Die Nacht schreibt uns neu - Dani Atkins - E-Book + Hörbuch

Die Nacht schreibt uns neu Hörbuch

Dani Atkins

0,0

Beschreibung

Dani Atkins hat es wieder getan! Sie hat eine Liebesgeschichte geschrieben, die sich fast so spannend wie ein Thriller liest. Und sie hat Figuren geschaffen, die uns schon mit den ersten Sätzen ans Herz wachsen – so sehr, dass Taschentücher unbedingt zur Grundausstattung beim Lesen gehören sollten: Emma macht sich bereit für ihren großen Tag. Die Wimperntusche in ihrer Hand zittert ein wenig, aber ein bisschen Nervosität ist ganz normal, oder? Beim Blick in den Spiegel tasten Emmas Finger automatisch nach der alten Narbe dicht unter ihrem Haaransatz. Das sichtbare Andenken an die Nacht, die ihr Leben verändert hat. Und nicht nur ihres. Emma erinnert sich: an den furchtbaren Unfall auf dem Heimweg von ihrem Junggesellinnenabschied, an den Tod ihrer besten Freundin Amy, an ihren Retter Jack, an Richards liebevolle Reaktion, als sie ihn gebeten hat, die Hochzeit zu verschieben. Und an alles, was danach kam. Schließlich klopft es an der Tür. Jemand ist gekommen, um Emma nach unten zu führen. Wer? Lassen Sie sich überraschen!

Das Hörbuch können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS

Zeit:7 Std. 5 min

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Dani Atkins

Die Nacht schreibt uns neu

Roman

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Emma macht sich bereit für ihren großen Tag. Die Wimperntusche in ihrer Hand zittert ein wenig, aber ein bisschen Nervosität ist ganz normal, oder? Beim Blick in den Spiegel tasten Emmas Finger automatisch nach der alten Narbe dicht unter ihrem Haaransatz. Das sichtbare Andenken an die Nacht, die ihr Leben verändert hat. Und nicht nur ihres. Emma erinnert sich: an den furchtbaren Unfall auf dem Heimweg von ihrem Junggesellinnenabschied, an den Tod ihrer besten Freundin Amy, an ihren Retter Jack, an Richards liebevolle Reaktion, als sie ihn gebeten hat, die Hochzeit zu verschieben. Und an alles, was danach kam. Schließlich klopft es an der Tür. Jemand ist gekommen, um Emma nach unten zu führen.

Inhaltsübersicht

Widmung

Das Ende Erster Teil

Der Anfang

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

Das Ende Zweiter Teil

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

Das Ende Dritter Teil

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

Das Ende Vierter Teil

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

Das Ende Fünfter Teil

18. Kapitel

Das Ende Sechster Teil

Danksagung

Leseprobe »Sechs Tage zwischen dir und mir«

Für Kimberley und Luke, die mich an der Hand gehalten haben.

Und für Ralph, der mein Herz in Händen hält.

Das Ende Erster Teil

Man möchte meinen, der Tag, an dem sich das ganze Leben verändert, müsste sich deutlich von allen anderen abheben. Eigentlich sollten da doch Glocken läuten (na ja, vermutlich würde es später noch dazu kommen), und vielleicht wären auch Blitzschläge angebracht oder ein, zwei Donnerschläge? Ich warf einen Blick durchs Fenster, konnte draußen aber nichts Außergewöhnliches entdecken, mal abgesehen von einem schönen Herbstmorgen und ein paar rotgoldenen Blättern, die ein Windstoß vorbeisegeln ließ wie bernsteinfarbene Konfetti.

Vor lauter innerer Anspannung fühlte mein Magen sich an wie ein Pfannkuchen, der gerade gewendet wurde. Meine Hände zitterten so sehr, dass ich bestimmt nicht in der Lage sein würde, mit den Schminksachen zu hantieren, die vor mir aufgereiht waren wie chirurgisches Besteck in einem Operationssaal. Zaghaft lächelte ich meinem Spiegelbild zu – und fand das, was ich sah, gar nicht so schlecht. Ich zwang mich, tief durchzuatmen und mich zu entspannen. Schon besser. Natürlich war es ganz normal, dass ich mich so fühlte. Ein Gläschen Schnaps hätte vielleicht geholfen, aber ich wollte auf keinen Fall mit einer Alkoholfahne in der Kirche erscheinen. Das war wirklich das Letzte, was ich brauchte – obwohl ich genau wusste, wie sehr ihn das erheitern würde.

»Das wird nicht passieren«, sagte ich zu meinem Spiegelbild.

Während ich mich sorgfältig schminkte, schweifte mein Blick immer wieder zu dem eleganten Kleid, das in einer Schutzhülle an der Schranktür hing. Als ich es entdeckt hatte, war mir sofort klar gewesen, dass kein anderes in Frage kam. Schließlich wollte ich an diesem Tag besonders schön für ihn sein – wobei es ihm nie wichtig war, wie ich aussah … na ja, zumindest nicht in bekleidetem Zustand. Also wirklich, Emma, schalt ich mein Spiegelbild, während vor meinem geistigen Auge eine ganze Reihe äußerst unanständiger und detailgetreuer Bilder vorbeizogen. Das ging jetzt wirklich zu weit!

Ein lautes Klopfen an der Haustür ließ mich erschrocken hochfahren, aber noch ehe ich den Raum halb durchquert hatte, ging unten die Tür auf, und in der Diele wurden Stimmen laut. Das Haus war voller Verwandter und Freunde, von denen einige von weit her angereist waren, um diesen Tag mit mir verbringen zu können, so dass mehr als genug Leute zur Verfügung standen, um den Türdienst zu übernehmen.

War es eigentlich sehr undankbar von mir, dass ich mir wünschte, ich könnte mich in Ruhe fertig machen, ohne von dem Trubel um mich herum abgelenkt zu werden? Nein, bestimmt war das ganz normal.

Ich hörte, wie sich in den Räumen, die an mein Zimmer angrenzten, etliche Familienangehörige fertig machten, und schloss daraus, dass ich inzwischen längst angezogen, geschminkt und frisiert sein sollte. Ob sie wohl ohne mich fuhren, wenn ich mich nicht beeilte? Diese absurde Vorstellung ließ mich kurz auflachen. Neugierig trat ich ans Fenster, um zu sehen, wer eingetroffen war. Ein kleiner weißer Floristen-Lieferwagen parkte vor dem Haus, und die Blumen, die wir bestellt hatten, wurden gerade vorsichtig herausgehoben. Mittlerweile war ich wirklich spät dran – höchste Zeit, mich um meine Frisur zu kümmern und mein Kleid anzuziehen.

Ich hatte lange überlegt, ob ich das Haar an diesem Tag hochgesteckt oder offen tragen sollte. Aber dann musste ich daran denken, wie er immer mit beiden Händen durch die langen rotbraunen Strähnen fuhr und sie wie Schilfgras um seine Finger schlang, um mich näher zu sich heranzuziehen. Also beschloss ich, keinen Schönheitswettbewerb daraus zu machen, sondern sie offen auf meine Schultern fallen zu lassen wie üblich. Bevor ich meinen Seidenmorgenmantel abstreifte, warf ich noch einmal einen Blick in den Spiegel und strich mir dann mit einer abrupten Handbewegung den Pony aus der Stirn, wodurch eine feine, aber dennoch gut sichtbare Narbe zum Vorschein kam, die entlang meines Haaransatzes verlief. Ich ließ einen Finger über die helle, leicht erhabene Spur gleiten und schloss einen Moment die Augen, weil ich daran denken musste, wie diese Narbe dort hingekommen war. Jene Nacht hatte uns alle gezeichnet. Auch wenn ich wahrscheinlich die Einzige war, die ein sichtbares Andenken davongetragen hatte, war für uns alle von diesem Zeitpunkt an nichts mehr so gewesen wie davor. So viele Lebensläufe hatten sich in jener Nacht schlagartig verändert, so viele zukünftige Lebensgeschichten waren umgeschrieben worden …

Als ich mein Haar schließlich wieder in die Stirn fallen ließ, reflektierte der Spiegel für einen Moment das Licht, das sich hell im Stein meines Verlobungsrings brach. Natürlich hatte ich am Abend des Unfalls einen anderen Ring am Finger getragen, doch der war auf dem Grund einer Schlucht gelandet – eine lange Geschichte. Das mit dem Ring war Pech, aber längst kein so großes Pech wie die Tatsache, dass ich mich in einen geheimnisvollen Fremden verliebte. Ich hatte jede Zeitschrift und jedes Buch rund um das Thema Hochzeit gelesen, aber keines davon behandelte dieses besondere Problem: Was macht man, wenn man zwei Wochen vor der Trauung plötzlich feststellt, dass man zwei Männer liebt?

Der Anfang

1

Obwohl der Verdacht nahelag, war die Ursache für den Unfall definitiv nicht der Alkohol, sondern der arme Hirsch. Auf gar keinen Fall war Carolines Fahrweise daran schuld, denn sie hatte als Einzige auf die Daiquiris verzichtet und den ganzen Abend nichts Stärkeres als Limonade angerührt.

Wie die meisten Junggesellinnenabschiede war auch der meine eine eher harmlose Veranstaltung gewesen. Es hatte keine Geschmacklosigkeiten gegeben: keine Stripper und auch keine rauschbedingten Eskapaden, die einem noch nach Monaten ein schlechtes Gewissen verursachten. Mit meinen siebenundzwanzig Jahren fühlte ich mich irgendwie schon ein wenig zu »reif« für die wilden Partynächte, die meine Studententage geprägt hatten. Was aber keineswegs heißen soll, dass wir uns nicht trotzdem alle bestens amüsierten. Zu zehnt hatten wir einen luxuriösen »Frauentag« in einem schicken Wellness-Hotel verbracht und uns anschließend – nach Strich und Faden verwöhnt, massiert und von Kopf bis Fuß mit Feuchtigkeitscreme gesättigt – in die Hotelbar begeben, wo (angeblich) die besten Cocktails diesseits von Manhattan serviert wurden. Ich war noch nie in New York gewesen, aber wenn die Leute dort so feine Sachen tranken, war die Stadt ganz bestimmt eine zukünftige Reise wert.

Wir hatten gerade die erste Runde intus, als Sheila, meine Schwiegermutter in spe, sich erhob. »Ach nein, sag jetzt nicht, dass du schon gehst!«, rief ich enttäuscht.

»Ich muss«, erklärte sie mit einem bedauernden Lächeln. »Der arme Dennis ist schon den ganzen Tag allein. Ich habe mir gerade ein Taxi gerufen. In ein paar Minuten ist es da.«

Lächelnd stand ich auf. »Ich begleite dich hinaus.« Nachdem ich einen kleinen Hindernislauf über diverse Beine und Handtaschen hinter mich gebracht hatte, hakte ich mich bei ihr unter, und wir schlängelten uns durch die Bar in Richtung Foyer. Dabei kamen wir an meiner lieben Freundin Amy vorbei, die gerade auf einem der auf Hochglanz polierten Barhocker thronte – angeblich nur, um die nächste Runde für uns zu bestellen. Ihre Körpersprache und ihr leises, kokettes Lachen weckten in mir jedoch den Verdacht, dass sie von dem gutaussehenden Barmann mehr wollte als bloß eine Runde Daiquiris. Mit seinem lässig ins Gesicht fallenden Haar und den strahlend weißen Zähnen – die wir alle zu sehen bekamen, weil er Amy gerade breit angrinste – hatte er mehr von einem Boygroup-Mitglied als von einem Barkeeper. Fast tat er mir leid. Er wusste es zwar noch nicht, aber er hatte keine Chance zu entkommen.

Nach der schummrig beleuchteten Bar erschien mir das Licht im Foyer richtig grell, und während wir auf die Drehtür zusteuerten, tränten mir ein wenig die Augen, weil sie sich erst wieder an die blendende Helligkeit gewöhnen mussten.

»Danke, dass du heute mit von der Partie warst, Sheila«, sagte ich und meinte es auch so. Anfangs war ich ehrlicherweise überrascht gewesen, dass Richards Mum meine Einladung, uns zu begleiten, tatsächlich angenommen hatte. Wobei sie für mich natürlich schon längst zur Familie gehörte, auch wenn sie erst in Kürze ganz offiziell meine Schwiegermutter werden sollte. Sie und meine Mutter waren seit vielen Jahren befreundet. Dadurch hatten Richard und ich uns überhaupt erst kennengelernt, auch wenn ich mich daran nicht genau erinnern kann, weil wir beide zu dem Zeitpunkt erst zwei Jahre alt waren.

»Das hätte ich um nichts in der Welt verpassen wollen«, entgegnete Sheila, während sie mich in eine mütterliche Umarmung zog. Ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen, als sie mir leise ins Ohr flüsterte, was uns beiden schon den ganzen Tag im Kopf herumging: »Wie schade, dass deine Mum nicht dabei sein konnte.«

Eingehüllt in eine duftende Wolke Chanel Nr. 5, nickte ich nur wortlos, weil ich befürchtete, dass meine Stimme mir den Dienst versagen würde.

Während sie mich aus ihren Armen entließ, drückte sie fest meine Hände. »Es wird alles gut, Emma, du wirst schon sehen.«

Ich sah ihr nach und winkte, als sie in das Taxi stieg, doch als der Wagen losfuhr, erstarb das Lächeln auf meinem Gesicht langsam. Ihre Worte klangen in mir nach. Wie schön hätte ich es gefunden, wenn Mum heute tatsächlich dabei gewesen wäre. Früher hätte sie es bestimmt genossen, sich im Spa-Bereich des Hotels verwöhnen zu lassen, und in der Bar hätte sie dann so getan, als sei sie schockiert über die unanständigen Namen der Cocktails. Wieder begannen meine Augen zu tränen, doch dieses Mal hatte es nichts mit dem grellen Licht zu tun. In dem Moment ging die Tür der Damentoilette auf, und Caroline, meine dritte Musketierin, kam heraus. Als sie mich entdeckte, durchquerte sie mit großen Schritten und besorgter Miene das Foyer.

»Emma, was ist denn los?«

»Nichts, ich habe mich nur gerade von Sheila verabschiedet.«

Ich bedachte Caroline mit einem zugegebenermaßen kläglichen Lächeln und hätte beinahe meine mühsam bewahrte Fassung verloren, als sie mir tröstend den Arm um die Schulter legte. Ich musste ihr nicht erst erklären, warum meine Gefühle mich plötzlich übermannten, sie wusste es auch so – wie es nur beste Freundinnen können, die einen schon ewig kennen.

Sanft lotste sie mich vom Ausgang fort und zu dem Ort, von dem sie gerade kam – dem Zufluchtsort jedes krisengebeutelten weiblichen Wesens: der Damentoilette. Am Eingang zur Bar verharrte sie kurz und wartete, bis Amy zu uns herüberschaute. Mit einer energischen Kopfbewegung und einem Blick in meine Richtung schickte Caroline ihr eine unmissverständliche Botschaft. Für das ungeübte Auge sah es vielleicht aus, als hätte sie nervöse Zuckungen, doch für Amy war die Nachricht so klar, als hätte Caroline mit einem Megafon quer durch den Raum gerufen. Geschmeidig glitt sie von ihrem Hocker und ließ den Barkeeper stehen, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen.

Beide hörten mit dem gebührenden Mitgefühl und Verständnis zu, während ich ihnen erzählte, warum Sheilas Worte mich so mitgenommen hatten. Dann gestatteten sie mir ein paar Tränen des Selbstmitleids, bevor sie wie gut aufeinander eingespielte Boxenstopp-Mechaniker zur Tat schritten: Caroline zog eine Handvoll Papiertaschentücher aus dem Chromspender an der Wand, und Amy wühlte in ihrer Tasche nach Wimperntusche und Puder, damit ich mein ruiniertes Make-up wieder in Ordnung bringen konnte.

Die beiden warteten geduldig, bis ich den Schaden behoben hatte, und schafften es mit ihrem scherzhaften Geplänkel, mich aus der düsteren Stimmung zurückzuholen, in die ich versunken war.

»Geht es wieder?«, fragte Amy und nahm mich kurz, aber fest in den Arm, als ich ihr das Schminktäschchen zurückgab. Ich nickte. Dann wandte ich mich unserem Spiegelbild zu. Meine zwei Freundinnen lächelten mich aus dem Spiegel an und schlangen beide die Arme um meine Taille. Caroline kannte ich schon seit der Grundschule und Amy fast genauso lang. Zwar hatte es eine Phase gegeben, in der wir uns ein wenig aus den Augen verloren, aber da ich nun seit einem Jahr wieder in Hallingford wohnte, hatten wir an unsere alte Freundschaft angeknüpft und fast nahtlos da weitergemacht, wo wir damals aufgehört hatten.

Das Band zwischen uns war etwas Reales, Greifbares, eine goldene und absolut reißfeste Kordel, die uns noch genauso fest zusammenhielt wie in unserer Kindheit. Deswegen hatte ich auch keine Sekunde gezögert, als es um die Wahl meiner Brautjungfern ging. Schließlich übten die zwei schon seit über zwanzig Jahren für diese Rolle.

»Also, sollen wir wieder?«, drängte Amy, sichtlich begierig darauf, in die Bar zurückzukehren.

Mir war klar, dass Caroline der Versuchung nicht widerstehen konnte.

»Du hast es aber schrecklich eilig. Das hat nicht zufällig etwas mit dem heißen Typen zu tun, der die Cocktails mixt, oder?«

Amy lächelte verschmitzt. »Schon möglich. Ich glaube, er macht bald Feierabend.«

Caroline warf einen raschen Blick auf ihre Armbanduhr, ehe sie mit einem Augenzwinkern antwortete: »Ja, das passt. Bestimmt wird er nicht allzu lange aufbleiben wollen … schließlich ist morgen ja ein ganz normaler Schultag.«

»Nein, morgen ist doch Sonntag«, stellte Amy richtig. Erst dann fiel bei ihr der Groschen, und sie verzog das Gesicht zu einem gequälten Lächeln. »Ha, ha, sehr witzig!«

 

Um kurz nach zwölf beschlossen wir aufzubrechen. Ein paar von meinen Gästen hatten eine lange Heimfahrt vor sich, außerdem würde ich sie ja alle schon in zwei Wochen wiedersehen, am Tag meiner Hochzeit. Bei dem Gedanken durchlief mich ein vertrauter Schauer. Zum Teil war es Nervosität, zum Teil Aufregung, zum Teil … etwas anderes.

Als wir auf den Hotelparkplatz traten, hinaus in die kalte Märzluft, schauderte ich erneut. Ich schlang die Arme um den Oberkörper, um mich vor dem beißenden Wind zu schützen, der mit grimmiger Entschlossenheit durch den dünnen Stoff meines ärmellosen Kleides fuhr.

Caroline sprang in ihren Wagen und ließ den Motor an, während ich mich mit überschwenglichen Umarmungen von meinen Freundinnen verabschiedete, die den Tag mit mir verbracht hatten. Sie waren eine ausgewählte Mischung, gehörten zu lange vergangenen Schulzeiten, Studententagen und beruflichen Stationen, und auch wenn die meisten von ihnen sich zu Beginn des Tages nicht gekannt hatten, beendeten sie ihn nun als allerbeste Freundinnen. Oder war das womöglich nur das Werk der Cocktails?

Als die letzten wartenden Taxis oder gutmütigen Ehemänner alle meine Freundinnen eingesammelt hatten, eilte ich leichtfüßig zu Caroline hinüber, deren Wagen mit laufendem Motor auf mich wartete. Ich sah, dass Amy sich bereits zu ihr gesellt und den Beifahrersitz beschlagnahmt hatte. Als ich die Hintertür öffnete und dankbar in den warmen, gemütlichen Innenraum des Wagens glitt, drehte sie sich zu mir um.

»Du wolltest doch nicht vorn sitzen, oder?«, fragte sie mit dem für sie typischen unschuldsvollen Charme.

Ich blickte auf den kleinen Spalt hinunter, den Carolines Sitz hier hinten für meine Beine ließ. Ich bin zwar nicht riesig, aber doch mindestens fünfzehn Zentimeter größer als Amy.

»Ich fürchte nämlich, mir könnte schlecht werden, wenn ich hinten sitze«, fuhr Amy fort.

»Wohl eher von den Daiquiris«, stellte Caroline richtig. Während sie die Innenbeleuchtung ausschaltete und sich anschnallte, bedachte sie uns beide mit einem verständnisvollen Grinsen. »Wer mir in den Wagen kotzt, zahlt dreißig Pfund Aufpreis.«

»Fahr endlich los«, befahl Amy, ehe sie sich erneut zu mir umdrehte und mit einem vertraulichen, aber gut hörbaren Bühnenflüstern zuraunte: »Sie ist unausstehlich, wenn sie nichts getrunken hat.«

Vor uns lag eine Fahrt von rund fünfundvierzig Minuten, zurück in die kleine Stadt, in der ich aufgewachsen war – die Stadt, aus der ich nur allzu gern geflüchtet war, um zu studieren, und wohin ich eigentlich nicht mehr zurückkehren wollte, nachdem ich in London meine erste Arbeitsstelle gefunden hatte. Trotzdem war mir vor nunmehr zwölf Monaten nichts anderes übriggeblieben, als doch zurückzukehren.

Auf den Landstraßen war fast nichts los. Ich empfand das nach wie vor als krassen Unterschied zu dem dichten Verkehr, der ununterbrochen an meiner kleinen Londoner Wohnung vorbeigerauscht war, und zwar bei jeder Tages- und Nachtzeit. Trotz der Tatsache, dass ich auf dem Land geboren und aufgewachsen war, liebte ich das Leben in der Stadt.

Schon am frühen Abend hatte es leicht geregnet, und im Scheinwerferlicht sah ich den schwarzen Asphalt verdächtig schimmern. Offenbar begannen die Straßen zu überfrieren. Obwohl wir bereits Anfang März hatten, war es noch recht winterlich. Ich hoffte sehr, dass es bis zur Hochzeit wärmer wurde, denn sonst würde ich unter meinem trägerlosen Brautkleid Skiunterwäsche tragen müssen.

Vorn diskutierten Amy und Caroline gerade darüber, ob es eine gute Idee von Amy gewesen war, dem Barkeeper ihre Telefonnummer zu geben. Welche von beiden es für eine Schnapsidee hielt, war unschwer zu erraten. Caroline lebte mit ihrem Partner Nick schon … nun, schon eine ganze Ewigkeit zusammen und äußerte sich manchmal recht kritisch über Amys wesentlich abenteuerlicheres Liebesleben. Meine Beziehung mit Richard war viel eher nach Carolines Geschmack: eine Sandkastenliebe, nach jahrelanger Trennung wieder glücklich vereint und bereit für den Traualtar. Wie in einem Roman, fand sie.

»Ein Mann – nein, ein Junge –, der dir den ganzen Abend nur ins Dekolleté starrt, hat deine Nummer nicht verdient«, lautete Carolines vernichtendes Urteil.

Ich kicherte, musste jedoch zugeben, dass der Bartyp tatsächlich die meiste Zeit mit Amys Busen geredet hatte, statt ihr ins Gesicht zu sehen, wenn er mit ihr sprach.

»Mir ist schlecht«, erklärte Amy in leisem, schuldbewusstem Ton.

»Vor Scham?«, neckte ich sie.

Statt einer Antwort gab Amy ein gepresstes, würgendes Geräusch von sich.

Caroline warf einen raschen Seitenblick zu ihrer Beifahrerin hinüber. Obwohl es im Wagen ziemlich dunkel war, weil es hier keine Straßenbeleuchtung gab, war dennoch offensichtlich, dass sich Carolines scherzhaft gemeinte Vorhersage bewahrheitet hatte.

»Lieber Himmel, Amy, halte noch einen Moment durch, ich bleibe gleich stehen. Hier ist die Straße zu schmal.«

»Geht nicht!«, stieß Amy mit einem unheilvollen Gurgeln aus.

»Vor dir auf dem Boden liegt eine Plastiktüte«, antwortete Caroline.

Das war der letzte normale Moment, den wir drei miteinander erlebten.

Danach ging alles sehr schnell und gleichzeitig sehr langsam. Bevor wir reagieren konnten, hatte Amy ihren Sicherheitsgurt gelöst, um an die Tüte heranzukommen. Caroline, deren Aufmerksamkeit zum Teil auf die Straße, zum Teil auf die würgende Amy gerichtet war, bog um eine scharfe Kurve. Plötzlich stand er direkt vor uns, mitten auf der Straße, angestrahlt von zwei grellen Scheinwerfern. Ein großer Hirsch.

Eine von uns dreien – möglicherweise ich – stieß einen lauten Fluch aus, doch das Geräusch wurde übertönt vom Quietschen der Reifen, als Caroline voll auf die Bremse trat und gleichzeitig ruckartig das Lenkrad herumriss, um dem Tier auszuweichen, das immer noch wie angewurzelt auf der Straße stand, als hätte es alle Zeit der Welt, um das Weite zu suchen. Vielleicht empfinden Tiere das genauso wie wir – jene letzten Augenblicke vor einem Unfall, in denen es einem vorkommt, als bliebe einem noch endlos viel Zeit, um zu sehen, was genau passiert, und darüber nachzudenken, ob man etwas tun soll oder nicht, während man gleichzeitig trotzdem auf den Aufprall wartet. So jedenfalls kam es mir vor.

Ich sah, wie Amy sich aufrichtete und dabei ein Gesicht machte, als empfände sie schlagartig eine völlig andere Art von Übelkeit. Ich sah das Tier direkt vor uns immer größer werden, bis es plötzlich aus meinem Blickfeld verschwand, abgelöst von der steil ansteigenden, grasbewachsenen Böschung, die eine Seite der Straße säumte – und auf die wir nun viel zu schnell zurasten.

In dem Moment, als wir sie rammten, endete die Zeitlupe, und alles ging wieder ganz schnell. Der Wagen wurde durch den Aufprall mit voller Wucht in die Gegenrichtung geschleudert, und obwohl Caroline verzweifelt versuchte, das Fahrzeug wieder unter Kontrolle zu bekommen, ließ sich das Unheil nicht mehr aufhalten. Ich spürte, wie der Gurt in meinen Körper schnitt, als ich nach vorn und anschließend nach hinten geschleudert wurde. Ich hörte den explosionsartigen Knall, mit dem der Airbag aufging. Seine pilzartige Form versperrte mir plötzlich die Sicht. Doch Carolines Wagen war ein älteres Modell und daher nur auf der Fahrerseite mit diesem Schutz ausgestattet. Irgendwann während der paar Sekunden des Aufpralls, in denen ich vor Schreck die Augen fest zusammenkniff, passierte es. Als ich sie wieder aufschlug, war Amy nicht mehr da.

Doch es war noch immer nicht vorbei. Wie in einem Alptraum, aus dem man einfach nicht aufwacht, spürte ich, dass sich der Wagen überschlug. Eben hatte sich die Straße noch unter unseren Reifen befunden, doch schon im nächsten Moment schoss der Wagen wie ein Torpedo auf dem Dach dahin und schleuderte dann in einer Wolke aus orange leuchtenden Funken quer über die Straße. Ohrenbetäubend laut kratzte das Metall über den Asphalt. Das schreckliche Geräusch hörte erst auf, als der Wagen schließlich die eisige Straßenoberfläche hinter sich ließ und rückwärts mit dem Heck voraus in den tiefen Graben auf der anderen Straßenseite donnerte.

 

Ich spürte einen heftigen, brennenden Schmerz, als ich mit der Schläfe gegen ein scharfkantiges Metallstück knallte, das einmal Teil des Daches gewesen war. Ich war bei Bewusstsein und erkannte, dass der Wagen um uns herum wie eine alte Blechbüchse zusammengedrückt war, aus der ein Riese getrunken hatte. Wir waren derart in den Graben verkeilt, dass ich zu beiden Seiten nur dicke Wände aus Erde und verdrehten Wurzeln sehen konnte. Im Grunde war es schwierig, überhaupt etwas zu sehen, denn die einzige Lichtquelle war ein Scheinwerfer, der wie durch ein Wunder noch funktionierte, jedoch aufgrund des Winkels, in dem der Wagen feststeckte, in den blauschwarzen Himmel hinaufleuchtete. Sein Strahl schnitt in die Dunkelheit wie ein Lichtschwert.

Vor mir auf dem Fahrersitz, der nach hinten gekippt war und meine Beine einklemmte, hörte ich Caroline keuchen und weinen. Ich versuchte, die Hand nach ihr auszustrecken, doch der Fahrersitz hinderte mich daran. Ich konnte mich kaum bewegen. »Caro? Ist mit dir alles in Ordnung? Bist du verletzt?«

Sie weinte weiter und stieß dann ein langgezogenes Stöhnen aus, das ich im ersten Moment für das Heulen eines Tiers hielt. War der Hirsch auch hier unten im Graben? Hatten wir ihn am Ende doch noch gerammt? Dann hörte ich die keuchenden Atemgeräusche zwischen den Stöhnlauten und begriff, dass es sich um die Stimme meiner Freundin handelte – oder jedenfalls etwas, das mich an ihre Stimme erinnerte.

»Was ist passiert? Wo bist du?«

»Ich bin direkt hinter dir, Caroline, auf dem Rücksitz. Bist du verletzt?«

Meine Frage schien sie zu verblüffen. »Verletzt? Nein. Wieso? Was ist passiert?«

Obwohl ich keine Rettungssanitäterin war, wusste ich, dass sie eindeutige Anzeichen von Schock zeigte.

»Wir hatten einen Unfall, Caro«, erklärte ich, selbst erstaunt, wie ruhig und beherrscht meine Stimme klang.

»Auf der Straße war ein Tier, und wir … wir sind gegen die Böschung geknallt.«

»Wir sind gegen die Böschung geknallt?«

Ich ließ mir einen Moment Zeit. Ich wusste nicht recht, was ich sagen sollte, weil ich das Gefühl hatte, dass sie kurz davor war, hysterisch zu werden. Trotzdem musste ich sie etwas wirklich, wirklich Wichtiges fragen.

»Caroline … Kannst du Amy sehen? Ist sie neben dir?« Ich konnte mehr spüren als sehen, wie Caroline sich auf ihrem Sitz bewegte und dann zum Beifahrersitz hinüberkroch, als müsste sie sich eine zusätzliche Bestätigung für das holen, was ihre Augen ihr sagten. Caroline konnte sich noch bewegen und war vermutlich nicht allzu schwer verletzt – das war aber auch das einzig Gute..

»Sie ist nicht da! Sie ist nicht mehr da! Wo ist sie hin?« Plötzlich tauchte Carolines Gesicht in der kleinen Lücke zwischen den beiden Kopfstützen auf. Hektisch ließ sie den Blick hin und her wandern, in der Hoffnung, Amy irgendwo auf dem Rücksitz zu entdecken. »Ist sie hinten bei dir?«

Ich biss mir auf die Lippe und schluckte hörbar, bevor ich antwortete und dabei krampfhaft versuchte, nicht an Caroline vorbei auf das Loch zu starren, das in der zerschmetterten Windschutzscheibe klaffte und am Rand von etwas Dunklem umgeben zu sein schien.

»Ich glaube, sie wurde nach draußen geschleudert, Caro. Sie hatte kurz vor dem Aufprall ihren Gurt gelöst …«

»Dann ist ihr also nichts passiert? Sie war nicht im Wagen, als wir den Unfall hatten, also ist ihr nichts passiert, oder?«

Es war, als spräche ich mit einer Fünfjährigen. Lag das am Schock, oder hatte Caroline eine Kopfverletzung? Ich betrachtete die Windschutzscheibe beziehungsweise das, was von ihr übrig war. Durch den Unfall hatte sie sich trichterförmig nach außen gewölbt.

»Caroline, du musst aus dem Wagen klettern und nach Amy suchen.«

»Nein«, widersprach Caroline und unterstrich ihre Worte durch Kopfschütteln. »Das kann ich nicht. Das wäre auch nicht richtig. Man soll sich nach einem Unfall nicht bewegen.«

Wie um alles in der Welt war ihr ausgerechnet diese kleine Information im Gedächtnis haftengeblieben, während sich doch offenbar der gesamte Rest ihres gesunden Menschenverstands vorübergehend verflüchtigt hatte?

»Ich weiß. Aber du hast dich sowieso schon ein bisschen bewegt, und Amy ist verletzt. Sie ist aus dem Wagen gefl…« In Anbetracht von Carolines momentanem Geisteszustand hielt mich irgendetwas davon ab, ihr die Situation allzu anschaulich zu schildern. »Sie ist nicht mehr im Wagen. Deswegen musst du sie finden und nachsehen, ob es ihr gutgeht. Kannst du das tun?«

Caroline sah mich an. Aus ihrem Gesicht sprach pures Entsetzen. Ich hatte ebenfalls eine wahnsinnige Angst, und zwar nicht nur wegen des Schrecklichen, das wir gerade durchlebt hatten, sondern auch vor dem, was Caroline womöglich auf der Straße erwartete.

»Du kommst doch mit, oder? Wir suchen gemeinsam nach ihr.«

Demnach hatte sie noch nicht registriert oder einfach nicht begriffen, dass durch den ramponierten Fahrersitz meine Beine eingeklemmt waren und ich im Wagen festsaß.

»Ich kann nicht raus«, erklärte ich. Obwohl ich eigentlich fand, dass ich sehr tapfer war, wurde mir plötzlich bewusst, dass mir schon die ganze Zeit, während ich mit ihr sprach, Tränen übers Gesicht liefen. Jetzt klang auch meine Stimme weinerlich, als ich hinzufügte: »Ich stecke hier hinten fest, deswegen musst du es machen. Du musst Amy finden und Hilfe holen. Bitte, Caroline.«

In meiner Verzweiflung gelang es mir irgendwie, durch den Nebel zu dringen, der sie seit unserem Unfall umhüllte. Sie nickte mit dem Eifer eines Kindes. Mein Blick wanderte zu den vorderen Wagentüren. Wie die hinteren waren sie fest in den Graben verkeilt. Es gab nur eine einzige Möglichkeit, den Wagen zu verlassen. »Du musst durch die Windschutzscheibe steigen und die Motorhaube hinaufklettern, bis du das Gras am Rand des Grabens zu fassen bekommst. Schaffst du das?«

Caroline war unsere einzige Hoffnung. Wortlos wandte sie sich von mir ab und starrte einen Augenblick auf das Loch in der Windschutzscheibe, ehe sie die Hände auf das Armaturenbrett stemmte.

»Warte!«, befahl ich und tastete auf dem ramponierten Rücksitz nach der Jacke, die Amy beim Einsteigen nach hinten geworfen hatte. »Leg das über den unteren Teil des Lochs, bevor du durchkriechst, sonst schneidest du dich.« Genau wie Amy, fügte eine schreckliche Stimme in meinem Inneren hinzu. Nein! So durfte ich nicht denken. Ich durfte mich nicht von meiner Panik übermannen lassen.

Caroline schaffte es tatsächlich, aus dem Wagen zu kriechen und mit erstaunlicher Geschmeidigkeit die Motorhaube hinaufzuklettern. Ohne ein weiteres Wort tat sie alles, was ich von ihr verlangt hatte, und hangelte sich hinüber zum Rand des Grabens, indem sie sich an einer freiliegenden Baumwurzel festhielt. Einen Moment später war sie verschwunden.

Das Warten erschien mir endlos. Das Licht des Scheinwerfers half Caroline nicht, es beleuchtete nur den Himmel, und der Mond war von dicken Wolken verdeckt. Auf der Straße war es stockdunkel, und Amy konnte überall liegen. Womöglich marschierte Caroline ganz knapp an ihr vorbei, ohne es zu merken. Ich hörte sie Amys Namen rufen. Je weiter sie sich vom Wagen wegbewegte, umso schwächer wurde ihre Stimme. Amy war bewusstlos, sagte ich mir. Amy konnte nicht antworten, weil sie bewusstlos war. Ein anderer Grund für die ausbleibende Reaktion war undenkbar.

Während die Sekunden verstrichen, versuchte ich erneut, mich zu befreien, indem ich beide Hände gegen die Rückseite der Sitzlehne stemmte und alle meine Kraftreserven mobilisierte, um sie wegzudrücken. Doch es hatte keinen Sinn, der Sitz gab keinen Zentimeter nach. Ich bekam meine Beine einfach nicht frei. Von der Anstrengung wurde mir schlecht, und meine Kopfwunde, die ich bisher ignoriert hatte, begann so heftig zu bluten, dass mir das Blut über die Stirn und in die Augen lief.

Mittlerweile hatte ich Carolines Stimme schon ein, zwei Minuten nicht mehr gehört.

»Caroline, ist mit dir alles in Ordnung? Hast du sie gefunden?«, rief ich, bekam jedoch keine Antwort.

In der nächsten Sekunde durchbrach ein entsetzlicher Schrei die Stille der Nacht. Er bestand aus zwei Silben – zwei schrillen Silben eines Namens.

Caroline hatte Amy gefunden.

 

Ich weiß nicht, was wir getan hätten, wenn er nicht genau in dem Moment aufgetaucht wäre. Ich hatte nicht mitbekommen, dass sich ein Wagen näherte, doch schlagartig war die Nacht erfüllt von Geräuschen: Carolines Schrei, gefolgt vom langgezogenen Kreischen von Autobremsen. Ich versuchte, mir vorzustellen, was auf der Straße gerade passierte. Vor meinem geistigen Auge sah ich Caroline neben Amys ausgestrecktem Körper knien und dann beide wie Kaninchen in die Scheinwerfer starren, während ein Auto um die Kurve bog und in der Dunkelheit direkt in sie hineinraste.

Gott sei Dank lief es nicht so ab.

Ich lauschte angestrengt. Eine Wagentür ging auf, und eine tiefe Stimme sprach rasch ein paar Worte, die ich genauso wenig verstand wie Carolines Antwort. Wenigstens war jetzt noch jemand anderes da, der uns helfen konnte. Während ich mich weiter bemühte, möglichst viel von dem mitzubekommen, was oben auf der Straße vor sich ging, lenkte mich ein ausgesprochen irritierendes Geräusch ab, das aus dem vorderen Teil des Wagens kam. Genau genommen war es schon seit ein paar Minuten zu hören, drang aber erst jetzt richtig in mein Bewusstsein. Es handelte sich um eine Art Knistern, das in unregelmäßigen Abständen ein- und aussetzte. Ich lehnte mich so weit zur Seite, wie es meine eingeklemmten Beine zuließen, und wartete, bis es wieder anfing. Schon nach wenigen Sekunden war es so weit. Ich sah einen Moment lang etwas aufleuchten, ein kurzes gelbliches Flackern hinter dem geborstenen Armaturenbrett. Gebannt starrte ich darauf, als handelte es sich um eine bissbereit zusammengerollte Kobra.

Das Knistern setzte erneut ein. Es klang ein bisschen so, als würde jemand Chips zwischen den Zähnen zermalmen. Wieder wurde es vom Flackern eines Funkens begleitet, der jedoch um einiges heller wirkte als der vorherige.

Ich konnte nur hoffen, dass die Person, die oben angehalten hatte, telefonisch Hilfe anforderte, denn mein eigenes Telefon lag zusammen mit dem von Caroline in unseren Handtaschen im Kofferraum. Und das von Amy … nun ja, Amy würde womöglich eine Weile nicht in der Lage sein, uns zu sagen, wo ihr Handy war. Wenn überhaupt.

»Nein!«, rief ich der teuflischen Stimme zu.

Genau in dem Moment tauchte in meinem Blickfeld ein Gesicht auf. Jemand spähte vom Rand der Böschung zu mir herunter.

»Hallo?« Die Stimme gehörte zu einem Mann, den ich spontan auf Mitte dreißig schätzte, einem Mann mit dunklem, welligem Haar und einem Gesicht, dessen gelassener Ausdruck gar nicht zu unserer Notlage zu passen schien. Er musste zwangsläufig besorgt und beunruhigt sein, nachdem er sich plötzlich mit drei verletzten Unfallopfern konfrontiert sah, ließ sich das aber kein bisschen anmerken – weder am Ton seiner Stimme noch an dem freundlichen Lächeln, das er zur Schau trug, während er rasch den Blick über den Wagen und mich schweifen ließ, um sich ein Bild von der Lage zu machen.

»Hallo«, antwortete ich.

Er hob die Hand, woraufhin der grelle Lichtstrahl einer Taschenlampe durch das Wageninnere glitt und dann an mir hängenblieb. Von meinem Kopf wanderte er hinunter zu meinen eingeklemmten Beinen. Beim Anblick meiner blutenden Kopfwunde hatte der Mann ein wenig die Stirn gerunzelt, und er runzelte sie noch mehr, als er meine Beine sah.

»Sie sind verletzt.« Das war eine Feststellung, keine Frage.

Ich fasste mir an die Stirn, während ich verneinend den Kopf schüttelte. »Das ist nur ein Kratzer. Wie geht es meinen Freundinnen? Haben Sie einen Krankenwagen gerufen? Eine von beiden ist durch die Windschutzscheibe geflogen. Was ist mit ihr? Geht es ihr gut? Und Caroline … ich glaube, sie steht unter Schock.«

»Es geht ihnen gut«, beruhigte er mich.

Obwohl mir klar war, dass er log, hakte ich nicht nach.

»Hilfe ist unterwegs«, fuhr er fort, »der Krankenwagen kommt bestimmt bald, und Ihre Freundin … Caroline … kümmert sich um die andere.«

»Amy«, informierte ich ihn. Ich wusste genau, dass Caroline im Moment nicht in der Lage war, sich um jemanden zu kümmern. Warum war er nicht auf der Straße und half Amy? »Bitte, gehen Sie zurück und kümmern Sie sich um die beiden«, drängte ich, während er die steile Böschung und die Lage des Wagens genauer in Augenschein nahm. Ich begriff, was er vorhatte. »Ich komme hier schon klar, bis weitere Hilfe eintrifft.«

Er lächelte mich für einen Moment an, ehe er sich vom Rand der Böschung schwang und leichtfüßig auf der Motorhaube landete. Trotzdem gab das ramponierte Metall unter seinem Gewicht ein lautes Ächzen von sich. Obwohl es aus meinem Blickwinkel schwer einzuschätzen war, schien der Mann recht groß zu sein, wahrscheinlich über eins achtzig, und kräftig gebaut.

»Das glaube ich nicht. Meiner Meinung nach sollten wir versuchen, Sie möglichst schnell hier rauszubekommen. Ich heiße übrigens Jack«, erklärte er.

Erst jetzt registrierte ich das weiche Rollen eines amerikanischen Akzents.

»Emma«, antwortete ich automatisch, und aus irgendeinem unerfindlichen Grund fügte ich hinzu: »Ich heirate in zwei Wochen.«

»Glückwunsch«, sagte er, während er sich Amys Jacke als Schutz um die Hände schlang.

»Wir haben meinen Junggesellinnenabschied gefeiert.«

Er quittierte meine Worte mit einem kleinen Nicken. Seine ganze Aufmerksamkeit galt jetzt der Windschutzscheibe. »Legen Sie die Hände über die Augen.«

Ich starrte ihn fragend an. Vielleicht war Caroline ja nicht die Einzige, die unter Schock stand.

»Ich muss das restliche Glas herausschlagen, damit ich einsteigen und Ihnen helfen kann.«

»Das ist zwecklos, meine Beine sind hinter dem Fahrersitz eingeklemmt. Ich habe es schon versucht, aber ich komme nicht raus.«

In dem Moment wurde das ganze Armaturenbrett von einem großen Funken erleuchtet, der aus der beschädigten Elektronik des Wagens kam. Erneut runzelte Jack die Stirn.

»Lassen Sie es uns trotzdem noch einmal versuchen, ja? Und jetzt bedecken Sie bitte Ihre Augen.«

Ich tat, was er sagte, und dann hörte ich mehrere laute Schläge, begleitet von ein, zwei Grunzlauten. Plötzlich regneten die Splitter der geborstenen Windschutzscheibe auf mich herab. Eine blieb sogar in der blutigen Wunde an meiner Stirn stecken. Ich wollte sie herausziehen, doch ein warnender Schrei ließ mich mitten in der Bewegung innehalten.

»Nicht anfassen! Schütteln Sie nur den Kopf!«

Wieder tat ich, was er sagte. Die meisten der Scherben fielen zu Boden.

Er bedachte mich erneut mit einem Lächeln. »Ich kann doch nicht zulassen, dass Sie sich Ihr hübsches Gesicht ruinieren. Denken Sie an die Hochzeitsfotos«, sagte er, während er durch den Rahmen stieg, der vorher die Windschutzscheibe gehalten hatte. Sobald er sich im Wagen befand, änderte sich sein Verhalten. Auf den Fahrersitz gekauert, erstarrte er und atmete laut hörbar ein. Ich begriff nicht, was ihm Sorgen bereitete, bis ich ebenfalls tief einatmete. Benzin. Es roch richtig stark nach Benzin. Warum hatte ich das bisher nicht gemerkt? Aus dem Armaturenbrett drang wieder dieses Knistern. Das Geräusch ließ uns beide erschrocken in die entsprechende Richtung starren. Dann sahen wir uns einen Moment lang an.

»Machen wir, dass wir hier rauskommen«, sagte er.

Ich schüttelte zornig den Kopf. »Bringen Sie sich in Sicherheit! Sie können mir nicht helfen, und wenn sich das Zeug entzündet …«

Als hätte ich nichts gesagt, griff er mit einer Hand nach dem Hebel, mit dem sich der Beifahrersitz zurückklappen ließ, und schob ihn nach hinten, so weit es ging. Einen Moment später lehnte er neben mir auf den ramponierten Resten des Rücksitzes. Er war ein großer Kerl und schien den ganzen Raum einzunehmen. Sein Gesicht war nur Zentimeter von meinem entfernt.

»Hallo«, sagte er grinsend, als befänden wir uns nicht mitten in einer lebensbedrohlichen Situation.

Ich packte fest seinen Arm. »Sie müssen hier raus. Sofort!«

Er schüttelte nur den Kopf, als hätte ich etwas total Albernes von mir gegeben. »Erst Sie, dann ich.«

Wer war dieser fremde Amerikaner, der sein Leben riskierte, um meins zu retten?

»Jetzt sagen Sie mir mal«, fuhr er in einem Ton fort, der so lässig klang, als säße er plaudernd beim Abendessen, »ob Ihnen abgesehen von der Kopfverletzung sonst noch etwas weh tut. Können Sie Ihre Beine spüren und die Füße richtig bewegen?«

Ich ließ die Knöchel kreisen, so gut es ging, und verzog vor Schmerz ein wenig das Gesicht. »Keine größeren Schäden. Alles in Ordnung«, meldete ich.

Das brachte mir ein weiteres Lächeln ein.

»Dann können wir uns jetzt den Sitz vornehmen?«, fragte Jack, der sich sogleich vorbeugte, um das Problem näher in Augenschein zu nehmen, wobei er an mehreren Stellen versuchsweise gegen die Lehne drückte. Anschließend probierte er es ein paarmal mit mehr Kraft.

»Es tut mir leid, aber ich fürchte, jetzt muss ich Ihnen ein bisschen zu nahe treten.«

Mit diesen Worten legte er beide Hände auf meine Beine und ließ die Finger so weit nach unten gleiten, bis er schließlich dorthin gelangte, wo meine Gliedmaßen unter dem Sitz verschwanden.

»Ich entschuldige mich dafür in aller Form«, erklärte er erneut, während er sich langsam wieder aufrichtete. »Ich weiß ja, wie wichtig euch Briten eure Privatsphäre ist.«

Wie konnte er in einer solchen Situation nur so locker bleiben?

Im vorderen Teil des Wagens war auf einmal ein kleines, gepresst klingendes Puffen zu hören, gefolgt von einem schmalen weißen Rauchfaden, der sich aus einer der Lüftungsklappen schlängelte. Jack sah mich an. Jeglicher Schalk war aus seinem Gesicht gewichen, und zum ersten Mal wirkte er richtig beunruhigt.

»Bitte verlassen Sie den Wagen.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich glaube, dass ich es schaffe, den Sitz so weit nach vorn zu schieben, dass Sie Ihre Beine herausziehen können.«

Der ganze hintere Teil des Wagens schien zu vibrieren, so sehr legte er sich ins Zeug. Plötzlich wurde das leise Stöhnen, das Jack vor lauter Anstrengung von sich gab, von einem dumpfen, reißenden Geräusch unterbrochen, und gleichzeitig verschwand sein linker Arm durch ein klaffendes Loch im Material der Rückenlehne.

»Mist! Das hat jetzt aber scheißweh getan!«, rief er. »Entschuldigen Sie meine Ausdruckweise«, fügte er absurderweise hinzu. Als er den Arm wieder herauszog, war er voller Blut. An der Innenseite des Unterarms verlief ein langer, tiefer Schnitt.

Nun reichte es mir endgültig. »Um Gottes willen, geben Sie endlich auf! Jetzt sind Sie verletzt.«

Er blickte auf seinen blutenden Arm. »Was? Sie meinen diesen Kratzer? Da habe ich mich beim Rasieren schon schlimmer geschnitten.«

»Sie rasieren sich die Arme?« Meine Frage brachte ihn zum Grinsen. »Jack, bitte«, fuhr ich in flehendem Ton fort. »Die Feuerwehr ist bestimmt schon unterwegs. Die haben die richtige Ausrüstung, um mich hier rauszuschneiden.«

»Das wollen wir doch hoffen«, meinte er.

»Wie auch immer, ich halte es auf jeden Fall noch aus, bis die kommen. Solange das Benzin nicht in den Wagen läuft und sich entzündet, kann mir ja nichts passieren.«

Er musterte mich so eindringlich, dass ich mich fragte, ob ich beim Chemieunterricht in der Schule vielleicht doch besser hätte aufpassen sollen. »Was ist? Stimmt das etwa nicht?«

»Nicht nur das Benzin kann sich entzünden, Emma. Es reichen schon die Dämpfe.«

Deutlicher brauchte er nicht zu werden. Der ganze Wagen war voll von diesen Dämpfen, sie wurden mit jeder Minute dichter.

Ich nickte zu dem Sitz hinunter. »Versuchen Sie es noch einmal.«

Er drehte sich ein wenig herum und stemmte den Rücken gegen die Seite des Wagens.

Jeder x-beliebige Mensch hätte der Fahrer des Wagens sein können, der zu unserer Rettung anhielt. Es hätte eine Frau sein können, ein alter Mann oder einfach ein Feigling. Ich bin in alle Ewigkeit dankbar, dass es sich stattdessen um einen großen, athletischen Kerl mit einem seltsam überentwickelten Heldenkomplex handelte. Ich wusste, dass es funktionieren würde, noch ehe sich der Sitz zu bewegen begann. Mir war einfach klar, dass diese stählerne Entschlossenheit zum Erfolg führen musste. Etwas anderes kam für ihn nicht in Frage.

Der Sitz gab nicht viel nach, aber schon beim ersten entrüsteten Ächzen des Metalls machte ich mich bereit. Als ich dann schließlich eine winzige Bewegung spürte und der Druck ein klein wenig nachließ, riss ich die Beine hoch und war plötzlich frei. Erstaunlicherweise waren meine Beine mehr oder weniger unversehrt, mal abgesehen von ein paar Schnitten und heftigen Blutergüssen von der Sorte, die später so oft die Farbe wechseln, dass man es am Ende fotografisch dokumentiert.

Fast hatte es den Anschein, als wüsste der nach meinem Blut gierende Wagen, dass ich im Begriff war zu entkommen, denn aus sämtlichen Lüftungsklappen des Armaturenbretts schossen plötzlich Funken. Das kleinste und tödlichste Feuerwerk der Welt hatte begonnen.

»Los!«, drängte Jack, während er mich am Oberarm packte und über den zurückgeklappten Beifahrersitz in den vorderen Teil des Wagens verfrachtete.

Ich kletterte durch den leeren Rahmen der Windschutzscheibe und dann auf allen vieren die rutschige Motorhaube hinauf. Jack war mir dicht auf den Fersen.

»Das Benzin kann jeden Moment explodieren! Stell dich auf den Rand der Motorhaube, dann stemme ich dich hoch.«

»Für dich immer noch Sie«, wies ich ihn zurecht.

»So ein herrisches Frauenzimmer!« Mit diesen Worten plazierte er eine Hand ziemlich schamlos auf meinem Hinterteil und schob mich in Richtung Stoßstange.

Oben angekommen, richtete ich mich mit seiner Hilfe auf, verlor jedoch sofort wieder das Gleichgewicht, so dass er mich auffangen und erneut stützen musste. Vorsichtig versuchte ich, ein wenig Gewicht auf meine Beine zu verteilen, die sich vom langen Stillhalten noch ganz taub und kribbelig anfühlten. Auf seinen Arm gelehnt, blickte ich besorgt an den steilen Wänden des Grabens hinauf. Erst jetzt wurde mir klar, wie tief er war. Es waren mindestens noch drei Meter bis hinauf zur Straße. Wie um alles in der Welt hatte Caroline es geschafft, da so leicht hinaufzukommen?

»Ich glaube nicht, dass ich …«

Er hatte das Problem offenbar längst gelöst. Wortlos sank er zu meinen Füßen auf die Knie, als wollte er mir einen Antrag machen. »Steig auf meine Schultern.«

»Ich bin zu schwer.«

Aus dem Armaturenbrett stoben fast ohne Unterbrechung Funken. Uns blieb nicht mehr viel Zeit.

»Willst du jetzt ein Kompliment hören? Ich glaube nicht, dass das der richtige Zeitpunkt dafür ist. Los jetzt, rauf mit dir!«

Ich stützte mich auf seine Handflächen, die er nach oben streckte, und schob dann je ein Bein auf je eine Schulter. Er erhob sich so geschmeidig, dass man hätte meinen können, er täte so etwas täglich. Ich versuchte, ihm zu helfen, indem ich mich an sämtlichen Wurzeln und Zweigen festhielt, die ich zu fassen bekam, bis der obere Rand des Grabens auftauchte.

Gleich hatte ich es geschafft.

Ich blickte auf Jack hinunter. »Was ist mit dir? Schaffst du es allein hier hoch?«

»Mach dir keine Sorgen. Ich folge dir auf dem Fuße.«

 

Ich kroch gerade auf allen vieren vom Graben weg, als Carolines Wagen mit einem furchtbaren Getöse explodierte.

2

Die Druckwelle warf mich flach auf den Boden, und gleich im Anschluss fegte eine glühende Woge über mich hinweg. Bevor ich mich wieder auf alle viere kämpfte, blickte ich mich um. Durch den brennenden Wagen war die Umgebung jetzt fast taghell erleuchtet. Ich spürte, wie sich eine Hand an meinen Ellbogen legte und mich hochzog.

»Ist alles in Ordnung? Hast du dich verletzt?«

Während ich benommen den Kopf schüttelte, fragte ich mich, warum sich das alles so falsch anhörte. Dann begriff ich, dass mir die Explosion eine Art dumpfen Pfeifton in beiden Ohren beschert hatte. Voller Dankbarkeit blickte ich zu dem Mann auf, der vor mir stand – und der tatsächlich so groß war, wie ich vermutet hatte. Wäre er nicht gewesen, hätte ich die Explosion nicht überlebt! Ein leichter Tinnitus war da ein kleiner Preis, den ich gern zahlte.

»Es geht mir gut. Danke für … für alles.«

Er zuckte mit den Achseln, als wäre es nicht der Rede wert. Dabei wussten wir beide, dass das nicht stimmte.

»Amy und Caroline … Wo sind sie?«

Statt einer Antwort nahm Jack mich an den Schultern und drehte mich um, bis ich in die Richtung blickte, aus der wir drei mit dem Wagen gekommen waren. Etwa vierzig Meter entfernt konnte ich, vom Feuerschein nur noch schwach beleuchtet, am Boden zwei Silhouetten ausmachen. Mir war nicht klar gewesen, dass unser Wagen nach dem Aufprall noch eine so große Distanz zurückgelegt hatte.

Jack griff nach meiner Hand. »Komm«, sagte er.

Aus der Ferne hatte es so ausgesehen als würde Caroline, die neben Amy am Straßenrand kniete, beten. Als wir näher kamen, sah ich jedoch, dass dem nicht so war. In Wirklichkeit wiegte sie sich wimmernd vor und zurück. Kein gutes Zeichen, dachte ich, gar kein gutes Zeichen. Das letzte Stück des Weges legten wir im Laufschritt zurück, aber als wir wenige Meter von der Stelle entfernt waren, an der es Amy aus dem Wagen geschleudert hatte, hielt Jack mich fest.

»Emma, hör zu: Amys Verletzungen sind ziemlich … ernst.«

Ich nickte benommen, ehe ich meine Hand aus seiner löste und die restliche Strecke allein ging.

Mir war klar, dass er versucht hatte, mich vorzubereiten. Ich hatte verstanden. Trotzdem hätte er sich die Mühe sparen können. Nichts konnte mich auf das vorbereiten, was ich zu sehen bekam, als ich den Blick von Caroline zu Amy wandern ließ. Plötzlich war ich sehr, sehr froh über das schwache Licht, denn was ich sah, bewirkte, dass sich sowohl mein Herz als auch mein Magen vor Schreck und Kummer verkrampften: ihr Gesicht, ihr armes Gesicht.

Ich fiel neben Caroline auf die Knie, griff nach ihrer Hand und drückte sie fest. Ich glaube nicht, dass sie mich überhaupt registrierte. Aber es war ohnehin nicht Caroline, die mich im Moment am meisten brauchte.

Amys Verletzungen waren so schlimm, dass ich sie wohl gar nicht erkannt hätte, wenn ich nicht gewusst hätte, dass sie es war. Krampfhaft bemühte ich mich, einen verzweifelten Aufschrei zu unterdrücken, insbesondere seit ich realisiert hatte, dass sie bei Bewusstsein war. Langsam und sichtlich unter Schmerzen drehte sie den Kopf in meine Richtung.

»Mmmemma?«

Erst nickte ich nur, weil ich meiner Stimme nicht traute. Dann begriff ich, dass sie mich wahrscheinlich nicht sehen konnte, weil ihre Augen zu blutigen Schlitzen zugeschwollen waren.

»Ich bin da, Amy, ich bin da.« Ich wollte nach ihrer Hand greifen, zögerte dann aber einen Moment, als ich sah, wie viele schlimme Verletzungen sie hatte. Schließlich nahm ich ihre Hand trotzdem. Sie brauchte den Körperkontakt. »Nicht sprechen«, ermahnte ich sie, als ich bemerkte, dass ihre aufgeplatzten und vor Schmerz verzerrten Lippen krampfhaft versuchten, Worte zu formulieren.

»Du … kay?«

Das brachte mich endgültig zum Weinen. Sie lag hier auf der kalten Straße mit derart schlimmen Verletzungen, dass kein Mensch wusste, wie lange sie brauchen würde, um sich davon zu erholen, und das Erste, was sie fragte, war, ob mit mir alles okay war.

»Es geht mir gut, alles in Ordnung.«

Sie nickte leicht. Ihr Kopf ruhte auf einer gefalteten Lederjacke, vermutlich der von Jack. Er hatte sich inzwischen zu uns gesellt, trat von der anderen Seite neben Amy und beugte sich über sie.

»Geht es einigermaßen?«, fragte er sie lächelnd.

Sein fürsorglicher Ton kam mir bekannt vor, im Wagen hatte er auch mit mir so gesprochen. Einen dummen, gedankenlosen Moment lang empfand ich einen Anflug von Eifersucht.

Jack legte Amy tröstend eine Hand auf die Schulter. »Hilfe ist unterwegs.«

Amy verzog das Gesicht, weil eine Welle des Schmerzes durch ihren Körper lief.

Verzweifelt blickte ich zu Jack hoch. »Haben sie gesagt, wie lange es dauert? Sie muss ins Krankenhaus.«

Mir gefiel der Ausdruck in seinen Augen nicht, als er in ernstem Ton antwortete: »Ich weiß.« Trotzdem richtete er sich auf und zückte sein Handy. »Ich rufe noch einmal an.« Doch bevor er auch nur die erste Ziffer tippen konnte, durchschnitt der Klang einer Sirene die frostige Nachtluft.

Amys Lider hatten sich flatternd geschlossen. Ich strecke die Hand aus und berührte sie sanft an der Wange. »Hörst du, Amy? Sie kommen. Kannst du sie hören? Sie sind fast schon da. Halte durch.«

»Weh getan …«

Das war die Untertreibung des Jahrhunderts. Ich konnte mir nicht einmal ansatzweise vorstellen, welche Schmerzen sie haben musste.

»Ich weiß«, stöhnte ich, »aber sie werden dir etwas gegen die Schmerzen geben. Bitte bleib bei uns, sie sind fast da.«

Ich hatte ihr Trost zusprechen wollen, doch meine Worte schienen sie nur noch mehr aufzuregen. Sie schüttelte heftig den Kopf und öffnete mit einem Stöhnen den Mund. Ich versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr ich beim Anblick ihrer größtenteils zerschmetterten Zähne erschrak.

»Dir … weh getan.« Sie war offenbar verwirrt – was in Anbetracht der Umstände nur allzu verständlich war.

»Nein, Amy, keine Sorge.« Ich sah zu Jack hinüber, aus dessen Miene pures Mitgefühl sprach. »Dieser freundliche amerikanische Herr hier hat mich aus dem Wagen befreit. Ich bin nicht verletzt.«

Amy war mit meiner Antwort noch nicht zufrieden.

»So lieb von dir … mir zu verzeihen. So … so … leid.« Dass sie keine zusammenhängenden Sätze herausbrachte, machte ihr sichtlich zu schaffen.

Mir fiel auf die Schnelle nichts Besseres ein, als einfach so zu tun, als fände ich ihre seltsamen Bemerkungen vollkommen verständlich und nachvollziehbar. Das bereitete mir keine Schwierigkeiten, schließlich hatte ich darin jede Menge Übung. »Schon gut, Amy, mach dir keine Sorgen. Alles ist gut. Ruh dich jetzt ein bisschen aus, bitte ruh dich aus.«

Sie nickte erleichtert, als wäre ihr gerade eine schwere Last von den Schultern genommen worden. Ich schwöre, dass ich richtig spüren konnte, wie ein Teil der Anspannung aus der blutigen Hand wich, die ich immer noch in der meinen hielt.

 

Sie schickten so ziemlich alle Einsatzfahrzeuge, die zur Verfügung standen. Im Konvoi trafen sie ein, angekündigt von ohrenbetäubenden Sirenen: ein Feuerwehrauto, zwei Krankenwagen und mehrere Streifenwagen. Die Erleichterung darüber, dass nun Profis die Regie übernahmen, hatte in meinem Fall nicht den erwarteten Effekt, sondern vielmehr den gegenteiligen: Als ich aufstand, um Platz zu machen für die beiden Sanitäter, die sofort an Amys Seite eilten, spürte ich, wie meine Knie unter mir nachgaben. Jack fing mich auf. Ich begann, heftig zu zittern, als hätte ich Schüttelfrost – als hätte mich ein wütendes Fieber im Griff. Jack zog mich näher an seine Brust, um mich mit seinem Körper zu wärmen. Mittlerweile klapperte ich völlig unkontrolliert mit den Zähnen.

»Das ist nur der Schock«, beruhigte er mich, während er mir immer wieder über den Kopf streichelte, wie bei einem verängstigten Tier. So ähnlich fühlte ich mich auch.

Meinem Gefühl nach brauchten sie eine Ewigkeit, um Amy zu versorgen und so weit zu stabilisieren, dass sie transportfähig war.

Je länger es dauerte, desto nervöser wurde ich. »Warum legen die sie nicht einfach in den verdammten Krankenwagen und fahren los?«, fragte ich so laut, dass es wahrscheinlich auch die konzentriert arbeitenden Sanitäter mitbekamen. Ich sah, wie Jack den beiden einen entschuldigenden Blick zuwarf, bevor er mich mit sanfter Gewalt ein Stück von ihnen wegführte.

»Lassen wir ihnen lieber ein bisschen mehr Platz zum Arbeiten«, meinte er in beschwichtigendem Ton.

Für ihn war es leicht, ruhig zu bleiben, denn im Grunde waren wir für ihn wildfremde Menschen. Wie diese Nacht ausging, konnte ihm letztlich egal sein, vollkommen egal.

Jack lotste mich zu seinem Wagen, und obwohl ich immer noch heftig zitterte, weigerte ich mich einzusteigen. Wenn Amy draußen in der Kälte bleiben musste, wollte ich das auch. Seltsamerweise schien Jack diese verquere Logik nachvollziehen zu können und lehnte sich gemeinsam mit mir gegen die Motorhaube. Wir beobachteten, wie die Sanitäter an Amys Arm eine Infusion legten und ihren Nacken mit einer Art Halskrause stützten. Schließlich wurde aus dem Heck des Krankenwagens eine Rollbahre herbeigeschafft.

Ohne meine Erlaubnis einzuholen, legte Jack einen Arm um mich. Dankbar ließ ich es zu, dass mich dieser fremde Mann dicht an seine Seite zog.

»Ich würde dir ja gern meine Jacke geben, aber die hat schon eine andere beansprucht.«

Ich nickte nur, denn meine Aufmerksamkeit galt mittlerweile Caroline, um die sich gerade ein Sanitäter aus dem zweiten Krankenwagen und zwei Polizeibeamte kümmerten. Als ich sah, dass einer der Polizisten ein Alkoholtestgerät zückte, um sie hineinblasen zu lassen, stieß ich mich mit einer abrupten Bewegung vom Wagen ab. Dafür bestand absolut keine Notwendigkeit! Ich konnte bezeugen, dass sie stocknüchtern gewesen war. Sie hatte keine Schuld! Wenn überhaupt jemand schuld war, dann der dämliche Hirsch! Hätte Jack mich nicht zurückgehalten, wäre ich bestimmt unter lautem Protest auf die Beamten losgegangen.

»Das ist doch reine Routine. Kein Mensch macht ihr einen Vorwurf. Du brauchst dich deswegen nicht wie eine Preisboxerin in den Ring zu werfen.«

Mir war klar, dass er recht hatte. Unter normalen Umständen wäre ich nicht einmal im Traum auf die Idee gekommen, mich so aggressiv zu verhalten. Ich ließ mich wieder gegen die Motorhaube seines Wagens sinken – wenn auch widerstrebend und immer noch entrüstet.

»Ist das bei dir ein Dauerzustand, oder habe ich dich bloß an einem schlechten Abend erwischt?«

Ich stieß ein kleines, freudloses Lachen aus, das nahtlos in ein Schluchzen überging. »Eine meiner besten Freundinnen wird auf einer Bahre in einen Krankenwagen geladen, und die andere läuft Gefahr, in einer grünen Minna abtransportiert zu werden. Ich hatte wirklich schon bessere Abende.«

»In einer grünen Minna? Sag mal, wie alt bist du eigentlich?«

»Siebenundzwanzig«, antwortete ich mechanisch, weil mir sein Sarkasmus völlig entgangen war. Dann fiel bei mir der Groschen, und ich bedachte Jack mit einem kleinen ironischen Lächeln. »Ich mag alte Filme.«

»Ich auch«, antwortete er in freundschaftlichem Ton.

Hätten wir uns unter anderen Umständen kennengelernt, wäre ich liebend gern auf ein Gespräch über alte Filme eingegangen. Aber momentan konnte ich nur an Amy und Caroline denken..

»So, meine Lieben, können wir jetzt mal einen Blick auf euch beide werfen?«

Jacks Ablenkungsmanöver war so gut geglückt, dass ich überhaupt nicht mitbekommen hatte, wie die Sanitäterin mit ihrer Tasche näher getreten war. Nachdem sie ein frisches Paar Latexhandschuhe übergestreift hatte, hob sie mein Kinn ein wenig an, um die Verletzung an meiner Stirn zu inspizieren. Zum Glück hatte diese inzwischen zu bluten aufgehört, doch in der Wunde steckten nach wie vor Splitter der Windschutzscheibe.

»Mit dem Reinigen der Wunde müssen wir warten, bis wir im Krankenhaus sind, meine Liebe. Haben Sie noch andere Verletzungen?«

Ich schüttelte den Kopf, doch Jack stieß neben mir ein leises Zischen aus. »Sie war hinter einem der Autositze eingeklemmt«, erklärte er. »Sie hat an beiden Beinen ziemlich schlimme Blutergüsse.«

Während die Sanitäterin in die Hocke ging, funkelte ich Jack böse an. Es erschien mir nicht richtig, dass sie Zeit mit mir verplemperte, während Amy ihre Hilfe viel dringender brauchte.

»Meine Kollegen sind mit die Besten weit und breit – Ihre Freundin ist bei ihnen in guten Händen«, versicherte mir die Frau, die wohl meinen besorgten Blick hinüber zu Amys Bahre bemerkt hatte, wo immer noch hektische Betriebsamkeit herrschte. »Ihr Mann hat recht. Wir müssen uns jetzt um Sie kümmern.«

»Er ist nicht mein Mann«, stellte ich richtig.

Während die Sanitäterin sich erhob, registrierte sie, dass Jack schützend den Arm um mich gelegt hatte, und dann fiel ihr Blick auf den großen Diamanten an meinem Ringfinger. »Entschuldigung, Ihr Verlobter«, korrigierte sie sich.

»Er ist auch nicht …« Ich brach ab und beschränkte mich auf ein müdes Achselzucken, weil ich mich plötzlich viel zu erschöpft fühlte für lange Erklärungen. Sollten sie doch glauben, was sie wollten. Es gab im Moment viel Wichtigeres.

»Und Sie, Sir?«, fragte die Sanitäterin, die ihre Gummihandschuhe abstreifte und in ein frisches Paar schlüpfte, ehe sie nach Jacks verletztem Arm griff.

»Ich? Mir fehlt nichts, ich war an dem Unfall nicht beteiligt.«

»Wie haben Sie sich dann das hier zugezogen?«

»Ach, da bin ich bloß an einem Stück Metall hängengeblieben, als ich Emma aus dem Wagen half.«

Bloß? Als wäre das eine Kleinigkeit gewesen und gar nicht der Rede wert. Plötzlich wollte ich unbedingt, dass alle genau erfuhren, was er getan hatte.

»Er hat mir das Leben gerettet«, erklärte ich feierlich.

Jack wandte verlegen den Blick ab.

»Tatsächlich? Na, dann ist es ja umso wichtiger, dass wir uns anständig um ihn kümmern, nicht wahr?«

»Können wir nicht einfach ein Pflaster draufkleben?«, meinte er. »Nur damit ich meinen Leihwagen nicht vollblute?«

»Unsinn«, entgegnete die Sanitäterin. »Wir müssen die Wunde reinigen, und wie es aussieht, gehört sie sogar mit ein paar Stichen genäht. Außerdem brauchen Sie wahrscheinlich auch noch eine Tetanus-Impfung.«

Jack seufzte ergeben, weil er spürte, dass Widerstand zwecklos war. Unser Gespräch kam kurz zum Erliegen, als der Krankenwagen mit Amy endlich aufbrach. Sein Sirenengeheul klang in meinen Ohren wie das Rufen eines Stadtschreiers, der vom ernsten Zustand der Patientin kündete.

»Du hast Angst vor Krankenhäusern, stimmt’s?«, wandte ich mich herausfordernd an Jack. Es war nur ein verzweifelter Versuch, mich abzulenken, indem ich auf irgendein anderes Thema zu sprechen kam, egal welches – Hauptsache, es hatte nichts mit dem Schicksal meiner Freundin zu tun.

»Ich glaube, noch mehr Angst habe ich vor dir«, stieg Jack darauf ein. »Ich hatte nämlich recht, du bist herrisch.«

 

In dem zweiten Krankenwagen war nicht genug Platz für uns alle drei. Jack begleitet mich zu der kleinen Treppe, über die man am Heck einsteigen konnte, und lächelte Caroline zu, die auf einer der beiden Liegen hinten im Wagen saß und schon einen viel ruhigeren Eindruck machte. Allerdings wirkte ihr Blick leicht benebelt. Wahrscheinlich hatte man ihr ein Beruhigungsmittel verabreicht. Die Sanitäterin, die bereits eingestiegen war, streckte mir die Hand entgegen, um mir hineinzuhelfen.

Eigentlich war geplant gewesen, noch eine dritte Ambulanz anzufordern, die Jack ins Krankenhaus bringen sollte, doch der hatte darauf beharrt, dass er durchaus in der Lage war, selbst zu fahren. Deswegen war sein Arm nur provisorisch verbunden worden, und anschließend hatte man ihm das Versprechen abgenommen, dass er hinter uns herfahren würde. Von meinem Sitzplatz auf der zweiten Liege musterte ich ihn einen Moment lang misstrauisch.

»Du kommst aber wirklich nach, oder? Hau bloß nicht einfach ab, ohne dich untersuchen zu lassen!«

Er sah mir wohl an, dass ich mir tatsächlich Sorgen um ihn machte, und obwohl es mit ziemlicher Sicherheit das Letzte war, was er selbst wollte, nickte er lächelnd und sagte: »Ich folge dir auf dem Fuße.«

 

Im Krankenhaus ging es so hektisch und chaotisch zu, wie man es um diese Zeit nicht erwartete. In der fensterlosen Notaufnahme hätte man genauso gut meinen können, es wäre mitten am Tag und nicht drei Uhr morgens.

Wie eine gut geölte Maschine war der medizinische Apparat angesprungen. Mit routinierter Geschwindigkeit rollte man uns hinein, beurteilte unseren Zustand und tat, was zu tun war. Caroline und ich wurden fast sofort getrennt. Ich weiß nicht genau, wohin sie gebracht wurde, aber mich rollte man in einen Wartebereich, wo mein Zustand noch genauer eingeschätzt werden sollte. Nach dieser ersten Phase geschäftiger Aktivität ließ man mich eine ganze Weile – die mir vorkam wie eine Ewigkeit – auf den diensthabenden Arzt warten.

Während die Minuten dahintickten, verstärkte sich das, was anfangs nur ein Gefühl leichter Unruhe gewesen war, irgendwo in meiner Magengrube zu einem harten Knoten des Zorns. Ich hatte ja Verständnis dafür, dass sie beschäftigt waren. Die hektische Betriebsamkeit jenseits meiner kleinen, durch Vorhänge abgetrennten Nische ließ daran keinen Zweifel. Trotzdem konnte doch wohl irgendjemand eine Minute erübrigen, um mich wissen zu lassen, was mit Amy war? Diese Frage stellte ich jedem Mitglied des Krankenhauspersonals, das in meine Nähe kam, wobei es sich in einem Fall mit ziemlicher Sicherheit um eine Putzfrau handelte, die nicht einmal Englisch sprach.