf der Klinik einfach alles. Seit acht Jahren ist der kleine Noah das ganze Glück seiner Eltern Izzy und Pete und das Einzige, was die beiden noch zu verbinden scheint. Sie wundern sich nur hin und wieder, dass er keinem von ihnen ähnlich sieht … Als Beth und Izzy aufeinandertreffen, geraten ihre jeweiligen Welten ins Wanken. Ein Ereignis vor acht Jahren bringt sie auf eine Weise zusammen, die keine von ihnen je für möglich gehalten hätte. Und sie müssen sich beide der Frage stellen: Wie viel Liebe braucht es, um ein Kind loszulassen? Die britische Autorin Dani Atkins ist eine Meisterin der ganz großen Gefühle. Ihr Familien-Drama »Wohin der Himmel uns führt« rührt zu Tränen und macht gleichzeitig einfach glücklich. Entdecke auch die anderen gefühlvoll-dramatischen Romane von Dani Atkins: • Die Achse meiner Welt • Die Nacht schreibt uns neu • Der Klang deines Lächelns • Sieben Tage voller Wunder • Das Leuchten unserer Träume • Sag ihr, ich war bei den Sternen

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DANI ATKINS

Wohin der Himmel uns führt

ROMAN

Aus dem Englischen von Simone Jakob und Anne-Marie Wachs

Knaur eBooks

Über dieses Buch

An einem schicksalhaften Tag beschließt Beth, eine lebensverändernde Entscheidung zu treffen. Denn für sie und ihren Mann Tim gibt es noch eine letzte Möglichkeit, Eltern zu werden. Ein letzter gemeinsamer Embryo ist in einer Klinik für künstliche Befruchtung eingefroren. Doch dann ändert ein Anruf der Klinik einfach alles.

Seit acht Jahren ist der kleine Noah das ganze Glück seiner Eltern Izzy und Pete und das Einzige, was die beiden noch zu verbinden scheint. Sie wundern sich nur hin und wieder, dass er keinem von ihnen ähnlich sieht …

Als Beth und Izzy aufeinandertreffen, geraten ihre jeweiligen Welten ins Wanken. Ein Ereignis vor acht Jahren bringt sie auf eine Weise zusammen, die keine von ihnen je für möglich gehalten hätte. Und sie müssen sich beide der Frage stellen: Wie viel Liebe braucht es, um ein Kind loszulassen?

Inhaltsübersicht

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Leseprobe »Sechs Tage zwischen dir und mir«

Prolog

Zehn Jahre zuvor
Beth

Je früher wir mit der Behandlung beginnen, desto besser sind die Erfolgsaussichten.«

Diese Worte, die unsere Zukunft veränderten – die alles veränderten –, waren leise gesprochen worden. Ich hatte über die aufgetürmten Akten und Umschläge mit Röntgenaufnahmen hinweg zu dem Arzt hinübergeschaut, der geduldig wartete, bis wir die Neuigkeiten halbwegs verdaut und uns wieder gefangen hatten.

Ich umklammerte Tims Hand so fest, dass es ihm wahrscheinlich wehtat, hielt den Blick jedoch weiter auf den Onkologen gerichtet, dessen Augen mehr verrieten, als er vermutlich ahnte. Hinter der randlosen Brille sah ich einen Funken Wahrheit, die er an jenem ersten schwarzen Tag noch nicht mit uns zu teilen bereit war. Die Heilungschancen standen offenbar nicht gut. Meine Fähigkeit, in Gesichtern zu lesen, selbst die feinsten Nuancen wahrzunehmen, die andere nicht sahen, war bei meiner Arbeit immer von Vorteil gewesen. An jenem Tag empfand ich sie eher als Last.

»Mr Brandon, Ihrer Akte entnehme ich, dass Sie beide keine Kinder haben.«

Tim schüttelte den Kopf, und ich spürte, wie sich das Zittern, das ihn überkommen hatte, sowohl auf meinen Körper als auch auf meine Stimme übertrug, als ich an Tims Stelle antwortete: »Wir sind erst seit zwei Jahren verheiratet. Wir hatten vor, mit der Familiengründung noch etwas zu warten.« Das Gesicht des Arztes verschwamm hinter meinen Tränen.

»Ich weiß, es gibt jetzt viel zu verarbeiten, aber ohne Ihnen eine weitere Entscheidung aufnötigen zu wollen, muss ich Ihnen doch dringend empfehlen, Vorkehrungen zu treffen, damit Ihre Fertilität erhalten bleibt.« Vielleicht verstand Tim sofort, was der Onkologe meinte, aber ich konnte nicht recht folgen. »Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird die Behandlung Ihre Zeugungsfähigkeit beeinträchtigen, daher raten wir Ihnen, darüber nachzudenken, ob Sie nicht Ihren Samen einfrieren wollen.«

Einen verrückten Moment lang stellte ich mir vor, dass der Arzt meinte, wir sollten das bei uns zu Hause machen und die Spermien dann neben den Schweinekoteletts und den Tiefkühlerbsen lagern. Es dauerte ein paar Augenblicke, bis es mir gelang, dieses Bild vor meinem inneren Auge wieder loszuwerden.

»Es gibt verschiedene Kinderwunschkliniken, die wir Ihnen empfehlen können. Dort wird man Ihnen Ihre Möglichkeiten erläutern. Das kann vom Einfrieren von Samenflüssigkeit bis zur Kryokonservierung von Embryonen reichen, sofern Sie sich dafür entscheiden sollten.«

»Embryonen?«, fragte Tim verwirrt.

»Es ist eine mögliche Option. Die Erfolgsaussichten bei Schwangerschaften mit kryokonservierten Embryonen sind hervorragend. Bei Paaren in Ihrem Alter und in Ihrer Situation wäre es auf jeden Fall eine Überlegung wert.«

 

Schon zwei Tage später waren wir in eine Klinik gefahren. Wir hatten kaum genug Zeit gehabt, darüber nachzudenken, was wir da taten, vom Warum ganz zu schweigen. Die Vorstellung, dass Tim lebensbedrohlich erkrankt war, hatte eine so niederschmetternde Wirkung auf uns, dass wir alles wie durch einen weißen Nebel wahrnahmen.

Wir hatten das Kinderwunschzentrum schließlich mit Stapeln von Broschüren und vielen Ratschlägen im Ohr verlassen. Am Ende trafen wir unsere Entscheidung jedoch nicht mithilfe der Erfolgsquoten, Diagramme oder Erfahrungsberichte, die wir bis spät in die Nacht studiert hatten, als würden wir für eine Prüfung pauken, sondern mit unseren Herzen.

»Wir machen ein Kind«, sagte ich, schmiegte mich an den Mann, den ich liebte, und versuchte, nicht daran zu denken, wie viel Gewicht er im letzten Monat verloren hatte.

»Und frieren es dann ein. Wir legen unser Kind – oder unsere Kinder – buchstäblich auf Eis.«

»Ich glaube, genau genommen lagert man sie in flüssigem Stickstoff«, berichtigte ich ihn, als neue Expertin auf einem Gebiet, über das ich noch vor ein paar Tagen beinahe nichts gewusst hatte.

»Und dich setzen wir allen möglichen unnötigen invasiven Eingriffen aus. Dabei bist du ja nicht mal krank«, hatte Tim gesagt, und der Schmerz und das Bedauern in seiner Stimme waren nicht zu überhören. Er war wütend. Nein, mehr als das, er war außer sich vor Zorn, weil sein Körper ihn erstmals in seinen dreißig Lebensjahren so komplett im Stich ließ.

»Wir wissen nicht, wie lange du brauchst, um die Krankheit zu besiegen«, meinte ich und hoffte, dass ich optimistisch genug klang, um ihn zu täuschen. »Und es könnte Jahre dauern, bis wir danach bereit sind, Kinder in die Welt zu setzen. So brauchen wir uns wenigstens keine Sorgen wegen meiner Fruchtbarkeit zu machen. Wir haben dann schon ein tiefgefrorenes Kind bereitliegen.«

»Bloß Wasser hinzufügen und auf kleiner Flamme erwärmen«, hatte er gewitzelt und mich noch fester an seine abgemagerte Brust gedrückt.

»Genau«, sagte ich, die Lippen auf seine Haut gepresst, damit er nicht spürte, wie sie zitterten und dass mir in der Dunkelheit Tränen über die Wangen liefen.

»Na schön, dann lass uns loslegen«, flüsterte er in mein Haar. »Machen wir ein paar Kinder.«

Kapitel 1

Beth

Ich habe eine ziemlich feine Nase. Nicht von der Form her, die ist eher durchschnittlich, auch wenn sie sich ganz passabel in mein Gesicht einfügt. (Tim, mein Mann, hat mich sogar mal eine Schönheit genannt, was zwar schmeichelhaft, aber leider nicht ganz zutreffend ist.) Was ich meine, ist: Mein Geruchssinn ist ungewöhnlich scharf. Mit ein paar meiner anderen Sinne habe ich zugegebenermaßen nicht ganz so viel Glück, zum Beispiel habe ich überhaupt kein Ohr für Musik, was irgendwie komisch ist, denn ich habe mich schließlich in einen Musiker verliebt. Aber ein feiner Geruchssinn ist klar von Vorteil, wenn man schon immer mit Blumen arbeiten oder, besser noch, sein eigenes Blumengeschäft führen wollte. Glücklicherweise hat es bei mir mit beidem geklappt.

»Ist noch etwas zu erledigen, bevor ich für heute Schluss mache, Mrs Brandon – äh, Beth?«

Ich schaute von dem Strauß Pfingstrosen auf, den ich gerade band, lächelte meiner Angestellten zu und schüttelte den Kopf. Auch wenn Natalie schon seit einem halben Jahr bei mir arbeitete, rutschte ihr gelegentlich noch ein »Sie« heraus. Meine Finger arbeiteten flink, mit der Geschicklichkeit eines erfahrenen Fischers wickelte ich das rustikale Band um die Stiele und verknotete es.

»Hast du heute Nachmittag noch was vor?«, fragte Natalie, als ich sie zur Ladentür begleitete und das Schild auf »Geschlossen« umdrehte.

»Nichts Besonderes«, antwortete ich weiterhin lächelnd und wartete darauf, dass Natalie auf den Gehweg trat, bevor ich die Tür verriegelte. Sie kannte mich nicht gut genug, um die Lüge zu durchschauen. Es war ein sanfter Rauswurf, aber ich hoffte, es war ihr nicht aufgefallen, dass ich es eilig hatte.

Während ich allein im leeren Laden stand, ließ ich die vertrauten Düfte und Geräusche auf mich einwirken wie einen schützenden Zauber. Das Summen der Deckenbeleuchtung und der großen Kühlschränke, in denen die besonders empfindlichen Blumen lagerten, übertönte den Verkehrslärm der Hauptstraße. Das Geschäft befand sich in umsatzstarker Lage, und in den sechs Jahren, seit wir es eröffnet hatten, war sein guter Ruf stetig gewachsen. Ich fuhr mit der Hand über die polierte Holztheke und wartete darauf, dass mich das wie sonst auch beruhigen würde und ich wieder Boden unter den Füßen bekam. Aber heute verfehlte selbst der Zauber des Ladens seine Wirkung.

Normalerweise machten wir nur früher zu, wenn ich mich mit Kunden treffen oder Papierkram erledigen musste, doch heute Nachmittag stand etwas anderes auf meinem Terminplan. Das Sandwich, das ich morgens gekauft hatte, bekam ich nur halb hinunter. Ich warf den Rest in den Papierkorb unter dem Schreibtisch. Vielleicht hätte ich auch den starken Americano wegschütten sollen, denn das Letzte, was ich jetzt gebrauchen konnte, war eine Extradosis Koffein, wo ich doch ohnehin schon so aufgedreht war.

»Das ist doch albern«, murmelte ich in mich hinein, während ich den Laden abschloss und die Alarmanlage anstellte, ein vertrautes Ritual. »Ich will doch nur mit meinem Mann reden. Warum bin ich so nervös?«

Weil du weißt, dass er darüber nicht glücklich sein wird, antwortete jene Stimme in mir, die ärgerlicherweise meist richtiglag. Ich übertönte sie, indem ich das Autoradio so laut stellte, wie es normalerweise nur Jungs im Teenageralter tun, und schlängelte mich durch den Nachmittagsverkehr.

Zum Glück war der Parkplatz leer, und während ich wie auf Autopilot die bekannten gewundenen Wege entlanglief, begegnete ich keiner Menschenseele. Selbst die flinken Eichhörnchen, die hier zu Hause waren, blieben auf ihren Bäumen, als würden sie unser Bedürfnis nach Privatsphäre respektieren. Mein Magen grummelte wegen der Mischung aus Ungeduld und Angst, die ich verspürte, und ab und zu meldete sich ein kurzes Sodbrennen.

Meine dicke Strickjacke erwies sich in der Sonne als überflüssig, und ich streifte sie im Gehen ab. Aber selbst danach bildeten sich unter meinen schulterlangen Haaren im Nacken feine Schweißperlen.

Auf dem Weg zu Tim kam mir die Erkenntnis, dass wir uns praktisch bei jedem bedeutsamen Moment, den wir miteinander verbracht hatten, im Freien aufgehalten hatten. Das war zwar so nicht geplant gewesen, aber rückblickend betrachtet hat sich jeder Meilenstein unserer Beziehung – von unserem ersten Kuss an einer Straßenecke im strömenden Regen bis zu dem Tag zwei Jahre später, an dem wir uns an einem Seeufer im Beisein unserer Familien und Freunde ewige Liebe schworen – unter freiem Himmel ereignet. Sei es unter der Sonne oder unter dem Sternenzelt. Selbst mit seinem Antrag hatte Tim mich bei einem Picknick im Grünen überrascht. Ich kann mich noch erinnern, wie der Blick seiner dunkelbraunen Augen sanfter wurde, als er auf der karierten Decke nach meiner Hand griff und dabei die Reste unseres Mittagessens unabsichtlich beiseiteschob. »Werd meine Frau, Beth«, hatte er geflüstert und angesichts seiner Worte fast genauso überrascht geschaut wie ich. Dann hatte er mich geküsst und damit um ein Haar mein »Ja« erstickt.

Daher war es nur folgerichtig, dass auch dieses schicksalhafte Gespräch – das ich den ganzen Vormittag über immer wieder in Gedanken durchgespielt hatte – unter einem blauen, mit zarten Wolken bedeckten Himmel stattfinden sollte, mit zwitschernden Vögeln als einzigen Zeugen.

Er wartete im Schatten einer hohen Eiche auf mich, und ich eilte auf ihn zu. Mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Ich fühlte mich wie eine Schauspielerin, die unmittelbar vor ihrem Einsatz plötzlich den Text vergisst. Meine sorgfältig zurechtgelegte Argumentation, all die Dinge, die ich sagen wollte – und die Einwände, die er mir, wie ich wusste, wie Landminen in den Weg legen würde –, waren für mich von einem Augenblick auf den anderen wie weggeblasen.

Es war immer noch schwer, nicht mehr jeden Tag mit ihm zu sprechen. Vielleicht zitterte meine Stimme deshalb, anders als zuvor im Laden, an dem Zufluchtsort, den wir uns gemeinsam aufgebaut hatten, wo ich diese Unterhaltung hinter Kübeln mit Gerbera und Nelken durchgegangen war. Ich räusperte mich.

»Timothy«, begann ich, was bei ihm wahrscheinlich sämtliche Alarmglocken losschrillen ließ, denn ich nannte ihn kaum je bei seinem vollen Vornamen. Ich schluckte den Kloß im Hals hinunter und versuchte es noch einmal.

»Tim, es gibt etwas, das ich dir sagen will, und ich möchte, dass du mich nicht unterbrichst, sondern wartest, bis ich fertig bin, einverstanden?« Ich ließ ihm keine Gelegenheit, etwas einzuwerfen, und kam ohne Umschweife zur Sache. »Ich habe die letzten Wochen – eigentlich Monate – viel darüber nachgedacht, und ich meine, wir sollten es noch einmal versuchen. Ich finde, wir sind es uns schuldig, einen letzten Versuch zu wagen.«

Mir fiel plötzlich auf, dass ich beim Reden herumgelaufen war und nicht mehr neben ihm stand. Daher ging ich zu ihm zurück. »Ich weiß, was du sagen willst: dass wir es schon versucht haben. Zwei Mal«, sagte ich mit Bedauern – als hätte er unsere früheren Misserfolge irgendwie vergessen können. »Aber diesmal hab ich so ein Gefühl …« Ich brach ab und korrigierte mich. »Nein, es ist mehr als das. Ich bin mir sicher. Diesmal wird alles so laufen, wie wir es uns gewünscht haben.«

Ich hob den Kopf und strich mir eine kupferbraune Haarsträhne aus dem Gesicht. »Okay«, berichtigte ich mich und klang plötzlich traurig, »vielleicht nicht ganz genau so, wie wir es uns gewünscht haben. Aber aus all dem kann noch etwas Gutes entstehen. Etwas Wunderbares sogar.«

Ich schaute auf meine Füße und konnte mir vorstellen, wie sein Blick mich durchbohrte. »Der Laden läuft jetzt richtig gut, finanziell geht es uns nicht schlecht. Und Natalie ist bereit, mehr Verantwortung zu übernehmen.« Ich spürte, wie mir Tränen in die Augen stiegen, aber ich wollte nicht aufhören zu reden, nicht jetzt, wo ich endlich in Fahrt war. »Ich will nicht mehr warten. Nächstes Jahr werde ich sechsunddreißig«, erinnerte ich ihn, denn er war schon immer furchtbar vergesslich gewesen, was Geburtstage und Jahrestage anbetraf. »Praktisch eine alte Frau, eine Greisin.«

Ich vergewisserte mich, dass wir weiterhin allein waren und niemand uns hören konnte, bevor ich fortfuhr: »Ich habe mit der Klinik Kontakt aufgenommen.« Sein missbilligendes Seufzen bildete ich mir eher ein, als dass ich es hörte. »Sie haben gesagt, diesmal könnte es anders laufen. Wenn ich es ohne Medikamente versuche, wird mir dieses Mal vielleicht auch nicht ganz so schlecht.« Ich lachte kurz auf, wodurch es mir beinahe gelang, den Schluchzer zu überspielen, der mir entfuhr. »Von der Morgenübelkeit mal abgesehen«, witzelte ich. Er lachte nicht. Allerdings hatte ich das auch nicht erwartet.

Als ich zu ihm schaute, spürte ich, wie mir die erste Träne die Wange hinunterlief. In meiner Handtasche suchte ich nach Taschentüchern, fand jedoch keine und wurde wütend auf mich selbst, weil ich nicht daran gedacht hatte, welche einzustecken, obwohl ich die Gespräche hier noch nie ohne Tränen hinter mich gebracht hatte.

»Uns bleibt noch eine letzte Chance, Liebling. Es ist nur ein einziger Embryo übrig, und ich will es unbedingt versuchen«, brachte ich schluchzend heraus. »Ich will ein Kind von dir.«

Meine Worte hingen in der Luft wie der Nachhall eines Instruments, nachdem die Musik längst verklungen ist. Erneut kramte ich erfolglos in meiner Handtasche. Wer kam ohne Taschentuch hierher? Ich schniefte wenig damenhaft und wandte mich ihm wieder zu. »Bist du nach all der Zeit nicht bereit, Vater zu werden?« Ich streckte die Hand nach ihm aus. Der Stein fühlte sich kalt an, als ich die Umrisse seines Namens auf dem weiß gemaserten Marmor nachfuhr. Timothy Brandon. Unter seinem Namen stand das Datum, das noch tiefer in mein Herz eingraviert war als in den Stein. 10. September 2014. Der Tag, an dem ich meinen Mann verloren hatte.

Wahrscheinlich lief mir die Wimperntusche über die Wangen, und ich schniefte wie ein Kind mit laufender Nase. »Wo kriegt man hier ein verdammtes Taschentuch her, wenn man eins braucht?«

»Von mir«, sagte jemand hinter mir.

Ich denke, weder ich noch der Fremde, der mir das ungeöffnete Päckchen Taschentücher hinhielt, hatten damit gerechnet, dass ich derart laut aufschreien würde.

»Verzeihen Sie«, sagte der Mann und trat sofort einen Schritt zurück, sodass die dringend benötigten Tücher außer Reichweite waren. »Ich wollte Sie nicht erschrecken.«

»Das haben Sie aber«, gab ich zurück. Die Situation war mir so peinlich, dass ich aufgebrachter klang, als angemessen war. »Ich dachte, außer mir wäre niemand hier.«

Ich blickte über die vielen Reihen von Grabsteinen um mich herum. Es war meine bevorzugte Zeit für einen Besuch an Tims Grab. Unter der Woche war man dort nachmittags praktisch immer allein.

»Ich auch«, sagte der Mann mit ruhiger Stimme. Sein Blick hielt meinem stand, und ich griff rasch nach den Taschentüchern, bevor er es sich anders überlegen konnte. Höflich gab er vor, nicht zu hören, wie ich mir lautstark und ausgiebig die Nase schnäuzte. Ein Geräusch, mit dem Tims unmittelbare Nachbarn bestens vertraut waren. Ich zog noch ein zweites Taschentuch heraus – nur für den Fall – und gab ihm dann die Packung zurück.

»Behalten Sie sie, bitte«, sagte er mit freundlichem und wissendem Blick. »Klingt so, als bräuchten Sie sie dringender als ich.«

Seine Bemerkung war mir unangenehm, was aber noch lange keine Entschuldigung für meine reflexhafte Reaktion war. »Haben Sie etwa mein privates Gespräch belauscht?«

Die Augen des Mannes, die von einem ungewöhnlichen Grauton waren, wie regennasser Schiefer, wurden bei meinem angriffslustigen Ton etwas größer. »Völlig unbeabsichtigt, das kann ich Ihnen versichern.« Er sprach ruhig, aber mir fiel auf, dass sich seine Nasenlöcher ein (kleines) bisschen weiteten, wie die Nüstern eines Drachen kurz vor dem Feuerspeien. »Obwohl ich nicht sicher bin, ob man eine so laut geführte Unterhaltung wirklich ›privat‹ nennen kann.«

Damit hatte er recht, aber die Scham machte es mir unmöglich, auf meinen Verstand zu hören, der mir riet, ich solle ihm höflich danken und weggehen. »Es war niemand in der Nähe. Ich habe mich vorher umgeschaut. Und es war eine sehr persönliche Unterhaltung.«

Der Mann seufzte, und ich fragte mich, wie oft er seine gute Tat heute noch bereuen würde. Seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen, bestimmt mehr als einmal. »Ich bin schon eine Dreiviertelstunde hier.«

Ich stopfte mir seine Taschentücher in die Hosentasche und hörte mich in einem teenagerhaft gereizten Ton, für den ich inzwischen längst zu alt war, sagen: »Tja, dann haben Sie sich wohl verdammt gut versteckt.«

An seinem Blick erkannte ich, dass ich eine Grenze überschritten hatte, und plötzlich wurde mir wieder bewusst, wo wir uns befanden.

»Ich hatte mich auf den Boden gekniet, um das Grab meiner Frau zu pflegen«, erwiderte er leise.

Ich senkte den Blick und sah zwei kreisrunde feuchte Flecken auf seiner Jeans, die seine Worte bestätigten. »Ich … Es tut mir leid«, druckste ich verlegen herum.

Der Mann schüttelte den Kopf, und ich bemerkte dabei die feinen Silberfäden an seinen Schläfen. Er war älter, als ich zunächst gedacht hatte, vielleicht Anfang vierzig. Seine schlanke Statur und die lockere Freizeitkleidung ließen ihn jünger wirken.

»Schon gut«, sagte er, ich hatte aber immer noch das Gefühl, dass er sich über mich ärgerte. Allerdings war er damit nicht allein, denn ich ärgerte mich auch über mich. »Ich wollte gerade sowieso gehen, dann können Sie Ihre … Unterhaltung ungestört fortführen.«

»Nein, bitte, gehen Sie nicht meinetwegen. Das gibt mir das Gefühl, ich hätte Sie vertrieben.«

»Nicht doch.« An seinen Lippen konnte ich sehen, dass es eine Höflichkeitslüge war. »Ich kann auch später noch mal wiederkommen.«

Er wandte sich ab, und ich schämte mich schrecklich. In meinem Beruf war ich daran gewöhnt, mit Leuten umzugehen, die einen Menschen verloren hatten. Und während meiner gesamten Zeit als Floristin hatte ich noch nie derart unbedacht mit einem trauernden Angehörigen gesprochen.

»Es tut mir wirklich leid!«, rief ich ihm hinterher. Einen Augenblick lang dachte ich, er würde einfach weitergehen, doch er wurde langsamer und drehte sich um.

»Schwamm drüber«, erwiderte er, und sein Gesichtsausdruck wurde jetzt sanfter. »Es klang so, als ob Sie und Ihr … Partner …«

»Mein Mann«, berichtigte ich ihn leise.

Seine Augen blickten mich mitfühlend an. Er nickte leicht. »Es klang, als hätten Sie eine Menge zu besprechen.«

Mit diesen Worten ging er, überraschend leise für einen so großen Mann. Kein Wunder, dass ich ihn nicht hatte kommen hören. Ich vergrub die Hände in den Hosentaschen und umklammerte das Geschenk des Fremden. Dann trat ich wieder an Tims Grabstein. Das Gras war ein wenig feucht, aber ich setzte mich im Schneidersitz auf die Erde und lehnte meine Stirn an den kalten Marmor. »Sag jetzt nichts«, warnte ich meinen für immer verstummten Mann. »Kein einziges Wort.«

 

In den nächsten Tagen ging mir die zufällige Begegnung auf dem Friedhof immer wieder durch den Kopf, und jedes Mal, wenn ich daran dachte, wie ich mich verhalten hatte, schauderte es mich. Natürlich würde ich mich bei unserer nächsten Begegnung bei ihm entschuldigen, hoffte aber, dass es gar nicht zu einem erneuten Zusammentreffen kommen würde. Es war merkwürdig zu wissen, dass ein wildfremder Mann als Einziger ein Geheimnis kannte, das ich bisher weder meiner Familie noch meinen Freunden anvertraut hatte.

Ich hielt beim Sortieren der frühmorgendlichen Blumenlieferung von der Gärtnerei inne. Das Kind, das Tim und ich uns gewünscht hatten, schien zum Greifen nahe, ich musste nur noch die Hand danach ausstrecken. Wir hatten noch eine letzte Chance, unseren Traum Wirklichkeit werden zu lassen. Die Entscheidung, mit der In-vitro-Fertilisation allein weiterzumachen, war Furcht einflößend, aber auch berauschend. Ein Kind. Ein winziger Mensch, entstanden aus Tim und mir. Es war ein Weg, wie Tim weiterhin Teil meines Lebens sein konnte, in greifbarer Form, nicht nur in meinem Herzen und in meinen Erinnerungen. Ich zog den hohen Hocker unter meinem Arbeitstisch vor und setzte mich etwas ungeschickt darauf. Es war eine große, eine lebensverändernde Entscheidung, und ich hatte nie vorgehabt, sie allein zu treffen.

Ich schloss die Augen in dem Wissen, dass ich statt des gekühlten Lagerraums gleich wieder das Sprechzimmer des Onkologen vor meinem inneren Auge sehen und mir erneut die Diagnose anhören würde, die unser Leben und die Zukunft, die wir uns erträumt hatten, zerstörte. Das Läuten der Ladenglocke bedeutete eine willkommene Ablenkung, denn sie riss mich aus der Erinnerung, der ich viel zu häufig nachhing.

Crazy Daisy war immer so viel mehr für mich gewesen als nur ein Geschäft. Der Blumenladen war etwas, wovon Tim und ich geträumt und das wir uns gemeinsam aufgebaut hatten, zum Teil sogar von seinem Krankenbett aus oder während der langen Tage zwischen den Behandlungen, wenn es ihm nicht gut gegangen war und er nicht die nötige Kraft besessen hatte, seiner Arbeit als Lehrer nachzugehen. Das Geschäft war gewissermaßen unser Kind, unser Erstgeborenes, und ich verteidigte es leidenschaftlich.

Als Tim seinen Kampf verloren hatte und mich allein zurückließ, als ich nur noch zusammengekrümmt daliegen und ihm nachfolgen wollte, war am Ende der Laden der Grund gewesen, weshalb ich jeden Morgen aufstand. Ihn aufzugeben war so, als würde ich Tim aufgeben. Und das hätte ich niemals getan. Ohne Crazy Daisy hätte ich die ersten hoffnungslosen Monate der Trauer und Verzweiflung wohl nicht durchgestanden. Und jetzt, fünf Jahre später, war ich bereit, mit dem Mann, den ich liebte, einen letzten Zaubertrick zu vollführen. Es würde nicht leicht werden. Das war mir bewusst. Ich würde ständig Angst haben, alles falsch zu machen. Ohne Tims ausgleichendes Wesen würde ich wahrscheinlich eine schreckliche Mutter abgeben. Und doch konnte ich es kaum erwarten herauszufinden, ob sich diese Vermutung bestätigte.

Kapitel 2

Beth

Nach Tims Tod war ich anfangs täglich zum Friedhof gegangen. Das hatte mir nicht gutgetan, wie mir inzwischen klar geworden war. Damals hatte ich weder auf meine besorgten Eltern hören wollen noch auf meine Schwester, die mir ihre Bedenken von Australien aus mitgeteilt hatte, wo sie jetzt lebte. Doch dann reduzierte ich meine Besuche auf ein bis zwei pro Woche. Weniger wäre mir falsch vorgekommen.

Abends waren immer mehr Leute auf dem Friedhof als zu anderen Tageszeiten, und im Vorbeigehen erkannte ich bald einige der regelmäßigen Besucher wieder. Manche waren bei der Grabpflege, schauten kurz von den Ruhestätten ihrer Lieben auf und nickten mir zu, als wären wir Pendler, die seit Jahren dieselbe Strecke fuhren, ohne je ein Wort miteinander zu wechseln.

Auf Friedhöfen herrschen ganz eigene Regeln. Ein Nicken ist in Ordnung. Wenn man sich kennt, ist sogar ein schwaches Lächeln erlaubt. Auf keinen Fall aber mischt man sich in die Gespräche zwischen den Angehörigen und ihren Toten ein. Der Mann, der mir kürzlich Taschentücher gereicht hatte, wusste das offenbar nicht. Ich fragte mich, ob er seine Frau erst vor Kurzem verloren hatte.

»Hey. Da bin ich wieder«, sagte ich zu der weißen Grabeinfassung, auf die ich in den ersten Tagen so viele Tränen vergossen hatte. Es wundert mich, dass der Stein davon noch nicht aufgelöst war. Ich war ein Wrack gewesen, nicht im Geringsten darauf vorbereitet, mein Leben ohne den Mann zu führen, den ich liebte. Man hätte meinen können, nach meiner Vorahnung beim Onkologen hätte ich mich besser darauf eingestellt, aber als Tim nach seinem tapferen und harten Kampf starb, warf es mich völlig aus der Bahn.

Ich hob die Hand mit dem Blumenstrauß. »Freu dich nicht zu früh«, sagte ich an den Grabstein gerichtet, »die sind nicht für dich gedacht, sondern als Wiedergutmachung für den Mann, dessen Frau irgendwo dort drüben liegt.« Dabei nickte ich in die Richtung, aus der der Fremde neulich gekommen war. »Gib mir einen Moment Zeit, um sie zu suchen, dann können wir uns weiter unterhalten. Wir haben ja noch viel zu bereden.«

An jedem anderen Ort hätte man mich für verrückt erklärt, wenn ich so mit dem abwesenden Tim gesprochen hätte. Hier war das allerdings normal, ja praktisch Pflicht. Zu unseren Füßen ruhten Menschen, die wir liebten, mit denen wir unser Leben geteilt hatten und mit denen unsere Herzen und unsere Seelen verbunden waren. Nicht so mit ihnen zu sprechen, wie wir es gewohnt waren, das wäre verrückt gewesen.

Meine Intuition führte mich auf geradezu unheimliche Weise zur richtigen Stelle. In einer Reihe flechtenbedeckter und von Unkraut überwucherter Steine war der blank geputzte Gedenkstein gut zu sehen. Das Grab war gepflegt und mit niedrigen blühenden Stauden bepflanzt. Die Inschrift auf dem hellgrauen Marmor war eher schlicht und doch rührend. Ich entnahm ihr, dass die Frau zu meinen Füßen Anna Thomas hieß, die Ehefrau eines gewissen Liam und jung – genauer gesagt, in meinem Alter – gewesen war, als ihr Leben vor acht Jahren ein vorzeitiges Ende gefunden hatte. Wie schrecklich.

Ich hockte mich neben den Grabstein und legte den kleinen Strauß gelber Rosen behutsam nieder. Nur wenige Menschen beherrschen noch die Sprache der Blumen, aber als Floristin sprach ich sie fließend. Diese hier sagten: »Es tut mir leid«, und zogen einen Schlussstrich unter das unglückliche Zusammentreffen mit dem Ehemann von Anna Thomas. Zwischen den eng gebundenen Blumen steckten eine kleine Karte, auf die ich Danke geschrieben hatte, und eine ungeöffnete Packung Taschentücher. Er konnte sich sicher denken, von wem sie kamen.

 

»Also, was gibt’s Neues? Was war bei dir in letzter Zeit so los?«

»Nicht viel«, erwiderte ich. Abgesehen davon, dass ich mich darauf vorbereite, schwanger zu werden. Einen Schreckensmoment lang dachte ich, ich hätte das laut gesagt. Aber das Gesicht meiner Schwester auf dem Bildschirm wirkte weder verblüfft noch erschüttert, also hatte ich es wohl doch nicht getan.

In Australien war jetzt früher Vormittag, und Karen saß an ihrem Lieblingsplatz für unsere Skype-Telefonate, auf der Terrasse ihres Hauses in Sydney, vor einer tropischen Blütenpracht. Ihren nicht gerade subtilen Versuch, mich mithilfe von exotischen Pflanzen auf die andere Seite des Erdballs zu locken, hatte ich längst durchschaut.

Unsere Telefonate waren der Höhepunkt meiner Woche. Karen lebte so weit entfernt, aber sie war nach wie vor meine beste Freundin, und ich vermisste sie schmerzlich, selbst nach all den Jahren. Ich sehnte mich immer noch nach dem Duft ihres Shampoos, das ich immer roch, wenn sie mich umarmte, nach der Art, wie ihre Lippen meine Wange streiften, wenn sie mich begrüßte, oder wie sie in Momenten, in denen Worte einfach nicht genügten, meine Hand drückte. Wir hatten uns schon als Kinder sehr nahegestanden. Auch wenn wir uns sicherlich gestritten haben, wie es unter Geschwistern eben vorkommt, hatte meine Sehnsucht nach ihr die Erinnerung daran getilgt.

Jede von uns kannte die Geheimnisse der anderen: der erste Schwarm, der erste Kuss, die erste heimliche Zigarette, das erste Mal mit einem Jungen. »Ganz ehrlich, Bethie, ich weiß echt nicht, was das ganze Aufheben soll; nach ein paar Sekunden war’s schon wieder vorbei.« Beim Gedanken daran musste ich selbst jetzt noch schmunzeln, auch wenn ich bezweifelte, dass sie das mit ihrem Mann, der sie über alles liebte, und zwei Kindern noch immer so sah. Aber nun versuchte ich, ihr das größte Geheimnis meines Lebens zu verschweigen, und jedes Mal, wenn ich den Mund öffnete, hatte ich Angst, mich zu verplappern.

»Was machen Mum und Dad?«, fragte Karen und verschwand für einen Moment vom Bildschirm, um nach einem Glas Orangensaft zu greifen.

»Das Übliche«, erwiderte ich in schwesterlichem Kurz-Code, den sie, wie ich wusste, mühelos entschlüsseln konnte: Mum war beschäftigt mit ihrem Buchklub, dem Ehrenamt und dem Laientheater, während Dad so tat, als würde er sich im Ruhestand nicht zu Tode langweilen und als wäre seine Arthritis lediglich ein kleines Ärgernis und kein ernsthaftes, kräftezehrendes Leiden.

Karen setzte ein Gesicht auf, das ich nur zu gut kannte. Das schlechte Gewissen traf mich unvermittelt und mit voller Wucht. Es war kein Geheimnis, dass meine Eltern ihren Ruhestand immer in Australien hatten verbringen wollen, was völlig nachvollziehbar war: Das Wetter auf dem fünften Kontinent war viel besser für jemanden mit Dads Beschwerden; außerdem lebten dort fünfzig Prozent ihrer Kinder und einhundert Prozent ihrer Enkel. Rein mathematisch betrachtet sprach alles dafür.

Ich hatte immer vermutet, dass Karen schon seit Langem einen Masterplan ausheckte, demzufolge die gesamte Familie nach Down Under übersiedeln sollte. Sie versorgte unsere Eltern mit Informationen über Seniorendomizile, die an Stränden und direkt neben Golfplätzen lagen, und sie hatte Tim sogar Links zu Stellenanzeigen geschickt, mit kleinen lustigen Anmerkungen wie Keine Didgeridoo-Kenntnisse erforderlich!

Auch wenn wir dem nie nachgegangen waren, hatte ich bemerkt, dass Tim nicht abgeneigt war. Karen wusste, wie gern ich wieder am Meer leben wollte – und Küste gab es in Australien genug. Daher hatte sie damals ihr Ziel schon halb erreicht. Wären nicht die andauernden Magenkrämpfe und die ständige Übelkeit gewesen, die beinahe über Nacht zu Tims Gewichtsverlust geführt hatten … Plötzlich sprach keiner mehr davon, woanders zu leben. Uns ging es mehr darum, zu überleben.

Ich hatte nicht erwartet, dass meine Eltern wegen Tims Krankheit ihre Pläne ändern würden. Doch dann … Sie sprachen es nie aus – tatsächlich stritten sie es sogar mehrmals ab –, aber alle kannten den wahren Grund, weshalb sie nicht ausgewandert waren. Und dieser Grund war ich. Die Schuldgefühle, die ich deswegen empfand, lasteten schwer auf mir. Karen hatte zwei reizende Kinder. Nichts konnte meinen Schmerz darüber lindern, dass ich meine Eltern um die Freude brachte, ihre Enkelkinder aufwachsen zu sehen. Außer vielleicht ein drittes Enkelkind – mit dem allerdings niemand rechnete.

In einem Baum hinter Karen zwitscherte gerade lautstark ein Chor Kookaburras, als der sieben Jahre alte Aaron sein Gesicht vor die Kamera schob.

»Kommst du uns bald besuchen, Tante Beth?«, fragte mein Neffe. Er lispelte wie eine Schlange, da er gerade keine Schneidezähne hatte.

»Netter Versuch«, sagte ich über seine zerzausten blonden Locken hinweg an seine Mutter gerichtet. »Ein cleverer Taktikwechsel.« Sie wusste wohl besser als jeder andere, wie sehr ich ihre beiden Söhne liebte.

Karen antwortete mit einem Grinsen, von dem selbst ich zugeben musste, dass es ein Ebenbild meines eigenen war. »Ich dachte mir, ihn zu enttäuschen würde dir schwerer fallen«, meinte sie und küsste ihren Sohn zur Belohnung auf den Kopf.

»Das hatten wir schon x-mal. Du weißt, dass ich nicht einfach meinen Laden schließen und verschwinden kann.«

»Und ich dachte, dass du genau dafür diese Superfrau von einer Mitarbeiterin eingestellt hast.«

Nur mit Mühe konnte ich weiterlächeln. Einen Augenblick lang war ich kurz davor, Karen in mein Geheimnis einzuweihen. Meine Schwester war nicht leicht aus der Fassung zu bringen, aber wenn ich ihr so etwas gesagt hätte wie: In Wirklichkeit habe ich Natalie eingestellt, damit sie sich um den Laden kümmert, wenn ich mein Kind bekomme, wäre ihr der besserwisserische Gesichtsausdruck im Nu vergangen. Aber ich war nicht so weit, es auszusprechen. Noch nicht. Man mag es abergläubisch nennen, aber es schien mir voreilig, denn einem verbreiteten Sprichwort zufolge soll man sich ja nicht um ungelegte Eier kümmern – oder, auf die Welt der künstlichen Befruchtung übertragen: Man soll nicht an ein Baby denken, solange der Embryo noch auf Eis liegt.

Glücklicherweise wurde Karen durch ein Geräusch außerhalb des Bildausschnitts abgelenkt, und sie schaute stirnrunzelnd in Richtung des Verursachers. »Oh, oh. Hört sich ganz danach an, als wäre Josh gerade aufgewacht. Ich dachte, wir hätten noch locker zwanzig Minuten. Tut mir leid, Liebes. Sieht aus, als müsste ich jetzt schon Schluss machen.«

»Gib ihm einen dicken Kuss von mir«, sagte ich und winkte ihr zu. »Bis nächste Woche.«

Karens Augenbrauen zogen sich zu einem einzigen blonden Strich zusammen. Sie war viel hübscher als ich, und die sieben Jahre in der Sonne von New South Wales hatten ihr das Aussehen einer waschechten Australierin verliehen.

»Sicher, dass alles in Ordnung ist, Bethie? Du klingst irgendwie … geistesabwesend.«

Wie hatte sie das vom anderen Ende der Welt aus wahrgenommen? Wie hatte sie durch das verzerrte, pixelige Bild direkt in mein Herz schauen können? Außer Sichtweite der Kamera kreuzte ich die Finger, wie ein Kind, um die Lüge nicht auf dem Gewissen zu haben.

»Alles bestens. Mach dir keine Sorgen.«

 

In dieser Nacht brauchte ich sehr lange zum Einschlafen. Meine Familie anzulügen war unerträglich, aber die beiden ersten fehlgeschlagenen Versuche in der Klinik für künstliche Befruchtung in Tims letztem Jahr waren für mich so niederschmetternd gewesen – ich wollte nicht, dass irgendjemand von meinem Vorhaben erfuhr, bevor ich sicher sein konnte, dass es geklappt hatte. Oder willst du es nicht sagen, damit sie es dir nicht ausreden können?, fragte eine Stimme in der Dunkelheit, die ich als meine eigene erkannte. Ich warf mich herum und schlug mit der Faust in mein Kissen, als könnte die Memory-Schaum-Füllung etwas dafür. »Nein«, antwortete ich, griff nach dem Kissen auf der anderen Bettseite, die für mich immer noch Tims Seite war, und schloss es in die Arme, auch wenn es nur ein unzureichender Ersatz für den Mann war, der dort eigentlich hätte liegen sollen. »Ich will einfach nicht, dass sich jemand Hoffnungen macht, das ist alles.«

Kapitel 3

Izzy

Da war er wieder: der schlimmste Moment der ganzen Woche. Die schrecklichen fünf Minuten, in denen ich dem Mann, den ich immer noch liebte, gegenübertreten und so tun musste, als mache mir das alles nichts aus. Als erinnerte ich mich nicht mehr, wie wir uns früher im gemeinsamen Bett »Gute Nacht« gesagt hatten, während ich mich in seine schützende Umarmung schmiegte und ihm nicht wie jetzt leicht befangen an der Schwelle des Hauses gegenüberstand, in dem er nicht mehr wohnte.

»Seine Hausaufgaben sind da drin. Ist alles erledigt«, sagte Pete und reichte mir den Rucksack mit dem Superhelden-Aufdruck. Als ich danach griff, berührten sich unsere Finger, und ich spürte Petes instinktive Abwehr, noch bevor ich die Verlegenheit in seinen braunen Augen aufflackern sah. Glücklicherweise bemerkte Noah, unser achtjähriger Sohn, es nicht. Ungeduldig hopste er neben seinem Vater von einem Bein aufs andere.

»Kann ich jetzt endlich reingehen, Dad? Ich will die Sendung nicht verpassen.«

Pete zerzauste unserem Kind den dichten dunklen Schopf. »Na klar, Kleiner.« Noah schlang seine dürren Arme um Petes Taille und umarmte ihn ein wenig länger und ein wenig fester, als er es vor der Trennung getan hätte. »Wir sehen uns in zwei Wochen«, sagte Pete in Noahs tiefschwarzes Haar hinein und drückte ihm einen Kuss auf den nicht ganz geraden Scheitel.

»Nein, schon vorher«, erinnerte ich Pete. »Du kommst doch zu der Schulaufführung nächste Woche?« Der tadelnde Unterton in meiner Stimme war nicht zu überhören, auch wenn Pete ihn gar nicht verdient hatte. Er war niemand, der sich vor solchen Terminen drückte. Soweit ich mich erinnerte, hatte er kein einziges Krippenspiel verpasst, kein Sportfest und keinen Tag der offenen Tür. Er gehörte zu den verrückten Vätern, die auf dem Sportplatz so begeistert auf und ab hüpften, als wären sie bei den Olympischen Spielen, und die das Handy hochhielten, um jeden Moment festzuhalten (und damit allen Dahinterstehenden gewaltig auf die Nerven gingen). Früher hatten wir uns diese Videos aneinandergekuschelt auf dem Sofa angeschaut, und unsere Herzen hatten im Gleichklang für unser Kind geschlagen. Sah er sich die Aufnahmen jetzt allein an, oder gab es eine neue Frau in seinem Leben, mit der er diese Augenblicke teilte? Ich brachte nicht den Mut auf, ihn danach zu fragen.

»Das würde ich nie vergessen«, versicherte Pete. »Wo du doch die große Hauptrolle spielst, Mr Zuko.« Grinsend trat Pete einen Schritt zurück. Ich wusste, was jetzt kam. Wenn man vierzehn Jahre lang mit jemandem zusammen ist, kennt man seine Witzchen in- und auswendig. Er tat so, als würde er sich mit einem unsichtbaren Kamm die Haare in Form bringen, die nicht mehr ganz so voll waren wie früher. »Wirst du mich immer noch lieben, wenn ich alt und kahl bin?« »Ja, Schatz, ganz bestimmt.« Die Erinnerung traf mich unvorbereitet. Das war noch kein Jahr her.

Pete war jetzt nicht mehr zu bremsen und wiegte die Hüften auf eine Art, bei der sich eigentlich jeder Achtjährige auf der Welt fremdschämen musste, aber Noah schüttete sich aus vor Lachen, als Pete eine Hand ausstreckte und sie langsam von links nach rechts führte. Seine Bewegungen mochten John Travolta in Reinform sein, von seiner Stimme konnte man das nicht behaupten.

Noah und ich zuckten zusammen. Unser Sohn hatte sein musikalisches Talent, das ihm die Hauptrolle in der Schulaufführung beschert hatte, weder von Pete noch von mir geerbt. Wenn ich sang, begannen die Hunde in der Nachbarschaft zu jaulen, und Pete – der Karaoke mehr mochte, als für einen Mann seines Alters und seiner Talentfreiheit angemessen war – war auch nicht viel besser.

Noah flitzte durch den Flur Richtung Wohnzimmer und steuerte mit der Zielsicherheit einer Kurzstreckenrakete auf die Fernbedienung zu. Ich wartete einen Augenblick, dann hörte ich die vertraute Vorspannmelodie – wie immer etwas zu laut. So würde Noah von unserer Unterhaltung nicht mehr viel mitbekommen. Ich wandte mich wieder dem Mann zu, der jetzt einem merkwürdigen Zwischenreich angehörte – nicht mehr mein Ehemann, noch nicht ganz mein Ex.

»Die hier sind für dich gekommen«, sagte ich und reichte ihm den kleinen Stapel Briefe, der sich angesammelt hatte. Ich hatte inzwischen aufgehört, mich zu fragen, ob wohl deshalb immer noch so viel Post hier ankam, weil Pete unbewusst beabsichtigte, wieder zurückzukommen. Wahrscheinlicher war, dass er schlicht nicht begriffen hatte, dass Dinge wie Nachsendeaufträge bei der Post nicht einfach automatisch von irgendwelchen Internet-Heinzelmännchen in die Wege geleitet wurden. Organisation und Papierkram waren immer mein Ressort gewesen. »Ein klassisches Beispiel für einen Kontrollfreak«, hatte er mich gern genannt und die Kritik mit einem Kuss oder einer Umarmung abgemildert. Pete hatte sich immer um die handfesteren Dinge gekümmert. Mittlerweile reparierte ich tropfende Wasserhähne und beseitigte auch Spinnen allein. Pete brauchte einfach nur ein wenig länger, um Dinge wie das mit der Post zu regeln.

Er nahm mir die Briefe ab, wobei er diesmal darauf achtete, dass sich unsere Hände nicht berührten. Er schaute den Stapel Brief für Brief durch. »Rechnung. Rechnung. Rechnung. Müll. Müll. M…« Bei dem Umschlag, den ich absichtlich ganz nach unten gelegt hatte, hielt er inne. Er starrte auf das längliche Kuvert, auf dem nicht ein Adressat, sondern zwei standen: Mr Peter Vaughan und Ms Eliza Bland. Jedes Jahr hatte ich mich aufs Neue gefragt, warum wir denen nicht längst mitgeteilt hatten, dass wir mittlerweile verheiratet waren – und das schon seit acht Jahren. Ironie des Schicksals, dass wir so lange mit der Aktualisierung unserer Daten gewartet hatten, dass ihr Fehler schon bald keiner mehr sein würde. Sollte ich wieder meinen Mädchennamen annehmen? Das war nur eine der unzähligen Fragen über meine Zukunft, denen ich mich noch nicht stellen konnte.

Es gab nur noch einen Absender, der uns so anschrieb. Auch ohne den Brief zu öffnen, wusste Pete, wer ihn geschickt hatte und worum es darin ging.

»Oh«, sagte er, und sein Tonfall – den ich immer so gut hatte entschlüsseln können – war mir jetzt ein Rätsel. »Ist es schon wieder so weit?«

Unsicher, ob ich meine Stimme genug unter Kontrolle hatte, nickte ich nur.

»Was willst du machen?«, fragte er leise, und bevor ich antworten konnte, dass wir diese Entscheidung eigentlich gemeinsam treffen sollten, fuhr er fort: »Wie viel ist es?« Es war das erste Mal innerhalb von zehn Jahren, dass er mir diese Frage stellte, und sie traf mich wie ein Messerstich.

Ich zuckte traurig mit den Schultern. »Ich weiß auch nicht. Ich wollte ihn nicht ohne dich öffnen.«

Sein Blick schien nach dem Grund zu fragen, aber zum Glück sagte er nichts. Er riss den Umschlag auf, zog den Brief heraus und hielt ihn so hoch, dass wir beide ihn lesen konnten.

Jedes Jahr waren die Formulierungen die gleichen. Für die Klinik war es einfach nur Teil ihres Geschäfts, eine Formalität. Aber dieses Jahr waren unser »Ja, selbstverständlich« und »Wir bekommen das Geld schon irgendwie zusammen« keine ausgemachte Sache mehr.

»Dreihundert Pfund«, sagte Pete leise mit Blick auf die unterste Zeile, während ich an die Frage dachte, die sie uns jedes Jahr um diese Zeit stellten: Wollten wir unsere eingefrorenen Embryos noch ein weiteres Jahr lagern lassen?

Als ich Pete anschaute, hatte ich nicht die geringste Ahnung, was in ihm vorging, aber meine Meinung dazu hatte sich, wie in all den Jahren zuvor, nicht geändert. In einem Behältnis mit flüssigem Stickstoff warteten zwei potenzielle Menschen darauf, geboren zu werden. Es waren Noahs Brüder oder Schwestern, zumindest konnten sie es sein. Und ja, ich wusste, dass uns für weitere In-vitro-Fertilisations-Anläufe das Geld fehlte, wo wir uns doch gerade mühsam von den Schulden durch unsere bisherigen Versuche befreit hatten. Aber wie ernst unsere finanzielle Lage auch gewesen war, irgendwie hatten wir jedes Jahr aufs Neue einen Weg gefunden, ein Kreuz neben »Lagerungsdauer soll verlängert werden« zu setzen.

»Wer weiß, vielleicht gewinnen wir ja im Lotto«, hatte Pete dann jedes Mal gesagt. Und auch wenn er nie ein Glücksspieler gewesen war, fand ich es doch schön, dass er immer noch an die Möglichkeit glaubte, eines Tages ein Haus voller Kinder zu haben, wie wir es uns erträumt hatten.

Pete kratzte sich geistesabwesend unter dem linken Ohr, wie sooft, wenn er vor einem Problem stand. Es war für mich schwer zu ertragen, dass unsere einstige Quelle der Hoffnung sich zu einem Problem entwickelt hatte, das man lösen musste. Einer Komplikation. Der Vertrag mit der Klinik, den wir vor zehn Jahren unterschrieben hatten, besagte klipp und klar, dass wir Entscheidungen über das Schicksal eingefrorener Embryonen einstimmig treffen mussten. Wer würde das letzte Wort haben, wenn ich Ja sagte und er Nein?

Pete faltete den Brief sorgsam wieder zusammen und steckte ihn zurück in den Umschlag. »Ich krieg’s schon irgendwie zusammen, wir schicken denen einen Scheck.«

Mir fehlten die Worte, meine Sicht verschwamm, und plötzlich standen zwei Petes vor mir auf der Schwelle. Leise, fast flüsternd, erwiderte ich: »Danke.«

Die Petes – jetzt waren es schon vier – zuckten mit den Schultern. »Man kann nie wissen, wie sich die Dinge entwickeln«, sagte er und wandte sich zum Gehen. »Vielleicht gewinnen wir ja im Lotto.«

Ich schloss die Tür hinter ihm und lehnte mich erschöpft dagegen. Es war merkwürdig, aber ich hatte das Gefühl, als hätten wir tatsächlich im Lotto gewonnen.

 

Mit vierunddreißig hatte ich gedacht, mein Leben würde endlich in geregelten Bahnen verlaufen. Pete und ich hatten in den letzten vierzehn Jahren allen möglichen Widrigkeiten getrotzt, die Jahre voller lausiger Jobs und ohne Geld überlebt und konnten nostalgisch darauf zurückblicken – selbst auf die Anfangszeit in dieser winzigen Wohnung direkt über dem Imbiss. Pete hatte damals bei seinem Job in der Autowerkstatt nur ein Lehrlingsgehalt bekommen, und mein monatlicher Nettoverdienst als Empfangsangestellte war auch nicht viel besser gewesen. Aber wenn ich an diese Tage zurückdenke, erinnere ich mich nur an Liebe und Lachen … Wir haben so viel gelacht!

Jeder Herausforderung, die das Leben für uns bereithielt, hatten wir uns gemeinsam gestellt, so auch der Unfruchtbarkeit. Wir hatten zwar gehört, dass Beziehungen manchmal an den damit verbundenen Belastungen zerbrachen, aber uns würde das nicht passieren. »Uns kriegen sie nicht klein«, hatte ich immer gesagt und damit wohl das Schicksal herausgefordert, das, wie mir jetzt klar wurde, nur auf den passenden Moment gewartet hatte, um uns dranzukriegen. Nach all den Schwierigkeiten, die uns nur noch fester zusammengeschweißt hatten, war vor acht Jahren endlich Noah zur Welt gekommen und hatte uns von einem Paar zu einer Familie gemacht.

In dieser freudigen Zeit, wo alles wunderbar hätte sein sollen, hätte ich – wenn ich genau genug hingehört hätte – bereits das Donnergrollen in der Ferne vernehmen können. Unsere erste Zeit als frischgebackene Eltern war nicht gerade ein Zuckerschlecken gewesen, was zum Großteil an mir lag. Ich war eine überängstliche Mutter gewesen und Noah ein quengeliges Kind, das schon früh unter Ekzemen und Allergien litt. Damals hatten wir praktisch einen Dauerparkplatz vor der Arztpraxis, aber welche Mutter sorgt sich nicht um ihr Kind?

Ein Haus stürzt selten nach dem ersten Schlag der Abrissbirne ein, und das Gleiche kann man auch von einer Ehe behaupten. Unsere wurde von zwei Dingen zerstört: Geldsorgen und meinem dringenden Wunsch, Noah ständig beschützen zu wollen. Vor zwei Jahren hatten sich die ersten Risse gezeigt, die mit jedem Kontoauszug voller roter Zahlen ein wenig tiefer geworden waren. Die Schulden hatten uns runtergezogen wie ein Mafioso, der uns Schuhe aus Beton verpasste. Sie bedeuteten den Absturz aus einem Leben, in dem wir alles hatten, was wir uns wünschten, und schon bald erkannten wir, dass wir vermutlich irreparabel pleite waren.

»Hattest du ein schönes Wochenende?«, fragte ich Noah, als ich ihn ins Bett brachte und die Spiderman-Bettdecke um ihn herum feststopfte, sodass er wie eine kleine ägyptische Mumie aussah. Ich beugte mich zu ihm hinunter, um seine pfirsichweiche Wange zu küssen, und sog heimlich seinen Duft nach frisch gewaschenem Jungen ein.

»Ja. Wir waren im Kino und dann im Park Fußball spielen, und wir haben ganz viel Pizza und Eis und Donuts gegessen.«

Ich bemühte mich um einen neutralen Gesichtsausdruck, um mir meine Enttäuschung darüber, dass Pete an den Wochenenden mit Noah weiterhin an seinem Homer-Simpson-Speiseplan festhielt, nicht anmerken zu lassen. Daneben nahmen sich meine Versuche, für eine gesunde Ernährung zu sorgen, langweilig aus. Aber so war es nun einmal. Noahs Wochenenden mit Pete waren ein einziger Spaß, voller Aktivitäten, die die Vater-Sohn-Beziehung festigten. Nicht zum ersten Mal bereitete mir diese Erkenntnis Sorgen. Was, wenn Noah mich eines Tages fragte, ob er bei seinem Vater leben konnte? Es schien zwar undenkbar, aber seitdem ich das Scheitern einer Ehe miterlebt hatte, die ich für unzerstörbar gehalten hatte, war im Grunde doch nichts mehr sicher.

Wir hatten so lange auf Noah warten müssen, dass ihn zu verlieren zu meinem schlimmsten Albtraum wurde. Das war der Todesstoß für unsere Ehe, die wir für unsterblich gehalten hatten. Es lag an meinem übertriebenen Bedürfnis, ihn zu beschützen, das manchmal schon an Besessenheit grenzte. Und an meiner Unfähigkeit zu erkennen, dass ich den Menschen, der mir zu helfen versuchte, in die Flucht schlug. Ich war das Problem.

 

In jener Nacht hatte ich wieder den Traum, der immer einen Weg durch die Ritzen in den Mauern fand, die ich um mich errichtet hatte, und mühelos hindurchdrang, sobald sich die Gelegenheit ergab. Er begann immer auf die gleiche Art …

 

Die Sonne brannte mir im Nacken, als ich über den Schotterparkplatz ging. Ich beugte mich vor und zupfte den Sonnenschutz des Buggys zurecht, damit Noah komplett im Schatten saß. Nicht, dass ihm ein Sonnenbrand gedroht hätte. Ich hatte ihn vor unserem Aufbruch ja fast in Lichtschutzfaktor 50 gebadet. Trotzdem, man konnte nicht vorsichtig genug sein.

»Wollen wir für Daddy leckere Früchte pflücken?«, fragte ich meinen zweijährigen Sohn, der munter vor sich hin sang, als wir den Eingang des Obstbauernhofs erreichten. Er lachte mich fröhlich an und nickte, ohne zu wissen, wovon ich überhaupt sprach. Um ehrlich zu sein, wusste ich selbst nicht genau, was mich hier erwartete, denn ich besuchte den Hof, wo man Früchte selbst ernten konnte, zum ersten Mal.

»Kleiner oder großer Korb?«, fragte mich die hübsche junge Verkäuferin mit der leuchtend grünen Schürze und hielt mir zur Entscheidungshilfe beides hin.

»Einen großen, bitte«, sagte ich bestimmt und lächelte zu Noah hinunter. »Da passt mehr rein.«

»In einer Stunde schließen wir«, erinnerte mich die junge Frau. »Achten Sie bitte darauf, bis dahin wieder hier an der Kasse zu sein, damit wir das Obst wiegen und abrechnen können.«

Den Korb beim Verlassen des Ladens vor und zurück schwingend, fühlte ich mich wie eine echte Landfrau und steuerte munter auf die Reihen von Obstbäumen und -sträuchern zu. Da es schon spät war, waren alle anderen Obstpflücker, denen wir begegneten, bereits auf dem Rückweg zum Hofladen oder dem Parkplatz. Ich blickte auf meine Uhr und sah, dass wir spät nach Hause kommen würden, und wollte Pete eine Nachricht schicken. Beim Griff in die Hosentasche fand ich aber nur ein sorgfältig gefaltetes Taschentuch und ein paar Staubfusseln – vom Telefon keine Spur.

»Mist«, murmelte ich und zögerte einen Moment, den Blick Richtung Parkplatz. Ich hatte mein Handy auf den Beifahrersitz gelegt, als ich Noah im Buggy angeschnallt hatte, und nicht daran gedacht, es danach wieder einzustecken. Ich überlegte, ob ich zurückgehen sollte, aber es wäre ein weiter Weg über unwegsames Gelände gewesen, und wir waren schon bei den Erdbeeren angekommen, also beschloss ich, nicht zum Wagen zurückzugehen.

Ich ließ die nächstgelegenen Pflanzen links liegen und lief zu der Reihe ganz hinten, die vermutlich noch nicht allzu abgeerntet war. Die Spätnachmittagssonne war immer noch erstaunlich warm. Obwohl ich die ganze Zeit mit Noah redete, überraschte es mich nicht, als ich bei einem Blick unter den Sonnenschutz des Buggys sah, dass mein Sohn eingeschlummert war.

Beim Pflücken vergaß ich die Zeit und erntete mehr Erdbeeren, als wir würden essen können, es sei denn, ich fing an, gewerbsmäßig Marmelade einzukochen. Schließlich wurde mir der Korb zu schwer und drückte in der Armbeuge. Ich schob Noahs Beine sanft beiseite und stellte den Korb auf die Fußstütze des Buggys. Noah rührte sich nicht, und ich schaute zu ihm hinunter und bestaunte wie so oft seine langen dunklen Wimpern.

Ein Stück weiter entdeckte ich plötzlich eine große Menge reifer Früchte. Ich stellte die Bremsen am Buggy fest, obwohl der Boden hier völlig eben war, und entfernte mich ein paar Schritte, um noch eine letzte Handvoll Beeren zu pflücken.

Zunächst dachte ich, Noah würde kichern. Was sagt das über mich als Mutter aus? Wie konnte ich es mit Gekicher verwechseln, wenn mein Kind nach Luft rang? Immer noch auf Knien, schaute ich zu ihm hinüber. Mein Lächeln gefror mir auf den Lippen, und blankes Entsetzen überkam mich. Irgendetwas stimmte nicht, stimmte ganz und gar nicht.

Noahs Gesicht war voller Flecken. Seine eben noch rosige Haut war jetzt, vor allem um den Mund herum, mit leuchtend roten Quaddeln übersät, und ich konnte fast zusehen, wie seine Augen zuschwollen. In beiden pummeligen Händchen hielt Noah eine rote Erdbeere, die er aus dem Korb genommen hatte. Ihr verhängnisvoller Saft, der ihm über das Kinn auf das weiße T-Shirt lief, erinnerte auf schreckliche Art an Blut. Aber das Schlimmste war sein pfeifendes, gequältes Keuchen.

Ich ließ die frisch gesammelten Erdbeeren fallen, die wie grellrote Granatsplitter in alle Richtungen davonflogen, und hastete zu Noah zurück. Ich zerrte den Korb mit den Beeren von der Fußstütze, aber es war zu spät. Weder Pete noch ich litten an Allergien, und ich hatte noch nie jemanden mit einem anaphylaktischen Schock gesehen, aber ich hatte keine Zweifel, dass es genau das war. Noah, der gerade zum ersten Mal Erdbeeren gekostet hatte, bezahlte den höchstmöglichen Preis für meine Fahrlässigkeit.

Ich kämpfte mit den Riemen des Buggys, versuchte, Noah loszumachen. Jede Sekunde zählte, und ich verlor kostbare Zeit, als ich erfolglos an einer Schließe herumfummelte, die ich sonst gedankenlos mehr als zwanzig Mal am Tag öffnete.

»Alles gut, mein Schatz, alles ist gut. Mummy ist bei dir«, sagte ich geschockt schluchzend, bis es mir endlich gelang, Noah aus dem Buggy zu befreien. Ich zog eine Flasche Wasser aus dem Ablagekorb und schüttete es rasch über Noahs Lippen, die schon doppelt so dick waren wie sonst. Aber erst als ich ihm den Mund öffnete, um den Rest des für ihn giftigen Erdbeersaftes wegzuspülen, wurde mir klar, wie gefährlich die Situation war. Seine Zunge war so angeschwollen, dass sie den gesamten Kindermund ausfüllte und die Luftröhre blockierte.

»Hilfe!«, rief ich über die verlassenen Pflanzreihen hinweg. »Hilft mir denn niemand? Mein Kind erstickt!«

Ich betete, jemand würde antworten oder zu uns gelaufen kommen, vernahm jedoch nur den leisen Ruf eines Vogels und das träge Summen der Honigbienen.

Ich presste Noah fest an mich, ließ den Wagen und meine Handtasche stehen und rannte los.

 

Manchmal endete der Traum an der Stelle, wenn ich die endlosen Reihen mit Obststräuchern entlangrannte und der Hofladen immer quälend weit weg, in unerreichbarer Ferne blieb.

Manchmal schaffte ich es bis zum Laden, nur um an der Tür das »Geschlossen«-Schild zu sehen. In dieser Version des Albtraums hastete ich dann zu meinem Wagen, dem einzigen, der noch auf dem Parkplatz stand, während Noah in meinen Armen nach Luft rang. Dann merkte ich, dass die Türen verschlossen waren und die Autoschlüssel in den Tiefen meiner Handtasche steckten, die außer Reichweite beim Buggy lag. Durch die Windschutzscheibe sah ich, wie mein Handy wegen eines eingehenden Anrufs von Pete blinkte, während Noahs Körper in meinen Armen langsam erschlaffte.

 

Wie so häufig in Träumen ging der Handyton nahtlos ins Weckerklingeln über. Wahrscheinlich bildete ich es mir nur ein, aber der Wecker klang beinahe erbost darüber, dass ich dreimal die Snooze-Taste gedrückt hatte, bevor ich mich endlich aus dem Bett quälte. Das war nicht immer so gewesen, aber in letzter Zeit war mein Schlaf nicht mehr so erholsam. Ich sprang nicht mehr schwungvoll und mit leuchtenden Augen aus dem Bett. Mein Gesicht im Schlafzimmerspiegel erinnerte eher an das eines Bluthunds, der die Nacht durchgemacht hat. Nach einer belebenden Dusche würde ich mich besser fühlen.

»Mum!«, rief Noah empört, als ich verschlafen ins Badezimmer taumelte. Eine hastige Entschuldigung murmelnd, ging ich im Rückwärtsgang wieder hinaus. Es wunderte mich, dass Noah um die Zeit schon wach und unter der Dusche war. Verwirrt schloss ich die Badezimmertür hinter mir. Acht war ein heikles Alter bei Jungs, inzwischen war meine Anwesenheit im Bad nicht mehr erwünscht. Ein erster Vorgeschmack auf jene Phase, vor der es allen Eltern graut – die Pubertät. Ich lächelte gequält. Schon bald würden wir ein ganz bestimmtes Gespräch mit ihm führen müssen, was Pete und mir schrecklich peinlich sein würde. Vielleicht, überlegte ich, war das etwas, das ich besser Pete überlassen sollte. Ich ging zur Treppe, wo der prall gefüllte Wäschekorb stand. Da ich den Großteil des Vortags damit verbracht hatte, meinen Wäscherückstand aufzuholen, konnte ich mir nicht erklären, wieso der Behälter jetzt schon wieder überquoll. Als ich den Deckel anhob, schaute Spiderman mich an.

In meinem Kopf klingelten die Alarmglocken, die ich nicht per Snooze-Taste ausblenden konnte. Verglichen mit anderen Kindern war Noah fantastisch. Er räumte regelmäßig sein Zimmer auf, und ich musste ihn nur einmal darum bitten, die schmutzigen Teller in die Spülmaschine zu räumen. Er dachte sogar daran, die Klobrille wieder herunterzuklappen (wodurch er seinem Vater etwas voraushatte). Aber dass er seine Bettwäsche selbst wechselte, war eine neue, unerwartete Entwicklung. Ich öffnete seine Zimmertür und sah jetzt tatsächlich Robert Downey jr. auf seinem Bett – natürlich nicht persönlich, sondern in seiner Rolle als Iron Man auf dem Bettbezug. Mein Verdacht bestätigte sich, als ich zurück zum Wäschekorb ging und die Bettwäsche herausholte. Noah hatte den Bettbezug um das feuchte Laken gewickelt, und die Vorstellung, wie sehr er sich bemüht hatte, es vor mir zu verheimlichen, versetzte mir einen Stich. Ich schaute über die Schulter zur geschlossenen Badezimmertür. Wenn Noah gleich herauskam, sollte er mich nicht mit dem Beweisstück in der Hand sehen, das er zu verstecken versucht hatte. Das wäre das Letzte, was er in dieser Situation brauchte.

Als er in die Küche trat, saß ich an dem Esstisch aus gebürstetem Kiefernholz, vor mir eine Tasse Kaffee und eine Scheibe Toast, auf die ich keinen Appetit hatte. Als ich Noahs kurzen, nervösen Blick in Richtung Waschmaschine bemerkte, brach es mir ein bisschen das Herz. Man sah den rot und blau gemusterten Bettbezug in einem weiß schäumenden Meer. Noah schwieg, und ich hätte eher ein Dutzend Wurzelkanalbehandlungen über mich ergehen lassen, als ein einziges Wort zu sagen, das ihn in Verlegenheit brachte.

Ich setzte mein strahlendstes Lächeln auf und griff nach der Packung mit den Frühstücksflocken. Er ließ mich nicht aus den Augen, als ich die goldenen Cornflakes in die Schale schüttete. Die Art, wie er nervös auf seiner Unterlippe herumkaute, erinnerte mich an eine verängstigte Wüstenrennmaus – oder als hätte ihn jemand gefragt: »Wie viel ist neun mal sieben?« Bei Letzterem konnte ich ihm helfen, aber das andere … plötzlich fühlte ich mich komplett hilflos. Noah hatte seit fünf Jahren nicht mehr ins Bett gemacht. Während Pete und ich damit beschäftigt gewesen waren, uns zu unserer zivilisierten, respektvollen Trennung zu beglückwünschen, und uns in der Gewissheit gewiegt hatten, dass wir immer noch alle zum Team Vaughan gehörten, hatten wir nicht bemerkt, dass ein Mitglied des Teams in Schwierigkeiten war. Ich brauchte Zeit, um zu überlegen, was ich jetzt tun sollte. Den Vormittag, den ich eigentlich geruhsam hatte angehen wollen, würde ich jetzt am Laptop verbringen, um nach einer Lösung zu googeln.

Noah war noch beim Frühstück, als ich das dünne Lederarmband an seinem schmalen Handgelenk sah. Es fiel mir ins Auge, als er über den Tisch hinweg nach einer zweiten Scheibe Toast griff. Daran, wie er rasch den Ärmel seines weißen Schulhemdes darüberzog, erkannte ich, dass er meine Überraschung bemerkt hatte. Zum zweiten Mal innerhalb einer halben Stunde war ich auf ein Geheimnis meines Sohnes gestoßen. Und dabei hatte ich immer gedacht, er würde mir alles erzählen.

»Was ist denn das?« Der Ton hatte genau das richtige Maß an Neugier.

»Ein Armband«, murmelte er, und ich hätte es dabei belassen können, ja, dabei belassen sollen, nur waren seine Wangen plötzlich feuerrot geworden, so wie früher, als er seine Milchzähne bekommen hatte. Da inzwischen alle Zähne da waren, musste es Schamesröte sein.

»Woher hast du das?«, fragte ich und legte einladend eine Hand mit der Handfläche nach oben auf den Tisch. Noah rutschte kurz auf seinem Stuhl herum, bevor er sein Handgelenk auf meine Hand legte. Es war nur ein unscheinbares Lederarmband, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass sein Vater es ihm gekauft hatte. Wie die meisten Mechaniker trug Pete nicht einmal eine Armbanduhr, und das einzige Schmuckstück, das er je besessen hatte, war sein Ehering. Er trug ihn immer noch, ebenso wie ich. Ich fürchtete mich vor dem Stich, den es mir versetzen würde, wenn ich ihn erstmals ohne den Ring sah.

Schwer vorstellbar also, dass Pete unserem Sohn dieses Ethno-Armband gekauft hatte. Mütter haben, ebenso wie Ehefrauen, eine scharfe Intuition.

»Maya hat es mir am Samstag gekauft. An einem Stand im Park.«

»Aha«, sagte ich, zufrieden mit mir, weil ich in genau dem richtigen Maß freundlich interessiert klang. Maya arbeitete in derselben Autowerkstatt wie Pete, am Empfang. Sie war ein paar Jahre jünger als ich, benutzte zu viel Mascara und trug derart tief ausgeschnittene Tops, dass ihr kaum jemand in die Augen sah. Sie war hübsch, geschieden und schwärmte für meinen Mann, seit sie vor drei Jahren in der Werkstatt angefangen hatte. Pete hatte es erst bemerkt, als ich ihn scherzhaft darauf hingewiesen hatte. Jetzt kam es mir nicht mehr ganz so lustig vor. »Ach so?«, hatte er gefragt und dabei völlig desinteressiert geklungen. »Tja, das ist Pech für sie, denn die einzige Frau, für die ich schwärme, bist …« – dann folgte eine lange Pause, in der er hinter mich ans Spülbecken trat und die Arme um meine Taille schlang – »du«, hatte er mir ins Ohr geflüstert und dann auf die Art meinen Nacken geküsst, bei der mir jedes Mal die Knie weich wurden.